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Dunkle Nächte

Wenn das Schicksal zuschlägt...
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Frohe Ostern!

Nach Jahren geht es endlich weiter! Die Geschichte wird noch weiter geschrieben und die bisherigen Kapitel überarbeitet.

Ich hoffe, dass ihr diese Geschichte nicht ganz vergessen habt.

Liebe Grüße Traumfänger Komplett anzeigen

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Herzklopfen über den Wolken

Kapitel 27

Herzklopfen über den Wolken
 

Nein, Joey mochte diese ganze Fliegerei wirklich nicht und nun sollte er auch noch die nächsten Stunden auf dem Weg in ein Land, dessen Sprache er nicht sprach, mit diesem Eisklotz verbringen. Obwohl heute irgendwie alles anders schien. Nachdenklich ließ der Blonde ihre letzten Begegnungen noch einmal an seinem inneren Auge vorbei ziehen, während er die Stufen hinauf in den Bauch dieses metallenen Vogels hinter sich brachte.

Schon gestern war die Konfrontation mit ihm und Kaiba seltsam gewesen, dieser Blick in die aufgewühlten Augen, diese unbändigen Gefühle, die unter einer dicken Schicht aus Eis gefangen lagen. Ein seltsamer Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn, vielleicht kannte er Seto Kaiba ja gar nicht, also den ganzen, die gesamte Persönlichkeit dieses Mannes. Vielleicht kannte er ja nur einen Bruchteil dieses Menschen, einen Teil, den er der Öffentlichkeit zeigte, den er der Welt zeigte und alles andere verbarg er tief in seinem Herzen. Mokuba schien diese unbekannten Stücke seiner Seele zu kennen, sonst würde er ihn sicher nicht so sehr lieben.
 

Bevor seine Überlegungen den Sprung zum nächsten Morgen, also diesem, schafften, hörte er die kühle, herablassende Stimme, dass er seinen Hintern endlich bewegen sollte. Erst jetzt bemerkte Joey, dass er auf halber Strecke stehen geblieben war. Mit einem Seufzen meinte er nur leicht angefahren. „Ich habe eben nachgedacht.“ Eine Aussage, die er wahrscheinlich bereuen würde, zumindest erwartete er dieses direkt, nachdem ihm seine eigenen Worte bewusst wurden.

Noch immer konnte man nur das erste Dämmerlicht erahnen, die Rollbahn lag im Flutlicht getränkt weit hinter dem Flugzeug und auch hier erhellten grelle Lampen die Szenerie. Der Himmel war mit Wolken verhangen und wirkte schwarz, bedrohlich und finster. Nicht so wie jemand anderes, dessen Antwort deutlich abweichend aller Erwartungen war. „Wheeler, der Pilot muss sich an sein Zeitfenster halten. Nur weil sie den gesamten Flugverkehr für mich umschmeißen, können wir sie nicht ewig warten lassen. Was also ist so wichtig, dass du beim seltenen Versuch des Nachdenkens stehen bleiben musst?“
 

Der Blonde hatte sich beeilt und war die letzten Stufen hinauf gehastet. „DU!“ Entgegnete er direkt und hatte rein intuitiv geantwortet. Der Anblick, der ihm nun vergönnt war, lohnte jede folgende Beleidigung, jede herabwürdigende Demütigung, die er von dem Brünetten erwarten konnte. Der 22 Jährige war so verwundert, dass er wenige Sekunden einfach nur da stand, ihn aus seinen blauen Augen anstarrte und keine Regung von sich gab. „Oder gibt es etwas wichtigeres als dich?“ Neckte Joey nun noch provokanter und trat in den kleinen Vorraum des Fliegers ein. Die Stewardess, eine kleine Japanerin, griff hinter ihm nur nach der Tür und zog sie mit erstaunlicher Kraft und gleichzeitiger Eleganz zu, ob sie dem Gespräch folgte, war ihr nicht anzusehen.

Diese Worte hatten jedoch wieder Leben in die frostige Eisigkeit gebracht und mit einem gefährlichen Schmunzeln meinte Seto. „Dass du diese Erkenntnis noch einmal verinnerlichst, hätte ich wirklich nicht erwartet! Braves Hündchen!“ Nun war der Eisklotz offenkundig wieder zu sich gekommen und mit einem Verdrehen der Augen schwieg er lieber. Was sollte er auch sagen? Sicher würde der Kerl jedes Argument, jede Erwiderung in der Luft zerreißen und ihm im Mund herum drehen.

Als er seine Aufmerksamkeit wieder dem Inneren des Flugzeuges zuwendete, blieb der Blonde ruckartig stehen. Mit einem Reflex griff er nach dem von seiner Schulter rutschenden Riemen, die Tasche wäre beinahe zu Boden gefallen. Er starrte auf die Inneneinrichtung, die eher einer Wohnung glich, als dem Innenraum eines Flugzeuges. Alles war in einem sanften braun gehalten, welches mit schwarzen Elementen verziert wurde. Gleich hinter dem Eingang zur linken Seite befand sich ein kleines Sofa und ihm gegenüber tummelte sich ein Esstisch in Nussbaumholz und je vier breiten, angenehmen Sitzen. Dahinter kam noch einer, der anscheinend beweglich war. Er gehörte zu einer ganzen Sitzkombination dazu, die in jedes gute Wohnzimmer gepasst hätte. Ein dreisitziges Sofa folgte, dann noch ein deutlich breiterer Sessel. Diesen gegenüber auf den linken Seite waren ebenso zwei gemütliche Sessel, welche elektronisch nach hinten gelegt werden konnten und dabei eine Fußstützte anhoben, um perfekte Gemütlichkeit zu gewehrleisten. Zwischen den beiden Sesseln und dem Sofa links fand sich auch noch eine kleine Bar aus Nussbaumholz und beim Eintreten fand er zwei niedrige Tische vor dem langen Sofa im hinteren Teil.
 

„Du willst mich verarschen oder?“ Fragte Joey völlig entgeistert und stand nun mitten im Innenraum des Jets. Er hatte sich zu Seto umgedreht und die braunen Augen waren groß, rund und von Entsetzen gezeichnet. Die vollen Lippen standen etwas offen, die Tasche hielt er leicht verkrampft an ihrem Riemen fest, der erneut von seiner Schulter rutschen wollte.

Mit einem seltsamen Lächeln schüttelte Seto den Kopf, jemand hatte seinen Koffer schon auf den Esstisch gestellt und mit einer Handbewegung forderte ihn der Brünette auf sich ebenfalls dort zu platzieren. Doch Joey ignorierte diese Geste und blickte sich ein weiteres Mal um, er konnte noch immer nicht glauben, dass er sich in einem Flugzeug befand. Es wirkte beinahe so, als würde er seine Wohnung hier unterbringen können. Gut, vielleicht bedurfte es dafür zwei dieser Jets, aber mal ehrlich, wie winzig war sein kleines Heim und wie groß dieses Monster hier?

„Klar, Alkohol, aber nichts zu essen. Dass passt wirklich zu dir.“ Brummte Joey, dem plötzlich irgendwie seltsam wurde. Er befand sich nicht mehr in seiner Welt und so sehr er sich das auch in den letzten Tagen gegenüber verleugnet hatte, nun war es soweit. Er verließ all das Vertraute und so kurz der Besuch auch im Restaurant war, jetzt musste er sich für Tage auf dieses Terrain begeben. Er atmete tief ein und aus, lange hatte er ja nicht Zeit und sie würden sicher gleich auf dem Weg auf das Rollfeld sein.
 

Schweigend, wenn auch innerlich sehr aufgewühlt, setzte sich der junge Mann auf dem ihm zugewiesenen Platz und nachdem auch der Brünette ihm gegenüber seine Position gefunden hatte, erklärte ihnen die Flugbegleiterin, was in den nächsten Minuten zu beachten sei. So aufmerksam er auch war, irgendwie klappte nichts so, wie es sollte. Sein Gurt wollte nicht einrasten und als sich der metallene Vogel in Bewegung setzte, klopfte Joeys Herz schrecklich. Seine leicht feuchten Hände klammerten sich beinahe schmerzhaft in seine Tasche, die er nicht hergeben wollte. Mit einem Schlucken starrte er hinaus und versuchte sich zu entspannen. Er musste atmen, tief einatmen, tief ausatmen…

Der Jet nahm langsam Fahrt auf, die Umgebung wurde schwammig und doch hörte er das Geräusch der großen Schubdüsen nicht. Kurz schlossen sich die Augen, als er dieses seltsame Gefühl im Bauch spürte, der Boden hatte sie verloren. Innerlich konnte er das Chaos nicht einordnen, ihm war schlecht, er wollte schreien, wollte zurück, sein Kopf schmerzte, alles in ihm war bis zum Zerreißen angespannt. War es hilfreich aus dem Fenster zu sehen oder nicht? Unschlüssig warf er einen Blick hinaus und erkannte die Lichter der Stadt, die sich in der noch immer bestehenden Dunkelheit erhoben. Das Flugzeugt legte sich in eine leichte Kurve, sie waren höher, als von ihm erwartete. Schmerzhaft sog er die Luft zwischen seinen leicht geöffneten Lippen ein, er hatte das Atmen vergessen.

„Ist das wirklich… das ist er!“ Mit einem Schmunzeln beugte er sich weiter vor und schüttelte erstaunt den Kopf. „Das ist wirklich dein Büro, der Turm der Kaiba Corp.!“ Entfuhr dem Blonden und ein wenig seiner Anspannung verschwand. Offenbar hatten die blauen Augen ihn keinen Herzschlag unbeobachtete gelassen und nur langsam folgten sie dem Blick. „Ja, der Flughafen in Domino liegt so, dass einfliegende und ausfliegende Flugzeuge in diese von der Startbahn ausgehend linke Kurve lenken müssen, so wird jedes Mal dieser unauffällige Turm in seiner ganzen Pracht gezeigt.“
 

Die braunen Augen wichen nur kurz von dieser Aussicht fort, um flüchtig einen Eindruck des hellen Gesichtes zu erhaschen. Dann wurde doch der Ausblick wichtiger, der sich langsam in die Dunkelheit zurückzog und in immer weitere Entfernung rückte. „Wow, ich wusste nicht, dass Domino so schön sein kann.“ Murmelte Joey und überging einfach den Kommentar, dass der Turm unauffällig wäre. Noch immer bestand diese Sorge, diese Anspannung und es gab vieles, über das er mit dem Mann reden musste, der nun am Tisch ihm gegenüber saß.

Noch eine Weile beobachtete er die Landschaft in der Dunkelheit und nutze diese Zeit, um seine eigenen Gedanken zu ordnen. Natürlich kam die junge Japanerin noch einmal zu ihnen und erklärte, dass sie sich nun frei bewegen konnten und fragte, ob noch gewisse Wünsche beständen. Seto bat um ein Glas Wasser, während Joey nur den Kopf schüttelte.

Mit einem leisen Räuspern versuchte er seine Stimme zu fassen und ihr einen selbstsicheren Ton zu verleihen. Seine braunen Augen fixierten die eisblauen, die ihn nun erstaunt musterten. Doch zuerst stellte Joey seine Tasche neben sich ab, ordentlich und fein, löste den Gurt und strich noch einmal über die Krawatte. Er hatte sich für diese Reise etwas vorgenommen und das wollte er einhalten. Innerlich sehr aufgeregt konzertierte er sich doch enorm auf seine Worte. „Ich weiß, dass die gesamte Planung dieser Reise eigentlich meine Aufgabe wäre und nicht deine. Ich weiß nicht einmal, ob ich noch etwas vorbereiten muss oder wie ich mich dort verhalten soll. Kann ich dir also noch bei irgendetwas helfen?“
 

Von dieser Aussage war Seto erstaunt und mit einem kurzen Kopfschütteln lehnte er sich gemütlich zurück. Er hatte gerade seinen Laptop aufgestellt und seinen Koffer neben sich auf die Bank gelegt. Nun ließ er seinen elektronischen Helfer unbeobachtete und musterte die Anspannung in dem sonnengebräunten Gesicht. „Nein. Ich denke nicht, dass du mir in irgendeiner Weise in Dubai helfen kannst. Du hast keinerlei Qualifikationen, keine passenden Fähigkeiten, du sprichst nicht einmal die Sprache, die dafür notwendig wäre.“ Joey spürte, wie mit jedem weiteren Wort die Last auf seinen Schultern schwerer wurde und er das Bedürfnis verspürte, sich eng zusammen zu kauern. Jetzt die Fassung zu bewahren und aufrecht zu sitzen erschien unendlich kräftezehrend.

„Allerdings habe ich Mokuba versprochen, dass ich „versuche“ nett zu dir zu sein. Davon abgesehen, dass dein Versagen in diesen Tagen auch mir zugerechnet wird.“ Seine Stimme hatte keinen kalten Ton, dennoch wirkte er in seiner Art autoritär und einschüchternd. Leicht nickte Joey, der sich in Gedanken ein großes Dankeschön für Mokuba notierte, obwohl der „Versuch“ nett zu sein noch lange keine Früchte tragen musste. „Warum bin ich dann dabei?“ Fragte er schlicht, so sicher wie irgend möglich.

„Verträgst du die Wahrheit?“ Mit einem scharfen Einziehen der Luft hob er kurz die Schultern und sein Blick schweifte schnell aus dem Fenster. Nein, nicht! Blickkontakt halten! Ermahnte er sich selbst und starrte nun beinahe in die eisblauen Augen. „Dein Ziel ist mein Untergang! Hier ist es fast unmöglich für dich, mich nicht bis auf die Knochen zu blamieren.“ Schlussfolgerte er bitter und war erstaunt, dass sie offenbar so ehrlich zueinander sein konnten.
 

Schweigend brachte die Flugbegleiterin das Glas Wasser, verschwand dann wieder im Raum, nebenher hatte Joey die Tür auf der anderen Seite bemerkt. „Ja, dass du mich nicht bis auf die Knochen blamierst, wird ein ganz schönes Stück Arbeit für mich werden. Daher habe ich die Aufgaben so einfach und gering wie möglich gesteckt. Sei pünktlich, habe die Unterlagen dabei, die ich dir auftrage und erledige die Aufgaben, die ich dir gebe ohne Theater. Sonst sprich mit keinem und versuche so auszusehen, als ob du nicht ganz so unpassend für diesen Job wärest, wie du bist.“ Ein belustigter Zug klang in diesen Worten mit und Joey spürte einen dumpfen Schmerz in seiner Brust. Diese Worte taten irgendwie besonders nach dem heutigen Morgen weh. Da hatte er alles getan, um Seto zu helfen, und nun sprach dieser so über ihn. Tja, offenbar war der alte Seto wieder da.

„Wheeler!“ Erstaunt stellte Joey fest, dass er den Blick doch wieder gesenkt hatte und schweigend sahen die braunen Augen nun erneut zu dem Firmenführer hinüber. „Ich habe meinem Bruder etwas versprochen und obwohl ich diese Wette gewinnen will, will ich den Sieg nicht geschenkt haben. Wenn ich unfair sein will, sollten die Gegebenheiten mir mehr als genug Möglichkeiten präsentieren, die schlussendlich wirklich unschön für dich ausgingen. Aber so will ich es nicht. Wenn das hier endet, wenn du vor mir auf die Knie fällst, dann richtig. Dann, weil du es wirklich nicht geschafft hast!“
 

Seltsamerweise waren diese Worte irgendwie aufmunternd. Mit einem flüchtigen Lächeln atmete er tief durch und nickte dann. „Danke! Ich werde mein Bestes geben, um dich nicht zu blamieren. Muss ich auf irgendwelche Bräuche achten? Dazu habe ich nur unbestimmte Aussagen gefunden. Nicht, dass ich da noch einen Scheich oder so beleidige, weil ich nicht ihn zuerst begrüßt habe.“ Ob er wollte oder nicht, dieses Lächeln stahl sich auch auf Setos Lippen. Er war beeindruckt, denn weder nahm der Blonde ein Blatt vor den Mund, noch schien er so unbedacht zu sein, wie von Seto erwartet.

„Das klingt fast, als würdest das hier auf einen zweiten Deal hinaus laufen.“ Meinte er mit einem leichten Schmunzeln und Joey grinste plötzlich. Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich selbst zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie beide hatten ihre Mäntel abgelegt und es sah schon lustig aus, wie Joey in dem weißen Hemd mit der grünen Krawatte vor ihm saß. „Wenn du mir hilfst, helfe ich dir. Das klingt doch nach einem Deal, ja!“

Seto stellte mit einem unerwarteten Ausdruck leichter Bewunderung den Laptop zur Seite und nickte. „Dann haben wir einen Deal!“ Er streckte die Hand aus und mit einem Blinzeln musterte Joey diese. „Haben wir!“ Kommentierte er, als auch seine Finger sich um die des Brünetten legten und sie ihre Vereinbarung mit einem Handschlag bekräftigten. Es war seltsam, doch die ersten zwei Stunden des Fluges verflogen förmlich. Aufmerksam und interessiert lauschte Joey all dem, was der Firmenführer ihm erklärte. Es war beinahe wie an dem Mittwoch vor einer Woche. Seto schien sich zwar wieder gefangen zu haben, doch seine sanfte Seite kam nun unerwartet zum Vorschein.
 

Nachdem sie noch eine Kleinigkeit auf Joeys Wunsch hin zu sich genommen hatten, griff der Brünette wieder nach seinem Laptop und wollte sich auf seine eigenen Arbeiten konzentrieren. „Du brauchst mich jetzt gerade nicht mehr oder?“ Fragte der Blondschopf und bekam nur ein Nicken, wobei der Mann ihm nicht wirklich zugehört zu haben schien. Mit einem leichten Schulterzucken griff Joey nach seiner Tasche, aus der er schon einen Block geholt hatte, um sich all die wichtigen Informationen zu notieren. Nach dem Essen, einem wunderbaren Buttermichbrötchen und einem französischen Croissant, fiel ihm das Konzentrieren auf die Arbeit schwer. Er wollte noch lernen, immerhin stand im Juni die Abschlussprüfung an und er war nicht sonderlich gut in der Theorie. Seine Gabe lag eher in der Intuition. Wenn er ein Stück Holz in der Hand hielt, wusste er genau, was er damit machen konnte und was nicht. Da musste er keine Winkel berechnen, keine Skizzen aufstellen, er hatte alles im Kopf.

Mit einem Seufzen schlug er die Seiten seines Lehrbuches auf und blätterte müde darin. Absichtlich lange brauchte er um die richtige Seite aufzuschlagen und mit einem weiteren missgelaunten Ausstoßen der Luft zog er nun auch noch sein großes Zeichenbuch heraus. Wenn er schon arbeiten musste, dann wenigstens halbwegs spaßig. Mit diesem Gedanken fischte er nach seiner Bleistiftmappe und musterte noch einmal kurz, ob alles vorhanden war, was er brauchte.

Mürrisch fing er an, las leise vor sich hin den Text über die richtige Gestaltung und den passenden Aufbau einer dekorativen Zierleiste, welche aufgesetzt werden konnte oder auch direkt aus dem Möbelstück geschnitzt wurde. Lustlos begann er auf der weißen, aufgeschlagenen Seite mit einem Geodreieck die äußeren Linien zu legen, zuerst eine kleine Probe, von der aus dann die einzelnen Teilstücke abgemessen wurden.
 

Seine Lust steigerte sich in keiner Weise, als er die Linien und Blumen wieder und wieder zeichnen musste, immer in den vorgegebenen, selbst angelegten Kästen und mit einem Brummen fielen seine Augenlieder das erste Mal zu. Er verspürte so viel Unlust, dass er es kaum beschreiben konnte. Ok, wenn er hier noch lange saß und sich an diesem Schwachsinn versuchte, würde er wohl einschlafen. Mit diesem Gedanken schlug er das Buch wieder zu und bemerkte nicht das leichte Zusammenzucken des anderen Mannes, der vor ihm hinter seinem Laptop vergraben war. Erstaunt schob sich der brünette Kopf zur Seite und die eisblauen Augen verengten sich misstrauisch. Kein Laut kam über seine Lippen, als er das große Lehrbuch musterte, welches schon einige Knicke und Flecken aufwies. Offenbar schien sich der Kerl wirklich Mühe zu geben. Dachte Seto stumm bei sich und wollte seine Aufmerksamkeit schon wieder seinem Bildschirm zuwenden, als er die leichten Bewegungen aus dem Handgelenk erkannte. Der Bleistift floh über das Papier und hinterließ Kreise und eindeutige Muster, die ihm unverkennbar bekannt waren. Der Kerl zeichnete?

Nun wirklich erstaunt und vor allem fasziniert beobachtete der Brünette, wie auf dem weißen Grund ein kleines Kuriboh entstand. Die großen Augen, das Fell, es sah wirklich nach dieser schrecklichen Plüschkugel aus, die eigentlich aus nicht viel mehr als diesem bestand. Dabei wirkte es nicht einmal nach einem Glücksgriff, als hätte der Blonde dieses Motiv gewählt, weil alle anderen nicht so perfekt geworden wären. War das wirklich mehr als Glück? Bot sich hier etwa ein neues Geheimnis an, einfach so?

Was auch immer ihn in diesem Moment ergriff, was auch immer ihn packte und innerlich so schüttelte, dass er sich zu dieser unglaublichen Tat bereit erklärte, würde er nie bestimmen können. Vorsichtig schob er seinen Rechner zur Seite und seine rechte Hand wanderte möglichst unbemerkt hinüber zu der kleinen Rolle, in der sich die Bleistifte befanden. Noch immer in der Konzentration versunken, starrten die braunen Augen nur auf das Papier, Joey zog nun die einzelnen Strähnen des puscheligen Felles nach und lautlos angelte sich Seto einen Bleistift aus dem Etui. Mit einem kurzen Blick in das sonnengebräunte Gesicht vergewisserte er sich, dass der Blonde nichts von seiner Tat mitbekommen hatte. Leicht spöttisch schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen und er setze den Bleistift auf. Vorsichtig zog er einen kleinen Kreis ganz in der Nähe des Kuriboh und nun fixierten die braunen Augen den Bleistift.
 

Schweigen. Joey entgegnete nichts, hielt seinen Stift bereit und musterte die folgenden Linien, die langsam den groben Umriss eines Drachen erkennen ließen. Das kleine Monster saß nicht mittig auf dem Blatt, sondern nach oben links in die Ecke verrückt. Der Drache hatte sich der Länge nach oben auf dem Papier ausgebreitet, den Schwanz leicht eingerollt, die Flügel so gespreizt, dass sie nur knapp vor dem Rand endeten. Doch am auffälligsten an dem „Weißen Drachen mit eiskaltem Blick“ war sein weit geöffnetes Maul, mit dem er das kleine Monster verspeisen wollte. Seto benötigte nur wenige Minuten, um die Skizze so weit auszuarbeiten, dass man deutlich erkennen konnte, um was es sich dabei handelte.

Die blonden Augenbrauen zogen sich zusammen und die Augen verengten sich. Plötzlich zog Joey seine Hände zurück und steckte den Bleistift hinter das rechte Ohr. Neugierig und erstaunt sah der Firmenführer zu ihm auf und musterte das sonnengebräunte Gesicht um herauszufinden, ob sein Gegner aufgeben wollte. Doch das schien nicht der Fall zu sein, die Ärmel wurden aufgeknöpft und nach oben geschlagen. „Nichts da!“ Brummte der Lehrling und griff nach dem helleren Bleistift mit der Stärke F, Seto hatte den 2H, der noch heller und härter war. „Was kommt jetzt?“ Neckte ihn die kühle Stimme herablassend und Joey maß mit einem kurzen Blick den Platz ab, bevor er seinen Stift ansetzte.
 

Innerlich verspürte der Brünette eine unerwartete Aufregung. So etwas hatte er noch nie gemacht. Nun, mit Mokuba hatte er natürlich gemeinsam an Bilder gearbeitet, aber dieses hier schien ein Wettkampf zu werden. Neugierig versuchte er aus den ersten einfachen Kreisen und Linien etwas zu deuten. Das hinter dem Schwanz des Weißen schien der Kopf zu werden, Flügel glaubte er auch zu erahnen, also auch ein Drache? Könnte das Wheelers geliebtes Rotauge werden?

Er stieß ein lachendes Schnauben aus, als er die Situation erkannte. Der Weiße wollte das arme Kuriboh fressen und wurde dabei rücklings von dem schwarzen Rotaugendrachen angegriffen! „Kannst du über Kopf zeichnen?“ Kam nun die Frage des sonst so unterkühlten Mannes und er grinste dabei so diabolisch. Doch nun bekam er ein spöttisches Lachen und mit einer schnellen Handbewegung drehte der Schreinerlehrling das gesamte Zeichenbuch um. Nun musste er den Schwarzen etwas umständlicher zu Ende zeichnen, obwohl es eh bei einer guten Skizze bleiben würde. Was hatte den Kühlschrank heute eigentlich aufgetaut? Ehrliche Worte am Morgen, ein beinahe intimes Gespräch über unerwartete Sorgen des Brünetten, eine klare Ansage vorhin in Verbindung mit einer freundlichen Hilfestellung und jetzt das???
 

„Seit wann zeichnest du?“ Fragte diese wirklich irre Variante des brünetten Firmenführers. Kurz sahen die warmen Augen zu ihm hinüber. „Nur zwangsweise. Ich muss für meine Ausbildung zeichnen können und als mein Sensai heraus fand, dass ich eine unglaubliche Niete darin bin, hat er mich Stunden, Tage, Wochen lang damit gequält. Ich musste sogar Zuhause zeichnen. Na ja, und da ich mit unseren Monstern am ehesten etwas anfangen konnte, habe ich eben mit ihnen geübt.“ Erklärte Joey und verzog dann erbost das Gesicht. „Was wird das denn?“ Beschwerte er sich und dann drehte er ungefragt den Block erneut um. Nun wurde das arme Kuriboh von einem weißen Drachen angegriffen, der wiederum von Joeys Rotauge, welcher sich einem zweiten Weißen stellen musste. Der Drache hatte seine Krallen in Position gebracht und erinnerte leicht an eine Katze, die zum Sprung auf den Rücken des anderen ansetzte.

Aufgebracht begann nun Joey darauf zu antworten und überließ Seto die Fertigstellung seines Bildes über Kopf. „Dafür bist du gar nicht schlecht. An den Proportionen musste du noch arbeiten, aber die Details und das Grundprinzip der Perspektive hast du drauf!“ Mitten in seinem Strich hielt er inne und erstarrte. Nein! Diese Worte hatte er jetzt nicht gehört! Mit einem Kopfschütteln konzentrierte er sich wieder auf das Bild, verdrängte das schnaubende Lachen des anderen. Nein, es war unrealistisch, dass er so etwas sagte. Was auch immer es gewesen war, er musste sich verhört haben.

Seto wiederholte diese Aussage auch nicht, er schwieg und zog die letzten Linien noch einmal deutlich nach und gab der Skizze seinen letzten Schliff. Es machte ihm unerwartet Spaß! Er wusste nicht, was sein kleines Hündchen als nächstes zeichnen würde und es ging gar nicht direkt darum, ob es besser war. Das Bild, welches nun entstand, hatte seinen ganz eigenen Reiz, einen mit einem leichten Wettkampfgefühl, dennoch blieb die Neugierde an erster Stelle.
 

Wann war er eigentlich das letzte Mal so neugierig gewesen? Wann hatte er mit dieser kindlichen Begeisterung auf ein Ergebnis gewartet, welches im Grunde keine, absolut keine Bedeutung hatte? Es war egal, wie das Bild endete, irgendwann würden sie an den Rand des Papieres stoßen. Sie hatten schon die Doppelseite in Beschlag genommen. Die feinen Augenbrauen verzogen sich fragend und eine wanderte elegant in die Höhe. „Ist das wirklich der Dunkle Magier?“ Fragte die kühle Stimme nun, die einen sanften Ton inne wohnen hatte.

Wieder hob sich der Blick der honigbraunen Augen und kurz schien Joey zu überlegen. „Na ja, es ist ja auch Yugis Kuriboh, wer also würde ihn eher beschützen, als der Magier?“ Es war kein direkter Angriff, aber etwas klang in diesen Worten mit, welches eine kleine Spitze an den Brünetten richtete. Mit nur wenigen Linien veränderte er das Bild auf gravierende Weise. Bisher hatte er den Stab des Magers ausgelassen.

Ein leichtes Zucken fuhr durch die feinen Muskeln des blassen Gesichtes. „Hast du das jetzt wirklich gemacht?“ Fragte Seto nun doch etwas pikiert, da der Dunkle Magier ernsthaft mit dem Ende seines Stabes auf die empfindsame Schwanzspitze des weißen Drachen schlug. Mit einem sehr breiten Grinsen zog Joey noch zwei Linien an der Robe nach und drehte das Buch dann um. „Was denn?“
 

Ohne zu antworten setzte nun der Brünette den Stift an, nutze das letzte Bisschen Platz auf dem Papier, um den letzten seiner Drachen zu zeichnen. Der Magier würde unterliegen. Der Drache sprang ihn förmlich an, schien wütender, aufgebrachter und grausamer, als einer seiner Brüder zuvor. Die Blutgier stand diesem Tier regelrecht ins Gesicht geschrieben und würde diese Szene wie bei einem Film weiterlaufen, wäre der Magier wahrscheinlich zerfleischt unter dem Drachen begraben geworden.

Triumphierend drehte nun der Firmenführer das große Zeichenbuch um, legte den Bleistift beiseite, immerhin war kein Platz mehr vorhanden. Er hatte gewonnen! Joey konnte nichts mehr machen. Der letzte weiße Drache war in Sicherheit, niemand konnte ihn angreifen!

Nachdenklich musterte Joey das Bild. Links oben das Kuriboh, daneben der erste weiße Drache, darunter sein Schwarzer, der teils unter Kuriboh teils schon in der nächsten Zeile von einem weißen Drachen verfolgt wurde. Dann kam der Dunkle Magier gefolgt von einem weiteren Weißen.

Dieses Grinsen gefiel ihm nicht! Warum grinste Wheeler so dämlich, als hätte er auf dem völlig überfüllten Papier doch noch eine Möglichkeit gefunden? Misstrauisch beugte sich Seto nach vorne, beobachtete genau jede Bewegung der rauen Hand und versuchte herauszufinden, was da auf dem winzigen Platz über dem Ende des letzten, weißen Drachen entstand.
 

Nun war er wirklich entsetzt! Die schmalen Lippen standen leicht offen und die blauen Augen wurden von einer unendlichen Fassungslosigkeit gezeichnet. Schnell ließ der Blonde um den großen Ambos noch ein Seil entstehen, welches nach oben zu einer Winde verlief, um darüber hinweg zu gleiten und dann aus dem Rand zu fliehen. Nur einen Herzschlag später zog er das Zeichenbuch näher an sich heran und beschäftigte sich wieder mit der kleinen Knutschkugel oben auf der linken Seite, die nun das Ende des Seiles in Händen hielt. Wenn Kuriboh das Seil los ließ, würde der Ambos auf den Hintern des weißen Drachen fallen!

Mit einem dreisten Grinsen drehte Joey nun das Buch um und schob es triumphierend dem Brünetten vor. Schweigend atmete dieser aus und versuchte sich wieder zu fassen. Die blauen Augen, die noch immer diese Bestürzung in sich trugen, wanderten suchend über das Bild. Es gab keinen Platz mehr! Ihm fiel einfach keine Finte mehr ein, keine Idee kam, wie er dieses Spiel noch einmal wenden konnte. Mit einem Seufzen, welches erst nach einer wahren Unendlichkeit erklang, schoben die schlanken Finger die aufgeschlagenen Seiten wieder zurück. „Verdammt guter Zug, Wheeler!“ In diesen Worten lag so viel offene Frustration, dass Joeys Grinsen kaum zu stoppen war. Es schien weit über die Wangen, ja, beinahe bis zu den Ohren zu reichen.

„Das ist der glorreichste Tag, den ich in meiner bisherigen Zeichnerkarriere gehabt habe!“ Verkündete der Blonde nun und bemerkte, wie ein eisiger Zug in die blauen Augen trat. Ah, jetzt gefror der Kerl also wieder, dieser Tiefkühlschrank!
 

Eigentlich hatte er noch einen Seitenhieb erwartet, immerhin musste Kaiba ja nur auf die bevorstehenden Tage zu sprechen kommen, damit konnte er ihm definitiv den Wind aus den Segeln nehmen, aber nichts kam. Seine Verwunderung versuchte er zu verbergen und schlug das Buch leise zu. „Das hat wirklich Spaß gemacht.“ Meinte der Schreinerlehrling versöhnlich und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf entspannt. „Hast du so etwas schon mal gemacht? Wirkte so.“ Versuchte er sich nun an einem Gespräch, wobei sich der leise Gedanke einschlich, dass sie so etwas noch nie geführt hatten. Einfach so ein zielloses Geplänkel, welches sich um unnütze oder private Themen rankte, kam bisher nicht vor. Wahrscheinlich würde der Brünette auch nicht darauf eingehen, zumindest erwartete das Joey nicht.

„Ich kann nicht einmal sagen, wann ich das letzte Mal gezeichnet habe. Es kommt zwar immer Mal wieder vor, dass ich im Grafikbereich den Bleistift zücke, aber viel ist das nie.“ Gestand die unerwartet warme Stimme und ein seltsam entspannter Ausdruck lag auf dem hellen Gesicht. „Zeichnest du gerne?“ Fragte nun der Blonde begeistert, in einem kleinen Rausch der Neugierde gefangen. Wenn der Kühlschrank schon einmal bereit zum Erzählen war, wollte er so viel wie möglich erfahren. „Nein, Wheeler, wie kommst du nur auf diese Idee? Niemand zeichnet gerne, der mal eben so einen Bleistift klaut und sich an einem fremden Blatt Papier vergreift.“

Zuerst wollte Joey etwas entgegnen, als ihm dann das Lächel bewusst wurde, welches sich auf den schmalen Lippen ausgebreitet hatte. „Blödmann!“ Kommentierte er und beobachtete, wie sich die feine Augenbraue fragend in die Höhe zog. „Mokuba hat nie erzählt, dass du so gut darin bist. Ich meine, dann hast du ja schon zwei Hobbys. Lesen und Zeichnen! Meine Güte, du bekommst ja bald eine eigene Freizeitgestaltung hin!“ Er konnte einfach nicht anders, auch wenn er wusste, dass dieses der falsche Weg war. Doch Seto schien sich darauf einzulassen.

„Oh, du hast etwas vergessen. Lesen, zeichnen und Joseph Wheeler ärgern. Es sind sogar drei Hobbys.“ Der Ausdruck in den blauen Augen war nicht genau zu deuten. Er wusste nicht, ob er darin wirklich so viel Vergnügen an ihrer Unterhaltung sah oder ob er jetzt lieber vorsichtig sein sollte.
 

„Man, man, man, gleich drei Hobbys, anscheinend habe ich doch einen guten Einfluss auf dich!“ Frotzelte der Blonde und musterte den nun doch langsam bedrohlichen Blick des anderen. „Wann hast du mit dem Zeichnen angefangen?“ Lenkte Joey nun vom Thema ab und versuchte das Gespräch wieder zurück auf unbefangenere Bereiche zu führen. Ein tiefes Schweigen war die Antwort, wobei in den blauen Augen nach und nach ein fragender Ausdruck Einzug hielt.

„Genau kann ich es dir nicht sagen. Ich habe früh damit angefangen. So konnte ich meine Ideen für andere sichtbar machen. Ich konnte sie festhalten, um nicht jedes Detail im Kopf haben zu müssen. Wahrscheinlich hat das alles kurz vor Mokubas Geburt angefangen.“ Erzählte er nachdenklich und Joey grinste kurz. „Dann… oh, ne, falsch gedacht.“ Brummte er und sein Grinsen verschwand wieder. Als der Blonde den fragenden Blick auf der anderen Seite sah, meinte er verlegen. „Ich habe mich verrechnet.“ Näher wollte er lieber nicht darauf eingehen, sonst würde er sicher wieder ein Fettnäpfchen mitnehmen. Kurz kam ihm eine Frage in den Sinn, die er einen Moment auf der Zunge behielt. Doch, er wollte es wissen, also fragte er auch. „Sag mal, kannst du dich noch daran erinnern, wie Mokuba zur Welt kam?“ Neugierig blickten die honigbraunen Augen den jungen Mann auf der anderen Seite an. Vielleicht war dieses hier die einzige Chance danach zu fragen.

„Kannst du dich noch an die Geburt deiner Schwester erinnern?“ Diese Gegenfrage kam ohne Zögern und doch war da ein leichtes Schmunzeln, welches um die Mundwinkel spielte. Seto wirkte entspannt, während er dort zurückgelehnt auf der ledernen Sitzbank saß und die Gedanken anscheinend von ganz alleine all die Jahre zurückgereist waren. „Natürlich! Ich werde den Tag niemals vergessen. Ok, also, zumindest dass, was ich denke, dass damals geschehen ist. Ich war gerade 3 Jahre alt. Aber ich kann mich noch erinnern.“ Entgegnete nun Joey seinerseits.
 

Dieses seltsame Strahlen in den Augen, in seinem ganzen Wesen hatte etwas Erwärmendes. Schweigend beobachtete Seto den jungen Mann, den er vor sich auf der anderen Seite sitzen hatte. Für einen Moment schwieg er und erinnerte sich an den Tag zurück, an den er von der Schwangerschaft erfahren hatte. „Ich weiß nur noch, dass mein Dad ganz aufgeregt war und mich mit ins Krankenhaus nehmen wollte. Das einzige, an das ich mich noch erinnere, ist der Geruch im Krankenhaus und das Gesicht meiner kleinen Schwester. Sie war so winzig und ihr Gesicht war so rot. Meine Mutter sagte mir, dass sie Serenity heißt. Ich war so glücklich, so aufgeregt.“ Seine Stimme klang so unerwartet sanft und warm, dass Seto sicher war, sie so noch nie gehört zu haben. „Damals war noch alles gut. Kein Streit, keine Sorgen… es war gut…“

Die blauen Augen sahen ihn musternd an. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er war nun melancholisch und hatte etwas offenkundig Trauriges. Selbst Seto konnte nun die wandelnden Gefühle erkennen, die der Blonde so offen zur Schau trug. Kurz atmete er ein, überlegte seine nächsten Worte gut. „Ich war fünf Jahre alt, als Mokuba zur Welt kam. Für mich war es etwas Besonderes, da ich mir nicht vorstellen konnte, wie es mit einem Bruder sein würde. Meine Eltern hatten mir erzählt, wie wunderbar es wäre einen kleinen Bruder zu haben. Ich kann mich noch genau an alles erinnern, jede Sekunde dieses Tages. Mein Vater war schon dort und unser Chauffeur brachte mich in die Klinik.“ Kurz hielt er inne, die Freude war mit einer gewaltigen Neugierde wieder in das Gesicht des anderen zurückgekehrt und er lauschte gespannt den Erzählungen des Firmenführers. „Er war wirklich winzig! Ich hatte mir niemals Gedanken darüber gemacht, wie klein so ein neugeborenes Kind war. Und doch…“ Es war ein warmes Lächeln auf seinen Lippen, als er sich erinnerte. „Trotz all der Differenzen in den letzten Monaten ist er mir wichtig.“
 

„Ach komm, sag es! Du liebst ihn!“ Stieß Joey hervor und grinste dabei über das ganze Gesicht. „Sag es ein einziges Mal!“ Stichelte er und die honigbraunen Augen funkelten wie Sterne am Himmel. Er schien hibbelig und aufgeregt, während er sich leicht nach vorne beugte, die Arme schob er verschränkt auf den Tisch.

Es war ein Lachen, nur kurz, ehrlich und offen. „Na gut, ja, ich denke, ein einziges Mal ist es in Ordnung!“ Scherzte nun der Firmenführer und neigte sich ebenfalls etwas vor, blickte dem 19. Jährigen in die Augen. „Ich habe Mokuba vom ersten Tag an geliebt und ich liebe ihn noch immer.“ Das Leuchten in den blauen Augen war unglaublich. Sie schienen von Gefühlen nur so angefüllt zu sein, all das, was er schon gestern und erst vor wenigen Stunden in diesem Blick erkannt hatte, war nun von ruhiger, energetischer Wärme getränkt und entfesselt. Die hellen Wangen mit diesem kleinen, leichten Flaum von Röte überzogen, die Lippen von diesem herrlichen, überragenden Lächeln geziert, während der Blick so allumfassend war. Das war ein Ausdruck, in den sich Joey auf der Stelle verlieben könnte. So etwas hatte er noch nie gesehen. „Und ich verrate dir noch ein Geheimnis, ich werde ihn immer lieben! Bis ich eines Tages tot und begraben unter der Erde liege!“ Diese Stimme hatte einen warmen, sanften Anschlag, der schien, als wäre er von einem Versprächen getränkt.

„Dann… dann haben wir eine Gemeinsamkeit! Ich liebe meine Schwester auch, was auch immer kommen mag!“ Erklang nun die freudige Stimme des Blonden und er rechnete schon mit einem Kommentar, der ihn wieder in seine Schranken weisen sollte. Doch nichts kam, dieser sanfte Ausdruck blieb und noch immer waren sie sich so unglaublich nah. „Wer hätte das gedacht, Wheeler, wir haben wirklich etwas gemeinsam.“ Bestätigte die tiefe, ruhige Stimme und plötzlich war es da. Ein Herzklopfen, wild und stark, das Blut begann in Joeys Ohren zu rauschen und er spürte, wie die Hitze in seine Wangen stieg. Er musste nur wenige Augenblicke später tief rot im Gesicht angelaufen sein.
 

„Was ist los?“ Fragte der Firmenführer mit einem spöttischen Ton, frech hob er die Hand und schob die blonden Strähnen von der Stirn. „Entweder hast du dich gerade auf der Stelle in mich verliebt oder das war der schnellste Fieberausbruch, dem ich beiwohnen durfte.“ Eine gewisse Dreistigkeit lag in seinen Worten, Setos Gesichtsausdruck fehlte jedoch jegliche Bosheit. Mit einem ungnädigen Ton schloss Joey die Augen, sein Herz setze aus, als die kühlen Finger seine Haut berührten. Er wusste, dass der Firmenführer noch immer nur wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Die Arme hatte Joey auf dem Tisch überkreuzt liegen, er war bis zur Hälfte über den Tisch gebeugt. „Na, wenn ich auf Männer stehen würde, dann hätte ich das auch sicher.“ Gab er verlegen von sich und bemerkte, dass der Handrücken des anderen auf seiner Stirn zum Ruhen gekommen war. Konnte der Kerl nicht endlich seine Hand da weg ziehen? Sie selbst von dort zu entfernen, wagte sich Joey nicht. Warum, konnte er nicht sagen. Er mochte diese Berührung, die zum ersten Mal nichts Hinterhältiges an sich hatte. Schweigen. Eines der honigbraunen Augen öffnete sich verstohlen und er suchte den Blick des anderen. Der Konter, der nicht ausgeteilt wurde, verunsicherte ihn erst recht.

Ein freches Grinsen lag auf den schmalen Lippen Setos und die eisblauen Augen waren auf ihn gerichtet. „Du wirkst so entspannt, so kenne ich dich nicht. Ich weiß nicht, ob ich je ein solches Lächeln bei dir gesehen habe.“ Begann Joey vorsichtig, denn noch immer sagte der andere nichts. „Es ist eben ein sehr schönes Lächeln. Viel schöner, als deine fiese Seite.“ Erklärte er sich nun und musste daran denken, wie oft der Brünette ihm gegenüber schon handgreiflich geworden war. Er hatte ich bedroht, ihm eine Ohrfeige verpasst, mehrfach, ihn angeschrien und sogar einfach gegen seinen Willen geküsst. Wenn er an die Situation in der Küche zurückdachte, zog sich etwas in ihm zusammen. Dieses Lächeln, welches noch immer auf den schmalen Lippen ruhte, stand im krassen Gegensatz zu der übergriffigen Art, mit der Seto in der Küche beinahe über ihn her gefallen war. Dieser Mann schien zwei gänzlich andere Seiten zu haben.
 

Plötzlich veränderte sich diese feine Berührung und die kühlen Finger strichen nun über seine Wange, das Kinn entlang. Noch immer lag so viel Zärtlichkeit in dieser Geste und der Daumen zog sich sanft über die vollen Lippen des Blonden. „Du solltest sehr vorsichtig sein, Wheeler. Ich meinte meine Worte den Sonntag ernst. Im Gegensatz zu dir mache ich da keine Unterschiede. Allerdings liegt mein Interesse eher daran, dir diesen hübschen Gesichtsausdruck zu rauben.“ Während er sprach, veränderte sich der Blick der blauen Augen und eine gewisse Härte zog in seinen Ausdruck. Nun war das freundliche, warme Lächeln von Bosheit erfüllt und die braunen Augen Joeys starrten ihn entsetzt an. Er war nicht fähig, sich zu rühren, er konnte nicht zurückweichen. Sie waren keine Armlänge voneinander entfernt. Er spüre den Druck auf seinen Lippen, die Hitze seiner Wangen wich einer unerwarteten Kälte. Angst erfüllte ihn und sein Atem wurde flach und hecktisch, während er die Worte begriff, die ihm da eben so zugeraunt wurden.

Wie in Zeitlupe schien sich der Brünette zu bewegen, kam immer näher und das boshafte Lächeln ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Was hatte der Kerl vor? Sein Verstand setzte aus, als er die tiefe Stimme hörte, die raunend klang. „Genau das! Ich stehe unglaublich darauf, wenn ich der Grund dafür bin, dass all die Euphorie aus deinem Gesicht weicht und nur noch die nackte Angst übrig bleibt!“ Zu spät begriff Joey, was der andere im Sinn hatte. Die schlanken Finger hielten mit festem Griff sein Kinn gefangen und die schmalen Lippen legten sich auf die seinen. Völlig unfähig gegen diesen Angriff vorzugehen, schaffte es Seto ein weiteres Mal, dem Blonden einen Kuss zu rauben. Doch dieses Mal wagte er sich nicht so weit vor, die aufbrausende Wut über dieses Handeln stieg sofort in die warmen, braunen Augen. Wahrscheinlich hätte Joey ihm kräftig auf die Zunge gebissen.

„Es hackt ja wohl bei dir!“ Fand die gesamte Empörung nun endlich Ausdruck und mit einer kräftigen Geste packte der 19 Jährige nach dem Handgelenk, um dieses schmerzhaft fest zu greifen. Mit einer einzigen Bewegung hatte er den Arm des anderen auf den Tisch geschlagen und seinen eigenen Oberkörper aus der Reichweite des Brünetten gezogen. Die erst roten Wangen hatten nur kurzzeitig jegliche Farbe verloren und wurden nun wieder tief dunkel. Hitze lang auf dem hübschen Gesicht, welches von Entsetzen gezeichnet war. „Du kannst mich nicht immer küssen, wenn dir danach ist! Nur weil du auf Kerle stehst, kannst du nicht einfach übergriffig werden! Behalte deine elenden Griffel bei dir!“ Schimpfte der Blonde nun mit hoch rotem Kopf und fügte noch hinzu. „Ich bin dein Sekretär, nicht deine Affäre!“

Kurz hoben sich die schmalen Augenbrauen Setos und er zog seine Hand wieder zurück, als der Griff des anderen leichter wurde. „Hm, dann habe ich wohl im Kleingedruckten die „Untertischarbeit“ vergessen.“ Frotzelte er nun frech und schenkte dem Blonden ein dreisten Grinsen. Er konnte genau sehen, wie lange diese Worte brauchten, um in ihrer Gänze von dem Blonden verstanden zu werden. Der eben noch wütende Ausdruck erhielt etwas Verlegenes und er schluckte laut. „Untertisch…“ Er wollte gar nicht weiter aussprechen, an was der Firmenführer dachte. Mit einer neuen Bewegung griff er nach seinem Schulbauch und schlug zu. Mit voller Wucht trat er die Schulter Setos und holte erneut aus. „Das ist doch nicht dein elender Ernst!“ Rief er empört, verlegen und aufgebracht. Mit einem lauten Klatschen schlug das Buch ein weiteres Mal gegen den Oberkörper des Mannes, der nur lachend die Arme hob und dem Angriff halbherzig auswich. Joey sprang auf und bemerkte selbst nicht, wie er bei dem losgelösten Lachen des Brünetten zu grinsen begann. Ein weiterer Angriff mit dem Buch folgte und Seto konnte diesem nicht ausweichen. „Denk nicht einmal an so einen Schweinkram!“ Schimpfte Joey nun auch lachend und als er ein letztes Mal das Buch erhob, griffen die schlanken Finger danach, um es abzufangen. „Jetzt ist aber gut! Wehe, wenn das blaue Flecken werden.“ Gab der Brünette noch immer mit diesem belustigten Ausdruck von sich und Joey beugte sich vor. „Die hättest du auf jeden Fall verdient.“ Sie hielten beide je ein Ende des Buches fest. „Und wehe, wenn du mich noch einmal küsst!“

Die eisblauen Augen funkelten, eine gewisse Dreistigkeit lang in diesen und er fragte frech. „Was dann?“ Er wusste, dass es keine direkte Antwort gab und die Stirn seines Gegenübers zog sich in Falten. Er musste erst überlegen, wie seine Drohung denn nun lauten sollte. Dieser Gedanke war gar nicht ausschweifend überlegt worden und nun starrte er in diesen wartende, höhnische Gesicht. „Dann beiße ich dich so sehr, dass du es dein Lebtag nicht vergessen wirst.“



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