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Abweisung!

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Deine Vergangenheit!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai / Yaoi

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 04
 

Einige Minuten verweilte ich alleine in dem großen Raum und konnte es nicht verhindern, mir neugierig die vielen Bilder an den Wänden anzusehen.

Die meisten waren mit strahlenden Kinderaugen bespickt. Ryan, Lienn und ein mir fremdes Mädchen sah man an Festtagen in glücklichen Posen in die Kamera lächeln, doch bald gab es nur noch Bilder von Lienn und Ryan und irgendwann nur noch Bilder von Lienn, wenigstens vermutete ich, dass es sich dabei um ihn handelte.

Lienn war ein sehr freundlicher Mensch, schnell hatte er mir angeboten, ihn beim Vornamen zu nennen, und in der kurzen Zeit, in der ich nun hier war, konnte ich ihnen etwas schenken, das kein anderer in den letzten Jahren geschafft hatte: die Gewissheit, dass Ryan noch lebte.

Diese unerwartete Neuigkeit trieb Mutter und Bruder Tränen der Freude in die Augen. Ich hatte ihnen von dem Kennenlernen mit Ryan erzählt, von meinem Angebot, ihn bei mir aufzunehmen und immer wieder wurden meine Erzählungen unterbrochen, konnte man nicht glauben, wie es um Ryan gestanden hatte, besser gesagt wahrscheinlich wieder stand.

Die Monate, in denen wir zusammenlebten, die Sache, die alles zerstörte und meine immer noch währende Liebe zu ihm, all dies hatte ich ihnen erzählt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie hätten ein Recht es zu erfahren. Natürlich ließ ich das ein oder andere Detail aus, doch im Großen und Ganzen erzählte ich unsere vorhandene Geschichte.

Besonders auf letzteren Punkt reagierte die Dame des Hauses nicht gerade erfreulich, aber mit nichts anderem hatte ich gerechnet. Die Mutter erinnerte mich sehr an meine eigene.
 

Ein Geräusch hinter mir, schnell setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Lienn betrat den Raum.

„Sie ruht sich jetzt ein wenig aus.“

„Ich wollte nicht…“

„Schon gut, es war wohl alles ein wenig zu viel für Sie. Lass uns ein Stück gehen.“

Ich folgte ihm zur Hintertür des Hauses, wo wir in den riesigen Garten traten.

Wir liefen einfach nur schweigend nebeneinander her. Was sollte er auch noch groß sagen? Seine Fragen waren, so weit ich es konnte, beantwortet, er kannte meine Geschichte, aber ich selber hatte noch so viele Fragen.

„Vielleicht hätte ich es nicht erwähnen sollen“, fing ich an, nur um irgendwas zu sagen.

„Was?“

„Das mit dem Schwulsein und so… deine Mutter schien schon ganz schön geschockt.“

„Ach quatscht. Glaub mir, sie war seit langem nicht mehr so glücklich wie heute. Außerdem, sollte sie sich langsam damit abgefunden haben.“

„Womit?“

Wir setzten uns auf eine Bank, die am Ufer eines kleinen Sees stand. Mein Blick schweifte kurz übers Wasser, es war richtig schön hier. Ein toller Ort, um aufzuwachsen.

„Ryan war damals 14, als er damit ankam. Unsere Mutter, ziemlich gläubig sollte ich hier wohl erwähnen, ist beinahe tot umgefallen. Aber das hat ihm nichts ausgemacht, im Gegenteil, er fand es fast schon amü-“

„Halt mal, ich komm nicht mehr mit“, unterbrach ich seinen Ausflug in die Vergangenheit. „Was meinst du mit „damit“ ankam?“

„Dass er schwul ist, was hast du denn gedacht, wovon ich rede?“

Blitzschnell schoss ich in die Höhe.

„Das ist nicht wahr? Er ist nicht schwul!“, entgegnete ich.

„Sorry, aber jetzt komme ich nicht mehr mit. Du hattest doch was mit ihm oder nicht, also warum bist du jetzt so überrascht darüber?“

„Überrascht ist gar kein Ausdruck!“

Ich ließ mich wieder auf die Bank fallen.

„Ich bin nicht schwul, Chris. Ich werde es auch niemals sein.“

„Er ist nicht schwul“, gab ich noch einmal von mir, versuchte dieses Mal überzeugender zu klingen.

„Natürlich ist er.“

Nein, das konnte nicht sein. Es waren nie irgendwelche Anzeichen da, im Gegenteil, er hatte immer gesagt, dass er es nicht sei. Und dann der Sex mit dieser blonden Tusse in meiner Wohnung. Seine Worte…

„…ich weiß einfach nicht, was los ist… Ich versteh es nicht…“

Was sollte das alles?

„Das alles, es war ein riesen Fehler. Siehst ja, wo uns das hingeführt hat.“

„Ich wusste nicht, dass er schwul ist. Ich dachte immer, dass genau hier das Problem lag, dass er genau deshalb gegangen ist.“

„Glaub mir, er war… ist schwul.“

„Warum hat er dann gelogen, es verheimlicht?“

„Sorry, keine Ahnung. Ich… ich kenne ihn schon lange nicht mehr“, kam es mit gesenkter Stimme. „Ich weiß gar nichts. Sieben Jahre lang habe ich nichts von ihm gehört, ihn nicht gesehen.“ Lienn bückte sich, hob einige Steine auf, die kurz darauf auf die Wasseroberfläche perlten.

„Wie er jetzt aussieht? Klar, dass ist das Einzige worüber ich Gewissheit habe. Ich brauche ja schließlich nur in den Spiegel zu schauen… aber sonst? Ich glaube auch nicht an diesen: Oh, wir sind Zwillinge und haben einen super Draht zueinander Quatsch, aber irgendwie wusste ich immer, dass er noch lebt. Bei meiner Mutter war es da ganz anders.“

Ich hing regelrecht an seinen Lippen, und das nicht aus dem Grund, dass sie genauso schön aussahen, wie jene, die ich immer küssen wollte.

„Ryan wollte immer bei allem der Erste sein“, fuhr er fort. „Alles zuerst haben, alles zuerst machen. Er fuhr als erstes Rad, er war der Erste, der ins Wasser sprang, der Erste, der auf den großen Baum kletterte und der Erste, der ein Mädchen küsste. Nicht, dass ich selber feige war oder so“, kam es mit einem Lächeln, seine Augen schauten verträumt übers Wasser hinweg. „Er wollte nur immer alles zuerst, wollte alles ausprobieren, was es auszuprobieren gab… Rauchen, Drogen, Sex… er war ziemlich frühreif würde ich einfach mal behaupten.

Mit 14 zog dann Mitchell in unsere Straße. Er war ein kleiner Unruhestifter und Ryan ließ sich nicht zweimal bitten, wenn es darum ging, irgendeinen Scheiß anzustellen. So sind Kinder halt in diesem Alter, meinte meine Mutter manchmal, wenn die Nachbarn sich wieder einmal beschwerten, doch hätte sie geahnt, wozu Mitchell Ryan noch verführte, hätte sie dieser Freundschaft wohl Einhalt geboten.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich sie in der Garage vorfand. Ryan, keuchend, mit den Rücken an die Wand gepresst und Mitchell, der vor ihm kniete und na ja… Gott, war ich geschockt, sag ich dir.“ Ein helles Auflachen.

Ich lächelte leicht, konnte ich mir das Bild nur zu gut vorstellen. Trotzdem, etwas in mir störte es, dies zu hören, etwas in mir schrie danach, diesen verlogenen Bastard in die Finger zu bekommen und ihm gehörig die Meinung zu sagen.

„Natürlich verriet ich ihn nicht bei unserer Mutter, doch konnte ich ihm tagelang nicht anschauen, zu peinlich war mir die ganze Situation. Zu der Zeit hatte ich noch nicht einmal ein Mädchen geküsst, und er ließ sich von einem Jungen einen blasen… das musste erst einmal verdaut werden.

Wie dem auch sei, das Ganze ging dann knapp ein halbes Jahr im Verborgenen weiter, bis Ryan die Schnauze voll hatte und es unserer Mutter und der halben Nachbarschaft lauthals bei einer ihrer berühmten Dinnerpartys auf die Nase band. Er machte sich nach dieser Verkündung natürlich schnellstmöglich aus dem Staub und ich musste mich statt seiner einer stundenlangen Befragung stellen. Immer wieder wollte sie von mir wissen, ob ich es ebenfalls sei, fragte mich aus, was Ryan betraf. Ich schwieg größtenteils, versicherte ihr allerdings, dass ich nicht schwul sei. Ihre Freundinnen machten den fehlenden väterlichen Einfluss dafür verantwortlich… mein Dad ist gestorben, da waren Ryan und ich elf, wusstest du das?“

Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Die Zeit nach seinem Tod war für uns alle kein Zuckerschlecken, aber wir Kinder schafften es schneller darüber hinwegzukommen, ich denke, Claire musste an diesen Verlust am meisten leiden, Mutter klammerte danach wie eine Klette an ihr.“

„Claire?“

„Claire ist unsere kleine Schwester, sie war vier als unser Dad starb, wahrscheinlich hätte sie sich nach ein paar Monaten nicht mal mehr an ihn erinnert, hätte Mutter sie nicht andauernd mit Fotos und Geschichten von ihm überhäuft.“

„Das kleine Mädchen auf den Bildern?“

Er schaute mich fragend an.

„Die Bilder an den Wänden“, erklärte ich mein Wissen.

„Ja, das ist Claire… besser gesagt, sie war es.“

„Oh… das tut mir leid.“

Ich suchte seinen Blickkontakt, auch wenn es mir peinlich war in diesem Moment.

„Das muss es nicht… es ist ja nicht deine Schuld. Aber… es ist seine“, kam es mit fester Stimme und man konnte das Fünkchen Wut ganz deutlich mitschwingen hören und ohne nachzuhaken, wusste ich, wen er damit meinte.

Ob er da nicht ein wenig übertrieb, so was war doch immer schnell dahin gesagt, doch ich traute mich nicht zu fragen, und so blieb es eine Weile einfach nur still.

„Es ist ein schöner kleiner See, nicht wahr?“

Mein Blick schweifte über das Wasser. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der Oberfläche wieder und interessante Pflanzen konnte man am Ufer erkennen.

„Ja, er ist wirklich schön“, stimmte ich zu.

„Als Kinder waren wir oft darin schwimmen, verbrachten eine Menge Zeit hier, sogar angeln konnte man, obwohl wir die Fische immer wieder zurückwarfen, nicht einen hatten wir jemals getötet und gegessen.

Claire war damals acht, es war Winter, kurz vor Weihnachten. Unsere Mutter war zu einem Wohltätigkeitsding und Ryan sollte auf Claire aufpassen bis ich um Vier von meinem Training kam. Nicht ganz Vier, wenn man es genau nahm… der Bus kam immer um acht Minuten nach an der Haltestelle an und ich brauchte dann noch ca. drei Minuten.

Als ich an diesem Tag nach Hause kam, wunderte ich mich schon ein bisschen, dass Ryan und Claire nicht aufzufinden waren. Ich ging in den Garten, zum See, aber nichts zu sehen von den beiden. Ich war zwar ein wenig sauer, da ich extra eine Verabredung abgesagt hatte, doch machte ich mir keine Sorgen oder so… warum auch, Ryan hatte Claire anscheinend mitgenommen. Zwar komisch, da er mit Mitchell ja Dinge tat, wo ein kleines Mädchen nicht gerade der beste Zuschauer war, doch was noch dran ändern? Ich machte mir was zu Essen, haute mich vor den Fernseher und dachte nicht weiter darüber nach.

Gegen sechs kam Mutter dann nach Hause und war ziemlich wütend darauf, dass Ryan Claire mit zu Mitchell genommen hatte. Dass sie nicht gerade gut auf ihn zu sprechen war, kann man sich ja vorstellen. Sie schickte mich los, Claire abzuholen, und so durchstreifte ich einige Anlaufplätze bis ich Ryan schließlich fand. Ja, Ryan fand ich, aber nicht Claire.

Zuerst verstand er gar nicht was ich genau von ihm wollte, doch als uns dann beiden bewusst wurde, dass hier etwas nicht stimmte, kroch die Angst in uns hoch. Wir rannten wie die Irren nach Hause… ich kann mich bis heute noch genau daran erinnern, wie sehr meine Lunge schmerzte, durch die kalte Luft, die ich beim Rennen einsog.

Die Stunden danach kann ich gar nicht mehr richtig beschreiben, sie waren die reinste Hölle. Claire fand man schließlich im See. Sie war wohl aufs Eis gegangen und eingebrochen… niemand hat es gemerkt, niemand hat ihr Schreien gehört… ihre verzweifelten Versuche sich zu… zu ret…ten… Ihr Körper war ganz blau, leblos… dieser Anblick... ich... wer... de…“

Dass seine Stimme brach, er anfing zu weinen, konnte ich gut nachvollziehen. Zu gerne hätte ich irgendetwas getan, ihn in den Arm genommen, irgendetwas gesagt, was ihm Trost spenden würde… doch ich traute mich nicht, es zu tun, und wusste nicht, was ich ihm sagen sollte.

Schneller als gedacht beruhigte er sich wieder, es schien ihm selbst ein wenig peinlich zu sein, vor einem Fremden seine Gefühle so deutlich zu zeigen.

„Ryan hat sie allein gelassen“, kam es hart. „Zehn Minuten, mehr nicht. Zehn Minuten, die er nicht warten konnte, um zu seinem Fick zu kommen. Zehn Minuten, mit denen er das Leben von Claire wegwarf. Zehn Minuten, die er brauchte um unsere Familie zu zerstören. Zehn Minuten, mehr nicht…“

Er stand auf und mein Blick schweifte noch einmal über das Wasser hinweg. Mit ein paar Worten hatte der See all seine Schönheit verloren.

Lienn ging wieder Richtung Haus. Für einen Moment war ich mir unschlüssig, ob ich ihm wirklich folgen sollte, vielleicht wollte er jetzt alleine sein, doch als er stehen blieb, zurückblickte, zeigte er mir ganz deutlich, ihm zu folgen.

„Meine Mutter hat ihm natürlich die Schuld an allem gegeben“, fing er wieder an, nachdem ich ihn eingeholt hatte. „Ihm und seinem Schwulsein. Gott habe ihn dafür betraft, hat sie ihm immer wieder hinterher geschrieen. Und so sehr ich ihn eigentlich liebte, war es die Wahrheit: Es war seine Schuld. Ich hasste ihn, verfluchte ihn, doch strafte ich ihn nicht mir Vorwürfen, die bekam er schon von Mutter und vielen anderen genug zu hören. Ich verletzte ihn damit, dass ich ihn nicht mehr wahrnahm, nicht mehr mit ihm sprach, ihn nicht mehr sehen wollte, keinerlei Notiz von ihm nahm.

In der Schule wurde er vorwurfsvoll angestarrt, niemand wollte mehr mit ihm befreundet sein, sogar Mitchell drehte ihm den Rücken zu, obwohl es doch seine Verabredung war, weshalb Ryan Claire alleine ließ. Ryan war gebrochen, verzweifelt und alleine. Zu Anfang freute ich mich regelrecht ihn darunter leiden zu sehen, ich wusste genau, wie viel Schmerz es ihm bereitete.

Doch dann… Zu oft hörte ich ihn weinen, immer wieder gab mir mein Verstand zu sagen, dass es doch nicht seine Absicht war, dass dies alles passiert ist, doch konnte ich mich nicht einfach wieder drehen… Ich fühlte mich als Verräter, wenn ich darüber nachdachte, ihm zu verzeihen, mir wünschte, ihn einfach in den Arm nehmen zu können und ihm zu sagen, dass alles wieder gut werden würde. Ich wusste, dass er so nicht leben konnte, irgendwann würde er total daran zerbrechen. Und so lief es schließlich darauf hinaus, dass er knapp einem Monat später, eines Nachts plötzlich an meinem Bett hockte.

Ob er wusste, dass ich wach war, ihn hörte, weiß ich nicht einmal. Er sagte mir, dass er mich lieb hat, er versicherte mir, dass er das alles nicht gewollt hatte, und dass er nie wieder jemanden verlieren wolle, den er liebt. Das waren seine letzten Worte an mich, am nächsten Morgen war er weg.“

Wir gingen durch die Küche zurück ins Haus.

„Möchtest du sein Zimmer sehen?“

„Ich weiß nicht“, gab ich überrascht von mir. Der plötzliche Themenwechsel warf mich ein wenig zurück.

„Du kannst dort schlafen, wenn du magst.“

„Schlafen?“

„Ja, es ist schon spät. Ich denke nicht, dass du noch einen Flug nach Philadelphia bekommst, wenigstens heute nicht mehr.“

„Ich denke, ich schlafe lieber in ei-“

„Einem Hotel?“, unterbrach er mich. „Kommt gar nicht in Frage, immerhin haben wir dir einiges zu verdanken. Du schläfst hier, keine Widerrede.“

Ein Lächeln, ein kleiner Wink in Richtung Treppe. Ich folgte ihm, doch mit jeder Stufe fühlte ich mich unwohler. Was würde mich hinter dieser Tür erwarten? Das Zimmer eines 15jährigen, eines Jungen, den ich nicht kannte?

„Nein, warte“, hielt ich ihn in dem Vorhaben auf, die Klinke hinunterzudrücken. „Kann… gibt es nicht einen anderen Raum, in dem ich schlafen könnte?“

„Doch schon, ich dachte nur…“

Er schien ein wenig verwirrt.

„Ich finde es nicht richtig“, entschuldigte ich mich. „Er hat mir nie etwas über sich erzählt… vielleicht wollte er ja gar nicht, dass ich irgendetwas weiß. Und nun kenne ich seine halbe Lebensgeschichte, ich finde es einfach nicht gut, wenn ich ohne sein Einverständnis noch mehr erfahre.“

„Gott, wie nobel“, grinste er. „Ich denke, ich wäre da eher der neugierige Typ.“ Er lächelte, stupste mich leicht an. „Na komm, ich zeig dir das Gästezimmer.“

Es wäre so einfach gewesen, mehr über Ryan zu erfahren. Wie er früher war, was er gerne mochte. Vielleicht würde ich es irgendwann bereuen, diese Chance nicht wahrgenommen zu haben, aber jetzt hielt ich es für das Richtige.

„Kommst du?“

Ich stieß mich vom glatten Holz ab, folgte Lienn ein paar Türen weiter.

„Tadaa, das ist dann also das Gästezimmer.“

Er stieß die Tür auf, ließ mich hineinblicken.

„Ok, danke.“

„Nichts zu danken, der Herr. Haben Sie sonst noch irgendeinen Wunsch?“

„Nein, alles bestens“, lächelte ich.

„Ach, Chris….“

„Ja?“

Ich drehte mich um.

„Darf ich… diesen Abschiedsbrief mal sehen?“

Sofort fing mein Herz an zu rasen, vollkommen unklar, warum dies passierte.

„Natürlich.“ Ich kramte in meiner Jackentasche, ließ besagten Gegenstand zum Vorschein kommen. „Bitte.“

„Danke.“

Er nahm ihn mir ab und starrte eine Weile einfach nur hinauf.

„Ist was?“

„Verrückt, nicht wahr? Da habe ich nach sieben Jahren etwas von ihm in der Hand und was ist es? Ein Abschiedsbrief!“ Sein gequältes Lächeln konnte ich nur schwer erwidern. „Macht es dir was aus, wenn ich ihn hier lese?“

„Nein, gar nichts. Wenn du willst, kann ich ihn dir auch als singendes Telegramm vortragen, mittlerweile kenne ich ihn in- und auswendig.“

Ich ließ mich auf den kleinen Sessel am Tisch fallen, Lienn setzte sich mir gegenüber aufs Bett. Ich beobachtete ihn, wie er noch eine Weile auf den Umschlag starrte. Seine Hände zitterten leicht, als er es endlich in Angriff nahm, das Geschriebene aus seiner Hülle zu befreien. Und dann fing er plötzlich an die Zeilen laut vorzulesen. Nicht damit gerechnet, stockte mir für einen Moment der Atem. Seine Stimme verbunden mit den geschriebenen Worten, ließen mich ihn schmerzlich anstarren.
 

Ja, tue es ruhig, denn ich weiß genau, dass dir im Moment danach ist.

Verfluche mich! Hasse mich!

Es ist OK!
 

Es hört sich vielleicht nicht richtig für dich an, aber glaube mir, dass ich gut nachvollziehen kann, wie du dich jetzt fühlst.

Ich wollte nie, dass es soweit kommt, wollte dir niemals wehtun.

Ich wollte nicht, dass du dich in mich verliebst, doch spürte ich schon lange, wie du wirklich empfindest, wochenlang schleppte ich dieses Wissen mit mir rum.

Irgendwie wusste ich schon als ich dich kennenlernte, dass es dazu kommen würde, und mit jedem Tag, der verging, betete ich dafür, dass es endlich wieder aufhörte, dass wir einfach nur Freunde sein könnten.

Ich versuchte damit klarzukommen, aber letztendlich schaffte ich es nicht. Ich konnte es nicht ertragen, von dir geliebt zu werden, nein, besser gesagt, überhaupt geliebt zu werden, auch wenn es manchmal das war, was ich mir am sehnlichsten wünschte.
 

Ich trage viele Geheimnisse und Lügen mit mir herum, aber ich denke, dass dir das irgendwie schon klar ist.

Ich danke dir dafür, dass du niemals versucht hast, mehr über mich zu erfahren, mich niemals bedrängt hast, dir etwas über mich zu erzählen. Ansonsten hätte ich dich nämlich schon viel früher verlassen müssen. Und eigentlich war das das Einzige, worin ich mich sicher war, es nicht zu wollen.
 

Es tut mir leid! Entschuldige, für alles was du durchgemacht hast, noch durchmachen wirst, bis du endlich schaffst, zu vergessen…
 

Ryan
 

~ * ~
 

Am Abend danach saß ich stundenlang auf meiner Couch, schüttete den besten Wein, den ich zu Hause hatte, in mich rein und las seinen Brief immer und immer wieder.

Mit dem neuen Wissen hatte ich zwar vieles erfahren, doch war mir immer noch nicht klar, warum er so gehandelt hatte, warum hatte er mich all die Zeit über belogen?

Ich machte ihm keinen Vorwurf wegen Claire. Es war jung, unbekümmert, er hatte einen Fehler gemacht… das kam täglich tausende von Malen auf der Welt vor…

Das Telefon klingelte.

Schwerfällig erhob ich mich, was erwarte ich auch nach der zweiten Flasche Wein?

„Corban“, kam es mit einer schon lange nicht mehr ertönten Stimme.

„Hi Chris, ich bin’s…“ Das kann nicht sein, warum ausgerechnet jetzt? „...Lienn.“

„Kannst du… mal kurz warten?“

„Na klar.“

Ich schaltete Lienn in die Warteschleife, musste für einen Moment all meine Kraft zusammennehmen um nicht umzukippen. Mein Atem ging schwer… ich…

„Scheiße verdammt!“ Mit voller Wucht traf das Glas samt Inhalt auf die gegenüberliegende Wand. Ich folgte der Flüssigkeit ihren Weg zum Boden hinab… wenigstens war es ein Weißer gewesen.

Ich nahm den Hörer wieder auf, stellte die Verbindung wieder her.

„Ja?“

„Hast du Besuch? Stör ich gerade?“

„Nein, ich habe nur ne kleine Sauforgie mit mir als alleinigen Gast abgehalten.“

„Oh…“

„Also, was gibt es?“

Meine Beine schwankten leicht, ich stützte mich auf der Kommode ab.

„Ich wollte fragen, ob es dir was ausmacht, wenn ich rüber komme?“

„Rüber komme?“

„Ja, ich weiß, dass du mir zwar sofort bescheid sagen würdest, wenn du etwas Neues hörst, aber jetzt… ich will, will ihn selber suchen Chris. Ich kann einfach nicht blöde hier rumsitzen, nachdem ich weiß, dass er noch lebt. Verstehst du das?“

„Ja… ja natürlich verstehe ich das.“

Ein Schwindelgefühl überkam mich.

„Also nichts dagegen?“

„Nein, wieso sollte ich? Immerhin ist er dein Bruder, du hast wohl mehr recht nach ihm zu suchen als ich.“

„Ok, dann werd ich wohl am Mittwoch fliegen.“

„Soll ich dich abholen, am Flughafen mein ich?“

„Das wäre Klasse. Ich ruf dich dann noch mal wegen der Uhrzeit an.“

„Ok.“

„Chris?“

„Ja?“

„Wir werden ihn finden… wir müssen.“

„Müssen wir?“

Mir wurde schlecht.

„Ja.“

Doch was wollte ich ihm sagen, fragen, wenn ich ihm gegenüberstehen würde?
 

Part 04 - Ende



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Kommentare zu diesem Kapitel (17)
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Von:  SemeMary
2009-02-11T19:35:02+00:00 11.02.2009 20:35
ja, sie finden ihrn!!!
...
tun sie doch, oder?
wenn nicht wäre das nämlich mächtig schade
und was du dem armen Ryan da alles andichtest, tzstzstzstzstzs...
mir gefällt's
wie immer, wunderbare storyline, vor allem die dramatische beschriebung bei der sache mit der kleinen schwester hat mir sehr gut gefallen, du hast ein händchen für schöne ausdrucksweisen
schreib immer schön weiter, dann schreib ich immer lieb kommis, ich verschlinge alles was du mir vorsetzt

*knuddels* Mary
Von:  Stoeffuelainchen
2009-02-08T15:13:24+00:00 08.02.2009 16:13
Hey,

es wird zwar kurz aber schön: Ich mag die Story besonders weil sie nicht so gradlinig verläuft.

Bye
Von: abgemeldet
2008-12-28T16:48:46+00:00 28.12.2008 17:48
hi!
endlich kam ich dazu zu lesen. das war natürlich mal wieder ein ding. er ist es also doch. natürlich ist es schön für den verlauf der geschichte aber ryan kann einem ja jetzt nur noch leid tun. was ihm alles passiert ist, ganz traurig darüber bin.
wieder ein super kapitel.

jetzt in den ferien finde ich bestimmt endlich mal zeit den rest der story zu lesen. freue mich schon sehr zu erfahren wie es weiter geht.
Von:  Yu_B_Su
2008-12-28T15:44:51+00:00 28.12.2008 16:44
Puh, ein ziemlich hartes Kapitel ... viel harter Stoff ... aber wie immer ganz nett geschrieben, wirklich.


Am Anfang hat mich irritiert, dass die Mutter plötzlich da war ... und dass ihm als Architekt keine Besonderheiten auffallen ... am Haus, der Anordnung der Zimmer ... naja.. des Gespräch mit Ryans Bruder war wirklich bewegend, man kann jetzt seine Persönlichkeit besser verstehen. Ryan hat nicht nur Angst vor sich selbst, sondern auch davor geliebt zu werden. In der Literatur bestrafen sich Menschen, die einen geliebten Menschen auf dem Gewissen haben, dadurch, dass sie alle Menschen, die sie lieben, vor den Kopf stossen. Nicht geliebt zu werden ist ihre Strafe für die Ewigkeit. Und das tut Ryan vermutlich auch. Was mich stört ist aber, dass selbst Lienn genauso oberflächlich ist wie der Rest von Chris' Umfeld: er hat seinem Bruder die ganze Schuld in die Schuhe geschoben, keine Selbstvorwürfe, ist ja schön, wenn man schon einen Sündenbock hat. Hätte er sofort nach Claire gesucht und sich nicht ins Haus gesetzt und gewartet, wäre es vlt. anders gekommen. Die Begründung für Ryans "Fehlverhalten" konnte ich ebenfalls nicht so ganz verstehen: ein Mensch hat nicht von Geburt an das Bedürfnis immer der erste zu sein. Vlt. war er lebhafter, Kontakte fielen ihm leicht etc. das wäre eine Begründung, finde ich. Die Diskusion um das Schwulsein war unnötig in die Länge gedehnt, klar über das Thema musste ja geredet werden, aber dass Chris nicht sofort erkennt worum es geht, ist doch etwas merkwürdig ... er ist ja sonst ziemlich clever.

Die Szene in der Garage fand ich ziemlich ... bewegend. Man versucht ja, das Leben eines Menschen in Kindheit, Jugend usw. zu unterteilen. Und Sex gehört nunmal in die Jugend mit Tendenz zum Erwachsensein und nicht in die Kindheit. Wenn man sowas liest ... es ist seine Jugendliebe ... die ihn im Stich gelassen hat, als es wichtig war ... obwohl man dabei leicht in Versuchung gerrät zu übertreiben ... was du aber nicht getan hast..

Immerhin hat die Geschichte jetzte eine Substanz, ein Ziel, man weis, wo es hingeht ... hoffentlich...

Ansonsten ist wieder alles toll: Tempo, Stil ...RG und Ausdrüchklichkeiten sind vernachlässigkbar klein.

Von:  _Haruka_
2008-10-24T13:05:13+00:00 24.10.2008 15:05
wah das is trauirig, aber du has das so schön geschrieben.
okay das nervt dich warscheinlich schon das x mal nach einander zuhören, aber denoch ist eso zumindest meiner meinung nach und ich les gern und viel aber weiß gott nicht alles ^^
soll heißen du hast ganz ganz ganz viel talend ^^
Von: abgemeldet
2008-10-14T19:03:31+00:00 14.10.2008 21:03
OMG. Er hat versucht nicht mehr schwul zu sein, weil er denkt das seine kleine Schwester deswegen sterben musste. Naja, ein Fünkchen wahr ist es ja schon. Er war zu ungeduldig. Oh mann, das ist sooooo traurig.
Von: abgemeldet
2008-09-27T18:43:10+00:00 27.09.2008 20:43
wow, also ich glaube ich hab ne neue lieblingsff ^^"
einfach nur wow! super geschrieben, story.. super, ok, dieses kapitel hat mir nicht so ganz gefallen aber ich bin sehr optimistisch dass sich das wieder ändert :)
und dass ich erst jetzt wieder ein kommi schriebe liegt daran dass ich einfach nicht aufhören wollte zu lesen ;)
Von:  Kunoichi
2006-12-30T17:03:17+00:00 30.12.2006 18:03
Jetzt wird mir so einiges klar! ^^ Deshalb will Ryan also nicht zugeben, dass er schwul ist. Weil deswegen damals so was schreckliches passiert ist. War aber auch eine traurige Geschichte mit seiner Schwester... Ich hätte nicht gedacht, dass Lienn Chris alles erzählt. Immerhin ist er ja wildfremd. Aber gut, Chris hat ja auch ausgepackt. In der letzten Szene dachte ich, Ryan wäre am Apperat. xD" Sollte wohl auch so wirken, hast du gut hingekriegt! Und endlich weiß man auch, was in Abschiedsbrief stand. Nun bin ich aber mal auf das nächste Kapitel gespannt! *_*
Von: abgemeldet
2006-08-13T17:14:44+00:00 13.08.2006 19:14
O hayo ^^y
jetz hab ich alle Kapi´s gelesen...
und find die FF immer noch Wow...Wahnsinnig gut...
Hoffe nur das Chris sich wieder fängt...
und das Lienne und er Ryan finden...
mata ne
Von: abgemeldet
2006-05-26T13:35:27+00:00 26.05.2006 15:35
Ich dachte ich geb mal den 51. Kommi ab ^^
Sry, dass ich es nciht fürher gelesen habe, aber jetzt hab ich mal endlich gemacht!
Hat mri super toll gefallen! Total viele neue geheimnisse wurden gelüftet vom Anfang an bis zu Ende!
Mach weiter so!
gglg
Shiko


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