Die Weiße Schlange von MorgainePendragon ================================================================================ Kapitel 8: Traum und Wirklichkeit --------------------------------- Der Wasserfall vor dem Höhleneingang rauschte so laut, dass eine Unterhaltung völlig unmöglich wurde. Tief hinein waren sie Yasha und Aurinia in den Wald gefolgt und hatten nun den Unterschlupf der Yosei erreicht. Sie ließen Akuma, Takeos Streitross, unmittelbar am Höhleneingang angebunden zurück. Das Tier zeigte sich zwar wenig begeistert davon, fügte sich jedoch nach ein paar beruhigenden Worten Shidos in sein Schicksal. Madoka wusste nicht, was sie erwartet hatte - aber irgendwie passte dieser Ort nicht ganz zu Aurinia. Doch als sie tiefer in das Höhlensystem eindrangen, das Brausen des Wasserfalls hinter sich zurückließen, nur geführt durch das Licht der einzigen Fackel, die am Eingang deponiert gewesen war und die Aurinia nun vor sich hertrug, da konnte Madoka eine beständige Veränderung ihrer Umgebung wahrnehmen. Es wurde wärmer, je tiefer sie in die Erde vordrangen - aber es war keine unangenehme Wärme, wie man sie im Erdinneren vielleicht erwarten mochte, sondern eine angenehme, sanfte Brise. Irritierenderweise duftete es mit einem Mal ganz sacht nach Blumen. Die Wände rechts und links des Ganges veränderten sich ebenfalls. Aus Gestein und nacktem Erdreich wurden nach und nach mit Lehm verputzte Wände, in die seltame Ornamente eingelassen waren. Es wurde heller, nicht etwa, weil da mehr Fackeln oder andere Lichtquellen aufgetaucht wären, sondern aus unbestimmter, allgegenwärtiger Richtung. Und dann öffnete sich der Gang unvermittelt zu einer großen Kammer, die einfach nur wunderschön war. Die gesamte Halle war mit Teak-Holz verkleidet. Gewundene Säulen in den warmen Farben des dunklen Holzes von Kirschbäumen stützten die Decke, die an vielen Stellen mit wunderschönen Malereien verziert war. Überall im Raum fand man große, weiche Sitzkissen, umgeben von Stellwänden, deren weißes Pergament mit denselben wundervollen Malereien längst vergangener Epochen geschmückt waren wie die Decke. Niedrige Tische, mit großen Schalen angefüllt mit Obst, standen da und dort wo Aurinias Bett sein musste, hingen von der Decke weiße, hauchdünne Schleier herab und bildeten einen dreieckigen Baldachin, der sich ab und zu in einem Windhauch bewegte. Aber am Schönsten war wohl das große, mit himmelblauem Mosaik ausgelegte Bassin, dass sich am gegenseitigen Ende der Halle erstreckte. Ein kleiner Zulauf plätscherte verträumt dahin und erstreckte sich über die gesamte Länge des Raumes, bis er sich schließlich in das Wasser ergoss. Die Wände rund um das Becken waren naturbelassen worden und zwischen den riesigen Felsbrocken wuchsen tatsächlich Farne und Moos, obwohl sich Madoka einfach nicht vorstellen konnte, wie das ohne Sonnenlicht möglich sein konnte. Auf dem Wasser schwammen Hunderte von Blütenblättern in allen nur erdenklichen Farben. Überall standen große Vasen mit den schönsten Blumengestecken, die Madoka je gesehen hatte. Sie war komplett sprachlos. So musste es im Paradies aussehen. Und Aurinia passte hierher. Anders: Die Umgebung passte zu ihr. Sie konnte sich kein anderes Domizil für die Yosei vorstellen. Während Madoka staunend stehen geblieben war, um den Anblick erst mal in sich aufzunehmen, so trat Shido bereits nach kurzem Zögern hinter Yasha und Aurinia in den Raum, folgte der Yosei zu einer Liegestatt und legte Takeo vorsichtig darauf nieder. "Während ich mich nun um Takeos Wunden kümmere, könnt ihr euch ruhig ein Weilchen ausruhen.", schlug Aurinia vor. Sie sah Madoka an und lächelte. "Ich möchte mir nur kurz noch deine Verletzung ansehen. Die Kräuter, die ich auf die Wunde gelegt habe müssten die Blutung allerdings gestoppt haben. Ich möchte nur sicher gehen." Sie trat auf die junge Frau zu und schob ihren Kimono etwas auf, um sich die behelfsmäßig bandagierte Schulter anzusehen. Shido-san sah zur Seite und wurde leicht rot. Es war kein Blut durch den Stoff gedrungen. Die Yosei nickte zufrieden und sie schloss den Kimono wieder. Dann warf sie Madoka einen prüfenden Blick zu. "Du siehst sehr müde aus." Sie deutete auf das Bett. "Legt euch schlafen. HIER werden wir bestimmt nicht entdeckt." Madoka fand die Einladung allzu verlockend. Sie verspürte zwar einen großen Hunger wenn sie das Obst sah, aber ihr Körper verlangte mit Macht nach seinem Vorrecht auf ausreichend Ruhe. Sie nickte dankbar. "Du auch, Shido-san.", sagte Aurinia an den jungen Mann gewandt. Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu. Shido beobachtete unsicher, wie Madoka den Schleier um das riesige Bett anhob und darunter verschwand. Zögernd folgte er ihr. Es gab außer der Liege, die Takeo nun beanspruchte, keine weitere Liegestatt in dieser Höhle. Shido sagte nichts, aber seine großen, braunen Augen blickten fragend, als Madoka zu ihm zurückschaute. Sie machte eine einladende Handbewegung. "Das Bett ist wirklich groß genug." Shido nickte und kletterte auf die andere Seite des Bettes. Madoka streckte sich lang aus und seufzte entzückt. Das war schon etwas anderes, als auf einer Matte am Boden zu liegen. Und mit einem letzten Gedanken an Takeo schlief sie endlich ein. ~~~oOo~~~ Als sie erwachte war es sehr still - das war das Erste, was ihr auffiel, als sie die Augen aufschlug. Das Plätschern des künstlich angelegten Baches hatte aufgehört. Aber irgendetwas hatte sie geweckt. Madoka starrte das Dach aus Vorhängen über sich an und lauschte mit angehaltenem Atem, aber da war nichts. Kein Geräusch, nichts was sie hätte wecken können. Sie hob den Kopf - und hielt überrascht inne. Shido-san lag direkt neben ihr. Ihr Kopf hatte praktisch an seiner Schulter geruht. Und er hatte den Arm um sie gelegt... Sie blickte ein wenig perplex an sich hinab und schob den Arm dann vorsichtig und sehr langsam von sich herunter, um ihn nicht aufzuwecken. Shido murmelte etwas im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Und dann hörte sie es: Ein leises Stöhnen, das sofort wieder verstummte, und das so leise war, dass Madoka es mehr spürte als wirklich hörte. Mit einem Ruck schwang sie die Beine vom Bett, arbeitete sich durch die Vorhänge nach draußen, und eilte barfuß quer durch die Halle hinüber zu Takeos Liege. Sie hatte richtig vermutet. Der junge Samurai sah furchtbar aus und musste grässliche Schmerzen haben. Sein Gesicht war kreidebleich, feiner Schweiß perlte von seiner Stirn und unter seinen geschlossenen Lidern glitten die Augen unablässig hin und her. Er atmete flach. Der Verband um seinen Unterleib hatte sich dunkelrot gefärbt. Madoka schaute voller Angst auf ihn hinunter und legte schließlich die Hand auf seine Stirn: Er glühte regelrecht! "Mein, Gott!" Madoka sah sich hektisch um. Wo war Aurinia? Sie konnte jedoch weder die Yosei noch den Halbdämon irgendwo sehen. Hilflos drehte sie sich im Kreis und fasste schließlich einen Entschluss. Sie löste die Kordel, die ihren Kimono zusammenhielt und zog die straff angelegten Stoffbahnen darunter aus, die sie ohnehin nur eingeengt hatten. Sie gestattete sich einen kurzen befreiten Seufzer, als der Stoff raschelnd zu Boden fiel. Sie wickelte den Kimono wieder um sich und schloss ihn mit der Kordel wieder. Sie lief mit dem Stoff hinüber zu dem Bach - nur um feststellen zu müssen, dass der Zulauf tatsächlich versiegt war. Stattdessen lief sie nun zu dem Pool hinüber und tauchte die Bandage ins Wasser. Sie kam zu Takeo zurück, gerade als er sich wieder einmal leise wimmernd krümmte. Madoka starrte auf ihn hinunter und verspürte einen tiefen Stich in der Brust. Er litt so sehr. Und sie tat es auch... Sie legte den feuchten Stoff auf seine Stirn. Dann kniete sie sich neben die Liege und begann mit dem anderen Ende der langen Stoffbahn Takeos Arme und seine Brust abzureiben. Sie hoffte, durch die Feuchtigkeit würde sein Fieber etwas zurückgehen. Gedankenverloren glitt ihre Hand über seinen heißen, schweißnassen Oberkörper - und verharrte dann unvermittelt. Madoka beugte sich vor. Allein der Oberkörper des jungen Mannes trug etliche zwar bereits längst verheilte, aber teilweise sehr große Narben. Sie war erschüttert. Was führte dieser Mann, der noch nicht einmal so alt war, für ein Leben, dass er nun schon so entstellt war? Nicht, dass es Madoka abstoßend fand, sie war lediglich zutiefst betroffen über diese Tatsache. Ganz vorsichtig ließ sie den Finger über eine der weißen, langen Narben gleiten. "Was... hat man dir nur angetan..." Wie zur Antwort stöhnte er erneut leise und warf den Kopf zurück, sodass der Stoff von seiner Stirn rutschte. Madoka beugte sich über ihn, legte ihm das Tuch wieder zurecht - und verharrte über seinem Gesicht mitten in der Bewegung. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihren Wangen. Seine Lippen waren aufgesprungen und bewegten sich unablässig, als murmelte er etwas oder als hätte er böse Träume. Madoka war... wie paralysiert. Sie wusste nicht mehr, was sie tat - sie wusste nur, was sie wollte. Und ihr Körper reagierte auf diesen Zustand OHNE ihr Wissen. Sie näherte ihr Gesicht dem seinen. Sie nahm alles mit einem Blick in sich auf, seine langen Wimpern, seine hohen Wangenknochen, sein feines Kinn und die Narbe auf seiner rechten Wange. Sie schloss die Augen. Nie hatte sie etwas so sehr gewollt wie jetzt. Es war RICHTIG. Es war, wie es sein sollte... Und im selben Moment, als zum allerersten Mal ihre Lippen unendlich sanft die seinen berührten, als sie seinen Mund wie einen leichten Hauch ihren eigenen berühren fühlte - schlug er die Augen auf! Seine Augen, groß und tiefblau, blickten sie direkt an. Und sie waren nicht etwa vom Fieber getrübt - er erkannte sie sehr genau (und wohl auch, was sie vorgehabt hatte!). Madoka erstarrte. Takeos Augen weiteten sich überrascht. Eine endlose Sekunde starrten sie sich gegenseitig in die Augen. Dann schreckte Madoka zurück. Sie hatte butterweiche Knie und sofort schoss das Blut heiß in ihre Wangen. Dann sank sie neben der Liege zu Boden und blieb mit dem Rücken zu ihr sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben. Es war zu peinlich! Was war nur in sie gefahren? Sie hörte, wie Takeo sich hinter ihr mühsam aufsetzte. "Madoka?" Seine Stimme klang heiser und schwach. Dann spürte sie seine Hand warm auf ihrer Schulter. Ein Schauer überlief sie. Sie nahm die Hände jedoch nicht herunter. "Madoka." Sie reagierte nicht. Seine Hand löste sich von ihrer Schulter und Sekundenbruchteile später fühlte sie, wie sein Handrücken sanft über ihre Finger strich, mit denen sie noch immer ihr schamgerötetes Gesicht verbarg. Sie hörte, wie er von der Liege glitt und sich vorsichtig neben sie kniete. Immer noch ging sein Atem sehr schnell und seine Haut war so heiß, dass sie die Wärme auch auf geringe Entfernung auf der eigenen spüren konnte. Er löste ihre Finger von ihrem Gesicht und nahm ihre Hände herunter, ließ sie jedoch nicht los. Ihre Augen, groß, dunkel und voller Angst vor dem, was er ihr nun sagen konnte, blickten überall hin - nur nicht in sein Gesicht. "Madoka, sieh mich an." Sie zitterte nun beinahe genauso wie er, doch bei ihr wurde dies durch eine andere Art von Fieber hervorgerufen. Als sie immer noch nicht von allein reagierte, löste er seine Finger aus ihren und hob sanft ihr Kinn an - so musste sie seinen Blick erwidern. "Was sollte das?", fragte er leise, aber nicht unfreundlich. Es klang ein wenig... belustigt? Madoka blinzelte. Leugnen hätte wohl schrecklich wenig Sinn. Sie schloss die Augen und murmelte nur: "Es tut mir Leid.... ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich hatte solche Angst, dass du..." Weiter kam sie nicht. Seine Finger glitten zärtlich über ihr Gesicht, über ihre Lippen. Madoka öffnete die Augen. In seinem Blick fand sie nichts von dem, wovor sie Angst gehabt hatte, keine Ablehnung und auch kein Misstrauen. Nur... Liebe? Aber... Er kannte sie doch nicht einmal! Und sie? Kannte ihn doch ebenso wenig! Aber das war alles plötzlich nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, dass er sie berührte. Seine Hand glitt in ihren Nacken und er zog sie sanft zu sich heran. Madoka konnte es nicht glauben! Träumte sie? Seine Lippen öffneten sich leicht zu einem Kuss. Madoka schloss die Augen. Und dann - unterdrückte er plötzlich ein lautes Stöhnen, krümmte sich unter einer neuerlichen Schmerzattacke und sackte an ihrer Schulter zusammen. Madoka fing ihn entsetzt auf. "Ta...!" Es war das erste Mal, dass sie ihre Sprache wiederfand, … ~~~oOo~~~ ...erwachte und erstaunt in Shidos erschrecktes Gesicht blickte. "...keo...", hauchte sie leise und vollkommen irritiert... Shido lag neben ihr auf jenem gigantischen Himmelbett und hatte sich besorgt über sie gebeugt. "Madoka... hast du geträumt? Hast du Schmerzen? Du hast im Schlaf... gestöhnt...", sagte der junge Mann vorsichtig. Sie sah sich mit wachsender Verwirrung um. Verständnislos blickte sie in Shidos Gesicht. Dieser sah sie immer noch mit jenem seltsamen Gesichtsausdruck an. Es war alles so... real gewesen. Hatte sie wirklich nur geträumt? Es musste wohl so sein, denn jenseits der Vorhänge konnte sie erkennen, dass sie alles andere als allein waren in der Halle: Da waren Aurinia und Yasha, beide kamen soeben aus einer angrenzenden Höhle und trugen Schalen mit dampfend heißem Wasser und Handtücher auf den Armen. Der kleine künstliche Bach plätscherte vor sich hin. Dann waren da noch zwei, drei hübsche Mädchen in orientalisch anmutender Kleidung und mit langem, schwarzen Haar, die sich um Takeo bemühten, der allerdings tatsächlich noch auf seiner Liege lag. Madokas Herz machte einen Sprung und begann dann doppelt so schnell weiterzuschlagen. Jetzt wurde ihr wieder klar, WAS GENAU sie geträumt hatte. Erneut (und diesmal wirklich) schoss ihr das Blut in die Wangen und sie wandte beschämt den Kopf ab. Shido ließ das nicht zu. Seine Hand griff unter ihr Kinn und er zwang sie ihn anzusehen. "Bist du wirklich in Ordnung?", fragte er misstrauisch. "Du hast so... verzweifelt geklungen." Bei seinen letzten Worten glitt sein Blick hinüber zu seinem Freund - und Madoka hatte das plötzlich unbestimmte Gefühl, dass er genau wusste was sie geträumt hatte. Blödsinnig. Aber dennoch hartnäckig, dieser Gedanke... Mit einem Mal wurde Shidos Blick warm, sein Gesichtsausdruck beinahe traurig. "Ich verstehe...", flüsterte er leise. Madoka verstand NICHT. Shido ließ ihr Kinn los, strich ihr kurz sanft über die Wange und setzte sich dann auf. Sie starrte - unfähig ein Wort hervorzubringen - seinen Rücken an. Was war das gerade? "Habe ich dir erzählt, wie Takeo und ich uns kennenlernten?" Shido drehte sich nicht herum. Schweigen. Es schien so, als würden selbst die Geräusche außerhalb der Vorhänge rund um das Bett einfach ausgeblendet. "Nein..." "Es ist... es WAR vielleicht vom Schicksal so gewollt, dass wir uns genau an jenem Tag trafen, als Takeo feststellte, dass sein Bruder, von dem er angenommen hatte, dass er während des großen Feuers in Kyoto damals genau wie der Rest seiner gesamten Familie umgekommen war, noch lebte." Er schwieg kurz und schien zu überlegen, wie er am Besten fortfahren sollte. Dann erzählte er Madoka zunächst von Takeos schrecklicher Kindheit, das, was er von seinem Freund darüber gehört hatte - und Madoka fühlte, wie das Blut, das ihre Wangen gerötet hatte, sehr schnell wieder aus ihrem Gesicht wich. Ihre Augen weiteten sich, als sie von dem grausamen Mord an Takeos Pflegeeltern erfuhr. Schlimmer noch erschütterte sie, dass er sich nach dem gewaltsamen Tod seiner Zieheltern zu einem rachsüchtigen und grausamen Auftragsmörder entwickelt hatte, was ihr im erstem Moment absurd vorkam. Das konnte doch nicht sein? Takeo? Ein Auftragskiller? Doch dann fiel Madoka wieder jenes allererste Zusammentreffen mit Takeo und Shido im Wald ein, jener erste Blick, der sie eiskalt und voller Zorn aus jenen dunkelblauen Augen getroffen hatte. Sie sah auch wieder jenen Teufel von einem Mann auf einem wahren Dämon von Pferd mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Dickicht brechen und rücksichtslos auf sich zupreschen. Und sie sah auch wieder das Blut an der blanken Schneide von Takeos Schwert... Ja. Es war wie Shido gesagt hatte. Sie spürte, dass es die Wahrheit war. Warum sollte er auch lügen? Es erschütterte sie bis ins Mark. Doch es machte ihr seltsamerweise kaum Angst. Im Moment jedenfalls. Takeo war ein Mörder von Hunderten, von vielen teilweise auch unschuldigen Menschen. Das war schlimm, grausam und furchtbar. Und doch konnte die tief in sich auch irgendwo nachvollziehen, warum er so geworden war, warum er es getan hatte. Das entschuldigte nicht die Tat an sich. Aber für Madoka wurde es verständlicher und damit auch erträglicher. Sie selbst wusste, dass er ihr nichts antun würde. Ebensowenig wie Shido-san oder Aurinia. Dieser Mann war nicht von Geburt an ein Mörder. Die Welt hatte ihn erst zu einem solchen gemacht. Und sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, welch einen schrecklichen inneren Kampf er jedes Mal mit sich selbst ausfechten mochte, wenn er seine Klinge gegen jemanden erhob... Dann sagte Shido: "Er hatte einen Auftrag in Kyoto zu erledigen und wurde in eine Falle gelockt. Der angebliche Auftraggeber entpuppte sich selbst als Untergebener der Shinsengumi. Takeo wurde festgenommen und vor das Oberhaupt der Gruppe geführt: Yamazaki Mamoru." "Seinen... Bruder...", flüsterte Madoka. "Ja.", Shido sah auf seine Hände hinunter. "Er erfuhr am selben Tag zwei Dinge: Die freudige Überraschung, dass sein lange vermisster Bruder tatsächlich noch lebte und die ernüchternde und niederschmetternde Tatsache, dass dieser Bruder sein Feind geworden war. Mamoru kannte keine Gnade. Er hat ihn praktisch zu Tode foltern lassen." Madoka war fassungslos. "U... und wie... Ich meine, wann hast du..." Shido lachte rau. "Wie ich ihn dann kennen lernte?" Jetzt drehte er sich herum - und sie erschrak beinahe vor seinem Blick. Dieser Blick war so ganz anders als der, den sie sonst von diesen sanften, braunen Augen gewohnt war: Hart und voller Bitterkeit. "Ich bin selbst ein Mitglied der Shinsengumi gewesen, Madoka. Ich habe Saito und Hijikata, sogar Mamoru bei ihren Grausamkeiten UNTERSTÜTZT! Erst als Yamazaki selbst vor seinem eigenen Fleisch und Blut nicht Halt machte und Takeo beinahe zu Tode foltern ließ, wachte ich auf. Ich weiß bis heute nicht, welcher Teufel mich geritten hat, der Shinsengumi beizutreten. Ich weiß auch, dass sie andernorts wohl wirklich dem Ruf einer Schutz-Truppe, einer Art Elite-Garde, nachkommen. Aber nicht hier. Nicht in Kyoto. Nicht unter Yamazaki Mamoru, Hijikata Toshizo und dem "Wolf von Mibu"... Mamoru hat da seine ganz eigenen Vorstellungen eines "geordneten" Staates, so scheint mir. Nun ja, lassen wir das. Jedenfalls konnte ich nicht länger mit ansehen, wie sie diesem so zerbrechlich wirkenden Körper immer noch mehr Wunden zufügten. Im Schlaf verfolgen mich noch heute manchmal seine verzweifelten, qualvollen Schreie - und nicht nur seine... Ich habe Takeo befreit und floh gemeinsam mit ihm in die Wälder. Fortan wurde natürlich auch ich verfolgt." Madoka schwieg. Sie wartete ab. Er würde von sich aus weitererzählen, das spürte sie. "Über Takeo lernte ich die Widerstandsbewegung kennen, die hier in Kyoto von Sayan Shigeru geführt wird. Ich... beschloss bei ihm zu bleiben. Niemals wieder soll er so verletzt werden. Ich werde nicht von seiner Seite weichen. Ich werde ihn beschützen. Was auch passiert..." Madoka sah den jungen Mann mit wachsendem Erstaunen an. Sie konnte erkennen, wie er die Fäuste ballte und so fest zudrückte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Stimme klang hart und entschlossen. Sie hatte nie zuvor einen Menschen gesehen, der so sehr meinte was er da gerade gesagt hatte. Ihr wurde klar, dass Shido für Takeo sterben würde, sollte dieser es von ihm verlangen... Sie konnte die Tiefe dieser Gefühle nicht nachvollziehen - aber sie verstand, dass er an Takeo wiedergutmachen wollte, was er als Mitglied der Shinsengumi unter Yamazaki Mamoru getan hatte. Und sie begriff, dass die beiden Männer eine starke, unerschütterliche Freundschaft verband, die wohl durch nichts wirklich zerstört werden konnte. Absurderweise empfand sie nun so etwas wie Neid. Solch eine Freundschaft hatte sie niemals kennengelernt. "Ich... verstehe...", sagte sie. Doch in Wahrheit verstand sie nicht ganz, warum er ihr das jetzt erzählt hatte. "Ich möchte, dass du das alles weißt, bevor..." Er sah ihr nun direkt in die Augen. "...bevor deine Gefühle für ihn ernsthafter werden." Madoka blinzelte. "Bevor... was?", echote sie dümmlich. In ihren eigenen Ohren hörte sich ihre Stimme dünn und schwach an. Shido antwortete auch nicht gleich darauf. Es war an sich auch nicht notwendig. Er griff nach ihrer Hand. "Ich habe gesehen wie du ihn ansiehst..." Madoka widerstand dem Impuls die Hand zurückzuziehen. Entgegen ihrer inneren Stimme, die immer wieder schrie, das Leugnen keinen Sinn ergab und sie sich nur lächerlich machte, sagte sie: "Ich? Wie soll ich ihn denn ansehen? Er ist... grob, gemein und... einfach nur unfreundlich! Ich täte besser daran einen... einen FISCH im Aquarium anzusehen, als IHN! Der ist zwar auch kalt - aber nicht so gefühllos!" Shido lächelte. Sonst nichts. Er saß nur da und lächelte sie an. Die junge Frau resignierte. "Ich... Es tut mir Leid. Ich weiß ja nun, warum er so ist wie er ist. Warum er sich so... benimmt..." Shido drückte ihre Hand. "Dann hab Geduld. Durch den Bürgerkrieg ist er anders geworden. Er kann grausam sein, aber etwas von dem alten Takeo, jenem Kind von damals, muss noch tief in ihm schlummern. Jetzt bin ich mir sicher: Er wird sein Herz noch ein Mal öffnen. Demjenigen, dem er vollstes Vertrauen schenkt. Wenn du dies dann annimmst, dann möchte ich nur, dass du dir klarmachst, was das bedeutet." Er schüttelte leicht den Kopf. "Ich habe ihn noch nie zuvor lächeln sehen. Und dann tauchst du auf und..." Täuschte sie sich, oder hörte sie tatsächlich eine leise Verbitterung in seiner Stimme? Warum? Shido räusperte sich, ließ ihre Hand abrupt los und streckte den Rücken. "Ich möchte nur nicht, dass ihm noch jemand wehtut... Bitte versteh das." "Ich verstehe..", sagte sie leise. Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie, wie er aufstand, sich durch die Vorhänge nach draußen arbeitete und auf die Liege mit seinem Freund zuging. Und dann spürte sie, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Es tat weh. Aber sie würde beherzigen, was sie soeben gehört hatte. Vielleicht entsprach es der Wahrheit, was sie geträumt hatte. Vielleicht hatte sie sich in den jungen Samurai verliebt und selbst die Tatsache, dass er ein Mörder war, konnte diese Gefühle in ihrem Inneren nicht zurückdrängen. Aber ob dies nun so war oder nicht - sie würde Takeo niemals ihre Gefühle offenbaren. Denn sie gedachte nicht hier zu bleiben. Was machte sie sich überhaupt Gedanken? Dies alles hier würde mit etwas Glück bald ihrer Vergangenheit angehören. Und dann würde sie auch Takeo vergessen müssen. So war es das Beste. Für ihn und für sie selbst. Sie musste dieses vertraute Gefühl, das sie immer in seiner Nähe empfand, ignorieren. Und sie musste auch den Traum vergessen. Es war wirklich besser, die Ereignisse hier nicht zu nah an sich heranzulassen. Dennoch... Während sie aufstand und sich nun selbst einen Weg durch die Vorhänge bahnte hörte ihr Herz nicht auf zu schmerzen. Und sie hatte das dumpfe Gefühl, dass sich das auch nicht mehr ändern würde. Vielleicht so lange sie lebte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)