Zum Inhalt der Seite

Die Weiße Schlange

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Das Herz einer Yosei

"Wo ist sie!?"

Shidos Augen loderten, als er Aurinia an den Schultern ergriff und wild zu schütteln begann, dass ihr rotes Haar nur so flog.

"He! Halt dich gefälligst zurück, Gockelkopf!"

Yasha fiel ihm in die Arme und brachte die beiden wieder auseinander.

"Jetzt komm mal wieder runter! Beruhige dich..."

"Beruhigen?" Shido schrie beinahe. "Verdammt nochmal, sie war doch eben noch hier! Und jetzt..."

Yasha wollte etwas sagen. Auch er wirkte mehr als nur verwirrt, seit die junge Madoka vor ihrer aller Augen einfach so verschwand. Aber er hatte sich besser in der Gewalt, als der junge Mann, der nun mit hochroten Wangen und zutiefst verzweifeltem Gesichtsausdruck vor ihnen stand. Aurinia kam Yasha jedoch zuvor. Sie seufzte. Und dies tat sie so abgrundtief und traurig, dass beide, sowohl Shido-san, als auch der Halbdämon, verdutzt zu ihr hinübersahen.

"Ich... denke... Ich bin euch eine Erklärung schuldig. Wir sollten..."

"Wieso...?", Shidos Augen weiteten sich. "Willst du damit sagen, dass du GEWUSST hast was passieren wird?"

Für eine Weile war er komplett sprachlos. Er starrte sie an.

"WER bist du?", hauchte er schließlich.

"Es würde einfach zu lange dauern, das jetzt... Lasst uns später..."

"Na, schön! Spitze!"

Shido gewann seine Selbstbeherrschung zurück - oder das, was noch davon übrig war.

"Wenn du über alles so gut Bescheid weißt, dann SAG MIR ENDLICH, WO MADOKA IST!"

"Sie ist zurückgekehrt."

Es war nicht die Yosei, die auf seine Frage antwortete.

"Sie ist in ihre Zeit zurückgekehrt, ist es nicht so, Aurinia-chan?"

Die Yosei blickte Yasha aus unergründlichen, grünen Augen an. Sie nickte leicht.

"Was...? Nein... Das kann nicht..." Shido taumelte zurück wie unter einem Hieb. Er fuhr sich mit der Hand zerstreut durchs Haar, hatte offensichtlich Mühe, das Ganze zu verstehen.

"Einfach... so...", flüsterte er.

"Ich hatte keinen Einfluss auf den Zeitpunkt oder die Art und Weise ihrer Rückkehr. Das hatte ganz allein sie selbst in der Hand. Aber mir war klar, dass sie eines Tages zurückkehren würde.", sagte Aurinia leise und traurig. Plötzlich sah der junge Mann auf. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen blieb unverwandt auf den der Yosei gerichtet. Er kam auf sie zu - Yasha spannte sich, bereit erneut einzugreifen, wenn dies nötig sein sollte. Doch Aurinia winkte ihn zurück. Sie sah Shido-san ruhig entgegen. Yasha warf seiner Freundin einen merkwürdigen Seitenblick zu. Wusste sie etwa bereits wieder, was nun folgen würde?

"Mir ist egal, was oder wer du wirklich bist. Aber..."

Shido schwieg einen Moment. Er schien einen Entschluss zu fassen, und sah dann mir einem Ruck auf.

"Aber, wenn es in deiner Macht steht... Ich will zu ihr. Ich will zu Madoka."

Yasha riss ungläubig Mund und Augen auf.

"Bist du völlig...?"

Aurinia unterbrach ihn.

"Yasha, es ist gut. Lass mich mit ihm reden."

Shido zitterte. Seine Augen waren groß, dunkel und hoffnungsvoll.

"Ich habe nicht die Macht dazu, dich in ihre Zeit zu schicken, Shido-kun.", sagte die Yosei nun leise.

"Aber..." Shido verlor bereits wieder die Fassung.

"Es MUSS doch einen Weg geben! SIE hat es doch auch geschafft! Ich... Ich will ihr folgen! Ich MUSS!"

Der junge Mann hatte in seiner Verzweiflung bereits wieder die Hände in ihre Richtung gehoben, doch er ließ sie sinken, ohne Aurinia berührt zu haben - und das lag nicht an dem drohenden Blick Yashas hinter ihr. Es schien, als hätte er von einem Moment zum anderen sämtliche Kraft verloren und stünde nur noch, weil das Schicksal so grausam gewesen war, ihn genau in dem Moment all seiner Kräfte zu berauben, indem er hier vor ihnen und aufrecht stand. Es sah nicht so aus, als würde er auch nur noch einen Schritt tun können.

"Wenn ich... nicht bei ihr sein kann..." Er schluckte.

"Ich... Ich liebe sie..."

Es war erneut an Yasha, ungläubig den Mund aufzureißen - aber auch dies schien Aurinia nicht zu überraschen. Natürlich nicht.

"Shido...", ihre Stimme klang schmerzlich.

"Was...?", der junge Mann blickte angriffslustig auf.

"Ist es... so abwegig, dass ich sie liebe? Die Freundin meines besten Freundes? Takeo ist TOT! Ich hätte... niemals... meine Gefühle so offenbart, wenn Takeo nicht..."

Eine lange Zeit sagte niemand etwas. Nur der Wind rauschte durch die nun spärlicher belaubten Zweige der umstehenden Bäume.

"Wenn es... wirklich dein Wunsch ist zu ihr zu gehen,...", sage Aurinia schließlich in die Stille hinein. "... dann kannst auch nur du selbst den Weg zu ihr finden."

Shido-san blickte sie an. Lange. Ohne wirkliche Überraschung konnten der Halbdämon und die Yosei Spuren von Tränen auf den Wangen des so hünenhaften und unerschütterlich wirkenden jungen Mannes erkennen. In diesem Moment wirkte er so hilflos wie ein kleines Kind.

"Ich... habe nichts mehr, was mich hier hält.", sagte er nun leise.

"Ich werde meinen Weg zu ihr finden. Und wenn ich... mein Leben damit verbringe ihn zu suchen."

Yasha schüttelte unwillig seine lange, weiße Mähne.

"Ist dir klar, dass das Mädchen, selbst wenn es dir gelingen sollte in ihre Welt zu gelangen, vielleicht niemals deine Gefühle erwidern wird?", gab der Halbdämon nun zu bedenken. Er schien seine Überraschung weitestgehend überwunden zu haben und verlegte sich ausnahmsweise einmal auf rationales Denken.

Shido nickte schwach.

"Das ist mir bewusst. Ich... ich will... nur bei ihr sein... Immer..."
 

~~~oOo~~~
 

Und auch hier, beim Verschwinden Shidos, ging alles sehr schnell, vollkommen unvermittelt und übergangslos vonstatten. Von einem Moment zum anderen war der junge Mann einfach nicht mehr da. Yasha KONNTE sich einfach nicht daran gewöhnen. Verdattert starrte er auf die Stelle, wo Kanzaki-san soeben noch gestanden hatte. Völlig unspektakulär und lautlos war nun also auch Shido verschwunden. Und Yasha hatte mit einem Mal, vielleicht das erste Mal überhaupt seit er sie kannte, ein ganz merkwürdiges Gefühl Aurinia gegenüber. Jetzt, wo er hier allein neben ihr stand, war es nicht wie sonst zwischen ihnen. Diese Vertrautheit, das blinde Vertrauen, war... etwas anderem gewichen. Und Yasha fragte sich einmal mehr: Wer war Aurinia wirklich? Wer war diese Frau, die er so sehr liebte?

Es tat weh, überhaupt so zu denken. Er liebte sie wirklich. Doch... wer war sie? Über was für Kräfte gebot sie? Er hatte keine Angst vor ihr. Nicht wirklich. Aber er fragte sich, was dieses schlanke, beinahe grazil wirkende Wesen noch so vor ihm verbergen mochte. Traute sie ihm nicht?

Aurinia drehte sich herum und schaute hinüber zum Waldrand. Der Wind hatte aufgefrischt und auch die Sonne war wieder hinter grauen Wolkenschleiern verschwunden. Das dunkelrote Haar der Yosei umfloss sie wie ein Mantel, umspielte ihren schlanken Leib.

"Warte hier. Bitte.", bat sie plötzlich schlicht und war mit schnellen, lautlosen Bewegungen in Richtung Waldrand verschwunden, noch ehe der Halbdämon überhaupt begriff, was vor sich ging.

Jetzt war er GANZ allein. Er fragte sich, was an diesem so seltsamen Tag wohl noch alles geschehen mochte.
 

~~~oOo~~~
 

Aurinia musste nicht weit laufen. Sie kannte den Weg.

Hier, zu Füßen des mächtigsten und ältesten Baumes des Waldes, hatte sie bereits als Kind gespielt. Dies war viele hundert Jahre her. Der Baum war nicht von dieser Welt. Er hatte die Gezeiten überdauert, so wie es das Volk der Yosei getan hatte - und immer waren sie in gegenseitigem Einvernehmen Hüter und zugleich Bewohner dieses Waldes gewesen. Doch nun hatte sich vieles verändert. Viele vom Volke der Yosei waren fortgezogen. Nicht einmal die Zurückgebliebenen wussten wohin sie gegangen waren. Aber die Menschen breiteten sich in ihren großen, übelriechenden Städten immer weiter aus, verdrängten die Völker des Waldes an die Grenzen der hiesigen Welt und der Zeit. Und das Schlimmste war: Die Menschen wussten nicht einmal, dass es Yosei oder Dämonen gab. Sie hatten begonnen zu vergessen. Und nicht nur Aurinia wusste, dass dies ein fortlaufender Prozess war.

Sie war eine der wenigen Yosei gewesen, die sich auch nach der rigorosen Ausbeutung der Natur und des Lebensraumes der Naturvölker dazu bereit erklärt hatte mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, die Beziehungen zwischen ihren Völkern, wie sie fremdartiger und faszinierender nicht sein konnten, aufrecht zu erhalten und sie positiv zu beeinflussen.

Doch sie waren nur noch wenige. Die meisten waren fortgegangen. Verschwunden. Und mit ihnen das, was das Herz der Wälder ausgemacht hatte.

Aurinia trat an den mächtigen Stamm des uralten, knorrigen Baumes heran, den selbst ein Dutzend Yosei nur mit Mühe umspannen konnten, und lehnte die Stirn an die kühle, feuchte Rinde. Sie schloss die Augen.

"Es ist getan.", flüsterte die junge Yosei, die im Grunde bereits sehr alt war, nun leise.

"Ich habe es gesehen, meine Tochter."

Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild einer hochgewachsenen, strahlenden Gestalt. Ihre Konturen schienen permanent in Bewegung zu sein, zu verschwimmen, sodass es nicht möglich war mehr als nur dies zu erkennen. Es war die älteste und weiseste Yosei des Waldes.

In Aurinias Volk gab es keine Herrscher und keine Beherrschten. Sie alle waren gleichgestellt. Doch dieses Wesen war älter und weiser als sie alle zusammen, älter noch als die Zeitrechnung, ja vielleicht älter als diese Welt und zeigte sich ihnen nun in dieser Gestalt. Und das Volk der Yosei wandte sich seit altersher an sie, wenn sie Rat und Hilfe suchten.

Weiß und strahlend stand die Yosei vor Aurinias geistigem Auge. Sollten die Menschen jemals - durch Zufall oder von den Yosei gewollt - solch ein Wesen gesehen haben, dann erübrigte sich die Frage, woher die Legende der Engel kam...

Fließend, weiß und lang war das Haar der Ältesten, deren Gesicht, das nun deutlicher zu erkennen war, ohne Alter und vollkommen emotionslos wirkte. Aurinias geistiges Ich hatte Mühe, dem Blick aus diesen brennend kalten und wissenden Augen standzuhalten.

"Was du getan hast, Tochter, war gut getan."

Aurinia merkte überrascht, dass sie weinte. Nicht oft noch war es einem aus ihrem Volk vergönnt, die Älteste zu sehen.

"Aber... es gab so viele Opfer…", hauchte sie.

"Die Menschen haben es selbst so gewollt. Es war nur wichtig, das Kind zu retten und in die neue Zeit zu bringen. Dies ist geschehen."

So wie das Gesicht der Ältesten zeitlos wirkte, so hörte sich ihre Stimme, die Aurinia nur in ihrem Kopf mehr spüren als wirklich hören konnte, geschlechtslos und ausdruckslos an. Machtvoll, weise und uralt.

"Ja, das Kind ist gerettet.", sagte sie leise.

"In der Zukunft dieser jungen Frau wird das Kind, das sie bekommen wird, den Geist zweier Völker vereinen. Und es wird womöglich der einzige Mensch sein, der noch an die Existenz der Naturvölker glaubt."

"Warum seid ihr so sicher, dass dieses Kind der Schlüssel für unsere Rettung ist?", wagte es Aurinia zu fragen.

"Wie kann ein einzelner Mensch den Geist eines gesamten Volkes beeinflussen und ändern?"

"Das können wir nicht sagen. Was wir wissen ist, dass dieses Kind die Wende bringen und unser Volk nicht ausgelöscht werden wird. Glaube mir wenn ich sage, es war wichtig und notwendig dies alles auf dich zu nehmen, meine Tochter."

Aurinia schüttelte den Kopf.

"Ich verstehe es nicht..."

Und nun kam die Älteste auf sie zu, umfasste sanft ihr Gesicht mit beiden Händen, ohne dass die junge Frau indes auch nur den Hauch einer Berührung verspürte.

"Selbst uns bleiben die Wege des Schicksals oft verborgen. Selbst wir haben kaum Einfluss auf das, was kommen wird. Doch wir können dazu beitragen, dass die Welt ein wenig ausgeglichener wird und zu ihren Wurzeln zurückfindet. Wir können nicht vorhersagen, was die Bestimmung oder die Aufgabe dieses Kindes in der Zukunft sein wird. Doch es wird mit dem Geist des Samurai und der inneren Stärke und den Erinnerungen seiner Mutter einen Weg finden, den Menschen wieder die Augen für das Wesentliche zu öffnen. Und es wird glauben. An uns, an das was war. Allein dadurch ist bereits unsere Existenz in der Zukunft gesichert. Und wenn es nur noch einen einzigen Menschen auf der Welt geben sollte, der glaubt, dann werden wir leben - und gemeinsam die Kraft finden unseren Lebensraum zu erhalten. Unsere und ihre Welt haben sich längst miteinander verbunden.

Wir, die wir zurückgeblieben sind, müssen die Kraft haben zu bleiben, zu akzeptieren - mit allen Konsequenzen die das mit sich bringen mag. Wir müssen lernen, uns gegenseitig zu respektieren und den Freiraum zu geben, den wir brauchen. Und wir müssen dafür sorgen, dass man die Natur nicht mit Füßen tritt. Denn sonst sind auch WIR verloren."

Aurinia fühlte heiße Tränen über ihre Wangen hinabrinnen.

"Aber wir haben mit dem Leben UNSCHULDIGER gespielt! Wir haben sie BENUTZT! Wir haben nicht das Recht dazu, unsere eigenen Bedürfnisse über die der Menschen zu stellen, selbst wenn es dabei um unsere Existenz geht! Dieses Mädchen... Sie hat geliebt! Wisst ihr, was dies bedeutet? Sie hat mit Herz und Seele geliebt - und ist innerlich zu Grunde gegangen beim Tod der Liebe ihres Lebens. War es das wert? Mussten wir sie so verletzen? Dass ein Krieg und eine politische Auseinandersetzung, vielleicht sogar der Tod des Hitokiri, unvermeidlich waren ist mir klar. Doch wir hätten NIEMALS mit dem Leben einer unschuldigen, jungen Frau solch ein grausames Spiel treiben dürfen!"

Ihre Tränen hatten sich in weißglühenden Zorn verwandelt. Aurinias Augen brannten. Nie zuvor hatte es jemand gewagt, so mit der Ältesten zu sprechen. Aber sie verspürte keine Angst. Vielleicht war auch die Zeit der Ältesten vorüber.

"Es war ihre eigene Entscheidung zu lieben. Unsere Zukunft wäre verloren gewesen, hätte sie es nicht getan, aber... Sie wurde nicht gezwungen zu lieben."

Die Weiße Yosei zog sich von ihr zurück, wurde blasser. Sie war nicht zornig, wirkte nur ein wenig traurig. Aurinia riss die Augen auf.

"Ihr hattet... die Möglichkeit, dass sie sich NICHT verliebt und alles umsonst gewesen sein könnte mit EINKALKULIERT?"

Sie wandte sich ab. Bitter klang ihr Stimme als sie nun sagte:

"Was die Menschen tun ist ohne jeden Verstand und nicht richtig. Doch was IHR tut... ist ebenfalls falsch. Ich will mir nicht anmaßen zu behaupten, dass ich die perfekte Lösung für alles hätte, doch dies kann sie nicht gewesen sein. Vielleicht wäre unsere Zeit einfach gekommen gewesen. Vielleicht hätten wir tatsächlich gehen sollen. Alle. Vielleicht ist unsere Zeit herum und wir wehren uns mit Macht gegen etwas, das ohnehin unausweichlich feststeht."

Und vielleicht, so dachte sie, ist dieses alte Wesen nicht so weise, wie wir alle angenommen hatten.

Nichts und niemand war unfehlbar. Vielleicht war dieses Geschöpf bereits ZU alt, um noch die Geschicke der Welt und ihren ständig schneller werdenden Wandel zu verstehen. Von welcher Seite man es auch betrachten wollte, Aurinia hatte nicht mehr die Kraft und den Willen der Ältesten zu folgen, was oder wen auch immer sie nun verkörpern mochte. Sie konnte sich mit ihrer Denkungsweise nicht mehr identifizieren. Und sie fasste einen Entschluss, den sie schon viel früher hätte fassen müssen.

Die Älteste war nun nur noch ein blasser Schemen in ihren Gedanken, pulsierend und schwach.

"So wendest also auch du dich von mir ab, meine Tochter. Und ich kann es dir nicht verdenken. Vielleicht hast du Recht und unsere Zeit ist unwiederbringlich vorbei. Dennoch glaube ich, dass es wichtig ist, wenn auch die Nachwelt von uns weiß, wenn man uns und die Natur nicht vergisst."

Aurinia öffnete die Augen, trat von dem Baum zurück und blickte hinauf in die mächtige, ausladende Krone, in deren Zweigen schon seit Jahrhunderten die Melodie des Windes zu hören war.

"Das werden sie nicht. Ich... hätte bereits viel früher eingreifen sollen. Ich hätte, wenn ich das Leid der jungen Frau nicht ertragen konnte, bereits viel früher etwas tun müssen, um dem Einhalt zu gebieten.“

Sie hielt kurz inne. In der Tat hatte sie einen schwachen Versuch unternommen Takeo zu warnen, indem sie ihm damals, nach dem Aufenthalt in ihrer Höhle, Yasha hinterhergeschickt hatte. Es war ein Alibi-Versuch gewesen, den Ereignissen noch irgendwie eine andere Wendung aufzunötigen. Doch sie hatte bereits zu jener Zeit erkannt, oder dies zumindest geglaubt, dass es zu spät war. Anhand von Madokas Reaktion bei Yamazakis Fortgang war deutlich abzusehen gewesen, wie es enden würde. Trotzdem hatte sie sich kurz aufgelehnt gegen ein Schicksal, dass bereits vorgegeben gewesen war, hatte versucht die Liebenden zur Vernunft zu bringen – und selbst eigentlich schon gewusst, wie unnütz dies war. Dennoch… wenn sie es WIRKLICH gewollt hätte…

„Es hätte in meiner Macht gelegen“, fuhr sie bitter fort.

„ Ich hätte meinen Überzeugungen folgen sollen. Doch ich habe es nicht getan. Man mag behaupten, dass ein Menschenleben im Vergleich zu dem von Vielen, im Vergleich zum Leben vieler hundert Yosei oder Dämonen, nicht viel wert ist. Doch ich teile diese Meinung nicht. Wenn ich auch nur einem einzigen Menschen, auch nur einem einzigen Wesen, Leid ersparen kann, so sollte ich es tun - und nicht zögern, nur, weil es eine "höhere Macht" mir befiehlt. Ich nehme die Schuld auf mich. Ich werde mit ihr Leben müssen. Ich habe nur zugesehen. Ich hätte handeln müssen. Es tut mir Leid. Aber ich muss nun meinen eigenen Weg gehen. Ich will versuchen, es wieder gutzumachen. Und dazu brauche ich deinen Einfluss nicht mehr."

Erneut spürte sie Tränen in sich aufsteigen. Ein Jahrhunderte andauernder Abnabelungsprozess hatte nun seinen Höhepunkt erreicht.

"Du hast uns durch die Zeiten mit weiser, starker Hand geführt. Ich werde mich immer an dich erinnern und beherzigen, was du mich bereits als Kind alles gelehrt hast. Doch nun trennen sich unsere Ansichten, unser Verständnis und letztendlich auch unsere Wege."

Sie legte eine Hand auf die knorrige Baumrinde.

"Lebe wohl... Mutter..."
 

~~~oOo~~~
 

Als Aurinia zurück zu der Lichtung ging, wo ein reichlich verwirrter Halbdämon auf ihre Rückkehr wartete, tat sie in Gedanken Abbitte. Nicht alles, was die Älteste zu bedenken gegeben hatte war falsch. Und Aurinia war klar, dass auch ihre eigene Existenz gefährdet gewesen wäre, wenn sie nicht diesem Weg gefolgt wäre, wenn sie Madoka tatsächlich bereits kurz nach ihrer Ankunft in dieser Zeit den Rückweg gezeigt und alles verhindert hätte. Dass es nun ausgerechnet Madoka getroffen hatte... Nun, die Wege des Schicksals waren oft unbegreiflich. Aber was auch geschah, sie hätte selbst den Untergang ihres Volks akzeptieren können, wenn sie dafür das endlose Leid dieses einen Menschen hätte verhindern können. Die Menschen nannten dies späterhin Ethik. Sie selbst nannte es Mitgefühl. Mitleid.

Der Krieg würde in die Geschichte eingehen. Der Tag, an dem die Eliteeinheit der Shinsengumi endgültig zerschlagen und die gerade erst neu etablierten Truppen der Kaisertreuen ebenfalls beinahe bis zur vollständigen Auflösung aufgerieben wurden, würde niemals in Vergessenheit geraten. Das große Opfer eines einzelnen Menschen, einer einzigen jungen Frau, wahrscheinlich sehr wohl.

Aurinia wollte niemals wieder nur danebenstehen und zusehen. Sie würde nun ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sie würde den Menschen auf ihre Weise helfen. Vielleicht konnte sie so eine Brücke zwischen den Völkern schlagen. Vielleicht, wenn sie selbst ohne Vorurteile an die Menschen heranging, so wie bisher, vielleicht, wenn sie selbst den Menschen zeigte, was sie besser oder anders machen könnten, vielleicht wurde sie dann als eine der ihren akzeptiert.

Alles was sie wusste war, dass sie nun kein Zuhause mehr hatte. Sie war keine Angehörige des Volkes der Yosei mehr.

Dennoch... sie lebte und würde ihren Weg finden. Egal ob sie nun von den Menschen akzeptiert werden würde oder nicht.
 

Yasha sprang von seinem Platz auf, an dem er neben dem schlafenden Shigeru gesessen hatte, als er die Schritte der Yosei gewahrte, lange bevor er sie wirklich sah. Und er sah ihrem wunderschönen, beinahe zeitlos wirkenden Gesicht sofort an, das etwas sehr Bedeutsames vorgefallen sein musste.

Dennoch, und das rechnete sie ihm sehr hoch an, sagte er zunächst kein Wort, sondern ging ihr lediglich entgegen und schloss sie fest in seine Arme.

Lange Zeit standen sie so da. Der leichte Wind umwehte sie, fuhr in ihre Haare und ließ sie miteinander verflechten, sich umspielen. Schließlich löste sie sich sanft aus seinen Armen. Der Blick

ihrer grünen Augen war unergründlich.

"Ich... werde dir nun etwas über mich erzählen, was du noch nicht weißt, Yasha."

Und während sie langsam über die Lichtung schritten, sich schließlich am Ufer des Flusses niederließen, erzählte sie ihm alles.

Die Yosei berichtete alles über Madokas Erscheinen, über ihre eigenen Aufgaben, über ihr Wissen und ihre Unfähigkeit zu Handeln. Sie berichtete auch über die Älteste und wie das Volk der Yosei ihr seit altersher nachfolgte. Sie erzählte ihm vom Schicksal und von der Absicht, es zu ihren Gunsten beeinflussen zu wollen.

Sie erzählte ihm von ihrem Bruch mit dem eigenen Volk.

"Der Krieg, Takeos und Mamorus Schicksal, die Liebe zwischen Takeo und Madoka, unser Zusammentreffen, der Tod so vieler Unschuldiger... Das alles ist untrennbar miteinander verbunden - auch wenn der Krieg ohnehin, auch ohne das Auftauchen des Mädchens, stattgefunden hätte. Doch nun sind wir alle Teil der Geschichte geworden, ob wir es nun wollten oder nicht. Wir haben die Zukunft beeinflusst. Es war nicht mein Wille - doch es ist geschehen, weil ich... es nicht verhindern konnte. Ich hatte der Richtigkeit des Handelns der Ältesten vertraut - und dabei etwas ganz Entscheidendes außer Acht gelassen: Jeder muss seinen eigenen Weg finden und ihn konsequent beschreiten. Wenn ich mit dem Plan der Ältesten nicht einverstanden war, hätte ich von Anfang an den Mut haben müssen es zu sagen und etwas zu tun. Man muss für seine eigenen Überzeugungen einstehen. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich werde diese Schuld mein Leben lang mit mir tragen. So wie Takeo mit dem Mord an so vielen Unschuldigen leben musste."

Sie schaute auf und begegnete Yashas Blick. Und was sie in seinen bernsteingelben Augen sah, hatte sie noch nie zuvor darin sehen können. Da war ein solch tiefes... Verständnis und ein unerschütterliches Vertrauen, eine so tiefe Liebe zu ihr, dass ihr schwindelte. Sie hatte dieses Vertrauen nicht verdient. Nicht nachdem, was sie ihm alles verschwiegen hatte.

Doch Yasha konnte ihren inneren Kampf, ihre Verzweiflung und Trauer genau spüren. Er wusste, dass sie genug litt. Er würde ihr nie wehtun können.

Er wollte ihr beistehen. Jetzt - und für alle Zeiten.

Er griff nach ihrer Hand.

"So bist auch du nun eine Ausgestoßene deines Volkes. So wie ich nur ein Halbdämon bin und weder von den Menschen, noch von den Dämonen als solcher akzeptiert werde, so wirst du von nun an weder Mensch noch Yosei sein. Es ist sehr mutig von dir, dich deinem Volk zu widersetzen, deinen eigenen Weg zu gehen. Doch sei versichert: Ich verstehe dich. Ich liebe dich so wie du bist. Und ich werde dich unterstützen auf dem Weg, den du gewählt hast weiterzugehen. Ich bleibe bei dir, wenn du das möchtest. Für immer. Meine kleine Aurinia..."

Sanft strich er über ihre Wange. Tränen stürzten aus ihren Augen. Aurinias Hand schloss sich so fest um die des Halbdämons, dass es BEIDEN weh tun musste. Sie war unfähig zu sprechen, unfähig sich zu rühren. Noch nie zuvor hatte ihr jemand solche Worte gesagt. Er akzeptierte sie. So wie sie war. Mit all ihren Fehlern. Dafür würde sie ihn ewig lieben.

Immer noch sprachlos beugte sie sich vor und ließ sich erneut von ihm in seine Arme ziehen. Seine Hand glitt zärtlich durch ihr Haar und er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Irgendwann, nach langer Zeit, war sie endlich wieder in der Lage den Kopf zu heben und ihn anzusehen.

"Ich liebe dich, Yasha. Es gibt keine Worte die... beschreiben könnten... wie sehr..."

Er zog sie an sich und küsste sie. Zunächst zart und forschend, dann fester, drängender, verlangender. Und sie ließ sich mit einem leisen Seufzen zurück in das hohe Gras sinken, als er sich nun über sie beugte und sie leidenschaftlich zu lieben begann.
 

~~~oOo~~~
 

Die Lichtung lag verlassen da.

Der Frühtau ließ das Gras wieder feucht in der noch schwachen Morgensonne funkeln. Der Wind hatte sich gelegt. Der Bach murmelte in seinem Bett, wie er es schon seit Menschengedenken tat.

Es herrschte eine tiefe, allumfassende Stille.

Die uralten, mächtigen Bäume schauten nun wieder auf eine Lichtung hinab, auf der nichts mehr davon zeugte, dass hier vor kurzen noch Reisende genächtigt hatten. Zwei frisch aufgeschichtete Erdhügel unter einem der mächtigsten und größten der alten Bäume verrieten nur, dass sie etwas zurückgelassen hatten. Hier ruhten die Körper zweier Menschen, die nun in tiefer Stille die Vergebung und Ruhe fanden, die sie im Leben nicht gefunden hatten. Wie seltsame und uralte Wächter der Zeiten umstanden die großen, in herbstliches Laub gekleideten Riesen die Lichtung und lauschten den schwächer werdenden Stimmen, die sich von hier entfernten.
 

Die Morgensonne stand tief als sie den Waldrand erreichten.

Doch sie hatten den Wald in anderer Richtung verlassen, sodass ihr Blick nun über eine weite Ebene mit Reisfeldern, unbefestigten Straßen, kleinen Wäldern und Flüssen glitt, nicht über eine brandverheerte Stadt. Kyoto lag nun weit hinter ihnen.

Entschlossen nahm Yasha die Zügel Akumas auf. Das nachtschwarze Schlachtross von Takeo trug die zusammengesunkene Gestalt des verletzten Sayan Shigeru auf seinem Rücken.

Aurinia trat an seine Seite. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Einer noch unbekannten, möglicherweise jedoch besseren Zukunft entgegen. Ihre Körper waren nur als Schatten vor der orangenen Scheibe der aufsteigenden Sonne auszumachen, als sie langsam hügelabwärts und weiter, immer weiter gingen.

"Meinst du, wir werden irgendwo etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf finden? Shigeru braucht einen Arzt.", sagte Yasha.

Aurinia zuckte mit den Schultern.

"Wir werden jemanden finden der uns hilft. Vielleicht können wir uns unser Essen ja erarbeiten."

Ihre Stimmen wurden leiser.

"Mmmmhh... Ich frage mich... was Shido, der alte Gockelkopf, jetzt wohl treibt..."

"Ich weiß es nicht.", konnte man die Yosei antworten hören.

"Ich... denke, aufgrund seines starken Willens und der festen Entschlossenheit Madoka zu finden, wird er schon bald sein Ziel erreicht haben. Aber er hätte sich wenigstens noch von mir verbinden lassen können... Nun ja, er ist stark. Er schafft es sicher trotzdem."

Sie Stimmen waren vom leichten Wispern und Flüstern des Windes in den Wipfeln der Bäume nun kaum noch zu unterscheiden, wurden undeutlicher.

"Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du einen unerschütterlichen Optimismus hast?" Yasha schnaubte. Aurinias helles, leichtes Lachen klang von Ferne herüber.

"So etwas kann man lernen..."

Und so gingen sie dahin.

Ihre Schatten wurden kleiner - und verschwanden schließlich ganz, als sie dem Horizont entgegengingen.

Und der Wald lag wieder verlassen, still und in vollkommenem Frieden.
 

**********************************************************************************
 

Haaaallöchen!^^
 

Und hier verabschiede ich mich nun von zwei (bzw. DREI - Sorry, Shigeru-san, hätt dich fast vergessen...) weiteren Lieblingscharakteren von mir. Yasha und Aurinia.

Ich hoffe, das ganze Gesülze von wegen Naturschutz und so ödet euch nicht an... Ich hatte hin und her überlegt, wie ich Aurinias Rolle enden lassen sollte, und ich habe mich für die Rebellin entschieden, die, die sich gegen ihr Volk auflehnt. Ich fand die Idee irgendwie reizvoll, zumal jetzt beide, sowohl Yasha als auch sie selbst nun "Außenseiter" sind.^^

Was "das Kind" angeht... Nun ja, sicher haben bereits einige von euch zu dem Zeitpunkt geargwöhnt dass Madoka schwanger ist, als Aurinia ihr die Hand auf den Unterleib legte um dies halt nachzuprüfen.

Ich wollte Madoka UNBEDINGT ein kleines "Taschentuch" mit auf den Weg geben - naja, und das ist es dann geworden...

Ich denke, jetzt kommen noch so zwei Kapitel, dann ists endgültig vorbei.

Und mit jedem Kap trenne ich mich nun von liebgewonnenen und ans Herz gewachsenen Charas... *schnief* *heul*

Hätt nicht gedacht, dass mir das so nah geht...

Nyo, ich hoffe, ihr bleibt mir bis zuletzt gewogen - auch wenn ihr die Pointe nun bereits kennt. Aber es sollte schließlich auch klar herausgestellt werden, dass das Kind von langer Hand geplant war.
 

Bis denne!
 

Eure Mado-chan^^
 

PS: Keine Sorge. Ihr erfahrt noch genau, was mit Shido-san geschah^^. *zwinker*



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Schalmali
2007-03-19T21:20:12+00:00 19.03.2007 22:20
Rofl ich hatte mir schon fast gedacht dass das bisschen auf Thema Naturschutz abzielt aber erst als du es am Ende schriebst war ich mir sicher *grins* War wirklich schön alles *seufz* aber auch sehr traurig irgendwie das ganze...
Von:  Rogue37
2007-02-08T13:42:15+00:00 08.02.2007 14:42
Klar, Shido-san, mein Held, mein WAhrgewordener Traum eines grundanständigen Mannes. Gott, ich vergöttere diesen Kerl. Er ist so toll. Ich lieb dich dafür noch viel mehr, dass du ihn hast gehen lassen. So toll. Ich bin gespannt. Und Mado ist also schwanger. Nya, geahnt hab ich das schon. Ist irgendwie auch eine nette Idee und GEste von seiten der Autorin an ihre leidgeprüfte Hauptdarstellerin <smile>

Yasha und Auri-chan sind sehr niedlich zusammen. Ich mag die Abschlusssequenz wo sie nebeneinander her gehen in eine unbekannte Zukunft. Aber gut, die Zukunft ist meist unbekannt.

Naturschutz ist eine interessante Idee. Macht durchaus Sinn, aber so ganz muss ich gestehen, dass ich es nicht verstanden habe. Fein, man hat also geplant ein Kind auf diese Welt zu holen, dessen Eltern verschiedenen Zeiten angehören. Schön und gut. Warum es ausgerechnet Madoka gewesen ist, weiß ich nicht, vielleicht wissen das die ÄLtesten selbst nicht so genau, aber so dramatisch sehe ich das wirklich nicht. Sie hatten definitiv recht. Mado hätte sich nicht verlieben müssen.

Ich mein Auri sagt selbst, Takeos Schicksal war es, in diesem Kampf zu sterben. Ich glaube das stimmt auch. ER hat Abbitte geleistet und Erlösung gefunden. Damit es so kommen konnte, hatte er sich vielleicht auch in Mado verlieben müssen. Hätte er ohne sie den Attentäter in sich besiegen können. Nun, wer weiß ... Insofern hatte es mehrere Gründe, dass Mado hat kommen müssen. Dass diese Liebe existierte und vollzogen wurde. Ich weiß auch nicht, man kann das Schicksal von vielen Seiten beleuchten. Für mich hat es sich nicht angefühlt, als wäre es das größte Unrecht dieser ERde, dass Auri diese LIebe nicht verhindert hat.

Man bedenke nur, was mit Shido jetzt wäre. Er wäre in dem Kampf auch gestorben. Hatte es somit nicht doch was gutes, dass Mado in der Vergangenheit erschienen ist. Sicher für sie selbst ist es derzeit schrecklich, aber nun ja, es hatte wie gesagt auch positive Auswirkungen (ich glaub ich red blödsinn)


Zurück