Sunset over Egypt von Sennyo (Even if tomorrow dies) ================================================================================ Kapitel 96: Sinn ---------------- Alles, was er jetzt fühlte, konnte Atemu nicht deuten, nicht lenken und in keinster Weise kontrollieren. Wer war er denn nun noch? Er hatte alles verloren. Er war ein niemand. Das Chaos war riesig und er hatte noch nicht einmal mehr Interesse daran, darüber nachzudenken. Er wollte überhaupt nichts mehr. Zuerst sein Kind. Grausam und brutal war seine Teana gefoltert worden durch den Tod des Babys, die Verantwortung, die er ihr aufgedrängt hatte... All das nur, weil er Pharao gewesen war. Er hatte sie dafür angeschrien! Er hatte ihr Vorwürfe gemacht! Ihr! Die sie doch alles gegeben hatte, was sie hatte. Er hatte sie nicht einmal richtig um Verzeihung bitten können. Hätte er es getan, wäre sie ... wäre ... es nicht geschehen?! Nein. Atemu wusste es und er hasste sich dafür. ER hätte IHR vergeben, dass sie gescheitert war. ER hätte IHR vergeben, dass sie alles verloren hatte. Sie wären irgendwie in den Alltag zurückgekehrt und doch hätte er sich nicht darum gekümmert, welches Loch der Verlust des Kindes auch in ihr Herz gerissen hatte. Welche Schuld sie sich selbst aufgelastet hätte. Er hätte sich nicht darum gekümmert, weil er blind gewesen wäre. Blind für all das, was sie ihm nicht sagte. Jetzt würde sie ihm nie wieder etwas sagen. Er hatte alles verloren. Teana hatte erst die Hoffnung verloren, dann ihr Kind und letztendlich ihr Leben. Alles nur, weil er Pharao war? Wer hätte sich denn für sie interessiert, wenn sie nicht so im Zentrum gestanden hätten? Nie hatte er die Macht angezweifelt, die seine Geburt ihm verliehen hatte. Nie hatte er nach einer solchen Macht verlangt, doch er hatte auch nie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass es falsch war. Dass die Macht nicht nur Verantwortung, sondern auch Hass auf sich ziehen konnte. Nicht die Bewunderung des Volkes, für die er immer gekämpft hatte. Als Pharao. Er hatte alles verloren. Sein Körper schien in einer tiefen Kälte erstarrt zu sein, er hätte sich bewegen können, doch nichts daran erschien ihm sinnvoll. Dass er nie wieder Teanas Lächeln würde sehen können, konnte er einfach nicht fassen. Er konnte es nicht begreifen. Es war zu grausam, als dass sein Bewusstsein es akzeptieren konnte. Es ging nicht. Kein Herzschlag pochte in der Stille, weder der seines Kindes, noch der seiner Verlobten. Sie waren beide von ihm gegangen. Sie hatten ihn beide zurückgelassen. Und die Erkenntnis sickerte nur langsam in Atemus Kopf. Nur langsam kam das Verständnis der Worte, die ihn noch weiter in die Tiefe reißen sollten. Einen Krieg konnte er nicht überstehen. Einen Krieg konnte er nicht kämpfen. Es war nicht sein Krieg... Und so hatte er das Einzige getan, das ihm noch sinnvoll erschienen war, für dieses Land, das nicht mehr das seine war. Er konnte das Land nicht ausliefern, nur weil ihr Herrscher schwach war. Ein schwacher Herrscher konnte keinen Krieg gewinnen oder ihn auch nur führen. Er konnte nur jeden ins Unglück reißen. Er konnte nur alle mit sich untergehen lassen. Und deswegen war er nun nur noch ein niemand. Ohne Titel, ohne Anspruch, ohne Verantwortung. Er hatte seinem Land den Rücken gekehrt, er hatte es verraten. Niemals würde ihm das jemand verzeihen. Und so trug nun Seth die Krone von Ägypten. Er würde wissen, was zu tun war, er war stark. Er war schon immer stark gewesen. Niemals hatten die Männer an ihm gezweifelt, er konnte die Truppen führen. Er musste es. Und er, Atemu... was blieb ihm noch? Sein Blick ruhte auf dem leblosen Körper seiner Verlobten. Seiner geliebten Teana. Ihr weiches Haar fiel ihr in Strähnen über die Schultern. Er hatte es schön hingelegt. Sie sollte nicht die Qual widerspiegeln, die sie hatte durchmachen müssen. Sie sollte schön sein. Sie war wunderschön. Und eine friedliche Ruhe strahlte sie aus. Wenigstens musste sie die Gräuel des Krieges nicht noch einmal durchleben... Es war der einzige Trost, den Atemu ihr noch geben konnte. Für sich selbst behielt er nichts über. Er wollte nichts mehr. „Schlafe in Frieden...“, brachte er über die zitternden Lippen hervor, „Bitte vergib mir, dass ich nicht besser auf dich geachtet habe...“ Sanft strich er über ihre Wange, gab ihr einen letzten Kuss auf ihre kalten Lippen. Er konnte nicht bleiben. Konnte nicht in diesem Raum bleiben. Nicht eine Sekunde länger. Gern wäre er für immer mit ihr zusammen geblieben, doch ihr Anblick ließ eine solche Kälte durch seine Glieder fahren, dass er zurückwich. Er wollte es nicht sehen. Konnte es nicht mehr sehen. Er musste weg von hier, musste irgendwohin, wo er noch einen Sinn hatte... Er musste - Und dann konnte er es wieder hören. Die Truppen, die ihr Leben gaben und nur verlieren konnten. Die Übermacht, die in sein... nein, in das Land seines Cousins einfiel und es auslöschen wollte... Der Klang der Klingen, die sich kreuzten... und der süße Geruch nach Magie, die ihre letzte Chance sein musste. Er war ein niemand. Er hatte alles verloren, hatte nichts mehr, wofür das Kämpfen sich lohnte. Er war ohne jeden Stand. Und doch konnte er nicht stehen bleiben. Er hörte die Befehle. Die Befehle des Pharaos. Und er lief. Der Anblick der feindlichen Truppen war in sich schockierend. Doch die Szene, die sich soeben vor ihren Augen abgespielt hatte, war weit – verstörender gewesen. Wie viel konnte einem Menschen aufgebürdet werden, wie viel konnte er verkraften ohne zu zerbrechen? Mana, Teana, Atemu... das gesamte Volk. Und Seth. Was war mit ihr? Wie viele Schlachten wurden geführt, die nichts mit dem Feind zu tun hatten, der nun vor ihren Toren stand? Wie viele Kriege forderten wie viele unschuldige Opfer? Wo lag der Sinn darin? Wo der Grund? Wer trug die Verantwortung? Das Drachenmädchen war lediglich einem Instinkt gefolgt, doch als sie die Befehle von Seth vernommen hatte, hatte sie einfach nicht anders gekonnt. Sie war ihm gefolgt, hinaus in die Schlacht. Hinaus in den Krieg. Wohin hätte sie auch gehen sollen? Ihr Platz war schon immer an seiner Seite gewesen, seit er sie an den Hof geholt hatte. Hatte sie eine andere Wahl? Sie war die Erste gewesen, die den Aufmarsch der Truppen gesehen hatte und doch hatte sie keine Ahnung gehabt, was sie erwartete. Und es war ihr egal gewesen. Den Kopf voller Gedanken, die ihren Verstand zum Wahnsinn schickten, zog sie mit dem Pharao in die Schlacht, die nun ihr aller Schicksal bestimmen sollte. Sie wollte die Gedanken loswerden. Sie wollte die Bilder loswerden. Sie wollte einfach nur sie selbst sein können! Sie selbst, das bedeutete keine Verpflichtungen. Sie selbst, das bedeutete keine Angst, denn der weiße Drache stand an ihrer Seite. Sie selbst sein, das bedeutete Macht und Freiheit, die sie schon viel zu lange vermisste. Alles hatte sie aufgegeben für diesen Mann, der nun sämtliche Verantwortung trug und wissen musste, dass er seine Männer nur in den Tod schicken konnte. Der Mann, der aus Stolz und Würde heraus kämpfen musste, egal wie hoch der Preis auch sein sollte. Dieser Mann, der nun Pharao des Landes war. Einst einmal hatte er diesen Traum gehabt, diese Krone... In unendliche Ferne war er gerückt und nun wahr geworden, dieser Teil der Vergangenheit, den letztendlich Mana besiegt hatte. Mana, die sich ihm nicht unterworfen hatte, Mana, die seine Liebe und sein Vertrauen bekommen hatte, Mana, die ihn auf den Weg gebracht hatte, dem Pharao zwar zu widersprechen, aber ihm nicht zu misstrauen. Das war alles Mana gewesen. Nicht sie. Und jetzt, da Mana sich nicht mehr um ihn kümmern konnte, bekam er die Königswürde auf dem Tablett serviert. Wer sollte dieses Mal auf ihn achten? Kisara wusste nicht, was für eine Chance sie noch hatten oder ob es überhaupt noch Hoffnung gab in diesem Land, das in Verzweiflung erstarrte. Doch sie würde ihren Platz nicht noch einmal verlieren. Dieses Mal würde sie ihn nicht enttäuschen, dieses Mal würde sie sein Vertrauen zurückgewinnen. Dieses Mal würde der Nebel sie nicht dazu bringen ihre Familie zu verraten... Das Drachenmädchen war bereit zu kämpfen. Ägypten mochte schwach sein, doch die Truppen standen nicht allein. Wenn niemand sonst Hoffnung schöpfen konnte, dann musste zumindest sie daran glauben. Sie würde ihn nicht noch einmal enttäuschen. Ein Pferd und ein einfaches Schwert war alles gewesen, wonach Atemu gegriffen hatte, ehe er aufs Schlachtfeld hinausgeritten war. Viel eher noch als er es selbst in seinen bösesten Träumen gesehen hätte, traf er schon auf die Feinde, die in riesigen Formationsreihen das Königreich überrollten. Er war vielleicht nun nicht mehr der Pharao, doch er hatte auch nichts mehr zu verlieren. Er hatte nur noch einen Ruf – und auf den gab er nicht mehr viel. Dennoch. Er hatte Seth das Versprechen abgenommen, dass das Land diese Krise überstehen würde und als Teil des Volkes war es seine Pflicht sein Land zu verteidigen. Und wäre es nur, damit er etwas zu tun hatte... Nur, damit er die bittere Wahrheit noch für eine Weile verdrängen konnte... Nur, damit das Leben ihn nicht auch verließ. Das einzige, das er noch nicht gegeben hatte, alles andere wurde ihm schon genommen. Sie würden es bereuen. Sie alle. Jeder einzelne von ihnen würde bereuen, dass sie es gewagt hatten, in dieses Land einzufallen. Sein Blick war leer und doch schrecklich vielsagend. Dieses Schlachtfeld war vielleicht nicht seine Berufung, und vielleicht konnte er auch nichts ausrichten. Doch es war der einzige Ort, der nun noch eine Bedeutung für ihn hatte. Der einzige Ort, an dem seine pure Existenz noch einen Sinn zu haben schien. Mit dem Schwert in der Hand stellte sich Atemu dem Feind entgegen. Es waren so unglaublich viele, dass ihm der Atem immer wieder stockte. Vielleicht lag es jedoch auch an seiner sonstigen Verfassung, vielleicht lag es nicht einmal an der Überlegenheit... Ein einziger Blick zu Seth sagte ihm, dass es richtig war, was er getan hatte. Seth konnte das Land in dieser Stunde führen. Er war der Pharao, nicht Atemu. Vielleicht, wenn nur Seth sein Geburtsrecht niemals verwehrt geblieben wäre... nur vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht hätte er dann mit Teana - Doch an dieser Stelle stoppten seine Gedanken. Es war zu schmerzhaft. Es war zu dunkel, das Nichts, das nach ihm rief, an ihm zerrte. Sein Kampf war lustlos, doch trotzdem nicht weniger tödlich. Seine Klinge war scharf und er hatte keinerlei Skrupel mehr. Er brachte etliche zur Strecke, ohne sich ihrer Zahl auch nur bewusst zu werden. Es kümmerte ihn nicht, wie viele Menschen er ermordete, wie viele Familien er auseinander riss. Er konnte nur den Ort verteidigen, den die Feinde ohne ihre Gegenwehr längst überrannt hätten. Der Ort, an dem Teana schutzlos gewesen wäre, wenn sie nicht längst - Wieder konnte er nicht weiter denken. Wieder schnürte ihm ein schwerer Kloß die Kehle zu. Und wieder hatte er keine andere Wahl. Wieder durchschnitt seine wütende Klinge Fleisch, zertrümmerte Knochen, brachte die Feinde mit röchelnder Genugtuung zu Fall. Kisara saß auf einem Dach und beobachtete die Kämpfe. Sie hatte in der Peripherie entschlossen gekämpft, doch ihre Stärken lagen nicht in Zweikämpfen. Es war die uralte Magie, die in ihr lebte, die den Drachen in ihrem Inneren zum Leben erweckt hatte und ihn nun lenkte. Der weiße Drache, der ihr eigentlicher Trumpf war. Der weiße Drache, der nun das Geschehen überflog. Seine Herrin grummelte. Es gefiel ihr nicht, alles einfach nur zu überwachen, es gefiel ihr nicht, sich so zurückzuziehen. Doch im Getümmel der Kämpfenden konnte sie ihren Drachen nicht rufen und erstrecht nicht kontrollieren, deswegen musste sie sich einfach zurückziehen. Es gefiel ihr dennoch nicht. Sie hatte Seth aus den Augen verloren und sie wollte aktiv in den Kampf eingreifen. Sie wollte nicht wieder zurückbleiben! Es war anstrengend. Nicht allein das Zusehen, sondern vor allem der Drache. Ihn zu rufen hatte sie schon eine unglaubliche Kraft gekostet, eine Kraft, die sie nicht gewohnt war aufbringen zu müssen und auch jetzt war es furchtbar kräftezehrend. Sie hatte vorgehabt mit dem Drachen den Feinden einzuheizen, doch nun konnte sie ihn kaum lenken. Ihr Wille drang einfach nicht durch zu dem majestätischen Ungeheuer – das musste am Nebel liegen. Der Nebel war wesentlich stärker als beim letzten Mal, das konnte sie spüren, doch dass jemand sich so penetrant in ihre Verbindung zu ihrem Drachen einmischen konnte, das machte sie wirklich wütend. Es nervte sie, nicht richtig eingreifen zu können, und es nervte sie vor allem das beklemmende Gefühl, das von diesem unsäglichen Nebel ausging. War sie denn wieder nicht von Nutzen? Die Weißhaarige fühlte sich merkwürdig stumpf. Sie hatte unbedingt helfen wollen und nun saß sie auf einem Dach und konnte doch nichts ausrichten mit dem Drachen, der nie zuvor so schwer zu lenken gewesen war. Immer wieder versuchte sie sich auf den Drachen zu konzentrieren, doch immer wieder musste sie den Versuch enttäuscht und mit wachsender Verbitterung abbrechen. Sie schüttelte den Kopf. Hier auf dem Dach war sie wenigstens sicher. Doch war das der Sinn? Noch hatte keiner der Feinde verstanden, dass sie für das weiße Monster verantwortlich war und so achtete keiner auf die blasse Frau, die aufs Dach geklettert war. Ihr hinterherzulaufen hätte für jeden Angreifer bedeutet, dass sie ihren Gegnern den Rücken hätten zukehren müssen, was jedoch den sicheren Tod nach sich gezogen hätte. Kisara selbst hatte lediglich das Überraschungsmoment, das ihre ungewohnte Handlung ausgelöst hatte, ausgenutzt. Doch was sollte sie ohne den Drachen von hier aus ausrichten? In den Palast zurückzukehren kam für sie nicht in Frage, auch wenn sie eigentlich durch ein Versprechen gebunden war. „Tut mir Leid, kleine Mana, aber du musst noch etwas länger warten...“, flüsterte sie und der Gedanke an das Mädchen brachte auch die Angst um Seth wieder zurück. Er musste ganz in der Nähe kämpfen. Nur, wo war er? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)