Sunset over Egypt von Sennyo (Even if tomorrow dies) ================================================================================ Kapitel 95: Wissen ------------------ „Aber -“ Kisara war aufgesprungen, ihre Augen vor Schreck weit geöffnet. „Aber -“ Sie sollte hier bleiben? Nicht weglaufen?! „Aber, ich -“ Wieder wurde sie unterbrochen. Einfach nur sitzen bleiben?! Was war denn nur los?! „Aber ... ja, gut“, stimmte Mana verstört zu. Wieso nur waren sie alle so hektisch? Und wieso liefen sie alle weg und nur sie durfte nicht weglaufen? Es war ihr nicht begreiflich. Sie konnte die Panik nicht verstehen, wohl aber spüren. Ihre Gefühle reflektierten das Chaos, das um sie herum herrschte und sie verstand es nicht, konnte es nicht deuten. Erst Seth, dann Adalia ... und jetzt Kisara. Was war denn nur los?! Sie kam sich so dumm vor, so unglaublich allein in einer Welt, die viel zu groß für sie war. Brav setzte sie sich aufs Bett und wartete, ohne der Weißhaarigen wirklich hinterher zusehen. Was sollte sie auch anderes tun? Ihre Beine winkelte sie an und ihr Kinn stützte sie auf ihre Knie. Sie war allein und das gab ihr Zeit, über alles nachzudenken, was das Drachenmädchen ihr erzählt hatte. Sonderlich weit kamen ihre Gedanken dabei nie, sie stoppten immer wieder am selben Punkt, kreisten förmlich darum. Seth hasste Kisara, weil sie etwas getan hatte, woran sie sich nicht mehr erinnern konnte. Nicht mehr erinnern... Ob er sie wohl auch irgendwann hassen würde? Oder tat er es schon? Was würde nun noch geschehen? Das war alles so verwirrend. Wo waren sie denn nur hin? Mana kämpfte mit den Tränen. Kisaras Blick ging ihr nicht aus dem Sinn, sie sah ihr immer noch vor sich. Angst in ihren Augen. Angst. Angst konnte sie deuten. Alles in ihr schien rebellieren zu wollen, ihr Körper reagierte, auch wenn ihr Verstand nicht folgen konnte. Die Angst konnte sie nicht beschreiben. Sie konnte es nicht in Worte fassen, das Gefühl, das sie überwältigte. Doch sie war ausgeliefert. Sollte sie es wagen hinauszusehen? Sie traute sich nicht. Kisara war so erschrocken gewesen. Und Kisara war doch mutig, oder? Sie hatte noch nie Angst gehabt, hatte doch immer alles zu erklären gewusst, hatte sie doch immer beruhigen können... Und jetzt war sie allein. Kisara war jetzt bei Seth. Wieso durften sie alle zu Seth und nur sie sollte hier warten? Konnte sie nicht auch helfen? Hinter ihr schrie jemand auf – Mana zuckte heftig zusammen. Sie drehte sich noch immer nicht um, saß mit dem Rücken zum Fenster. Sie schaffte es einfach nicht, dorthin zu gucken, wo das war, das Kisara Angst gemacht hatte. Aber trotzdem konnte es ihr nicht verborgen bleiben. Die Finsternis, die sich ausbreitete, die Kälte, die sie mit sich brachte, als die Sonne verdunkelt wurde. Sie konnte es spüren. Und sie konnte es hören. Menschen, die schrien und der Klang als würde etwas aufeinanderprallen. Sie spürte die Angst. Sie saugte sie in sich auf. Und sie war allein. Sollte sie sich nun freuen oder lieber nicht? Adalia war hin- und hergerissen, konnte sich kaum zusammenreißen. Sie hatte es gewusst, hatte Atemus Schwachstelle schneller durchschaut, als selbst sie es erwartet hätte. Sie hatte gewusst, dass er die Krone abgeben würde, hatte gewusst, dass er ohne Teana nicht in der Lage sein konnte zu regieren. Sie hatte es gewusst, seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Beim Fest war es gewesen, wie viel Zeit war seitdem ins Land gezogen? So vieles war geschehen und in Bewegung gebracht worden... Teana wäre eine gute Königin gewesen, davon war die Priesterin überzeugt. Nie hatte sie eine persönliche Fehde gegen die Prinzessin gehabt – sie war einfach nur ein Opfer im Marionettenspiel der Macht. Nicht mehr und nicht weniger. Der Krieg kam gänzlich unerwartet in genau jenem Augenblick, da Adalia ihren Trumpf ausgespielt hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, doch in welchem Spiel handelte schon jeder nach denselben Regeln? Sie musste nur umdenken. Seth als neuer Pharao brachte sie in eine strategisch äußerst reizende Position. Sein ungebrochenes Vertrauen in sie setzte sie an die Spitze. Die Verantwortung über Mana lag in ihren Händen, er würde sie niemals wieder wegschicken. Niemals wieder würde sie gezwungen sein, von seiner Seite zu weichen. Denn sie war die Beste. Und sie würde immer die Beste bleiben. Und genau das war es, was auch er wusste. Adalia hatte keine Sekunde lang gezögert. Sofort war sie, seinem Befehl folgend, losgelaufen. Der Krieg war nun nicht ihre Angelegenheit. Sie hatte sich um Mana zu kümmern. Mana, die völlig hilflos war, ohne sie. Wie lang war sie jetzt schon allein in Seths Gemach? Wie lange hatte Kisara gebraucht um hier her zu finden? Sie musste auf der Stelle zu ihr. Als die Priesterin die Tür zum Gemach öffnete, war sie auf so ziemlich alles gefasst – nicht jedoch darauf, dass das Mädchen brav und gehorsam auf dem Bett saß und wartete. Sie schreckte auf, drehte ihren Kopf instinktiv in Richtung Tür. Dass sie zitterte, erkannte die Ältere schon von weitem. „Adalia!“, schrie Mana auf und robbte an die Kante des Bettes heran – offenbar wollte sie aufstehen. Sofort lief die Priesterin auf sie zu, setzte sich neben sie. „Was ist denn los?“, fragte Mana, „Was ist denn passiert?!“ Sie war ungeduldig und das war wohl auch verständlich. „Sag' doch was!“ Adalia schloss ihre Arme um sie. Ihre Haut war eiskalt und nass vor Schweiß. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich beruhigte. „Entschuldige, dass du so lange allein warst...“, sagte die Priesterin mit belegter Stimme, löste dann die Umarmung, hob sie vorsichtig auf die Füße und nahm sie bei der Hand. „Ich werde dir alles erklären“, versprach sie leise und führte sie zum Fenster. Widerwillig nur folgte das Mädchen, beunruhigt sah sie einmal auf und dann nach draußen. Sie schluckte. Adalia stellte sich direkt hinter sie, sodass sie sich an sie anlehnen konnte, und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Siehst du den Nebel?“, fragte sie das eingeschüchterte Mädchen, das daraufhin nickte. „Er ist böse, richtig?“, mutmaßte Mana vorsichtig, schaffte es nicht, den Blick davon abzuwenden. Adalia half ihr dabei. Es war nicht gut, wenn Mana zu viel von der Schlacht sah, lediglich den Nebel musste sie gesehen haben. Für eine Erklärung. Damit sie es verstehen konnte. Damit sie es annehmen konnte ohne daran zu zerbrechen. Die Priesterin ließ die Kleinere nicht los, drehte sie jedoch zu sich herum und hockte sich vor sie, damit sie ihr in die Augen sehen konnte. Ein Zeichen von Sicherheit... Sie wusste genau, was in diesem Kind vor sich ging. „Ja“, stimmte sie zu, „Der Nebel ist böse. Ich weiß nicht, wer ihn beschworen hat, doch derjenige ist böse...“ Wie einfach war es, die Welt in zwei Teile zu spalten? Zwei Seiten derselben Sache? Hell und Dunkel, Tag und Nacht, Gut und Böse. Es war immer wieder das gleiche entstellende Schema, das die einzigen Erklärungen barg, die Mana kennen und verstehen durfte. Sie durfte nicht zweifeln. „Da draußen sind ganz viele böse Menschen“, fuhr sie fort, „Sie hassen dieses Land. Sie wollen es zerstören.“ Es waren nur einfache Worte, Worte, die dem Ausmaß der Katastrophe nicht gerecht werden konnten und doch reichten sie aus um Mana noch weiter zu verängstigen. Mit den Augen konnte Adalia immer wieder aus dem Fenster sehen, konnte immer wieder die Truppen sehen, die gekommen waren, um sie zu vernichten. Es waren so unglaublich viele... Sie sah wieder zu Mana. „Seth muss sie jetzt aufhalten, das ist seine Aufgabe...“ Als Pharao, doch das sollte sie wohl jetzt nicht dazu sagen. „Wir müssen jetzt hier bleiben und auf seine Rückkehr warten.“ Es war tatsächlich einfacher, so etwas zu sagen, als sich auch wirklich daran zu halten. Sie selbst hätte in diesem Moment gern an seiner Seite gestanden, doch sie hatte andere Verpflichtungen. Verantwortung, die mehr wog, als die Ausuferungen des Krieges. „Wir warten einfach?“ Manas Blick war skeptisch, sie schüttelte leicht den Kopf. Ihre Stirn war kraus gezogen und sie sah Adalia unverständlich an, doch sie widersprach nur halbherzig. Sie drehte sich zurück zum Fenster, sah eine Weile hinaus, ohne auf die Versuche der Priesterin zu achten, die sie wieder harmlosere Bilder sehen lassen wollte. „Aber... Seth?“, setzte sie an, doch als sie in Adalias Augen sah, erkannte sie, dass es zwecklos war. Sie seufzte tief und auch die Ältere seufzte. Sie kannten sich einfach zu gut inzwischen. „Also warten wir...“, sagte Mana leise, resignierend. Adalia nickte. „Glaube mir, wir helfen am meisten, wenn wir jetzt hier warten“, erklärte sie und sie hatte vermutlich recht. Es konnte niemandem helfen, wenn sie sich in Gefahr brachten, es brachte nur noch mehr Durcheinander, noch mehr Besorgnis, noch mehr Angst. Chaos, das vermeidbar war. Sorge, die nicht zu tragen und Panik, die nicht nötig war. Die Worte schienen Mana zu besänftigen. Zwar entzog sie sich den Berührungen, die ihr hatten Hoffnung und Sicherheit hatten geben sollen, doch sie widersetzte sich nicht und ließ sich auch sonst nicht vom Trotz leiten. Mana setzte sich auf die Fensterbank. Sie musste nicht sehen, was in der Stadt um im Hof des Palastes vor sich ging, es reichte, dass sie es hören konnte. Es reichte, dass sie es wusste. Wissen bedeutete Macht – Macht auf allen Seiten. Die Macht, andere zu manipulieren. Die Macht, von seinen Ängsten und Gefühlen verleitet werden zu können. Die Macht, die Wahrheit zu verschieben. Die Macht, nach der sie alle suchten. Grüne Augen starrten gedankenverloren ins Leere. „Kisara hat gesagt, Seth hasst sie, weil sie etwas getan hat, das böse war, an das sie sich aber nicht mehr erinnern kann...“, sprach sie ruhig und langsam, musterte dann das Gesicht der Priesterin. Diese war überrascht, hatte im ersten Moment gar nicht verstanden, was Mana da gesagt hatte. Es erstaunte sie über alle Maßen. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass das Drachenmädchen ausgerechnet Mana dieses Wissen aufbürden würde, sie musste wirklich überaus verbittert gewesen sein. Sie tat ihr Leid. Doch die Bedürfnisse der verstoßenen Geliebten durften nun nicht ihre Wahrnehmung vernebeln. Sie musste nun auf Mana achten. „Seth hasst sie nicht“, sagte sie zuversichtlich, obwohl sie nicht so recht wusste, ob es stimmte. Sie konnte es sich nicht vorstellen, „Die beiden haben sich gestritten, das stimmt... Und dass Kisara sich nicht mehr erinnern kann, das wohl auch...“ Sie gab es nur ungern zu, hätte das Thema gern in eine andere Richtung gelenkt, dem Gespräch eine anderen Verlauf geschenkt, „Aber Seth hasst sie nicht, das könnte er gar nicht.“ Sie durfte nicht schlecht von ihm denken. Wieder griff Adalia nach Manas Händen. „Kisara hat auch nichts böses gemacht“, sagte sie beschwichtigend, sie konnte ihr unmöglich erklären, dass sie Mana angegriffen hatte, ohne dass das Mädchen an ihrer Vorstellung der Welt zu zweifeln beginnen musste. „Das war einfach nur ein Missverständnis.“ Und sie hatte damit noch nicht einmal gelogen, auch wenn ihre Aussage der Wahrheit kaum entsprach. Doch das war nicht wichtig. Einfach musste es sein. Simpel und leicht zu verstehen. Die Kleinere zog ihre Hände dieses Mal nicht weg, sondern blickte wie gebannt auf Adalias zarte, weiche Haut. Ihre Augen fanden ihr Strahlen wieder, all der grausamen Geräusche zum Trotz. „Dann hasst er sie nicht?!“, wiederholte sie und ihre Stimme quietschte leicht, weil sie so aufgeregt war. Sie sprang auf, zog an Adalias Armen. „Dann müssen wir zu ihr!“ Sie drängelte fast, versuchte mit bester Überzeugung im Blick die Priesterin zu bewegen, „Wir müssen ihr unbedingt sagen, dass er sie nicht hasst! Vielleicht verstehen sie sich dann besser!“, erklärte sie noch einmal mit Nachdruck, „Und vielleicht geht es Kisara dann auch wieder besser!“ Es war unglaublich, wie viel dieses Mädchen sah! Die Ältere war immer wieder von Neuem beeindruckt. Sie hatte Kisara nicht nur verstanden, sondern auch durchschaut. Es war einfach unglaublich, als könnte nichts vor ihr verborgen bleiben. Doch wie viel auch immer sie wusste, sie wusste nicht genug. „Und vielleicht ist Seth dann auch etwas zufriedener?“, plapperte Mana unbeirrt fort, „Vielleicht werden sie dann wieder Freunde?“ Sie hüpfte auf der Stelle, lächelte strahlend. Adalia hielt sie trotzdem zurück. „Er hasst sie nicht“, bestätigte sie wieder, und sie war unglaublich froh, dass das Mädchen darauf reagiert hatte. So konnte sie das Thema verdrängen, das so viele falsche Fragen aufwerfen konnte. „Aber wir sollten wirklich jetzt hier bleiben und warten“, wiederholte sie ebenfalls, „Kisara wird sicher bald herkommen, dann kannst du es ihr selbst sagen, ja? Sie wird sich sicher sehr freuen.“ Auch wenn sie es nicht glauben würde. Natürlich würde sie es nicht glauben, Adalia würde es an ihrer Stelle auch nicht glauben. Wie sollte Mana so etwas schon beurteilen können? Sie wusste doch nicht einmal, worum es eigentlich ging. Und das wusste auch Kisara. Dass sie aber noch nicht hier war, beunruhigte die Größere etwas. Sie hatte damit gerechnet, dass sie ihr dicht auf den Fersen gewesen war, doch das war nicht der Fall. Es gab nur einen einzigen Ort, an dem sie stattdessen sein konnte. An Seths Seite... An des Pharaos Seite. Kisara kämpfte. Kämpfte für Ägypten, für sich und um ihn. Der Platz an seiner Seite, den die Priesterin ebenfalls gern eingenommen hätte in dieser ungewissen Stunde. Die Stunde, die alles verändern konnte. „Mir hat Kisara gesagt, dass sie gleich wieder kommt!“, unterbrach Mana ihre wirren Gedanken, lief einmal um sie herum und umarmte sie dann in Höhe ihrer Hüfte. „Das tut sie doch, oder?“, fragte das Mädchen mit einer Begeisterung, die so absurd und falsch war, wie das Leben in dem goldenen Käfig, dessen Gitterstäbe sie hier langsam aber sicher und beständig um sie herum bogen. „Ich muss es ihr unbedingt erklären!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)