Die Monochroniken von Dels (01 :: Die Reise zum Südstern) ================================================================================ Kapitel 3: Der weinende Fluß ---------------------------- Der weinende Fluß Am Morgen verkündete Barthel seine Entscheidung. Wie wir schon befürchtet hatten, wollte er mit uns durch die Schlucht gehen. Die Zwillinge, die davon noch nichts gewusst hatten, starrten Barthel entsetzt an, sagten aber nichts. Der Kapuzenmann zeigte nicht die leiseste Regung, wie üblich. Kaleb neben mir biss sich auf die Lippe und warf mir einen verschwörerischen Blick zu, den ich unterschwellig erwiderte. Es war schon immer aufregend, mit Kaleb gemeinsame Geheimnisse zu haben und nie hab ich irgendjemandem davon erzählt. Ein gemeinsames Geheimnis ist wie ein Schatz, den man hütet, den niemand sehen darf, denn sonst verwandelt er sich in Rauch. Um Kaleb zu verraten müsste man mir schon den Kopf aufschneiden und sich das Geheimnis selbst holen. Aber das ist keine schöne Vorstellung. In Gabriel sehe ich Furcht, aber nicht vor dem Abgrund. Das sitzt viel tiefer. Aber es ist nicht zu begreifen. Bei den anderen sieht es nicht besser aus. Obwohl Filc auch jetzt eine große Klappe hat, ist er ganz schön eingeschüchtert. Sein Vorschlag gestern, durch die Schlucht zu gehen, hat Barthel für voll genommen. Das hätte Filc wohl selbst nicht vermutet. Aber jetzt war es zu spät, es zu bereuen. Der Abstieg war leichter, als ich vermutet hatte. Die Schluchtwand war zwar eben senkrecht aber hatte viele Vorsprünge und es kletterte sich sehr leicht nach unten. Wir kamen wirklich schnell voran, alle waren konzentriert, kein unnötiges Wort fiel, selbst Filc war so mit Klettern beschäftigt, dass er sein Mundwerk bei sich behielt. Nach zwei Stunden waren wir unten angekommen und machten eine kurze Pause. Eine weite Strecke voller Geröll und kleinen Wäldchen lag vor uns. Der Riss der Schlucht war gigantisch. Wie eine Furche, die Gott mit seinem Arm in die Erde getrieben hatte. Der Spalt mochte etwa zehn Kilometer breit und musste laut Barthel über 300 Kilometer lang sein, ich fragte mich, wieso alle davon ausgegangen waren, dass wir um die Schlucht herum gegangen wären, hätte Barthel nicht seine Meinung geändert. War dieser Fluß denn wirklich so grauenhaft, dass man einen Umweg von fast zwei Wochen in Kauf nahm?! Nun, das würde sich sicher bald herausstellen. Schon nach einer Stunde Marsch durch die Schlucht konnte man ihn hören. Ein gigantischer Strom wälzte sich durch den Grat - ein wunderschöner, glasklarer Fluß, der in der Sonne spiegelte und glitzerte. War das etwa dieser grässliche Fluß? Sogar Fische sprangen aus dem Wasser, wie um uns zu begrüßen, das Gras am Ufer war dick und saftig, die Bäume kräftig und gesund. Es wimmelte von Insekten, kleinen Tieren und plötzlich hatte es keiner von uns mehr eilig. Wir genossen alle die Sonne, die geschützt von den Schluchtwänden hier heiß und angenehm war. Die Bäume trugen reifes Obst, das wir gierig einsammelten und teilweise gleich in den Mund stopften. Trotzdem beachtete ich den Rat meines Bruders und kam dem Wasser nicht zu nahe. Selbst als einer der Zwillinge sich dort seine Flasche füllte, blieb ich zurück, obwohl ich hätte wetten können, dass das Wasser einfach köstlich schmecken musste. Ich biss in eine Suanti und stillte so meinen Durst. Seltsamerweise war die Angst fast vollständig gewichen, die mir noch vor ein paar Minuten aus allen Richtungen begegnet war. Ich wollte meinen Bruder fragen, ob die Gefahr sich unerwartet zu einem Guten bekehrt hatte, aber er winkte ab und wollte nicht mit mir reden. Aber es war doch seltsam! Erst hatten alle Angst und jetzt war nichts mehr zu befürchten? Nachdenklich blickte ich hinüber zum Fluß, der so prächtig funkelte und vor Gesundheit strotzte. Gerade wusch sich Barthel das Gesicht in dem klaren Nass und selbst Filc hatte seine Beine ins Wasser baumeln lassen, die er jetzt schlotternd und lachend wieder herauszog. "Uaaah, verdammt kalt!" bibberte er und rubbelte sie am Gras trocken. "Na, auch mal?" Hatte er etwa mich gemeint? Ich sah mich um, aber neben mir war keiner. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Nirgends war Missgunst - überall Zufriedenheit und Erleichterung. Selbst Filc machte keinen bösen Scherz mit mir, er schien nur sehr entspannt zu sein. Als ob eine große Sorge von ihm gewichen wäre. Vielleicht konnte ich ja doch mein Misstrauen beiseite legen. Ich sah hinüber zu Kaleb, der sich blanker Haut auf einem großen Stein ausgestreckt hatte und sich überhaupt nicht dafür interessierte, was ich tat oder nicht. Das würde er ja nicht tun, wenn ich in Gefahr wäre. Oder wollte er nur mein Vertrauen testen..? Barthel rief meinem Bruder zu, er habe noch nie so gutes Wasser getrunken. Das glaubte ich gern, es sah wundervoll und kühl aus. Aber Kaleb winkte nur ab und seufzte wohlig in der Sonne, die auf seinen blanken Bauch schien. Allmählich wurde mir in meiner dichten Kleidung zu warm und ich verzog mich in den Schatten eines Baums. Leider war es dort nicht wirklich kühler und ich hatte fürchterlichen Durst. Also pflückte ich mir noch eine Suanti und hatte sie schnell gegessen, aber der Durst blieb. Ich aß noch eine, aber es war, als würde mein Durst nur noch mehr zunehmen. Und mir wurde heißer, so schrecklich heiß. Mein Bruder lag immer noch gemütlich in der Sonne, ihn schien es nicht zu stören, dass es immer unerträglicher wurde. Ich probierte es noch einmal mit einer Suanti, aber danach war mein Mund so ausgetrocknet wie noch nie. Ich brauchte Wasser, viel kühles Wasser! Ich lief zu Gabriel und fragte, ob ich einen Schluck aus seiner Flasche haben könne, aber der sah mich nur komisch an. "Da ist ein Fluß, sieht du das? Und was gibt es in einem Fluß? Richtig! Wasser! Also hol dir dein eigenes! Ausserdem ist meine Flasche schon fast leer." Keinem hier schien diese unsägliche Hitze etwas auszumachen. Kein einziger kleiner Lufthauch blies, die Sonne knallte gnadenlos. Ich musste etwas tun, sonst würde ich hier neben einem Fluß verdursten! Ich lief zu Kaleb und zog den Kopf ein, bevor mir die Sonne den Nacken verbrennen konnte. Er murrte, als ich ihn anstupste. "Kaleb? Was.. ist mit dem Fluß? Ist er wieder in Ordnung?" Aber er gähnte mich nur an. Es war zum Verzweifeln! Warum erklärte er denn nichts? "Kaleb! Sag mir doch, ob es in Ordnung ist, wenn ich an den Fluß zum Trinken gehe! Ich will nur wissen ob ja oder nein! Und wenn nein, wieso es alle anderen es können nur nicht ich!" Kaleb blinzelte träge und ich spürte nur Müdigkeit in seinen Gedanken. Keine Spur von Beunruhigung oder Nervosität. Konnte ich mich wirklich auf mein Gefühl verlassen? Es war wirklich zum Verrücktwerden! "Mach doch, was du willst.." maulte Kaleb und drehte sich wieder in die Sonne. Ich war völlig verwirrt. Und durstig. Aber wenn er sich nur nicht klar ausdrücken wollte? "Kaleb..? Kannst du mir, bitte, die Flasche mit Wasser füllen?" fragte ich vorsichtig, denn sein Verhalten war mir nicht ganz geheuer. Auch das folgende nicht. "Sag mal spinnst du? Bin ich jetzt dein Leibeigener oder was? Hol es dir doch gefälligst selbst. Solltest eher fragen, ob du deinem Bruder etwas mitbringen kannst!" Er schnaubte abfällig und drehte sich jetzt vollends weg von mir. Ich biß mir auf die Lippe und verkniff mir jeglichen Kommentar. War diese Panikmache gestern abend etwa nur ein Scherz gewesen? Aber warum hätte er das tun sollen? Ausserdem war seine Furcht und Sorge begründet gewesen und echt, das hatte ich gespürt. Nur - das passte nicht hierzu! Irgendetwas war doch passiert! Kaleb schien sich nicht einmal mehr zu erinnern, was er mir gestern gesagt hatte. Vielleicht war ja das die Gefährlichkeit, die hier unten lauerte? Dass man gleichgültig wurde. Dass alles um einen egal wurde. Die anderen lagen im Gras, sogar der Kapuzenmann sass regungslos unter einem Baum und schien zu dösen, Filc und Barthel lungerten am Ufer des Wassers herum und sahen den Fischen zu. Keinen interessierte mehr die Reise oder die Zeit. Aber warum nur die anderen und nicht ich? Mein Durst stieg ins Unermessliche. Meine Kehle war so trocken, dass selbst das Atmen zur Qual wurde. Ich verkroch mich in den Schatten ins Gras, schlüpfte aus den Klamotten und bedeckte den Kopf mit meinem Mantel. Ich würde einfach warten, bis wir weiterziehen könnten. Irgendwann mussten sie doch auch wieder aufbrechen wollen. Aber nichts passierte. Ich hörte ihre Stimmen dumpf unter meinem kleinen Zelt. Sie schienen nicht im Geringsten besorgt oder verstimmt. Mein Körper schwitzte und wurde müde von der Hitze und ich fiel für kurze Zeit in eine Art Halbschlaf. Mich weckte ein sehr seltsames und ganz feines Gefühl direkt in nächster Nähe. Ich konnte es nicht zuordnen, denn es war vollkommen anders als die Gefühle meiner Begleiter oder etwa meine eigenen. Ich lauschte, es machte mich neugierig. Ich hörte mit allem Gespür, aber das Gefühl blieb mir ein Rätsel. So fein.. zart, garnicht deutbar, auf keinen Fall konnte das menschlich sein. Ein Tier? Das Gefühl drehte sich um ein.. Sein, es war vage etwas wie Optimal und Anpassung, Tod und Leben. Aber es waren rationale Gefühle, ich spürte weder Bedauern, noch Angst oder Freude. Keinen Schmerz, keine Liebe, keine Hoffnung, keine.. Gefühle? Was dann? Was konnte das nur sein und vor allem, woher kam es nur? Das konnte doch nicht.. Ich fuhr mit der Hand durchs Gras und das Gefühl antwortete mir wispernd zwischen meine Gedanken. Es war unglaublich. Wieder strich ich über die Grashalme und das sanfte Flüstern kitzelte in meinem Kopf. Herrlich.. was für ein wundervolles Gefühl! Ich hatte zuvor noch nie etwas gespürt, wenn ich etwas Unbelebtes berührt hatte. Aber das Gras flüsterte zu mir wie ein denkendes Wesen, oder eben nicht denkend, unverständlich, aber deutlich. Oder täuschte ich mich? Ich tastete weiter, erfühlte eine Wurzel unter meinen Fingerkuppen und auch sie flüsterte sogleich auf mich ein, in einer ganz anderen Stimmlage, einer Sichtweise, die ich ebenfalls nicht nachvollziehen konnte. Und doch war es wunderschön. Es war nur ein Tuscheln, dass man erst hörte, wenn man danach lauschte. Verzaubert setzte ich mich auf, zog den Mantel vom Kopf und blickte mich um. Blumen, Bäume, Steine, Erde - erst zögernd, dann immer gieriger berührte ich alles in meiner Umgebung. Ich musste alles anfassen und ich verging in einem wahren Freudentaumel, als ich diese einfachen, unendlich fremden Empfindungen in mir spürte. Ich verstand nichts davon und doch war es so schön, dass ich immer mehr davon haben wollte. Ich gewöhnte mich schnell daran, diese Empfindungen zu verarbeiten, das fremde Tuscheln wurde zu einem zärtlichen Streicheln, das meinen Geist verwöhnte. Wieso hatte ich früher nie dieses Wunder wahrgenommen? War ich denn taub gewesen? Als hätte etwas in mir eine Tür aufgestoßen fluteten alle zarten Stimmchen in mich ein. Das Wispern war allgegenwärtig, diese feinen Klänge, die keine verwirrenden, komplizierten Gefühle wie Angst oder Freude kannten. Extenziell und rein, klar wie Wasser. Wasser. Wie fühlte sich Wasser an? Wie fühlte es? Dieser Gedanke musste der reinste von allen sein. Blumen und Bäume, selbst das Gras.. das waren komplexe Gebilde im Vergleich zu Wasser. Wie hörte sich wohl das Wasser an? Ich sah zum Flußufer, doch Barthel und Filc waren nicht mehr dort. Auch der Kapuzenmann und die Zwillinge waren nicht zu sehen. Einzig mein Bruder lag noch auf seinem Stein in der Sonne. Ich musste ihm erzählen, was passiert war! Schnell stand ich auf und hatte Mühe, mich im ersten Moment auf den Beinen zu halten, die Hitze hatte mich fast umgehauen. Ich schwankte etwas, als ich zu Kaleb lief und der Schreck ließ mich sofort meine neue Erkenntnis vergessen, als ich ihn erkannte. Schon von Weitem sah ich, dass etwas nicht stimmte und lief schneller. Ein Schreckensschrei brach durch meine Lippen, als ich meinen Bruder in all seiner Grauenhaftigkeit sah. Die Sonne hatte seine Haut tiefdunkel werden lassen, sie schälte sich und offenbarte offenes Fleisch darunter, das Gesicht war eine grauenhafte Fratze geworden, Haut wie altes Pergament! Vor Entsetzen wagte ich nicht, ihn zu berühren, doch ich rief solange, bis er die Augen aufschlug. Sie waren trüb und blickten blind umher. Mir wurde schlecht vor Angst und ich wollte am Liebsten weglaufen. Oh mein Gott, das kann nicht wahr sein! "Kaleb! Du.. dein.. was ist nur mit dir passiert! Du musst sofort in den Schatten!" Ich ekelte mich schrecklich davor ihn anzufassen, doch es war schliesslich mein Bruder und ich konnte ihn schlecht weiter in der Sonne liegenlassen. Ich packte ihn unter den Armen, er stöhnte vor Schmerz und ich spürte seine Qualen nur allzu deutlich. Wieder brach die Sonne durch einen feinen Wolkenschleier und brannte erbarmungslos auf uns nieder. Ich zerrte und zog, mein Bruder war schwer und konnte mir beim Ziehen nicht behilflich sein. Meine Finger wurde feucht, als die Haut unter ihnen riss und ich nacktes Fleisch ertastete. , schoß es mir durch den Kopf und dieses Gefühl war das grausigste, was mir bis dahin widerfahren war. Mir wurde so schlecht, dass ich mich fast übergeben musste, aber ich zwang mich zur Ruhe und zog weiter, bis meine Augen brannten vor Schweiß, mein Herz vor geteiltem Leid zu schmerzen begann. Vollkommen erschöpft ließ ich Kaleb in den Schatten des Baumes sinken und hatte nur einen großen Wunsch: Wasser! Ich musste etwas trinken, oder ich würde die nächsten Minuten nicht mehr überstehen. Und Kaleb brauchte Wasser, viel davon zur Kühlung seiner verbrannten Haut und natürlich zum Trinken. Ich wagte nicht mehr, ihn anzufassen. Seine Schmerzen waren unerträglich, seine Verzweiflung machte mich völlig fertig. Mir stiegen die Tränen in die Augen, wie ich meinen geliebten Bruder so grausig verstümmelt neben mir liegen sah. "Ich.. ich hole dir Wasser.." flüsterte ich, denn wusste nur zu gut, was sich mein Bruder jetzt am Meisten wünschte. Ich packte meinen Mantel und ging damit zum Ufer, um ihn mit Wasser zu tränken. Ich nahm mir vor, die Augen zu schliessen, während ich am Wasser war und kam mir dumm vor, darauf nicht schon viel früher gekommen zu sein. Ich ging auf die Knie und tastete mich langsam ans Ufer. Sehr vorsichtig fühlte ich mit der Hand weiter nach unten und musste jeden Moment Wasser zwischen den Fingern haben. Doch da war nichts. Ich tauchte die Hand noch tiefer, bis zum Ellbogen stieß ich hinunter, doch kein kühles Wasser. Heiße, trockene Luft war alles. Aber das konnte nicht sein, von Weitem hatte er den Fluß doch genau gesehen! Der Wasserspiegel konnte nur ein paar Zentimeter unter der Böschung liegen! Filc hatte seine Beine ins Wasser baumeln lassen! Ich probierte es noch weiter unten, indem ich den Mantel einfach nach unten gleiten ließ. Das Seltsame war, dass ich das Geräusch vernahm, als er ins Wasser tauchte. Doch als ich ihn wieder nach oben holte, war er staubtrocken. Was war das für ein verhexter Fluß?! "..Ah.." Schnell drehte ich den Kopf und sah nach hinten, wo mein Bruder lag. Er bewegte sich unter Winseln und Jammern und stammelte flehend nach Wasser. Verzweifelt drückte ich noch einmal den Mantel mit geschlossenen Augen nach unten, aber er blieb wieder trocken. Der Fluß plätscherte, rauschte und war doch nicht da. "Ich.. ich kann nicht! Hier ist kein Wasser!!" schrie ich hinüber aber das Stöhnen brach mir das Herz entzwei. Ich konnte ihn nicht verdursten lassen! Das war nicht fair! "Was soll ich denn machen, ich komm nicht ran!" heulte ich und konnte selbst kaum mehr schlucken vor Trockenheit in meinem Mund. "Was.. was du nicht... sehen willst,... kann auch nicht da.. sein..!" röchelte er kaum hörbar und überließ mir somit eine unfassbare Logik. "Was ich nicht sehen will, ist nicht da?" Was meinte er damit? Bloß, weil ich nicht in den Fluß sehen wollte, war er auch nicht da für mich? So ein Blödsinn! "Es... ist kein normaler Fluß..." hörte ich Kaleb, bevor er mit der Stimme abbrach. Dann klang er wie ein wimmerndes Kind. "Ich... Wasser!" "Aber du hast es mir doch verboten! Was soll ich denn jetzt machen?!" Ich war hin- und hergerissen. Mein Bruder lag im Sterben und ich klammerte mich an ein Versprechen, das ich ihm geschworen hatte. Was gab es da noch zu überlegen? In meinem Schädel pochte es, als ich den Entschluß fasste, doch die Augen zu öffnen. Ich drehte den Kopf und hob die Lider einen Spalt. Ganz vorsichtig lugte ich weiter über den Rand des Flußes, sah das plätschernde, klare Wasser und bekam stechende Kopfschmerzen. Ich zwang mich weiter zu schauen, dachte nur an meinen Bruder, fühlte alle leisen Stimmen um mich lauter werden, anschwellen, ein dröhnendes Intermezzo, dass mir fast der Schädel platzte und ich vor Schmerz die Augen schloss. Sofort wurde das Pochen weniger schmerzhaft, aber eindringlicher, alarmierender, wie eine Warnung, oder lockend, wie eine verführerische Geste. Ich öffnete die Augen wieder ein bisschen und lehnte mich weiter vor, ein entsetzter Schrei drang in mein Ohr, die Stimme meines Bruders überschlug sich in meinem Kopf und erschreckte mich zu Tode, denn sie war keine paar Zentimeter von mir entfernt. Aber es war zu spät, ich hatte die Augen offen und starrte in kaltes, durchsichtiges Wasser. Und um mich verschwand alles. Die Wiese, mein Bruder, die aufgeregten Stimmen um mich, die Sonne und die Zeit. Nur das Wasser. Und dann hörte ich eine singende Stimme, die ganz leise auf den kleinen Wellen tanzte. Zwischen dem Plätschern des Wassers schwang eine dünne Melodie, freudlos, wie ein Trauergesang, ein Wehklagen, das mich tief berührte. Ich spürte die unendliche Tiefe, die Hoffnungslosigkeit dieser Töne und fühlte sie in diesem Augenblick, als wären es meine eigenen. Die Stimme wanderte nun tief in meine Seele, sang ihr trauriges Lied, ihr Weinen und Wimmern, mein Geist war offen und ließ die Stimme ungehindert eintauchen. Sie verschmolz mit meinen Gedanken und ich wurde mit einem mal so unbeschreiblich traurig, dass keine Worte imstande wäre, dies zu beschreiben. Nicht Traurigkeit.. es war anders. Es war so schrecklich endgültig, die Machtlosigkeit und Ohnmacht überschwemmte mich und ich trieb auf einem See aus Kummer. Nicht greifbare, pure und doch natürlichste Trauer, ohne eine Spur von Mitleid oder Bedauern. Seltsam und doch völlig natürlich. Das natürlichste überhaupt. Das klarste Gefühl, das ich je in mir gespürt hatte. Und mit einem mal verstand ich es. Das Flüstern des Grases und der Bäume, selbst der Wind hatte eine eigene Sprache, aber ich verstand sie jetzt alle. Sie alle hatten denselben Inhalt, die gleiche Aussage. Ich hatte von allen das älteste und universellste Gefühl erlebt. Leben. Das Leben selbst hatte ich empfunden in seiner unverfälschten Form. Jetzt verstand ich das Singen und Weinen des Flußes, das mich fast in seiner Traurigkeit verschluckt hatte. Jetzt hatte ich das alles verstanden. "Es ist nur das Leben.." Plötzlich wurde es eiskalt, über mir brach eine Welt zusammen. Mit einem Mal wisperte es von allen Seiten, das "Leben" schwebte überall um mich herum, sang sein Klagelied, das ich jetzt noch viel besser verstehen konnte, mit jedem Augenblick mehr. Und doch fühlte ich, wie ich selbst immer leiser, die Flut von singenden Stimmen immer lauter wurde und mein eigenes, leises Stimmchen übertönte. Von Moment zu Moment schwand das Wispern in mir, bis nur noch ein leiser Hauch übrig war. Aber er blieb und tröstete mich in der Kälte, die meine Wahrnehmung jetzt lähmte. [ # ] "Vates!! Vates!! Lasst mich los, ihr verfluchten Bastarde!! Ihr miesen Schweine habt das doch schon vorher alles so geplant! Lasst ihn in Ruhe!! Er hat nichts getan! Er hat doch überhaupt nichts getan! Ich bring euch verdammt nochmal um!!" Die erregte Stimme meines Bruders scholl an meine Ohren, dazwischen das Rauschen des Wassers. "Hättest du ihn nicht mitgebracht! Du bist selbst schuld!" "Du hättest es besser wissen sollen! Ohne Magie bist du aufgeschmissen hier unten! Und wenn nicht er, dann wäre es vielleicht einem von uns passiert!" "Verdammt, er war mein Bruder!" "Flam war auch mein Bruder" sagte Barthel leise und eine Welle aus Trauer schwebte zu mir herüber. Jedoch nicht die Trauer, die ich gerade erst gespürt hatte. Diese Trauer war greifbar und hatte einen Grund. Ein kompliziertes Gefühl, soviele Ecken und Zwischentöne. Es war hässlich. Alles um mich herum fühlte sich hässlich an. Die Gedanken, deren Urheber in meiner Nähe standen. Alles hässlich und unsauber. Ja.. dreckige Gefühle. Auch die Trauer meines Bruders lag wie ein schmutziger Schleier über mir. "Nun. Es ist passiert. Aber wir sind immer noch zu sechst. Und der Eingang ist frei!" "Barthel.. Barthel! Er lebt!" [ # ] Ich spürte Boden unter meinen Füßen, Gras unter den Händen, aber alles war kalt wie Eis. Es rauschte immer noch in den Ohren, aber plötzlich wurde ich von einem Hustenreiz geschüttelt. Keuchend spuckte ich das Wasser aus der Lunge und rang nach Luft. Meine Kehle brannte wie Feuer und mein Magen krümmte sich vor Schmerz. Aber schnell fanden sich meine Sinne zusammen und ich konnte wieder fühlen, was um mich herum geschah. Außerordentliches Entsetzen, Bestürzung und Unglauben. Und grenzenlose Freude. Keine Sekunde später hielt ich meinen Bruder umklammert, der mich so heftig an sich presste, dass mir die Luft wegblieb. Es war nur ein Traum gewesen. Eine grässliche Sinnestäuschung. Er lebte und war gesund. Ich weinte vor Glück und brachte keinen Ton heraus. Ich sah Barthel, der mich mit unverhohlener Furcht anstarrte und auch die anderen schienen fassungslos und überfordert mit der Situation zu sein. "Vielleicht ist ein Trick.." sagte Filc jetzt und sein Misstrauen überlagerte für einen Moment alles andere. "Vielleicht will uns der Fluß eine Falle stellen." Er musterte mich und ich sah zurück, bemerkte, dass er klatschnass war. Seine Hand blutete ein wenig und das Hemd war eingerissen. Barthel's Hemd war ebenfalls nass und zerrupft. Aber der große Mann wich meinem Blick aus, er zitterte mehr als ich. Ich sah auf meine Hände, die verschrammt waren und aus zahllosen winzigen Rissen bluteten. Was war hier passiert? Waren wir angegriffen worden? Und warum sprach Filc von dem Fluß als ob es er eine Hexe sei? Und warum sagte mir sein Blick mehr als seine Worte? War am Ende doch nicht alles ein Traum gewesen..? Das Wasser um mich.. die Kälte.. Kaleb ließ mich endlich los und schenkte mir ein gequältes Lächeln. "Du hast dein Versprechen nicht gehalten, Vates.." Ich schluckte und die Bewegung schmerzte unangenehm in der Kehle. "Aber du.. ich dachte, du würdest verdursten, und dann..!" "Ich weiß.. du bist nicht der erste, der auf den Fluß reinfällt.." "Der Fluß?" fragte ich ungläubig. Eben dieser plätscherte wie zuvor. "Er gaukelt dir etwas vor, damit du in ihn hineinschaust. Als Magiebegabter kannst du deinen Geist abschotten, so dass er nicht in deine Seele greifen kann. Aber als normaler Mensch hast du keine Chance..." "Was.. was ist denn passiert?" fragte ich vorsichtig, denn allmählich begann ich zu begreifen, wie zumindest ein Teil der Geschichte verlaufen war. "Du hast reingeschaut. Obwohl ich es dir verboten hatte!" sagte Kaleb streng. "Aber, das war doch.." "Dann hast du angefangen zu weinen und warst nicht mehr ansprechbar.. weißt du.. Barthel's Bruder ist das vor einigen Jahren auch passiert.." fuhr er leise fort und begann zu stocken. "Immer, wenn sowas passiert... also der Fluß.. er schlüpft in die Seelen der Menschen. Jeder Mensch der in den Fluß sieht, wird verrückt, läuft total Amok! Also.. Barthel's Bruder hat damals fast einen unserer Gefährten getötet, weil er völlig von Sinnen war und.. der Fluß ist ein bösartiges Wesen! Er treibt dich in den Irrsinn und frisst deine Seele!" "Aber.. aber warum sollte der Fluß so etwas tun? Er ist doch nicht böse!" rief ich entsetzt. Der Fluß konnte doch nie etwas Böses tun, das war unmöglich! Er wusste doch garnicht, was böse überhaupt ist - Wasser hat kein Verständnis für Gefühle, die über "Leben" hinausgehen. Ich hatte ihn doch selbst gesehen, gespürt - er war weder gut noch böse, er war einfach da, wie jede Pflanze und jeder Kieselstein. Dieses reine Gefühl konnte doch nichts sein, wovor man Angst haben musste. "Oh doch Vates! Dieser Fluß ist nicht, wonach er aussieht. Er hat schon ettliche Menschen in seelenlose Irre verwandelt. Menschen ohne Seele, ohne Gewissen, ohne Erinnerung! Lebende Tote, die wirres Zeug brüllen, übereinander herfallen... ich meine.. wir dachten alle, du bist genauso verrückt geworden wie Flam damals.. du hast dich so komisch benommen und.." "Ich.. ich habe jemanden angegriffen? Aber ich.. Was habe ich gemacht? Habe ich denn jemanden verletzt? Ich weiß überhaupt nicht, was.." "Nein.. ja.. ich weiss es nicht.. wir wollten es nicht so weit kommen lassen, weil.." Die Angst packte mich wie eine eiserne Faust und zerdrückte mich fast. Ich fasste mir an die Kehle und sah zu Barthel, der unter meinem Blick zusammenzuckte. "Ihr.. habt mich ertränken wollen..?" brachte ich gerade noch heraus, bevor ein dicker Brocken im Hals mir die Luft abschnürte. "Hätte auch fast geklappt!" zischte Filc und starrte feindseelig auf uns herunter. "Verdammt, er trägt keine Magie in sich, er kann nicht einfach so davongekommen sein! Das ist sicher ein Trick, der Fluß steckt noch in ihm drinnen und irgendwann wird er über einen von uns herfallen und uns alle im Schlaf abmurksen.." "Sei ruhig Filc!" donnerte Barthel plötzlich und alles war totenstill. "Du hast genug Unheil angerichtet. Der Junge hat dich gar nicht angegriffen, oder nicht? Sag die Wahrheit, was ist passiert!" "Hat er doch! Wie ein Irrer!!" schrie Filc und deutete auf mich herunter. "Er hat dich am Arm angefasst! Das war alles, du bist total ausgerastet!" "Nein nein! Wirres Zeug hat er geredet! Er war total verrückt! Wie Flam damals und..!" "Was hat er denn gesagt?" "Irgendwas von einem Leben oder so, völlig bescheuert und..!" "Ist das etwa ein Grund, einen Menschen zu töten?!" schrie Kaleb und war drauf und dran, Filc an die Gurgel zu gehen. "Wenn ich das jedesmal getan hätte, wenn du bescheuerte Dinge sagst, wärst du bis heute schon mindestens 300 mal mausetot!!" "Davon wäre das Tor aber nicht aufgegangen!!" heulte Filc und ich merkte, wie er sofort bereute, was er da gesagt hatte. Und tatsächlich folgte die Strafe auf den Fuß. Barthel holte aus und gab Filc eine Ohrfeige, die ihn zu Boden warf. "Noch ein Wort und ich halte deinen Kopf auch solange unter Wasser, bis du dich nicht mehr rührst.." sagte Barthel leise und wandte sich um. So wurde mir zum ersten Mal bewusst, was Filc am Tag der Abreise zu mir gesagt hatte. >Na super, ein neues Lämmchen, was?< Ja, und was für ein Lämmchen. Das "Opferlämmchen" für den bösen Fluß. Eine gute Gelegenheit. Ich blickte das Wasser hinauf und musste die Augen zusammenkneifen vor Helligkeit, die sich sofort in meine Iris brannte. Über dem sprudelnden Nass hing eine grelle, durchsichtige Scheibe wie aus Glas, die in der Sonne spiegelte. Das Tor stand weit offen. [ # ] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)