Geschenk der Unsterblichkeit von Hoellenhund ================================================================================ Kapitel 1: Die Nacht erblüht ---------------------------- Es ist noch nicht spät, vielleicht acht. Ich liege in meinem Bett und gönne mir eine kleine Pause, da ich mit meiner Freundin Celes shoppen gewesen und nun völlig erschöpft bin. Ich habe meine Hausarbeiten noch nicht erledigt, doch die müssen wohl oder übel warten. Jemand tritt in das abgedunkelte Zimmer. Ich kann niemanden erkennen, doch ich weiß, dass es Lilith ist. Ich kenne ihre Schritte. Seit über einem Jahr wohnen wir nun schon in dieser WG und ich bin glücklich damit. Eigentlich wollte ich mit Celes zusammenziehen, doch sie hatte es bevorzugt bei ihrem Geliebten zu wohnen. Ich nehme es ihr nicht übel. Als sie es mir gesagt hat, war ich ein kleines bisschen sauer, das schon, aber das ist schnell verflogen. Hätte ich einen Freund gehabt, wäre ich sicher auch mit ihm zusammengezogen. Ich höre wie Lilith ihre Tasche achtlos auf den Boden wirft. Das tut sie immer und ich bezweifele, dass es sich jemals ändern wird. Für einen Augenblick belustigt mich die Vorstellung, wie eine grauhaarige Lilith ihre altmodische Handtasche auf den Boden wirft. “Mach doch das Licht an“, sage ich. Lilith Finger berühren sofort den Lichtschalter und das Zimmer wird in Begleitung eines leisen Klickens mit Licht geflutet. Lilith hebt den Arm vors Gesicht. Nach einigen Sekunden des Wartens lässt sie ihn wieder sinken. “Wieso hast du die Rollläden runtergelassen?“, will sie wissen und setzt sich an die Bettkante. “Ich war müde“, lüge ich. Ich wollte es ihr nur annehmlicher machen. Doch das ahnt sie nicht. Sie zieht ihre Turnschuhe aus und stellt sie neben ihre Tasche. Mit ihrer Kleidung geht sie wesentlich sorgfältiger um, als mit ihren Taschen und Rucksäcken. Mein Blick fällt auf ihren rechten Arm. An ihrem Handgelenk befindet sich ein kleines Fleischloch, das offenbar nicht geblutet hat und ringsherum extrem angeschwollen ist. Ich greife nach ihrem Arm und ziehe ihn an mich heran, um ihn genauer zu begutachten. „Was hast du da gemacht?“, frage ich sie mit einem bewusst vorwurfsvollen Unterton. Sie antwortet nicht. Habe ich auch gar nicht erwartet. Nach einigen Minuten des Schweigens sagt Lilith langsam: „Beim Training war es etwas radikal.“ Auch wenn Lilith Sport grundsätzlich verabscheut, ist sie einer Volleyballmannschaft beigetreten, die sich einmal die Woche trifft. Und dieser Tag ist heute. “Beim Training? Du kannst nicht da gewesen sein, mit dieser Wunde kannst du unmöglich baggern“, erinnere ich sie. „Baggern“ ist eine Art beim Volleyball den Ball zu schlagen. Man streckt die Arme vor sich aus, faltet die Hände und geht danach etwas in die Hocke um den Ball dann mit den Unterarmen zu Schlagen. „Natürlich war ich dort“, gibt Lilith verblüfft zurück und ich spüre, dass es die Wahrheit ist. „Dann konntest du ja die ganze Zeit kaum spielen“, bohre ich weiter nach. “Wieso? Ich habe mich nicht vor dem Training verletzt sondern dabei“, stellt Lilith es richtig. “Ja dabei... Oder eher nachher?“ Ich habe Recht. Lilith senkt den Kopf und sagt nichts mehr. Sie ist vollkommen stumm, doch ich kann fast spüren, wie es in ihr arbeitet, wie sie überlegt, ob sie mir die Wahrheit sagen soll und sich tausend Ausreden ausdenkt, eine unglaubwürdiger als die andere. Schließlich seufzt sie: „Ach Minachi....“ Ich setze mich auf und ziehe Lilith an mich. Sie lässt es zu, ist zu schwach um sich zu wehren. Langsam lasse ich mich rücklings zurück ins Bett sinken, sie immer noch an meine Brust gepresst. Dann lege ich den Kopf in den Nacken und führe Lilith Kopf zu meinem Hals. Ich spüre ihren Protest und verstärke meinen Griff ein wenig. Es ist kein Wunder, dass Lilith sich wehrt. Für einen Vampyr, der seine Persönlichkeit nicht richtig entfalten kann, ist das Leben schwer. Als Lilith nun bemerkt, wie mein Hals Stück für Stück immer näher kommt, stemmt sie sich ängstlich, aber nur halbherzig gegen meinen Griff. Je näher ihr mein Hals kommt, desto heftiger und panischer wehrt sie sich. Bis sie schließlich so nahe ist, dass sie meinen Hals fast mit der Nasenspitze berührt. Ich spüre wie ihre Proteste nachlassen. Sie hat nicht mehr den Willen sich zu wehren. Noch ein letztes Stemmen gegen meinen Griff und ihr Körper entspannt sich. Sie setzt ihre warmen Lippen auf meinen Hals. Es ist die linke Seite, ihre „Lieblingshalsseite“ wie sie es immer nennt. Ich weiß, dass ich sie nun loslassen kann. Sie hat nicht genügend Willenskraft um sich nun noch zurückzureißen. Lange hat sie kein Blut mehr getrunken. Schon nicht mehr, seit ihr Geliebter ihr beichtete, dass er diese Eigenschaft an ihr hasst. Das ist sicher der Grund, aus dem sie gleich zweimal zubeißt. Das tut sie sonst nie. Aber mich überrascht es nach der Fleischwunde in ihrem Arm wenig. Ich mag es, wenn sie mich beißt. Als die Wunden an meinem Hals nicht mehr bluten, rollt Lilith sich von mir runter und bleibt reglos neben mir liegen. Ich wüsste zu gerne was sie jetzt denkt. Weint sie innerlich, weil sie es nicht geschafft hat, ihre Gier zu kontrollieren? Oder dankt sie mir im Stillen für meine Aufgeschlossenheit zu dem Thema? Vielleicht ist sie einfach nur glücklich, dass ihre „Sucht“ mindestens für den nächsten Monat gestillt ist. Vielleicht auch alles zugleich. „Es ist ganz schön heiß“, sage ich, als Minachi und ich unsere Wohnung verlassen. Ich habe es mir wesentlich kühler vorgestellt. Ich mag es nicht, wenn es zu heiß ist – und schon gar nicht zu hell. „Wollen wir nich’ doch lieber ins Kino gehen?“, schlage ich vor und wende mich automatisch in Richtung Bahnhof. „Nix wird, Lilly“, lacht Minachi, „Wir sind verabredet“ „Ach ja?“, erwidere ich verblüfft. Davon hat sie nichts gesagt, „Mit wem?“ „Mit Tara“, sagt Minachi gut gelaunt wie rund um die Uhr und nimmt mich am Arm um mich in Richtung Schwimmbad zu zerren. Am Bad angekommen gehen Minachi und ich uns umziehen. Ich schlage vor, eine Familienumkleidekabine zu nehmen, aber sie lehnt es ab. So verschwindet schließlich jede von uns in einer einzelnen Kabine. Aber das Schließfach teilen wir uns. „Wo sollen wir Tara suchen?“, frage ich sie und blicke bedächtig nach rechts und links. „Da ist sie doch!“, lacht Minachi und zieht mich zu einem der Holztische gleich am Eingang. Dort sitzen Tara, ihre kleine Schwester und ihr noch kleinerer Bruder und essen Pommes. Ich kann es kaum glauben, dass sie ihre Geschwister mitgebracht hat. Ich kann nicht mit Kindern. „Hi Tara!“, begrüßt Minachi unsere Freundin. „Huhu“, sage ich halbherzig. Tara setzt zu einem kindischen Winken an und sagt: „Tach. Wie immer blind, was?“ Das ist an mich gerichtet. Ihr Unterton klingt immerhin nicht sehr spöttisch. Auch wenn sie nicht weiß, dass ich bei Tag über ein schlechteres Sehvermögen verfüge als normale Menschen. „Ich hol mir ein Eis“, sage ich um vom Thema abzulenken. „Willst du auch eins, Minachi? Ich lade dich ein“, setze ich nach. Aber Minachi lehnt ab. „Ich muss auf meine Figur achten“, sagt sie und klatscht sich mit einer Hand auf den Bauch. Ich grinse und gehe zum Kiosk gegenüber unseres Tisches. Als ich zurückkomme, unterhalten sich Minachi und Tara gerade ausgelassen über ihr gemeinsames Hobby: Das Jugendrotkreuz. Sie leiten zusammen eine Gruppe kleiner, quälgeistiger Gören und diskutieren darüber, was sie für den sogenannten „Kreiswettbewerb“ mit den Kleinen üben müssen. Tara natürlich mal wieder mit Händen und Füßen. Der Kreiswettbewerb ist eine Versammlung von Jugendrotkreuzgruppen aus verschiedenen Orten, die sich einmal im Jahr treffen um die beste Gruppe zu küren. Ich setze mich neben Minachi und schlecke mein Eis am Stiel. Ich höre nur mit halben Ohr zu, da mich das Wassereis an Sean erinnert. Er liebt Wassereis. Am meisten das mit Orange. Ich träume vor mich hin, bis ich bemerkte, dass mich Tara und Minachi anstarren. „Was?“, frage ich. „Ob wir uns in die Sonne legen wollen“, fragt Tara offensichtlich zum 2. Mal. „Nein“, sage ich und ziehe das letzte Stück Eis vom Stiel herunter, um es in meinem Mund schmelzen zu lassen, „Ich würde lieber ins Wasser gehen.“ „Na dann mal los, meine Freunde“, grinst Minachi breit und legt Tara und mir einen Arm um die Schulter; sie sitzt in der Mitte. „Hallo Lilith“, grinst Julian blöde. Ein Typ aus unserer Klasse, ein Alltagsjunge. So etwas, das man jeden Tag zu sehen bekommt und das einen ankotzt. Natürlich hat er seinen zwei Meter großen Marten dabei. Ansonsten hätte er sich sicher nicht getraut mich anzusprechen. „Nicht beachten“, rät mir Minachi und wir gehen weiter. „Habt ihr etwa Angst vor uns?“, lacht Julian. Ich wende mich um. „Sehe ich aus als hätte ich vor einer solch niederen Kreatur wie dir Angst?“, sage ich ruhig und missachte Marten, der sich hinter Julian platziert hat. „Laber doch nich immer so nen Scheiß“, fährt Julian mich an. Ich lache ihn aus. „Was lachst du so hässlich?“, nörgelt er weiter. Ich wandle mein Lachen in ein triumphierendes Grinsen um und sage: „Ich weiß schon wieso dir deine Mami immer das Geheimnis des Spiegels vorbehalten hat. Du hättest es nicht ertragen, wenn du gewusst hättest, dass diese hässliche Visage dir gehört.“ Minachi und Tara lachen spöttisch, so wie es mir gefällt. „Hex Hex“, gibt Julian von sich. Ich lache ihn wieder aus. „Zurückgeblieben“, kommentiert Tara. „Ja, und ihm fällt kein aussagekräftiges Gegenargument ein“, setze ich hinzu. Wir lachen weiter. „Wieso gibst du dich überhaupt mit so was Fettem ab?“, setzt Julian neu an, „Du stehst wohl auf ein bisschen Speck, was?“ Mein Lachen stirbt. Er meint Minachi und das wird ihm noch Leid tun. „Halt endlich deine bekloppte Fresse, wenn du keinen Ärger willst!“, schreie ich so laut, dass sich das halbe Bad zu uns umdreht. „Ach guck mal wie aggressiv sie wird“, spottet Julian als würde er mit Marten reden. „Und ich werd gleich noch viel aggressiver“, fauche ich. Ich brauche nicht mehr zu schreien, das ganze Bad lauscht unserer Unterhaltung, ich spüre es. „Halt die Klappe oder ich brech dir eine Hakennase“, gibt Julian zurück. „Ich brech dir gleich noch was ganz anderes!“, schreie ich wieder. „Hör auf Lilly, das ist der doch nich wert“, versuche ich Lilith zu beruhigen. „Nein, aber verdient hat er es“, faucht sie. Ich finde es süß, wie sie sich für mich einsetzt, doch ich weiß, dass es Aufsehen erregen würde, wenn es zu einer Prügelei kommt, denn Lilith würde hoch Haus gewinnen. „Hörst du was die Tonne sagt?“, lacht Julian, „Hör darauf, was sie sagt, wenn du dich nicht schmutzig machen willst, Prinzesschen.“ Das ist selbst für Lilith’ grenzenlose Geduld zu viel. Ich versuche sie am Arm zu packen, erwische aber nur noch Luft, denn Lilith nährt sich mit schnellen, zornigen Schritten Julian, bleibt stehen und schlägt ihm ins Gesicht. Julian schreit. Von der Wucht des Schlages wird er zu Boden geschmettert. Tara schreit erschreckt auf. „Oh Gott...“, flüstere ich. Als ich sehe, wie sich Lilith auch auf Marten stürzen will, packe ich sie auf die einzige Art, mit der man sie nun noch aufhalten kann. Ich umarme sie von hinten um die Brust und drücke sie an mich. Ich kann fühlen, wie es in ihr brodelt, doch sie rührt sich nicht mehr. Der Zorn, der sie erfüllt hat, schwindet. Wir müssen auf Polizei und Krankenwagen warten. Die Notärzte versichern uns, Julian sei nichts passiert. Nur ein paar blaue Flecken und eine kleine Gehirnerschütterung, wenns hoch kommt. Trotzdem nehmen sie ihn mit, zur Kontrolle. „Dürfen wir gehen?“, frage ich einen Polizisten nachdem unsere Personalien aufgenommen worden sind. Er nickt. „Wenn die Eltern des Jungen deine Freundin nicht anzeigen hat sich die Sache erledigt. Wir brauchen die Personalien nur für unser Strafregister“, beteuert der Polizist. Ich nicke und ziehe Lilith davon. Tara und ihre Geschwister folgen uns. Den ganzen Weg nach Hause sagt Lilith kein Wort und mir ist das nur recht. Ich überlege, dass der strahlende Sonnenschein kein bisschen in die Atmosphäre passt. Nicht jetzt und schon gar nicht vor einer halben Stunde. Ich bin sauer auf Lilith und das weiß sie. Wahrscheinlich sagt sie deshalb nichts. Wir sehen bis in den Abend fern. Etwa um zehn erklärt Lilith sie sei müde und wolle ins Bett gehen. Das ist das erste, dass sie seit dem Nachmittag sagt. Ich nicke. Als ich später auch zu Bett gehen will, stelle ich fest, dass Lilith nicht in unserem gemeinsamen Doppelbett liegt. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mit ihr geredet habe. Aber ins Gästezimmer zu gehen und sie zu holen traue ich mich auch nicht. So ziehe ich mir die Decke über den Kopf und schlafe auch kurz danach ein. Ich liege im Gästezimmer und starre an die Decke. Ob Minachi mich vermisst? Wahrscheinlich nicht. Aber ich vermisse sie. Ich habe lange nicht mehr alleine geschlafen, aber das ist ja eine nette Abwechslung, oder? Nein, eigentlich nicht. Zornig beiße ich mir in die Hand. Ich bin sauer auf mich selbst und den Rest der Welt. Wieder einmal wünsche ich mir der Zivilisation der Menschen zu entkommen. Allein. Oder vielleicht mir einem guten Freund. Am besten Minachi. Ich stelle mir vor, wie ich Bekanntschaft mit jemandem mache, einem Geschöpf, so alt wie die Welt. Ich erwache. Um mich herum herrscht immer noch schwarze Nacht. Irgendetwas hat mich geweckt und ich frage mich, was es war. Ich setze mich auf und lausche in die Stille hinein. Nichts. Und doch glaube ich, dass jemand hier ist. Jemand oder Etwas... „Zeigt Euch!“, sage ich in einem Ton, von dem ich hoffe, er klingt befehlend. Einen Augenblick lang scheint das Zimmer um mich herum zu verschwimmen, um dann wieder klare Konturen anzunehmen. Vor meinem Bett steht eine Gestalt. Breite Schultern und dürrer Leib, von einem langen Umhang umspielt. „Wer seid Ihr?“, frage ich weiter. „Mein Name ist Sven.“ „Wie seid Ihr hier hereingekommen? Ihr seid nicht eingeladen gewesen!“, sage ich. Natürlich weiß ich, dass Vampire einen Ort, an dem Menschen leben nur betreten können, wenn sie eingeladen sind. Aber ob das nicht nur ein Teil des Mythus ist, der Vampire umgibt? Nur an einem besteht kein Zweifel: Sven ist ein Vampir, ein echter. Er bleckt seine entblößten Eckzähne. Soll wohl ein Grinsen darstellen. „Du hast mich hereingelassen“, sagt er, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen. „Nein, das habe ich nicht“, beharre ich. Immerhin weiß ich jetzt, dass die Geschichte mit dem hineingebeten werden wahr ist. Oder ist das alles nur ein Traum? Wieder grinst Sven und schüttelt den Kopf wie zur Antwort auf meine gedanklich gestellten Selbstfrage. „Hast du dir nicht gewünscht, ich würde kommen?“, fragt mich Sven offen. Ich starre ihn weiter an. Ja, das habe ich wohl. Aber ich habe auch nicht gedacht, dass solche Fantasiegeschöpfe existieren. Sven lässt sich auf meiner Bettkante nieder. In den Schatten der Nacht kann ich sein Gesicht kaum erkennen. Aber das ist mir auch nicht wichtig. Sven nimmt mich in den Arm. Ich setze mich nicht zur Wehr, lasse es einfach geschehen. Alles. Wie er mein Kinn sanft nach oben drückt und über meinen Hals streicht, wie er sich immer tiefer zu mir hinabbeugt, bis ich seinen Atem auf der Haut spüren kann und wie sich seine spitzen Eckzähne langsam in meinen Hals bohren. Während seine Zähne mein Fleisch zerschneiden leide ich schreckliche Qualen, aber dann ist es schön. Wärme erfüllt mich und als ich mir nun klarmache, wie Sven mein Blut trinkt, steigt meine Glückseeligkeit ins Unermessliche. Ich bekomme nicht mehr mit, wie Sven seine Zähne aus meinem Hals zieht. Ich bin vor Erschöpfung und Behaglichkeit in meine Traumwelt hinübergeglitten. Ich bin in einem dunklen Raum, in dem ich jedoch jeden Schatten durchdringen kann. Meinem Traum fehlt jede Farbe und doch kein Funken Realität. Sean steht mir gegenüber. Er schreit mich an. Er sagt irgendetwas, das für mich keinen Sinn ergibt und auf das ich deshalb auch nicht genauer achte. Dann schlägt er mich. Mit der Faust ins Gesicht. Es tut nicht weh und doch schreit mein Herz vor Schmerz. Erschreckt fahre ich hoch und finde mich im Gästezimmer wieder. Genau dort, wo ich auch sein sollte: In Minachis und meiner Wohnung. Lilith kommt in die Küche getapert. Tapern ist das richtige Wort. Sie ist noch im Nachthemd und total zerwühlt. Mich wundert es, dass sie überhaupt aufgestanden ist, ohne dass ich sie geweckt habe. „Morgen“, gähnt sie und greift nach der Kaffeekanne. „Du siehst krank aus“, stelle ich fest. Tatsächlich ist Lilith ziemlich blass, noch blasser als sonst. „Mir geht’s gut“, lacht sie. Das klingt in meinen Ohren zwar extrem ehrlich, aber ich glaube ihr trotzdem nicht. Ich glaube, die Sache gestern hat sie ganz schön fertig gemacht, darum beschließe ich es einfach zu vergessen. „Na gut“, sage ich, „Aber beeil dich mit dem Anziehen, heute ist Montag.“ „Hä?“, macht Lilith. „Montag, Schule, verstehst du?“, gestikuliere ich. Ein herzhaftes Gähnen ist ihre Antwort. „Na schön“, sagt sie schließlich, als sie ihren Kaffee ausgetrunken hat, „Ich spring schnell unter die Dusche.“ „Da musst du aber wirklich schnell sein“, sage ich mit einem Blick auf die Küchenuhr. Sie zwinkert mir zu und verschindet im Bad. Eine Viertelstunde später steht sie frisiert und angezogen auf der Matte, ihre Schulmappe in der Hand. Wieder einmal staune ich über ihre Zeiteinteilung. „Lass uns gehen“, trillert Lilith für diese Uhrzeit ungewöhnlich aufgeweckt. Wir steuern auf unseren Spind zu. „Mathe“, stöhnt Lilith. Für mich ist sie ein wandelnder Stundenplan. Ich nehme das Mathebuch aus meinem Spind. „Hey, habt ihr schon ans schwarze Brett geguckt?“ Ich fahre herum. Hinter mir und Lilith steht Marceline, auch in unserer Klasse. „Wieso, was gibt’s?“, fragt Lilith. „Wir haben einen neuen Lehrer, ein Student“, berichtet Marceline froh etwas zu wissen, das wir noch nicht gewusst haben. „Oh“, sage ich, „Stimmt ja, der alte Zacken ist ja in Pension.“ ‚Der alte Zacken’ ist Herr Zacken, unser alter Mathelehrer. „Dann haben wir ihn ja jetzt!“, spricht Lilith das aus, was Marceline und ich auch längst klar ist. Darum antwortet ihr niemand. „Naja, bis später dann“, verabschiedet sich Marceline und geht den Gang entlang. Ihr Spind ist auf der anderen Seite. „Denk nach dem Unterricht an die AG“, erinnert mich Lilith. „Klar“, sage ich. Wie könnte ich das auch vergessen? Es ist eine Art Theater-AG mit Theater, Gesang und Tanz. Lilith grinst mich an. Dann gehen wir Seite an Seite in den Klassenraum, in dem Matheunterrichtet wird. Noch zehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Tara ist noch nicht da, aber sie kommt immer erst in letzter Sekunde, darum wundert sich auf niemand. Wie alle Räume in der Schule ist auch der Matheraum mit Einzeltischen ausgestattet. Sehr lästig, wenn man sich unterhalten will, aber dazu sind diese Tische ja schließlich gedacht: Um das Schwatzen einzuschränken. Ich lasse mich auf dem Platz neben Lilith sinken, genau wie immer. Taras Platz ist hinter mir und Marcelines rechts neben mir. Links neben Lilith ist ein leerer Platz und ich glaube, das ist ihr auch ganz recht. Zwei Minuten vor Unterrichtbeginn betritt Tara den Raum. „Tach ihr“, begrüßt sie uns und beginnt sofort, sich ausgelassen mit Marceline über unsere Lehrer zu unterhalten. Lilith ist seitdem wir den Klassenraum betreten haben ganz still. Nun lehnt sie sich nach rechts zu meinem Tisch und berührt mit ihrer Hand die Meine. Sie öffnet den Mund, anscheinend hat sie mir etwas zu sagen, das die anderen nichts angeht. Doch in diesem Moment klingelt es zur Stunde und die Tür öffnet sich. Alle wenden die Köpfe zur Tür. Es ist der neue Lehrer. Er ist wirklich sehr jung. Genau richtig für uns. Ich lache in Gedanken. Er wird sicher der Highschoolschwarm Nummer eins. Sieht ja auch gar nicht so schlecht aus. Er trägt einen förmlichen Anzug. Seine grauen Augen reflektieren das Licht der Deckenbeleuchtung. Dazu sein schwarzes Haar, ein Traum. Nur ein wenig zu bleich für meinen Geschmack. Genauso bleich wie Lilith. Apropos Lilith. Ich bemerke erst jetzt wie sie den Kerl anstarrt. Natürlich ist er genau ihr Fall. Aber eigentlich ist es nicht ihre Art jemanden so anzustarren. Der Lehrer geht vor und stellt sich hinter das Pult. „Mein Name ist Herr Obscurité“, erklärt er und schreibt seinen Namen an die Tafel. „Sind Sie Franzose?“, fragt ein Mädchen und steht auf. Herr Obscurité lächelt und nickt: „Im Ursprung.“ Ich lausche genau auf jedes Wort und mir fällt auf, dass er mit kaum hörbaren Akzent spricht. Er klingt aber, soweit ich das beurteilen kann, nicht französisch. Eher als hätte er sein Leben in Bulgarien oder Rumänien verbracht. Aber vielleicht ist der Familienstamm in Frankreich. Oder er ist einfach viel herumgekommen. Das Mädchen, dass gesprochen hat, setzt sich wieder und Herr Obscurité leitet die Mathestunde ein. Er macht auf mich einen sehr sympathischen Eindruck. Nach der Mathestunde verschwinde ich auf der Toilette. Meine Hände zittern und als ich mich im Spiegel betrachte, bemerke ich, wie krank ich aussehe. Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar. Wieso ist er hier? Wieso hier? Wieso gerade heute? Etwa meinetwegen? Nein, ganz und gar unmöglich. Ein Vampir wie er hat sicher besseres zu tun als ein kleines Highschoolmädchen zu beschatten. Ich schiebe mein Haar beiseite um meinen Hals genau unter die Lupe zu nehmen. Unverkennbar. Zwei mit verkrustetem Blut versiegelte Einschnitte an der rechten Halsseite. Es kann kein Traum gewesen sein. Ich habe Minachi vor der Stunde davon erzählen wollen. War es wirklich ein Zufall, dass der neue Mathelehrer in dieser Sekunde zur Tür hereinkam? Mein Magen rumort. Ich sterbe vor Hunger. Eigentlich esse ich morgens nie etwas. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, um meinen Hals besser betrachten zu können. In diesem Augenblick öffnet sich die Toilettentür. Ich wende mich blitzschnell um. Mein ganzer Körper ist angespannt. Doch als ich erkenne, wer hereingekommen ist, entspanne ich mich wieder. Es ist Minachi. Sie wirkt auf mich seltsam. Irgendwie ängstlich. Sofort drehe ich mich wieder zum Spiegel um. „Ich prüfe mein Make-up“, sage ich erklärend. Ich sehe im Spiegel wie sie nickt, dann lasse ich die Schultern hängen. „Wieso bist du hier?“, frage ich bedrückt. „Ich habe dich gesucht. Die Stunde hat längst angefangen!“, erklärt sie mir und fuchtelt wild mit den Armen. „Und wieso bist du dann nicht im Unterricht?“, frage ich unbeeindruckt. Ich bin gemein zu ihr und dafür hasse ich mich. „Ich? Was ist denn mit dir?“, fragt sie und starrt mich verblüfft an. Ich drehe mich wieder zu ihr um. „Ich habe das nicht so gemeint“, versuche ich mich zu erklären. Minachi seufzt und setzt sich auf die Anrichte neben das Waschbecken. „Du bist so seltsam“, sagt sie ohne mich anzusehen. „Ich...“, beginne ich, breche dann jedoch ab. „Das ist es, was ich dir vorhin im Klassenraum sagen wollte...“, setze ich erneut an, doch wieder werde ich unterbrochen. Eine schrille Sirene hallt durch die Schule. „Feueralarm!“, ruft Minachi, springt von der Ablage, packt mich am Arm und zieht mich aus der Toilette auf den Hof. Allmählich trudeln alle Schüler auf dem Hof ein und stellen sich nach Klassen auf. Das Geschwätz der Schüler klingt wie ein einziges lautes Rauschen in meinen Ohren. Der Lärm ist mir fast noch unerträglicher als die Sirene. Zu meiner Verblüffung ist es nicht unser Klassenlehrer, der das Klassenbuch hochhält, damit sich unsere Klasse bei ihm versammelt, sondern Herr Obscurité. Langsam glaube ich nicht mehr an Zufälle. Natürlich stellt sich heraus, dass es sich um falschen Alarm gehandelt hat. Als nun alle Schüler zurück in die Schule gehen und mir niemand Beachtung schenkt, packt mich Herr Obscurité an der Schulter. Ich starre ihn verwundert an. „Du solltest deine Hausarbeiten gründlicher erledigen“, teilt er mir unnötig laut mit. Ich reibe mir kurz über die Ohren. „Es gibt ein Abkommen des Schweigens“, flüstert er mir schließlich ins Ohr. Und dann fügt er wieder laut hinzu: „Ich möchte dich nach dem Unterricht noch einmal in meinem Büro sprechen. So kann es mit deinen Hausarbeiten gewiss nicht weitergehen.“ Dann wendet er sich ab und geht ebenfalls in die Schule. Ich stehe noch einige Sekunden wie bestellt und nicht abgeholt da. Dann gehe ich ebenfalls in meine Klasse. Ich klopfe an die Tür von Herr Obscurités Büro. „Komm rein“, antwortet er mir und ich folge der Aufforderung. „Setz dich“, sagt Herr Obscurité, als ich vor seinem Schreibtisch stehe. Wieder tue ich, wie geheißen. „Zeig mir deinen Arm“, befielt er weiter. „Was?“, frage ich verblüfft. „Bitte“, setzt er höflich nach. „Okay“, sage ich langsam und lege den rechten Arm auf den Schreibtisch. Ein Reflex. Herr Obscurité nimmt meine Hand und dreht meinen Arm um, sodass die Innenseite oben liegt. Seine Finger sind kalt. Wie aus Eis gemeißelt. Nein, wie tot. Herr Obscurité lächelt belustigt. Er liest schon wieder meine Gedanken. Das ärgert mich. Er fährt mit dem Zeigefinger über die angeschwollene Stelle an meinem Arm. Ich habe mich vorgestern gebissen, um meinen Durst zu stillen. Zu meinem Ärger hat es nicht geblutet und trotzdem ist die Wunde weitläufig entzündet. Es ist mir sehr peinlich. Herr Obscurité beugt sich über meinen Arm und setzt seine kalten Lippen auf meine Wunde. Ich schaudere. Er saugt an meiner Wunde. Was macht er da und wieso? Nach etwa einer Minute lässt er von meinem Arm ab. „Du darfst dich nicht selbst beißen. Der eigene Speichel ist für Vampire giftig“, erklärt er mir wie ein Grundschullehrer, der seinen Schülern erklären muss, dass eins und eins zwei ergibt. Ich nicke. „Du könntest daran sterben“, erklärt er mir etwas eindringlicher. Ich nicke erneut. Er lehnt sich in seinen Lehnstuhl zurück und überschlägt die Beine. „Herr Obscurité?“, frage ich, nach einigen Minuten des Schweigens. „Mh?“, macht er. „Nenn mich Sven, bitte“, setzt er hinzu. „Kann ich gehen?“, frage ich weiter. Sven nickt. Ich stehe auf und wende mich der Tür zu. „Lilith?“, ruft mich Sven noch einmal zurück. Ich drehe mich wieder zu ihm um. „Denk an das Abkommen des Schweigens“, ermahnt er mich augenzwinkernd. Wieder nicke ich und verlasse dann das Büro. Lilith kommt erst spät nach Hause. Später als ich sie erwartet habe. Ich weiß, sie musste nach der Schule noch in Herr Obscurités Büro kommen, doch das kann unmöglich so lange gedauert haben. Ich will sie tadeln, doch ich kann nicht. Sie sieht so krank aus. Ich merke wie aus meinem bösen Blick ein bemitleidendes Lächeln wird. Lilith hebt eine Augenbraue und starrt mich ausgesprochen sauer an. Sie hasst Mitleid, habe ich ganz verdrängt. Lilith setzt sich an den Küchentisch. Ich gehe zum Kühlschrank um ihr die Reste vom Mittagessen zu bringen. „Ich habe keinen Hunger“, sagt sie matt und so halte ich inne. Plötzlich fällt es mir wieder ein. Sie wollte mir heute zwei Mal etwas erzählen. Es schien ziemlich wichtig gewesen zu sein. „Was wolltest du mir heute in der Schule eigentlich sagen?“, frage ich sie und setze mich ihr gegenüber. Zu meiner Überraschung schüttelt sie nur abweisend den Kopf. „Du wolltest es mir doch so dringend sagen“, sage ich überredend. „Nein, vergiss es“, grummelt sie. Ihr genervter Tonfall klingt gespielt. Ich kann mir nicht helfen, ich glaube immer noch, sie würde es mir gerne sagen, also versuche ich es noch einmal: „Ich sag’s auch nicht weiter, das weißt du doch.“ Wieder schüttelt sie den Kopf und steht auf. „Lilly“, seufze ich. „Hm?“, macht sie und wendet sich noch einmal zu mir um. „Pass auf dich auf.“ Sie lächelt matt und verlässt die Küche. Sicher geht sie ins Bett. Mein Weg führt mich jedoch zunächst zurück ins Wohnzimmer, wo ich mich vor den Fernseher fallen lasse. Ich starre auf die Mattscheibe, doch eigentlich sehe ich gar nicht hin. Was ist bloß mit Lilith los? Wenn ich mich recht entsinne hat sie den ganzen Tag nichts gegessen. Sie ist verdammt blass und dann noch das Treffen mit unserem neuen Mathelehrer wegen ihrer Hausarbeiten. Sie erledigt ihre Hausarbeiten immer in Schönschrift, das weiß ich genau. Und wieso will sie mir plötzlich nicht mehr erzählen, was sie doch so dringend loswerden wollte? Die Lösung ist zum Greifen nahe, doch ich komme einfach nicht drauf. Schließlich stehe ich auf und mache die Flimmerkiste aus. Nach dem gedankenverlorenen Zähneputzen gehe ich in Lilith’ und mein Schlafzimmer. Ich bleibe verblüfft in der Tür stehen. Lilith liegt wieder nicht im Bett. Wieso nur? So leise ich kann gehe ich zum Gästezimmer hinüber und drücke die Tür einen Spalt weit auf und spähe in das dunkle Zimmer. Ich kann nicht viel erkennen. „Lilly?“, flüstere ich. Ich erhalte keine Antwort. Ich warte noch gut eine Minute, dann betätige ich den Lichtschalter. Ich bin kurz geblendet, doch dann habe ich wieder klare Sicht. Das Gästebett ist leer. Panik steigt in mir auf. „Lilly?“, frage ich in die Stille. Raschen Schrittes gehe ich alle Räume ab. Küche, Bad, Wohnzimmer. Nichts. Arbeitszimmer, Schlafzimmer und noch einmal das Gästezimmer. Wieder nichts. Ich stürze zum Telefon und nehme den Hörer ab. Aber wen soll ich anrufen? Die Polizei? Nein. Ich greife nach dem Adressbuch in der Schublade unter dem Telefon. Ich schlage das kleine Buch auf, wobei mein Blick auf meine Zitternden Hände fällt. Ich schlucke krampfhaft und blättere das Buch suchend durch, bis ich zum Buchstaben Z gelange. Die Auswahl der Personen, die ich jetzt anrufen könnte ist nicht besonders groß. Ich muss jemanden finden, dem sich Lilith anvertrauen würde. Unsere Schulfreunde fallen damit natürlich aus der Auswahl. Hoffnungslos starre ich auf die Seite. Unter Z ist nur eine Person ein getragen. Zensen. Sean Zensen. Hastig drücke ich die Nummerntasten des Telefons. Was ist das nun schon wieder? Verärgert trete ich gegen meinen Rechner. Augenblicklich wird der Bildschirm schwarz. Na ganz toll, jetzt geht gar nichts mehr. Vor mich hin fluchend haste ich zum Telefon. Nicht auflegen, leg nicht wieder auf! „Hier Zensen“, schnaufe ich in den Hörer. Das Mädchen am anderen Ende der Strippe fragt mich, ob ich Sean bin. „Nein, ich tu nur so“, grummele ich, „Nein im Ernst, wer bist du überhaupt?“ Das Mädchen erklärt mir, sie hieße Minachi und wäre Lilith’ Mitbewohnern. Mein Herz bleibt stehen. „Ist was mit Lilly?“, frage ich und versuche vergeblich die Panik aus meiner Stimme zu verbannen. Wieso habe ich solche Angst um sie? Wir sind schließlich nicht mehr zusammen. Minachi erklärt mir, Lilly sei verschwunden. Da sie sich in letzter Zeit sehr seltsam verhalten habe, mache Minachi sich große Sorgen um sie. Beinahe wäre mir der Hörer aus der Hand gefallen. „Sag mir wo du wohnst, ich komme sofort“, versichere ich ihr. Minachi sagt mir ihre Adresse. „Bis dann“, sage ich hastig und lege auf. Ich werfe mir meinen Mantel über, stecke mir den Haustürschlüssel in die Hosentasche und bin schon aus der Tür. Minachis Straße ist nicht sehr weit entfernt. Ich bemerke kaum, dass ich renne. Ich beuge mich über die Brüstung der kleinen Brücke und starre auf das schwarze Wasser hinab, in dem sich das Licht einer Straßenlaterne und die Lichter eines Mehrfamilienhauses spiegeln. Der Wind zerwühlt mein Haar und bringt mich zum Schaudern. Was ist nur mit mir los? Wieso bin ich eigentlich hier? Ich vernehme ein leises Rascheln und fahre herum. Mein Herz bleibt vor Schreck eine Sekunde lang stehen. Hinter mir steht Sven. Sein schwarzer Umhang flattert im Wind und umspielt seine Konturen, sodass er merkwürdig unwirklich wirkt. „Seid Ihr schon lange hier?“, frage ich ihn. Er lächelt auf seine schaurige Art und präsentiert mir seine scharfen Eckzähne. „Wie fühlst du dich?“, fragt er. Stellt er mir einfach eine Gegenfrage, ohne mir vorher zu antworten. Wie unhöflich. Ich antworte trotzdem: „Wie man’s nimmt.“ „Mh?“, macht er herausfordernd. „Eigentlich fühl ich mich super, aber irgendwie auch nicht“, versuche ich es ihm zu erklären. Ich merke selber wie dumm das klingt. Zu meiner Verblüffung nickt er verständnisvoll. Ohne Vorwarnung streckt er seinen Arm aus und streichelt meinen Hals. Da ich das nicht erwartet habe, zucke ich unwillkürlich zusammen. Svens Hand ist einskalt, trotzdem genieße ich seine Berührung. Ich neige meinen Kopf herausfordernd nach rechts, sodass mein Hals da, wo Sven ihn berührt gestreckt wird. Ich beobachte ihn genau. Wieder lächelt er. Er nimmt die Hand von meinem Hals und schiebt mein Haar bei Seite. Ich schließe meine Augen und fühle, wie Sven mich an sich zieht. Er hält mich nur an der Hüfte, sodass mein Körper leicht nach hinten geneigt ist und mein Kopf automatisch in den Nacken fällt. Ich halte mich vorsichtshalber an seinem Rücken fest. Ich spüre wie er sich meinem Hals nährt, dann seinen Atem auf meiner Haut. Der anschließende stechende Schmerz treibt mir die Tränen in die Augen. Ein Schrei. Habe ich geschrieen? Nein, unmöglich. Habe ich mir das eingebildet? Doch dann setzt mein Denken aus. Ich werde von diesem herrlichen Gefühl übermannt, das ich auch das letzte Mal verspürte. Es ist als wären Zeit und Raum plötzlich sinnlos und unbedeutend. Ich dämmere vor mich hin, bis Sven seine Zähne aus meinem Hals zieht. Da dies wieder schmerzt, kneife ich die Augen zusammen. Ich fühle mich zu schwach um auch nur die Augen zu öffnen. Und das obwohl ich das Gefühl habe, Sven hätte dieses Mal viel kurzer von meinem Blut getrunken. Ich fasse mir ein Herz und zwinge mich die Augen zu öffnen. Sven knöpft sich mit einer Hand das weiße Hemd ein kleines Stück auf. Dann ritzt er sich mit seinem spitzen Fingernagel einen tiefen Riss in die Brust, aus dem Augenblicklich satt rotes Blut tropft. Er legt seine Hand hinter meinen Kopf und führt ihn zu der blutigen Wunde. Ich bin zu schwach um ihm dabei behilflich zu sein. Sanft drückt er meinen Mund an seine Brust. Dankbar trinke ich sein Blut. Sven lässt mich lange trinken. Erstaunlicherweise hört die Wunde nicht auf zu bluten. Erst als ich mich satt in Svens Umarmung zurücklehne, heilt sie so schnell, dass ich es mit bloßem Auge beobachten kann. Sven nimmt mich auf den Arm. Er ist wirklich sehr stark. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragt er mich. Ich schüttele matt den Kopf. Was würde Minachi denken? Sie macht sich sicher jetzt schon große Sorgen. Und ich darf ihr nichts erzählen. Sicher ist es besser, wenn ich einfach weg bin. Verschwunden. Und nie zurückkomme. Sven geht in genau die entgegengesetzte Richtung, von der, aus der ich gekommen bin und das ist mir ganz recht. Doch ich bemerke nicht mehr, wo wir ankommen, da ich schon einige Minuten später in einen tiefen Schlaf hinübergleite. Ich zittere am ganzen Körper. Sean und ich kauern an der Uferböschung der Leine. Er hat mich zur Seite gestoßen, nachdem ich vor schreck laut aufgeschrieen hatte. Unser neuer Mathelehrer, der über Lilith herfällt – wer hätte da nicht geschrieen? Ich bin trotzdem froh, dass mich Sean zur Seite gestoßen hat. Ich weiß nicht ob ich mir das eingebildet habe, aber Herr Obscurités Zähne wirkten auf mich ungewöhnlich spitz. Vielleicht drehe ich auch nur langsam durch. „Glaubst du an Vampire?“, fragt Sean mich. Ich starre ihn an. „Ich meine echte. Solche, die sich in Fledermäuse verwandeln und so“, setzt er nach. Ich lache halbherzig: „Natürlich nicht!“ „Dann solltest du damit anfangen“, erklärt Sean bitter und steht auf. Ich tue es ihm nach. „Grasflecken auf meinem Mantel“, höre ich ihn leise jammern und muss grinsen. Auch wenn mir in dieser gruseligen Atmosphäre eher zum Heulen zu Mute ist. Sean steht nun auf der kleinen Brücke und sieht sich um. „Sie sind da lang gegangen“, sage ich und zeige nach vorn. „Nichts wie hinterher“, befiehlt er. Mir bleibt nicht einmal die Zeit mich über seine kommandierende Art zu beschweren, da Sean sofort losrennt. Also folge ich ihm. Es dauert nicht lange und wir kommen an eine Kreuzung. Das ist ja vorauszusehen gewesen. „Und jetzt?“, will ich wissen und blicke nach links und rechts. „Wir teilen uns auf“, beschließt Sean. „Die Stadt ist riesengroß, so finden wir sie nie“, erinnere ich ihn verzweifelt und lasse mich auf die Bank an der Straßenecke fallen. „Scheiße!“, flucht Sean laut und tritt gegen einen Stein, der gegen eine Straßenlaterne fliegt und zurückprallt. „Machst du dir solche Sorgen um Lilly?“, hake ich vorsichtig nach. Das interessiert mich sehr. „Hm“, macht er. Ich interpretiere das als ja. Wieso hat er Lilith verlassen, wenn er sich noch derart um sie sorgt? Natürlich mache ich mir auch Sorgen. Was, wenn Sean recht hat und Herr Obscurité wirklich ein Vampir ist? Ein Echter? Aber was sollen wir tun? Die Polizei rufen können wir schlecht. „Rufen wir die Polizei“, sagt Sean unvermittelt. Ich starre ihn an. „Was?“, fährt er mich an. „Was willst du denen denn erzählen? Ein wildgewordener Vampir hat Lilly entführt? Ha ha“, fauche ich zurück. „Natürlich nicht“, erklärt mir Sean wieder ganz ruhig, „Wir sagen einfach, wir hätten gesehen, wie ein Mann Lilly entführt hat. Das ist schließlich die Wahrheit.“ „Genial“, sage ich verblüfft. „Jaja“, erwidert er abweisend und zieht ein Handy aus der Hosentasche. Er erzählt der Polizei alles über Lilly. „Und?“, frage ich, als Sean aufgelegt hat. „Sie meinten sie leiten eine Fandung ein. Morgen soll jemand zu dir kommen, der ein Phantombild erstellt“, erklärt Sean mir. „Du wusstest noch wo ich wohne?“, frage ich erstaunt. „Kannste mal sehen“, gibt Sean zurück, „Ich gehe jetzt nach Hause, ruf mich an, wenn’s was neues gibt.“ Sean fährt sich noch ein mal nervös durchs Haar und geht dann in die Dunkelheit davon. Auch ich trete den Heimweg an. Ich frage mich, ob Herr Obscurité morgen zum Unterricht erscheint. Ich erwache in vollkommener Dunkelheit. Es dauert keine fünf Sekunden bis meine Augen jeden Schatten des Zimmers durchdringen. Ich bin allein. Verwundert stelle ich fest, dass ich starkes Verlangen nach Blut habe. Dabei habe ich bevor ich eingeschlafen bin so viel getrunken, wie nie zuvor. Mein Kopf schmerzt und so lege ich mich wieder hin. Plötzlich stelle ich fest, dass ich nicht in einem Bett liege, wie ich es erwartet habe, sondern in einem Sarg. Ein Schauder läuft mir über den Rücken, doch trotzdem kommt es mir heimisch vor. Der Sarg ist mit dunkelrotem Samt ausgekleidet und nun fällt mir auf, wie stark er nach Sven riecht. Ich wüsste gerne wo ich hier bin, aber ich bin sehr müde und schlafe schnell wieder ein. Als ich das nächste Mal erwache, fällt es mir sofort auf. Irgendetwas hat sich verändert. Ich blinzele. Ich bin nicht mehr allein. Auf einem Stuhl neben dem Sarg sitzt Sven und schnitzt an Etwas. Als ich mich aufsetze, schaut er zu mir hinüber. „Hast du Hunger?“, fragt er mich. Ich bin nicht sicher was ich antworten soll. Ich habe keinen Hunger, keinen richtigen Hunger. Ich habe Blutdurst. Aber vielleicht meint er das ja? „Ja“, antworte ich schließlich. Sven nickt und steht auf. Ein gleißendes Licht erfüllt den Raum und ich muss meine Augen mit meinem Arm vor dem Licht schützen. Da ich einen leichten kalten Hauch auf der Haut spüre, bin ich mir sicher, dass er einen Kühlschrank geöffnet hat. Nun kommt Sven zu mir zurück und hält mir etwas entgegen. „Was ist das?“, frage ich und hoffe, dass es nicht das ist, für was ich es halte. „Ein Hase“, sagt Sven schlicht und gibt ihn mir in die Hand. „Ein Hase?“, frage ich verblüfft. „Ja. Du kannst nicht jeden Tag einen Menschen haben“, erklärt mir Sven. Er beobachtete mich belustigt. Ich seufze. „Wie schmeckt das?“, will ich zweifelnd wissen. „Probier es, dann weißt du es“, grinst Sven. Als ich ihn nur weiter verblüfft anstarre fügt er hinzu: „Nicht viel anders als Menschenblut, koste!“ Ich beuge mich immer noch unsicher über den Hasen. Dann entblöße ich meine scharfen Eckzähne und beiße zu. Das Blut des Hasen schmeckt schwer und ein bisschen bitter, aber ich beklage mich nicht. Ich würde es niemals zugeben, aber ich fühle mich gut dabei. Sven beobachtete mich, während ich trinke, ich kann es fühlen. Als sich kein Blut mehr in dem Hasen befindet, hebe ich den Kopf und lecke mir das Blut von den Lippen. Jetzt, da ich geendet habe, fühle ich mich als Mörder. „Er war doch schon vorher tot“, versucht mich Sven zu trösten. Er hat wieder einmal meine Gedanken gelesen, keine Frage. Ich seufze. „Ich habe ihm das Genick gebrochen, er hat nicht gelitten“, erklärt mir Sven und wendet sich wieder seiner Schnitzarbeit zu, „Kein anständiger Vampir lässt ein Tier leiden.“ „Gibt es denn Vampire, die nicht anständig sind?“, frage ich verblüfft. Sven lacht. „Natürlich. Genauso wie es Mörder unter den Menschen gibt, gibt es auch Verbrecher unter uns. Ich könnte die Schande nicht ertragen, würde meine Tochter ein böser Vampir werden.“ „Deine Tochter?“, will ich wissen. Ich verstehe nur Bahnhof. Wieder lacht Sven: „Die Menschen, denen wir die Unsterblichkeit schenken, sind unsere Kinder. Wir müssen sie führen, bis sie gelernt haben sich in unserer Welt zurechtzufinden. Und du musst noch eine ganze Menge lernen, Lilith.“ „Können wir ihn begraben?“, frage ich unvermittelt. Ich rede von dem kleinen Hasen, der immer noch leblos in meinen Armen liegt. Aber ich weiß genau, dass Sven weiß wovon ich rede. „Wenn das dein Wunsch ist“, antwortet Sven und steht auf, „Folge mir.“ Nach der Schule war eine Polizistin bei mir. Ich habe ihr von Herr Obscurité erzählt. Er war heute morgen tatsächlich in der Schule und hat unterrichtet, als wäre nichts gewesen. Natürlich wollten Marceline und Tara wissen, wo Lilith steckt. Ich habe es ihnen erzählt. Ohne dieses eine kleine Detail natürlich. Sie wissen nichts von Herr Obscurité und davon, dass er ein Vampir zu sein scheint. Ich lasse mir ein heißes Bad ein und lege mich in die Wanne. Ich habe lange nicht mehr gebadet, immer nur geduscht. Ich vermisse Lilith an meiner Seite. Sie hätte wäre jetzt sicher rein gekommen und sich zu mir in die Wanne gesetzt, mich von hinten umarmt und gefragt, was mit mir los sei. Sie war manchmal launisch, das schon, aber eigentlich immer lieb und herzensgut. Ich muss weinen. Irgendwas in mir sagt mir, dass ich sie nie wieder sehen werde. Am nächsten morgen gehe ich sehr geknickt zur Schule. Ich habe nicht viel geschlafen. In der Schule kommen mir Marceline und Tara entgegen. Sie sehen sehr fröhlich aus. Ich kann das nicht verstehen. Plötzlich kommt mir der wirre Gedanke in den Sinn, dass sie mir nicht glauben. „Heute so schlecht drauf? Du bist doch sonst so fröhlich“, meint Marceline, öffnet meinen Spind und wirft mir meine Mathesachen in die Arme. „Mathe?“, will ich entsetzt wissen. „Jap, Mathe“, bestätigt Tara, „Lilith kommt sicher bald wieder. Sie hat sich sicher bei irgend wem abgesetzt, wäre ja nicht das erste Mal.“ „Aber doch nicht ohne etwas zu sagen! Ich glaube ihr habt mich nicht richtig verstanden. Lilly wurde entführt! Soll ich euch das schriftlich geben?“, schreie ich. Dann stapfe ich an ihnen vorbei in den Klassenraum. Sie wollen es einfach nicht begreifen. Natürlich bleibt Lillys Platz neben mir leer. Herr Obscurité erscheint pünktlich zur ersten Stunde im Klassenraum und klärt uns über den angeblichen Zauber der Trigonometrie auf. Doch mitten in der Stunde geschieht etwas Unerwartetes. Ohne zu klopfen wird die Tür des Klassenraumes aufgestoßen und zwei Polizisten kommen herein. Sofort bricht in der Klasse ein riesiger Tumult aus. Jeder scheint mit jedem zu schwatzen. Der Zauber, der die Klasse während der Mathestunden bei Herr Obscurité immer zum Schweigen bringt, ist gebrochen. „Wir müssen Sie vernehmen“, höre ich einen der Polizisten sagen. „Können Sie sich bis nach der Stunde gedulden, meine Herren?“, fragt Herr Obscurité die Polizisten. „Nein. Nach Angaben eines Mädchens haben wir ein Phantombild erstellt, das genau zu Ihnen passt. Sie könnten an der Entführung einer Schülerin dieser Klasse beteiligt sein“, sagt der andere Polizist. Ich kann sehen wie sich der eine Polizist anschickt, Herr Obscurité Handschellen anzulegen. „Ich komme mit“, sagt Herr Obscurité beschwichtigend. Und so verlässt Herr Obscurité in der Mitte der Polizisten den Klassenraum. Ich weiß nicht ob ich es mir eingebildet habe, aber ich könnte schwören, dass mir Herr Obscurité im Vorbeigehen einen zornigen Blick zugeworfen hat. Der Rest des Schultages verläuft recht ereignislos. Nach der Schule verabschiede ich mich halbherzig von Marceline und Tara und mache mich allein auf den Heimweg. Allein. Genau wie gestern – allein. Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab. Ich habe meinen Rechner immer noch nicht repariert, aber ich muss zugeben, dass ich es auch noch gar nicht versucht habe. Ich kann nicht mehr klar denken. Jeder Gedanke wird von der Sorge um Lilly weggespült. Ich packe meinen Mantel und verlasse die Wohnung. Nur raus hier. Wo immer mich meine Beine hintragen mögen. Wie nicht anders zu erwarten war, tragen sie mich auf direktem Wege in den Park. Ein Frühlingstag – nicht anders als die vorhergegangenen Tage, strahlender Sonnenschein. Ich gehe an einer Parkbank vorbei. Dann bleibe ich stehen und sehe zurück. Auf der Bank sitzt Minachi. Ich gehe zu ihr. „Hallo“, sage ich missgelaunt. Sie antwortet mir nicht. Ich nehme es ihr nicht übel und setze mich neben sie. „Hm?“, macht sie nach einer Weile und starrt mich an. „Was?“, will ich wissen. „Seit wann bist du denn da?“, fragt sie verblüfft. Ich kann nichts weiter tun als sie erstaunt anzustarren. „Ach Sean“, sagt sie nach einigen weiteren Sekunden fiebrig, „Ich muss dir was erzählen!“ Ich schaue sie interessiert an und warte auf ihr Fortfahren. „Heute in der Schule war ein Aushang am schwarzen Brett. Die Aktivitäten in der Sporthalle fallen heute Nachmittag aus. Heute Abend ist geschlossene Gesellschaft!“, berichtet sie mir aufgeregt. „Ja...Und?“, frage ich wieder desinteressiert. „Unser neuer Mathelehrer leitet die Veranstaltung! Du weißt schon, der Vampir der...“ „Pst!“, fahre ich ihr dazwischen, „Schon gut, ich hab’s kapiert. Hast du heute Abend schon was vor?“ „Eigentlich nicht“, sagt sie langsam. „Gut, dann werden wir deiner Schule heute Abend einen kleinen Besuch abstatten. Wann fängt das an?“, will ich von ihr wissen. „Um 10. Aber wie kommen wir da rein? Und was machen wir, wenn dort nur Vampire sind? Sie mit einem Bleistift erstechen?“, fragt mich Minachi. „Lass das mal meine Sorge sein. Du gehst auf die Highschool, nicht wahr?“, frage ich siegessicher. „Ja, genau“, meint sie. Sie wirkt immer noch recht perplex. „Gut, dann um 15 vor 10 an der Hintertür der Sporthalle. Ich kenn’ mich aus, war schon öfter da“, sage ich, stehe auf und gehe davon. Ich will nach Hause, es gibt noch viel vorzubereiten. „Mhhhh!“, mache ich und öffne verschlafen ein Auge. Sven hat mich geschüttelt und zieht nun seine Hand von meiner Schulter. „Ist wer gestorben?“, grummele ich. Sven weckt mich sonst nie so früh. Eigentlich hat er mich noch nie geweckt. Er grinst mir entgegen: „Würde ich dich wecken, wäre jemand gestorben?“ Ich grinse zurück. „Das ist etwas gewöhnungsbedürftig“, erkläre ich ihm. Er nickt. „Du wirst heute Abend der Gesellschaft vorgestellt“, erklärt er mir. „AUUU verdammt!“, schreie ich. Ich habe mir vor Aufregung die Zunge an meinem Eckzahn aufgeschlitzt. Die Wunde beginnt zwar augenblicklich zu heilen, aber trotzdem tut es verdammt weh. Sven lacht. Ich weiß genau, er lacht mich aus und das macht mich wütend. „Entschuldige, das ist nicht so gemeint. Glaube mir, vor ein paar hundert Jahren habe ich mir auch laufend auf die Zunge gebissen“, erklärt er mir immer noch grinsend. „Im Übrigen: Ich habe etwas für dich“, fügt er wieder ernsthaft hinzu. „Wirklich?“, frage ich aufgeregt und setze mich im Sarg auf. Sven geht zu dem kleinen Tisch in der einen Zimmerecke hinüber und holt das große Päckchen, das darauf abgelegt war. Dann gibt er mir das Päckchen. „Ich hoffe es gefällt dir“, fügt er hinzu. Sofort reiße ich das Packpapier auf. Was das wohl ist? „Wow!“, entfährt es mir. Ich stehe auf und halte mir ein langes, dunkelrot und schwarzes Kleid an. „Das ist wunderschön“, begeistere ich mich, „Kann ich es gleich anprobieren?“ „Nur zu“, nickt Sven offensichtlich erleichtert über meine Begeisterung und dreht sich um, damit ich mich umziehen kann. „Fertig!“, gebe ich Sven Bescheid. Er wendet sich wieder zu mir um. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse. „Meint Ihr, dass es mir steht?“, frage ich ihn. „Wunderschön“, nickt Sven, „Ich lege mich noch ein paar Stunden hin, weck mich spätestens um halb 9, hörst du?“ Ich nicke und stelle mir den kleinen Wecke auf dem Nachttisch neben Svens Sarg. Dann tue ich, was ich immer tu, wenn Sven schläft oder nicht das ist: Ich lese in der Chronik der Vampire. Dieses in altdeutschen Buchstaben geschriebene Buch ist so schwer, dass ich es zum Lesen auf meinen Knien ablegen muss. Es enthält alles, was man über Vampire wissen kann – Geschichte, Religion, Strafgesetze, Mythen, einfach alles. Pünktlich um halb 9 wecke ich Sven. Er reagiert wesentlich weniger muffelig als ich es erwartet habe und steht sofort auf. Er zieht nichts Besonderes an. Nur seine schwarze Hose, sein weißes Hemd und seinen schwarzen Mantel, genau wie immer. Traditionskleidung, wie er es nennt. Wir verlassen zusammen die kleine Hütte, in der ich nun lebe. Sven hat irgendwo noch eine offizielle Wohnung, aber ich weiß nicht wo. Das Licht der Straßenlaternen schmerzt in meinen Augen. Als ich das letzte Mal Licht zu Gesicht bekommen habe, habe ich noch gelebt. Und damals hat es mir auch nichts ausgemacht. „Gewöhn dich besser daran. Beim Empfang wird es viele Kerzen geben“, meint Sven. Und schon wieder hat er meine Gedanken gelesen. „Ja, es geht schon wieder“, gebe ich zurück. An der Tür der Sporthalle von meiner alten Schule sitzt ein Mann mit langem, schwarzem Haar an einem Tisch. Ich sehe auf den ersten Blick, dass es sich um einen Vampir handelt. Sven nennt dem anderen Vampir unsere Namen, welche der Vampir dann auf einer Liste sucht und abhakt. Dann nicken sich die beiden freundschaftlich zu. Sven nimmt mich bei der Hand und führt mich in die Halle. Es ist genau wie ich es mir vorgestellt habe. In der Halle sind viele lange Tische aufgestellt worden, die jeweils mit einem Dutzend Kerzen bestückt sind. Es sind schon fast alle Plätze an den Tischen besetzt. Ich bleibe bei einem der Tische stehen, doch Sven zieht mich weiter, bis zu einer Art Bühne, die am Ende der Halle steht. Auf der Bühne stehen sechs Stühle, von denen bereits vier belegt sind. Auf den prunkvollen Stühlen in der Mitte sitzen zwei Vampire, die mir ungeheuer Mächtig erscheinen. Ein weiblicher und ein männlicher Vampir. Als ich sie ansehe, läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken. Rechts neben den beiden sitzen zwei männliche Vampire, die eifrig auf einem Blatt Pergament kritzeln. Wahrscheinlich Protokollanten. Sven steigt auf die Bühne und verbeugt sich kurz vor dem beiden Vampiren, die mir so mächtig erscheinen. Ich tue es ihm nach. Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich ein leises, zufriedenes Lächeln über die Lippen des weiblichen Vampirs zucken. Sven setzt sich auf den leeren Platz links neben den beiden und ich nehme neben ihm Platz. Ich bin so nervös, dass ich kaum still sitzen kann. Sven wirft mir einen zur Ordnung rufenden Blick zu. Ich seufze lautlos und blicke in die Halle hinab. Die Plätze an den erleuchteten Tischen sind nun voll besetzt. Mir fällt auf, dass links und rechts der Bühne zwei Fackeln aufgestellt sind. Ich blinzele in das helle Licht. Doch ehe ich mich weiter umsehen kann, steht der weibliche Vampir neben Sven auf und alle Vampire in der Halle verstummen. „Meine Brüder“, beginnt sie. Sie spricht mit einem mir fremden Akzent. „Wir haben uns heute hier versammelt, um ein neues Kind in unsere Mitte aufzunehmen...“ Sean zieht einen Dietrich aus der Tasche und schiebt ihn in das Schloss der Hintertür. Ich drücke ihm Daumen und Zehen. Zu meiner Erleichterung öffnet sich das Schloss schon nach kurzer Zeit mit einem leisen Klicken. Mein Herz schlägt in Rekordgeschwindigkeit. Sean geht voraus. Ich folge ihm auf den Fersen. Wir gehen durch die dunklen Gänge von den Umkleidekabinen zu der Sporthalle entlang. Zu meiner großen Erleichterung begegnet uns niemand. Die Sporthalle ist komplett mit Kerzen ausgeleuchtet, wirkt sehr schaurig. „Da ist Lilly“, flüstert Sean mir zu. Er hat Recht. Lilith ist gerade aufgestanden. Die Menschenmenge an den langen Tischen applaudiert höflich. Dann beginnt Lilith zu singen. „..Totes Licht, kalt wie Eis, trifft wie Nässe meine Brust. Träge zieht sich mein Blut durch die Zeit...“ ich erkenne „Ein Traum vom Fliegen“ von Roselstolz wieder. Ich frage mich wieso sie singen muss. Aber wahrscheinlich hat sie sich statt einer Rede dafür entschieden. Das tut sie des öfteren. Nachdem Lilith geendet hat, gibt es wieder höflichen Beifall. Die einzige Frau auf der Bühne nickt ihr dankend zu und Lilith setzt sich wieder. Der Mann, neben der einzigen Frau auf der Bühne steht auf. „Lasst die Rangkämpfe beginnen!“, höre ich ihn rufen. Tische werden an die Seite geschoben und alle versammeln sich in der Mitte um Lilith herum, sodass ich sie nicht mehr sehen kann. Vorsichtig gehe ich in die Halle. Ich kann fühlen, dass Sean dicht hinter mir ist. Ich dränge mich durch die Reihen der Menschen. Sie sind alle leichenblass. Ich schaudere bei dem Gedanken, dass es alles Vampire sind. Aber niemand scheint uns zu bemerken. „Der 10. Rang stellt sein stärkstes Mitglied Andrew. Im Kampf für den 10. Rang kämpft unser neues Mitglied Lilith gegen Andrew“, verkündet ein Vampir, der auf einem Stuhl sitzt, der so hoch ist, dass er die anderen Vampire überragt. Der Vampir, der in der Mitte der Halle Lilith gegenübersteht, hat seinen Mantel abgelegt und steht in Kampfhaltung. Lilith in ihrem weiten Kleid hingegen steht ganz normal da. Das Startsignal für den Kampf ertönt. Der Vampir aus dem 10. Rang stürzt sich sofort auf Lilith. Sie hingegen holt einmal aus und schlägt ihm mit der Faust ins Gesicht. Das hässliche Knirschen von brechenden Knochen ist zu hören und der Vampir stürzt zu Boden. Die Zuschauer sind begeistert. Die Atmosphäre erinnert mich ein bisschen an die Atmosphäre in einem Fußballstadion. Lilith kämpft sich Mühelos bis zum 5. Rang hoch. Erst dann stößt sie auf Widerstand. Im 3. Rang wird sie schließlich besiegt. Auch wenn sie lange nicht so schlimm zugerichtet wird, wie sie den Vampir aus dem 10. Rang zugerichtet hat. „Hiermit wird Lilith in den 3. Rang aufgenommen!“, verkündet der Vampir, der immer die Kämpfe angesagt hat. Die Menge der Vampire zerstreut sich und verteilt sich wieder in der Halle. Herr Obscurité hilft Lilith auf und führt sie an einen Tisch. Sean stößt mich an. „Hm?“, frage ich. „Ich glaube sie hat uns gesehen“, flüstert er mir zu. Ich folge seinem Blick und sehe, wie Lilith uns anstarrt. „Ach herrje“, sage ich unvermittelt. Sven schaut mich an: „Schmeckt dir das Essen nicht?“ „Ach darum geht es doch gar nicht. Entschuldige mich“, gebe ich zurück und stehe auf. Ich winke Sean und Minachi um sie dazu zu bringen, mir zu folgen. Zum Glück verstehen sie den Wink. Ich führe sie hinauf auf die Empore. Hier hinauf würde niemand schauen. „Was macht ihr denn hier?“, frage ich. Ein großer Fehler, wie mir leider zu spät klar wird. „Was wir hier machen? Was WIR hier machen? Wir suchen dich seit Tagen!“, fährt mich Sean so laut an, dass die ganze Halle verstummt und zu uns hinauf schaut. „Es tut mir Leid“, versuche ich ihn zu beschwichtigen, „Es gibt ein Abkommen des Schweigens, darum konnte ich euch nichts erzählen.“ Das ist fehlgeschlagen. „Wir haben uns Sorgen gemacht!“, schreit nun Minachi. „Jetzt hört mir doch erst mal zu, bitte. Ihr habt Sven in Teufels Küche gebracht“, flüstere ich sehr schnell. „Wer ist Sven“, fragen Minachi uns Sean zugleich. „Ich meine Herr Obscurité. Lasst mich doch erklären“, fahre ich fort. „Und was, wenn wir dir nicht zuhören wollen?“, schreit Minachi und ich bin mir sicher, es ist so laut, wie sie kann. Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Ich kann verstehen, dass sie sauer sind, ich wäre es auch, aber wieso hören sie mir nicht einmal zu? Eines hat mich Sven schon gelehrt: Stehst du an einer Klippe und ein Rudel Wölfe verfolgt dich, dann spring. Es wird dir nichts geschehen. Ich schwinge mich über die Brüstung der Tribüne. Ich halte mich noch am Geländer fest und beobachte Sean und Minachi. Sean stürzt zu mir um mich bei der Hand zu packen, doch ich lächele traurig und lasse los. Wider meiner Erwartungen lande ich mühelos auf den Füßen ohne mich auch nur mit den Händen am Boden abstützen zu müssen. Da bekommt das Wort Schwerkraft eine völlig neue Bedeutung. Dabei hat mir Sven gesagt, ich würde am Anfang noch Schwierigkeiten damit haben. Immer noch starren mich alle an. Es ist mir unangenehm. Ich werfe einen unsicheren Seitenblick zu Sven hinüber. Doch als ich ihn grinsen sehe, bin ich beruhigt. „Das ist meine Tochter“, höre ich ihn stolz sagen und die angespannte Atmosphäre löst sich in lockere Unterhaltungen auf. Ich setze mich wieder zu Sven und ignoriere Sean und Minachi schweren Herzens, als sie die Turnhalle verlassen. Sean ist ziemlich blass und Minachi sieht immer noch empört aus. Ich seufze. Fast eine Woche ist es nun her, dass ich Lilly das letzte Mal gesehen habe. Und als ich sie gesehen habe, hatte ich Angst vor ihr. Und doch möchte ich sie in den Arm nehmen, wenn ich an ihre Tränen denke. Und doch bin ich mir sicher, sie will nicht zu uns zurückkehren. Zu den Menschen. Gedankenverloren schraube ich in meinem Rechner herum. Das Spiel ist aus und ich habe verloren. Heute Nacht will mich Sven das erste Mal mit auf die Jagd nehmen. Ich bin sehr aufgeregt. Wir wollen uns nach einem Menschen umsehen. Sven hat mir erzählt, er hätte schon jemanden in Aussicht. Seit der Zeremonie fragt er mich immer wieder, wieso ich so an Minachi hänge. Ich glaube er hat Sean überhaupt nicht bemerkt. Auch wenn ich nicht verstehe wieso nicht. Ich streife meinen neuen Umhang über. Sven hat ihn mir geschenkt. Er hat wirklich einen guten Geschmack wenn es um Kleidung geht. „Wir wollen los“, sagt Sven. „Ich bin so weit“, sage ich und folge Sven aus der kleinen Hütte. Er führt mich durch die Straßen zu einem Mehrfamilienhaus. Im Erdgeschoss drückt er ein Fenster auf, das nicht verriegelt war. „Können wir da einfach so reinspazieren?“, will ich wissen. „Menschen sind blind und taub. Wenn er uns bemerkt, wird es zu spät sein. Falls er uns überhaupt bemerkt“, grinst Sven. „Ich habe dich bemerkt“, erinnere ich ihn. „Ja, da war es zu spät“, grinst er zurück. Ich folge ihm durch das Fenster in die Wohnung. Sven geht voraus. „Woher weißt du, wo du hin musst?“, frage ich verwirrt. „Hör genau hin“, gibt Sven zurück. Ich lausche in die Dunkelheit. Tatsächlich. Ich kann ein leises Atemgeräusch aus dem Zimmer am Ende des Ganges wahrnehmen. Und genau auf dieses Zimmer steuert Sven zu. Ich folge ihm auf den Fersen und erstarre. Ich nähere mich dem Jungen, wie ich es schon so oft getan habe und lege meine Hände an seinen Hals. Hinter mir beginnt Lilith zu schreien: „Sean!“ Nur leider zu spät. Ich habe ihm das Genick gebrochen. Perplex drehe ich mich zu Lilith um. Sie hat ihr Gesicht in den Händen verborgen und weint geräuschvoll. „Lilith“, beginne ich. Meine Hände zittern. Doch sie dreht sich um und stürzt sich durch das geschlossene Fenster. Die Scherben der geborstenen Scheibe hageln auf mich nieder, also hebe ich schützend meinen Arm vor die Augen. Als ich wieder hinsehe, ist Lilith verschwunden. Ich drehe den Kopf des Jungen wieder so herum, wie er gehört, nehme ihn hoch, öffne das Fenster und folge Lilith in die Nacht. Sie steht nicht weit entfernt mit dem Gesicht an einen Baum gedrückt und weint bitterlich. Ich lege den Jungen zu ihren Füßen nieder. „Lilith“, versuche ich es noch mal. Meine stimme klingt brüchig. „Verschwinde“, schluchzt sie. Es ist das erste Mal, dass sie mich duzt und das trifft mich härter als ihre Worte. Ich packe sie an den Schultern um sie zu beruhigen. Sie dreht sich blitzschnell zu mir um und schlägt meine Hände weg. „Hau ab!“, brüllt sie unter Tränen. Dann dreht sie sich wieder zu dem Baum um und weit weiter. Ich trete einen Schritt zurück. Lilith sinkt an dem Baum zu Boden. Sie wird von heftigen Schluchzern geschüttelt. Ich habe nie jemanden derart weinen sehen. Ich ziehe mich zurück. Jedoch nicht weit. Ich stelle mich an die Seite des Hauses, sodass ich sie beobachten kann, sie mich aber nicht sieht. Mit tränenüberströmtem Gesicht kniet sie neben dem Jungen nieder und stützt seinen Kopf. Dann beugt sie sich über ihn. Ich kann sehen, wie sie ihre Zähne entblößt. Sie bricht das Gesetz. Ich bin ein schlechter Lehrmeister, ich habe versäumt ihr zu sagen, dass es erst Vampiren ab dem 100sten Lebensjahr erlaubt ist, neue Vampire zu erschaffen. Ich habe die Chance sie davon abzuhalten, doch ich kann nicht. Es zerreißt mir das Herz meine Tochter so leiden zu sehen. Sie werden mich dafür töten, doch das ist es Wert, wenn Lilith dafür ungeschoren davon kommt. Und so kann ich sehen, wie Lilith’ Eckzähne in den Hals des Jungen dringen. Sie trinkt hastig, sie spürt, sie hat nicht viel Zeit. Als sie ihre Zähne wieder aus dem Hals des Jungen zieht, fährt sie sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann beißt sie sich in den Arm. Sie reißt sich die Adern auf, dann öffnet sie den Mund des Jungen und lässt ihr Blut in seinen Mund tropfen. Nun wird mir auch klar, wieso sie sich eine so unnötig große Wunde zugefügt hat. Sie ist zu jung um das Heilen ihrer Wunden zu kontrollieren. Sie heilen einfach. Als Lilith es geschafft hat, den Jungen zum Schlucken zu bringen, regt er sich. Er kann nun alleine trinken, sie muss nur noch seinen Kopf halten. Als er genug hat, sinkt der Junge zurück und schläft ein. Lilith legt seinen Kopf langsam auf dem Gras ab. Ich kann sehen, dass ihre Wunde genau in diesem Augenblick zur Gänze verheilt. Sie steht auf. In diesem Augenblick geschieht etwas mit der Nacht. Sie scheint sich zu verändern. Hinter Lilith erscheinen zwei Vampire. Sie sind mit Armbrüsten bewaffnet. Sie sind meinetwegen hier. Ich trete aus meinem Versteck. „Hier bin ich!“, rufe ich, um ihre Aufmerksamkeit von Lilith abzulenken. Ohne Vorwarnung schießt der eine Vampir auf mich. Ich mache mich auf einen stechenden Schmerz gefasst, doch er bleibt aus. Irritiert blicke ich auf. Zwischen mir und dem Schützen liegt Lilith im Gras. Ich haste zu ihr und nehme sie in den Arm. Ein Pflock steckt in ihrer Brust. Zum Glück hat er ihr Herz verfehlt. Hastig, aber vorsichtig ziehe ich ihr den Pflock aus dem Leib. Lilith stöhnt vor Schmerz leise auf. Ihr Blut fließt über meine Hände. Es bleibt nicht viel Zeit. Ich bin ein Heiler und doch habe ich nie einen Vampir gesehen, der es geschafft hat eine solche Wunde zu heilen. Und dennoch muss ich es versuchen. Ich lege meine Hände auf Lilith’ Wunde und schließe meine Augen. Ich kann zwar nichts sehen, doch ich weiß genau was gerade geschieht. Eine gleißende Lichtkugel erscheint auf ihrer Wunde und heilt sie langsam von innen heraus. Ich spüre wie meine Kräfte nachlassen, aber ich darf nicht aufgeben. Nur nicht aufgeben. Ich öffne meine Augen und sehe erleichtert, wie sich der letzte Rest der Wunde schließt. Dann empfängt mich warme Finsternis „Sven“, flüstere ich und beuge mich über ihn. Ich fühle wie wieder eine Träne über meine Wange fließt. Ich beuge mich so nah über Sven, dass ich ihn fast berühre. Er atmet nicht mehr. Ich streiche ihm durchs Haar. Nach dem Tod gestorben für ein Mädchen, dass er kaum kannte: Mich. Ich küsse ihn sanft auf die Lippen. Eigentlich fühlt es sich kaum anders an als zuvor. Seine Lippen sind kalt, genau wie immer. Eine meiner Tränen tropft auf Svens Wange hinab. Und da beginnt es. Erst ganz langsam an den Fingern und Zehen und dann immer schneller zerfällt Svens Körper zu Asche. Zurück bleibt nur seine Kleidung. So unberührt, als wäre sie nie getragen worden. Jemand umarmt mich von hinten. Ich wende den Kopf. Es ist Sean. Ich freue mich sehr, dass er wohl auf ist und doch ist mein Herz schwer von Trauer um Sven. Ich muss weinen. Sean nimmt mich in den Arm und hält mich fest, bis ich mich beruhigt habe. „Kannst du mir verzeihen, dass ich dir nichts gesagt habe?“, frage ich matt. Sean nickt: „Vielleicht war es ein bisschen auch meine Schuld.“ Er streichelt mir noch einmal durchs Haar. Dann stehen wir auf. Ich bücke mich noch einmal und lese Svens Sachen auf. „Ein Mann wie er, hat es verdient, dass jemand seine Sachen trägt“, flüstere ich mehr zu mir selbst als zu Sean. „Ich glaube ich habe etwa seine Größe“, meint Sean und nimmt mich in den Arm, „Vielleicht war er gar kein so schlechter Kerl.... Hat er mich umgebracht?“ Ich muss kichern. Ich wische mir eine Träne aus dem Auge und nicke. „Naja, schon verziehen“, erklärt mir Sean und nimmt mir Svens Sachen ab. „Hey! Ihr müsst einen Lehrer zugeteilt bekommen, ihr seid noch zu jung um allein herumzustromern!“, ruft uns einer der Vampire nach, die Sven verfolgt haben. Ich drehe mich um und Zorn blitzt in meinen Augen: „Ich weiß alles, was man wissen kann. Ich hatte den besten Lehrmeister, den die Welt je gesehen hat.“ Kapitel 2: Die Grenze zwischen Licht und Dunkelheit --------------------------------------------------- „Lass mich los, Lysander“, sagt Lilith kühl. Ich weiß, sie meint es nicht so. Ich stehe hinter ihr und habe meine Arme um sie gelegt. Etwas fester als geplant, zugegeben, doch sie sträubt sich sehr. Nun legt sie ihre Hand auf meine. Sie ist wirklich sehr süß. „Aua!“, rufe ich aus und lasse Lilith los. Sie hat ihre Fingernägel in meinen Handrücken gebohrt. „Hörst du mir eigentlich zu?“, faucht sie mich an. Ihr Temperament ist durchaus bemerkenswert. „Lilith, ich bitte dich. Wir beide wissen, dass...“, beginne ich so gediegen wie möglich, doch sie fällt mir ins Wort: „Was?! Was wissen wir? Dass du ein Ignorant bist? Oder dass du mir unangenehm bist? Sag’s mir!“ Ihre Art sich zu artikulieren hat sich wirklich verbessert, seit sie in unsere Kreise aufgenommen wurde. Ihr Feuer ist jedoch keinesfalls erloschen. Es scheint mit jedem Tag weiter angefacht zu werden. Lilith blickt so böse, wie sie es vermag zu mir hinüber. Ihr Gesichtsausdruck belustig mich, ich muss einfach lächeln. Lilith rollt genervt mit den Augen. „Ich gehe jetzt“, sagt sie erzürnt und schreitet an mir vorbei. Sie ist noch so jung; ihr Gebären ist wirklich sehr niedlich. Sie war der Schützling von Sven, der ebenfalls mein Lehrmeister war. Nach seinem Tod habe ich mich Lilith’ angenommen. Vielleicht auch, weil sie so süß ist. Man vermag es kaum zu glauben, doch dieses blutjunge Kind hat bereits selbst einen Schützling. Das entspricht natürlich nicht unseren Gesetzen, doch der Rat scheint gnädig gestimmt. Ich wende meinen Kopf, um Lilith nachzusehen, doch zu spät. Sie hat mein Blickfeld bereits verlassen. Auch gut, dann werde ich mich nun ganz und gar der Jagd widmen. Ich renne durch die verlassenen Straßen der Stadt; der Mond verbirgt sich hinter einer dicken Wolkenwand. Ich bin auf dem Weg nach Hause, Sean wartet dort auf mich. Ich kann mich kaum darauf konzentrieren, was ich tue. Lysanders Visage geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Die langen, blonden Wimpern, das markante Gesicht und diese stechend blauen Augen. Einer von den Vampiren, denen man nicht im dunkeln begegnen möchte. Welch Ironie. Ich bleibe stehen. Als ich den Friedhof verlassen habe, um bei Lysander meine Schulden zu begleichen, habe ich Sean versprochen etwas Essbares mitzubringen. Na schön, dann eben doch nicht auf direktem Wege nach Hause. Ich muss nicht lange gehen, um ein kleines Waldstück zu erreichen. Einige Minuten streife ich ziellos umher, bis ich ein Rascheln im Gebüsch wahrnehme. Zur Gänze verschmelze ich mit der Dunkelheit. Nach einigen Sekunden des Wartens stürzte ich mich auf den zitternden Busch. Da scheint etwas wirklich großes drinzustecken, genug für Sean und mich. Noch im Sprung erkenne ich, dass es sich um ein Rehkids handelt. Blitzschnell breche ich dem Tier das Genick. Schnell und schmerzlos – wie Sven es mich gelehrt hat. Nun packe ich das Reh und werfe es mir über die Schulter. Ich hätte gerne schon jetzt gekostet, doch dann würde sicher nichts für Sean übrig bleiben. Und so schleppe ich den leblosen Leib des Tieres durch die Gassen, in der Hoffnung, niemand würde mich bemerken. Und tatsächlich ist mir das Glück hold. Ich erreiche meinen Friedhof ohne Aufsehen zu erregen und steige in die Gruft hinab. Ein modriger Geruch steigt mir entgegen. Gewöhnungsbedürftig, sehr gewöhnungsbedürftig. „Lilly?“, weht mir Seans Stimme entgegen. „Ja, ich bin’s“, antworte ich und nehme eine Kurve, nach der ich Sean auf einem Sarg sitzen sehen kann. „Wo warst du so lange?“, fragt Sean vorwurfsvoll. Ich reiche ihm zunächst das Reh; der jüngere trinkt immer zuerst. Auch wenn er nur eine Woche jünger ist, als ich. Es gehört sich so. Sean entblößt seine Eckzähne und gräbt sie in den Hals des Rehs. „Aber lass mir was übrig“, ermahne ich ihn. Als Sean seinen Durst gestillt hat, reicht er mir das tote Tier. “Also: Wo warst du?“, wiederholt Sean seine Frage. „Bei Lysander“, antworte ich. Schnell versenke auch ich meine Zähne in dem Reh. Nur nicht schnell genug um Seans vorwurfsvollem Blick zu entgehen. „Wieso gehst du da immer wieder hin?“, bohrt er weiter nach. Es dauert einige Minuten, bis ich antworte. Ich genieße das noch warme Blut des Rehs, das meine Lippen benetzt. Ehrlich gesagt dauert es, bis das Reh keinen Tropfen Blut mehr zu bieten hat. Nun hebe ich den Kopf, lecke mir über die Lippen und zucke die Achseln. „Ich bin mir nicht sicher“, seufze ich. Das ist sogar die Wahrheit. Um etwas Zeit zu gewinnen und über diese Frage nachzudenken, packe ich das Reh und bringe es aus der Gruft. Ich vergrabe es in der Nähe des Friedhofs in einem Blumenbeet, eine dumme Angewohnheit. Wieso hole ich immer bei Lysander Ratschläge ein, obwohl ich sie so teuer bezahlen muss? Vielleicht weil er ebenfalls ein Schützling von Sven war. Lysander ist praktisch mein Bruder, deshalb vertraue ich ihm. Doch das ist Selbstbetrug. Alle Vampire sind untereinander verwandt. Ich bin Seans Mutter und Geliebte zugleich. Das mag abstrakt klingen, ist in unseren Kreisen jedoch völlig normal.. Ich hänge noch einige Minuten meinen Gedanken nach, bis mich jemand von hinten umarmt. Einen wirren Augenblick lang denke ich, es sei Lysander, doch diese Umarmung ist anders als seine. Sie ist sanft und schützend, nicht hart und fordernd. Ich wende den Kopf und erblicke Sean; ich muss ihn einfach anlächeln. Er erwiedert mein Lächeln jedoch nicht. Sein besorgter Blick streift mich und ich schaudere. „Ist etwas passiert?“, frage ich, obwohl ich mir sicher bin, dass es nicht so ist. „Nein“, bestätigt Sean meine Vermutung, „Gehen wir wieder rein?“ Ich nicke: „Die Sonne geht bald auf.“ Ich stehe neben Kagami und beobachte sie. Sie liest einen Artikel am Schwarzen Brett und ich kann sehen, wie sich ein schon fast an Wahnsinn grenzendes Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitet. „Minachi-san?“, wendet sie sich an mich. Kagami ist vor ein paar Monaten aus Japan hergezogen. Ich finde, sie spricht dafür erstaunlich gut Deutsch. Sie wendet den Kopf zu mir um. Wiedereinmal fällt mir auf, dass sie ihr schwarzes Haar stets hochgesteckt trägt. „Ja?“, antworte ich etwas verspätet. „Heute Abend findet ein privater Empfang in unserer...“, sie zögert kurz. Anscheinend ist ihr ein Wort entfallen. „Sporthalle?“, helfe ich ihr weiter. Ich habe schon so eine Gewisse Ahnung, worauf sie anspielt. Kagami nickt strahlend: „Es findet ein Empfang in unserer Sporthalle statt.“ „Naja... Ja und?“, frage ich gespielt unwissend und wende mich ab. Kagami lässt nicht locker. Sie holt mich mit einigen schnellen Schritten wieder ein. „Du hast mir doch erzählt, dass deine Freundin bei so einer Veranstaltung verschwunden ist. Wie heißt sie?“, strahlt Kagami weiter. Ich blicke sie finster an. „Lilith. Und ja, so ungefähr“, setze ich hinzu. „Ich habe dir doch erzählt, was ich nachts so treibe“, flüstert sie mir zu, „Willst du dich nicht rächen?“ „Nein!“, rufe ich ihr unnötig laut entgegen. Kagami zuckt die Achseln. „Überlege es dir noch einmal. Ich habe jetzt...“, wieder bricht sie ab. Ich werfe einen Blick auf ihren Stundenplan. „Philosophie“, ergänze ich. Kagami ist in meiner Parallelklasse. Wieder nickt Kagami begeistert. Das mit der Umgangssprache hat sie noch nicht richtig drauf. „Dann werde ich jetzt in meinen Klassenraum gehen. Wir sehen uns nach dem Unterricht“, lächelt sie und verschwindet in einem Gang. Tief seufze ich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine solche Aktion wirklich starten will. Auf dieser Veranstaltung werden wieder Hunderte von ihnen sein. Mein Kopf sagt mir, dass es viel zu gefährlich ist, aber mein Herz ist da ganz anderer Meinung. Auf was soll ich hören? In Gedanken versunken habe ich nicht auf den Weg geachtet und wäre fast mit Julian, einem Jungen aus meiner Klasse, zusammengestoßen. „Pass doch auf wo du hinlatschst, fette Sau“, beleidigt er mich. Ich beantworte diesen Spott mit vielsagendem Schweigen und biege in den Klassenraum ein, in dem bereits Tara und Marceline auf mich warten. Wenigstens sie kann ich noch zu meinen Freunden zählen, jetzt, da Lilith nicht mehr bei mir ist. Die Englischstunde kann beginnen... Ich stehe vor der Schule und blicke ungeduldig immer wieder auf meine Uhr. Wo bleibt Kagami? Es ist schon fünf nach halb 12. Ich seufze. Darauf hätte ich mich nicht einlassen sollen... Doch da kommt sie schon um die Ecke gebogen. Sie trägt einen langen Mantel und schon von weitem kann ich sehen, dass sie bis an die Zähne bewaffnet ist. Kagami grinst mir entgegen, als wäre das alles das reinste Vergnügen für sie. In Gedanken schüttele ich den Kopf. „Minachi-san!“, winkt sie mir entgegen. „Hallo“, erwiedere ich den Gruß; jedoch mit viel weniger Enthusiasmus. Wir gehen um das Schulgebäude herum und zu einer Hintertür der Sporthalle, genauso wie ich es vor einem halben Jahr mit Sean getan habe. Doch seitdem habe ich ihn und Lilith nie wiedergesehen. Ich schaudere unwillkürlich, als Kagami den Türgriff hinunterdrückt. „Closed“, sagt sie verblüfft. „Abgeschlossen?“, will ich wissen und vergewissere mich selbst. Tatsächlich. Die Tür lässt sich nicht öffnen. Jetzt wären mir Sean und seine Dietriche wirklich sehr gelegen gekommen. „Dann benutzen wir den Vordereingang“, erklärt Kagami unverzagt und wir gehen auf die andere Seite der Turnhalle. Dieses Mal nehme ich mich der Tür an. „Abgeschlossen“, entfährt es mir. „Da ist ein Zettel“, stellt Kagami fest und weist auf einen gelben Hinweiszettel, der von innen an die Scheibe geklebt worden ist und auf dem folgendes steht: Liebe Gäste, Man hat uns einen Hinweis auf Spionage zukommen lassen. Aus diesem und einigen weiteren Gründen, die ich hier nicht kund tun möchte, findet unser Treffen an diesem Tage im Gasthaus zum Blutmond statt. Mit freundlichen Grüßen Die Unterschrift ist zu verschnörkelt, um den Namen entziffern zu können. „Zum Blutmond. Wo soll das sein?“, frage ich mich laut. Kagami hebt hilflos die Schultern: „So lange wohne ich hier noch nicht. Aber das kriegen wir schon heraus. Nur nicht verzagen!“ ‚Verzagen’ ist Kagamis Lieblingswort. Bei diesem Gedanken muss ich grinsen. Lilith stößt die alte Holztür der Gaststätte auf. „Gaststätte“ ist kaum das richtige Wort, „Spillunke“ trifft es eher. Aber das heutige Treffen findet zur Abwechslung wieder einmal hier statt. Über was man uns dieses Mal unterrichten wird? Widerstrebend folge ich Lilly in den abgedunkelten Schankraum. Man das stinkt. Und zwar nach einer üblen Mischung aus Blut, Alkohol und Verwesung. Angewidert rümpfe ich die Nase. Ich setze mich an die Theke und sehe mich um. Hier wimmelt es von Vampiren mit niedrigem Rang. „Hey Sean“, werde ich von hinten angequatscht. Ich drehe mich wieder herum und blicke in das Gesicht des Wirts. Sein Rang kann nicht höher als acht sein aber er ist schon verdammt lange dabei. Ich sehe es an seinen Augen. „Mh?“, mache ich, „Hallo John. Was gibt’s?“ „Blutwodka gefällig?“, fragt mich der Wirt. Ich hatte vor einigen Wochen das „Vergnügen“ Bekanntschaft mit ihm zu machen. Ich blicke mich nach Lilith um; sie hasst es, wenn ich trinke. Und doch reizt es mich in diesem Moment. „Na, hast du deinen Anstandswauwau mitgebracht?“, feixt John und stützt sich auf der Theke ab. „Na aber hallo“, lache ich. „Komm schon, geht aufs Haus“, grinst John. Sein fettiges Haar rutscht ihm über die Schulter. „Ne, lass mal“, gebe ich zurück, „Gib mir ’nen Softdrink.“ John schüttelt verständnislos den Kopf, macht sich dann jedoch schnell davon um mir etwas zu Trinken zu besorgen. Währenddessen vertreibe ich mir die Zeit, indem ich mich zu einer Gruppe der Kleinen setze. Die Vampire vom zehnten bis zum achten Rang werden von den hochrangigen Vampiren abwertend so bezeichnet. Schon nach ein paar Minuten – noch nicht einmal mein Getränk ist inzwischen bei mir angekommen – legen sich dünne Arme von hinten um meinen Hals. „Ärger die Kleinen nicht“, sagt Lilith. Ich kann ihr Gesicht zwar nicht sehen, doch ich weiß, dass sie grinst, denn sie hat es nicht geschafft den Spott vollends aus ihrer Stimme zu verbannen. Ein paar der Vampire an meinem Tisch werfen ihr zornige Blicke zu, sagen jedoch nichts. Lilith ist immerhin ein Vampir vom dritten Rang; ich bin sehr stolz auf sie. Sie ist mit Sicherheit der höchstrangigste Vampir in dieser Spillunke. Die Vampire vom dritten bis ersten Rang haben nämlich die Angewohnheit sich stets zu verspäten. Diese ungeschriebene Regel versucht Lilith zu durchbrechen, doch ich glaube nicht, dass es ihr gelingen wird. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet wieder in eine der dunklen Ecken. Ich wüsste zu gern, was sie da treibt. Endlich kommt mein Getränk. John stellt es direkt auf mein Herzas, was ich ihm ziemlich übel nehme. „Was gibt’s?“, stöhne ich genervt. „Was ist mit meiner Bezahlung?“, fragt John zornig. Wenn es um Geld geht, ist mit ihm nicht zu spaßen. „Ich denke, der geht aufs Haus?“, fragte ich bitter und ziehe mein As unter dem Glas hervor. Es ist vom Schwitzwasser, das an dem Glas herabgetröpfelt ist, schon ganz durchnässt. Verdammt, ich war gerade am Gewinnen. John lacht: „Nur der Blutwodka.“ „Dieses Angebot kann ich unmöglich ablehnen“, kommt der gediegene Kommentar von einem Vampir, der gerade zur Tür hereingekommen ist. Ich blicke in stechend blaue Augen. Natürlich habe ich ihn sofort erkannt, es ist Lilith’ Bruder Lysander. Ich hasse dieses überhebliche Lächeln und jede einzelne Strähne dieses langen Blondhaars. Fast unbewusst entblöße ich die Zähne meine Fangzähne. „Sean. Ich habe dich nicht bemerkt“, lügt Lysander, „Guten Abend.“ Lilith kommt auf uns zu und erspart mir die Antwort, die natürlich ebenfalls nicht der Wahrheit entsprochen hätte. „Guten Abend Lysander“, begrüßt sie ihren Bruder abweisend. Diese Haltung gefällt mir sehr. Um sie für ihre Meinung zu belohnen, lege ich meine Arme um Lilith’ Hüften und ziehe sie auf meinen Schoß. Mit Genugtuung sehe ich fest, wie Lysanders falsches Lächeln schwindet und einem zornigen Stirnrunzeln weicht. Doch habe ich nicht die Zeit mich ausgiebig damit zu beschäftigen. Wieder schwingt die alte Tür auf und ein Mädchen tritt ein. Ich glaube ich kann meinen Augen keinen Glauben mehr schenken. Ich schließe die Tür hinter mir. Kagami hat mich angewiesen, vorzugehen und sie kennt sich schließlich mit solchen Situationen aus. Ich bin mir allerdings trotzdem nicht mehr so sicher, dass die Idee sie zu begleiten wirklich gut gewesen ist. Ein übler Geruch schlägt mir entgegen und als ich bemerke, dass sämtliche Blicke an mir haften, muss ich unwillkürlich schaudern. Unsicher mache ich ein paar Schritte in den Raum. Der Wirt hinter der Theke kommt auf mich zu; ich blicke ihn fragend an. „Na Kleine, hast du dich verlaufen?“, höhnt er. Viele lachen. Ich schließe einige Sekunden die Augen und funkele ihn dann zornig an: „Ich glaube ich bin hier goldrichtig.“ Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie ein Mädchen in einem Kapuzenmantel ihrem Begleiter mit dem Ellenbogen in die Rippen stößt und auf mich deutet. Zugleich zieht sie die Kapuze tiefer ins Gesicht. Interessiert wende ich den Kopf. Welch ein Fehler. Während ich kurz nicht Acht gebe, packt mich der Wirt am Kragen und zieht mich in die Höhe. „Lass mich runter!“, rufe ich ihm unnötig laut zu. Wieder erklingt lautes Gelächter um mich her. Nur eine kleine Gruppe macht sich nicht über mich lustig und zwar das Mädchen mit dem schwarzen Umhang, ihr Begleiter und ein blonder Typ mit scharfen Gesichtszügen. Sie scheinen sich zu streiten, doch durch das Gelächter verstehe ich kein Wort. „Was ist hier los?“, hallt eine herrische Stimme durch den Raum. Dieser Satz war nicht besonders laut und doch reicht er, um die Vampire um mich her verstummen zu lassen. „Lass sie runter, John“, befielt ein schwarzhaariger Vampir in einem langen, roten Mantel. Er ist es auch gewesen, der für Ruhe gesorgt hat, ich erkenne seine Stimme. Ich will mich bei ihm bedanken, doch ehe ich auch nur den Mund öffnen kann, hat er sich von mir abgewandt. „Was ist hier los?“, wiederholt der Vampir im roten Mantel, diesmal an die drei gewandt, die vorhin nicht über mich gelacht haben. „Dieser Mensch ist freiwillig in unsere Reihen gekommen, Herr“, erklärt der Blonde. Wieso nennt er den Anderen „Herr“? „Dann behandelt sie wie einen Gast“, herrscht der Vampir im roten Mantel seinen Gegenüber an, „Zu wem gehört die Kleine?“ Einige endlose Sekunden senkt sich drückende Stille über die Vampire, doch dann seufzt das Mädchen mit dem Kapuzenumhang. „Sie gehört zu mir“, sagt sie so leise, dass ich es nur erahne; ihre Stimme kommt mir merkwürdig vertraut vor. „So so“, sagt der anscheinend höhergestellte Vampir und legt den Kopf kaum merklich schräg, „Ich möchte dein Gesicht sehen.“ Das Mädchen zieht die Kapuze vom Kopf und blickt in die Augen des anderen Vampirs empor. Erschreckt fahre ich zusammen. Ich kenne nicht nur die Stimme dieses Vampirs, ich kenne auch ihr Gesicht - die blauen Augen und das lange Blondhaar. „Lilly!“, rufe ich überrascht aus. Wieder ein Fehler, denn nun wird mir wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als mir lieb ist. „Verzeiht, es war ein Versehen“, erklärt Lilith dem Vampir mit dem roten Mantel und senkt demütig den Kopf, „Kann ich sie mitnehmen?“ „Nein“, antwortet ihr Gesprächspartner schlicht. „Blaise“, spricht der blonde Vampir mit dem scharfkantigen Gesicht überrascht aus. „Bitte bleib, denn ich denke, du könntest heute einen Rang aufsteigen“, beendet der Vampir in dem roten Mantel, der offensichtlich Blaise heißt, ungerührt seinen Satz. Ich kann sehen wie Lilith leicht rot wird und den Blick abwendet. Ich frage mich wieso. „Dann können wir ja wieder zur Tagesordnung übergehen“, nickt Blaise zufrieden. Weit gefehlt. Schon wieder fliegt die Tür auf. Ich wende mich genau wie alle um. In der Tür steht Kagami, bis an die Zähne bewaffnet. Das habe ich total vergessen. „Vampirjäger!“, kreischt ein Vampir, den ich noch nie gesehen habe. Als wäre das ein Zeichen, beginnt Kagami zu schießen – mit einer Pistole in jeder Hand. Ich spüre, wie mich jemand zu Boden reißt. Als ich nun aufblicke, erkenne ich Lilith. Sie springt jedoch sofort wieder auf, als der erste Kugelsturm vorbei ist und Kagami nachladen muss. Blaise packt sie dabei von hinten und Lilith schlägt ihr heftig ins Gesicht. Leider scheint Blaise nicht fest genug zugepackt zu haben. Kagami befreit sich rasch und schießt ohne lange zu fackeln auf Lilith. Ich schreie auf. Lilith krümmt sich zusammen und hält ihren linken Arm. Blut sickert unter ihrer Hand hervor. Für einige Sekunden scheint das Geschehen eingefroren zu sein, doch dann stürzt sich Lilith blitzschnell auf Kagami. Ich kann außer rauschender Luft und Blut nichts wahrnehmen. Lilith ist für mich wie ein rasender, blutroter Teufel. Doch nur wenige Sekunden später ist es wieder ganz ruhig. So ruhig, dass die Stille auf meine Ohren zu drücken scheint, nur durchdrungen von Lilith’ keuchendem Atmen. Die Luft scheint von Dunkelheit durchtränkt und es stinkt so stark nach Blut, dass ich es fast schmecken kann. Was ist geschehen, wieso ist es so still? Lilith wendet sich langsam um und verlässt den Raum. Niemand folgt ihr. Erst jetzt spüre ich, dass ich am ganzen Leib zittere. Ich versuche aufzustehen, doch meine Beine wollen mich nicht tragen. Immer noch herrscht diese eisige Stille. Sie macht mir Angst. Ich kann sehen, dass einige Vampire die Köpfe gesenkt haben. Wieder betritt jemand den Raum, doch dieses Mal stumm wie ein Schatten. Es ist ein weiblicher Vampir, der auf mich einen ungeheuer mächtigen Eindruck macht. Sie bleibt mitten im Raum stehen und betrachtet einige Sekunden eine Blutlache an der Wand. Dann wendet sie sich Blaise zu: „Diese Dunkelheit... Was ist geschehen?“ „Wir haben einen unserer stärksten Kämpfer an die Dunkelheit verloren, Mylady.“, antwortet Blaise leise. Der weibliche Vampir verengt die Augen zu Schlitzen. „Verdammt“, flüstert sie, „Sag mir, wer ist es dieses Mal?“ „Lilith aus dem 3. Rang“, antwortet der blonde Vampir mit den scharfen Gesichtszügen an Blaise’ Stelle, „Meine Schwester.“ Der weibliche Vampir blickt die beiden einige Sekunden an. „Tötet sie“, sagt sie schließlich schlicht und in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet, „Und schafft mir dieses Menschenkind aus den Augen.“ Damit muss ich gemeint sein. Blaise und der blonde Vampir nicken stumm. Der Blonde kommt zu mir herüber und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie dankbar und er zieht mich auf die Beine. „Ich bitte um Erlaubnis, mitgehen zu dürfen. Lilith ist – ich meine war – meine Lehrmeisterin“, sagt der Vampir, den ich vorher als Lilith’ Begleiter eingestuft habe. Erst jetzt erkenne ich ihn; es ist Sean. Er hat sich in der kurzen Zeit sehr verändert. Ich hätte nie gedacht, dass er auch ein Vampir geworden ist. „Erlaubnis erteilt“, nickt der hochrangige, weibliche Vampir, „Und nun eilt euch!“ Die Welt hat sich verändert. Ich sehe keine einzige Farbe, alles ist mit einem dumpfen Grauschleier überzogen. Ich lege die Stirn in Falten und versuche mich angestrengt zu erinnern, warum ich hier bin und was bis vor fünf Minuten geschehen ist. Nicht ein Erinnerungsfetzen zu finden; kein farbloses Bild, kein Satzfetzen, kein Anhaltspunkt. Wie ist mein Name? Habe ich einen Namen? Ich stütze den Kopf in die Hände, doch ich fühle ihn nicht. Lebe ich noch? Wer hat diese kalte und gefühllose Welt erschaffen? Jäh strömt das erste Gefühl auf mich ein. Es ist so schwach, dass ich es kaum wahrnehme und doch ist es da: Das Gefühl nicht allein zu sein. Ich hebe den Kopf und spähe durch das Zwielicht. Etwas kommt auf mich zu. Es ist dunkler als die Nacht um es her, von so einem tiefen Schwarz, wie ich es noch nie gesehen habe. „Willkommen Lilith“, sagt es. Sagen ist das falsche Wort, denn es dringt Laut durch die zähe Dunkelheit um mich her. Viel mehr spüre ich diese Worte, als würden sie mit einem Messer in meinen Leib geschnitten. Ich zucke zusammen und versuche die Dunkelheit, die diese Kreatur umgibt mit meinen Blicken zu durchdringen. Es gelingt nicht. „Lilith“, wiederholt das Wesen und wieder flammt ein heißer Schmerz in mir auf, doch ich weiß nicht, woher er kommt. Da ich die Botschaft verstanden habe, erlischt der Schmerz so jäh, wie er gekommen ist. Lilith. Ja, das ist mein Name. Ich erinnere mich an meinen Namen! Das stimmt mich zuversichtlich. Ich stehe auf und gehe durch den scheinbar endlosen Raum auf die schwarze Kreatur zu. Ein erneuter Schmerz lässt mich inne halten. Dieses Mal hält er länger an. „Ich werde dir einen Diener schicken, Lilith. Deine Verwirrung wird bald ein Ende haben. Du wirst mir dienen dürfen.“ Der Raum um mich her verschwimmt. Als er wieder klare Umrisse annimmt, bin ich an einem anderen Ort. Ich liege auf dem Boden und der Geruch von vermodertem Holz steigt mir in die Nase. Als ich nun die Augen öffne, werde ich wieder von Zwielicht empfangen. Doch dieses mal können meine Augen es spielend leicht durchdringen. Ich richte mich auf und gehe auf die Tür zu, doch ein mir unbekanntes Gefühl lässt mich jäh erstarren. „Rühr dich nicht vom Fleck“, sagt mir mein Gedächtnis, doch ich wüsste nicht, wann mir das je gesagt worden wäre. Jedes Mal, wenn ich auf die Tür zugehe, vernebelt dieser Satz meine Gedanken: „Rühr dich nicht vom Fleck“. Schwindelnd lasse ich mich in einer Ecke des Raumes nieder. „Ihr könnt sie nicht ernsthaft umbringen wollen!“, protestiert der kleine Sean aus dem fünften Rang. Ich konnte für ihn in seiner Person noch nie Sympathie empfinden, doch heute ist es anders. Was soll man sagen, geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid. „Was sagst du dazu Lysander?“, wendet sich Blaise an mich. Es ist ungewohnt von einem Vampir aus dem ersten Rang etwas Ernsthaftes gefragt zu werden. Nur leider ist dies zugleich die erste Frage, auf die selbst ich keine Antwort zu geben vermag. Blaise seufzt tief und geht weiter voran; er kennt den Weg. Es wird gesagt, Vampire des ersten Ranges sähen die Welt mit anderen Augen als normale Lebewesen. Das könnte der Grund sein, aus dem man nicht durch Kämpfe in den ersten Rang aufgenommen werden kann, wie es sich mit den anderen Rängen verhält. „Wie ist dein Name?“, frage ich das Menschenkind, das neben mir hergeht. „Minachi“, antwortet sie knapp. Ich befrage sie nicht weiter. Blaise führt uns durch zahlreiche verlassene Gassen hindurch zu einem baufälligen Gebäude. Die Fenster des ehemaligen Wohnhauses sind mit Brettern vernagelt worden und auf der Haustür prangt ein Schild mit der Aufschrift „Betreten auf eigene Gefahr“. „Was soll hier sein?“, fährt Sean Blaise und mich an. Blaise schüttelt mit gerunzelter Stirn den Kopf und zieht es vor zu schweigen. Er geht die Auffahrt zur Haustür hinauf. Gerade, als er den Arm nach der Türklinke ausstreckt, fährt Sean erneut dazwischen: „Ich denke es heißt Ladys First.“ „Wer ich?!“, platzt Minachi los und versieht Sean mit einem besonders giftigen Blick. Aus dem Augenwinkel nehme ich verwundert wahr, wie ein leises Lächeln um Blaise’ Lippen spielt. „Das Ladys First Gesetz gilt nicht, wenn es sich um einen Raum oder ein Gebäude handelt, in dem eventuell Gefahr lauern könnte. Ausnahmeregelung des First Lady Gesetzes Paragraph 243, Absatz 12, Verordnung von 1782“, erklärt Blaise langsam und korrekt wie je. Das Lächeln, das ich eben noch vernommen zu haben glaubte, ist wie weggewischt. „Puh“, gibt Minachi erleichtert von sich. Wieder dieses kaum merkliche Lächeln auf Blaise’ Lippen. Bilde ich mir das ein? Ich mustere Minachi von oben bis unten; ein ganz normales Menschenmädchen. Schlicht gekleidet, vollkommen uninteressant. Vielleicht als Nahrung gut zu verwenden, aber ansonsten vollkommen uninteressant. Verwirrt lege ich die Stirn in Falten, bis Sean mich unwirsch in den Rücken stößt. „Verdammt“, fluche ich und wende zornig den Kopf um nach hinten zu blicken. „Wir verpassen noch den ganzen Spaß“, gibt dieser bitter zurück und ruckt mit dem Kopf in Richtung des baufälligen Hauses. Peinlich berührt muss ich feststellen, dass Blaise bereits eingetreten ist. Wo habe ich nur meinen Kopf? Ich betrete das alte Haus als letzte, so wie es Blaise bestimmt hat. Und darüber bin ich auch froh. Ich sollte mich langsam daran gewöhnen, doch der vermoderte Geruch, der mir nun in die Nase steigt, verschlägt mir den Atem. Ich kann die Hand vor Augen nicht sehen und laufe schon bald auf irgendjemanden auf. Ich kann nicht einmal erkennen, wer es ist. „Tschuldigung...“, murmele ich leise. Ich bin fast sicher, mein Vordermann hat es nicht gehört. „Soll ich die Tür zumachen?“, frage ich unsicher in die Stille hinein. „Um Gottes Willen, nein“, ertönt es von weiter vorne. Ich kann die Stimme nicht zuordnen. „Um Gottes Willen?“, frage ich verblüfft. Wie kann ein Vampir, der sich schon alleine mit der Tatsache, dass er ein Vampir IST gegen Gott auflehnt so etwas wie „Oh mein Gott“ sagen? „Klappe!“, kommt es wieder von vorne. Es ist jemand anders, als der, der mir geraten hat die Tür offen zu lassen. Ich glaube Sean. Da mir klar ist, dass ich jetzt sicher keine Antwort auf meine Frage erhalte, tue ich wie geheißen. Ich spüre wie sich mein Vordermann von mir entfernt und folge ihm einige Schritte in den düsteren Raum; das morsche Holz des Fußbodens knarrt bedrohlich unter meinen Füßen. Ich bin so darauf konzentriert in die undurchdringliche Dunkelheit vor mir zu starren, dass ich nicht mehr darauf achte, wo ich hintrete. So stolpere ich über ein loses Brett und bereite mich schon auf den Schmerz vor, doch er bleibt aus. „Hoppla.“ Jemand hat mich aufgefangen. Mir steigt ein leicht süßlicher Männerduft in die Nase, der mir einen Schauder über den Rücken laufen lässt. So etwas kann auch nur mir passieren. Wie peinlich! Meine Augen suchen in der Dunkelheit nach dem Gesicht meines Retters, um ihn zu identifizieren. Im sanften Lichtschein, der noch durch die offene Tür hereinfällt, funkeln mich grüne Augen an. Mein Gehirn verbindet sie sofort mit einem roten Mantel. Blaise also. Auch das noch, ich muss ausgerechnet einem so hochgestellten Vampir in die Arme fallen. Hastig richte ich mich auf und schaue in die entgegengesetzte Richtung, um nicht mit Blaise reden zu müssen, doch ich bin mir fast sicher, dass seine Augen die Dunkelheit sehr wohl durchdringen und er somit das leichte rosa, das mir ins Gesicht gestiegen ist, längst bemerkt hat. „Hey, da vorne ist was!“, ruft jemand verwirrt zu uns herüber. Ich bin ganz froh für die Ablenkung. Einige Sekunden muss ich nachdenken, wieso wir überhaupt hier sind, doch dann fällt es mir siedensheiß wieder ein: Lilith. Wieder spüre ich, wie sich die Vampire von mir entfernen und so gehe ich vorsichtig noch weiter in den Raum. Kaum, da ich ein paar Schritte getan habe, wird der Raum in sanftes Goldlicht getaucht. Im weichen Lichtschein kann ich sehen, wie die Vampire vor mir aufgescheucht die Arme vor die Augen heben, um sich vor dem Licht zu schützen. Sean hat sich die Mühe nicht gemacht, er hat einfach die Augen zugekniffen. Mit einem dumpfen Geräusch fällt die offen gelassene Tür ins Schloss. In den Sekunden, die meine Begleiter brauchen, um sich an das Licht zu gewöhnen, sehe ich mich ein wenig um. Der sanfte Lichtschein geht von kleinen Feuern in Bleischalen aus, die eben grade entzündet worden zu sein scheinen. Es gibt ein halbes Dutzend dieser Feuerschalen. Mir scheint es, als wurden sie systemlos im ganzen Raum verteilt. Ein Glück, dass niemand hineingetreten ist. Ich zum Beispiel! Mit Ausnahme der Lichtquellen ist der Raum völlig leer. Nur an der gegenüberliegenden Wand gibt es eine vernagelte Holztür. Erst als ich schon fast desinteressiert meinen Blick weiterwandern lasse, entdecke ich das Etwas, das Sean schon in der völligen Dunkelheit zuvor ausgemacht hat. Und es ist gewiss kein Etwas; es ist ein Jemand. Jemand, der zusammengekauert in einer Ecke zu schlafen scheint. Es könnte Lilith sein, fährt es mir durch den Kopf. Ich bin mir jedoch nicht sicher. Lediglich das lange Blondhaar ließ mich auf diesen Gedanken kommen. Aus einem mir unerklärlichen Grund kann ich die Gestalt in der Ecke nur verschwommen wahrnehmen. Kurzer Hand beschließe ich, etwas näher heranzugehen. So schreite ich also an den Vampiren vorbei, die immer noch unvermittelt im Raum herumstehen. Mein Blick haftet wie gebannt auf der verzerrten Gestalt in der Ecke und meine Beine scheinen sich von alleine zu bewegen. Ich bin schon fast angekommen und kann immer noch nicht mehr erkennen. Die Luft scheint dicker zu werden, so als hätte sie plötzlich die Konsistenz von Wasser. Nur viel düsterer... „Haltet das Mädchen auf!“, befielt uns Blaise. Da Lysander näher bei Minachi steht als ich, erledigt er diese Aufgabe. Er packt sie am Arm und zieht sie zurück. Ich begreife überhaupt nicht, was hier vorgeht. Was um alles in der Welt macht Minachi da und wieso soll sie es nicht tun? Verwirrt blicke ich zwischen Lysander und Blaise hin und her. Minachi scheint sich immer noch in einer Art Trance zu befinden. Sie hat scheinbar nicht einmal bemerkt, dass sie nicht mehr vorwärts kommt, denn ihre Beine bewegen sich immer unablässig. Erstaunt beobachte ich, wie Lysander Minachi bei den Schultern packt, sie zu sich herumdreht und ihr eine Ohrfeige verpasst, die sich gewaschen hat. Was mich jedoch noch mehr verwirrt ist die Tatsache, dass Minachi nicht aufschreit oder sich auch nur beschwärt. Doch der verträumte Ausdruck in ihren Augen verschwindet und sie hört auf, davonlaufen zu wollen. Verwirrt schüttelt sie den Kopf. Ihre Wange ist inzwischen rot angelaufen. Sie hebt die Hand und hält sich die schmerzende Stelle. „Was hast du mit mir gemacht?“, fährt Minachi Lysander an. „Wie bitte?“, gibt Lysander konfus zurück. „Hast du mich geschlagen? Ich schlag dich auch gleich!“, schimpft Minachi weiter. Was für eine Furie. Doch inzwischen sind ihr Tränen in die Augen getreten; der Schmerz scheint wieder in den Bereich des Wahrnehmbaren zu rücken. „Es ist nicht so, wie du denkst“, versucht sich Lysander galant rauszureden. Klappt natürlich nicht. Minachi verschränkt die Arme und dreht uns den Rücken zu. Lysander führt eine hilflose Geste in Richtung Minachi aus, doch da ihn keiner zu verteidigen gedenkt, schüttelt er nur genervt den Kopf und ignoriert sie mit einem leisen und sehr abwertend klingenden: „Menschen.“ Lähmende Kälte umfängt mich und nur mit Mühe schaffe ich es, mich aus meinem trägen Schwebezustand zu befreien. Als ich nun endlich die Augen öffne, erschrecke ich vor meiner eigenen Aura, denn sie ist so schwarz wie die Nacht und so böse, dass es mir Schauder über den Rücken jagt. Und dann vernehme ich noch etwas anderes; ich scheine nicht allein zu sein. Um mich herum kann ich nur eine Wand aus schwarzem Nebel erkennen und doch spüre ich eine Anwesenheit. Nicht räumlich - eher in mir; es ist als teilte ich meinen Körper mit einer anderen Seele. Ich versuche aufzustehen, doch meine Glieder wollen mir nicht gehorchen. Es ist fast, als hätte mein Gehirn vergessen, wie man die Muskeln betätigt. Zornig über meine eigene Unfähigkeit durchsucht mein Geist mein Inneres. Auf der Suche nach dem richtigen Mechanismus, um mich zu bewegen, treffe ich auf etwas Anderes, etwas Grausames. Ich wäre zusammengezuckt, wüsste ich nur wie! Meine ganze Empfindung verringert sich und kehrt sich nach innen um weiter an dem Dunklen neben meiner Selbst zu tasten. Allmählich entgleitet mir die Wirklichkeit vollends, ich nehme nicht einmal mehr den Raum um mich her wahr. Jäh finde ich das schwarze Etwas wieder. Meine Empfindung streift es nur ganz sacht und doch scheint es sich heftig zu wehren. Ein bisher ungekannter Schmerz durchfährt meinen Körper. Nun wird mir auch klar, wieso ich mich nicht mehr rühren kann; die zweite Seele scheint sich meiner Glieder ermächtigt zu haben. Mit all meiner Willenskraft versuche ich die Dunkelheit aus mir zu vertreiben, doch es will mir nicht gelingen. Das wundert mich jedoch gar nicht, ich bin mir ja noch nicht einmal sicher, wie ich das zu bewerkstelligen habe. Plötzlich erhebe ich mich. Was geht hier vor? Ich fühle mich, als wäre ich eine Marionette, die an ihren Fäden emporgezogen wird. Lass mich in Ruhe, verschwinde! „Sie ist aufgestanden! Es ist wirklich Lilly!“, teile ich den Vampiren um mich her freudig mit. Ich weiß auch, sie haben es längst bemerkt, aber irgendjemand musste es ja aussprechen. Fast hätte ich diese bodenlose Unverschämtheit des blonden Vampirs vergessen. Wie heißt er doch gleich? Hat er ihn mir überhaupt schon verraten? Ach was soll’s, das ist mir vollkommen gleichgültig. „Das ist schlecht“, kommentiert Blaise meine Feststellung. Ich verstehe überhaupt nicht, was daran schlecht sein soll und blicke den Vampir mit dem roten Mantel verständnislos an. Dieser jedoch scheint mich vollkommen ausgeblendet zu haben, was mich wirklich knickt. Doch schon als ich den Blick zurück auf Lilith gerichtet habe, erfahre ich den Grund für das mangelnde Interesse an meiner Person. Über Lilith’ Kopf ist ein Wesen erschienen, ich kann es einfach nur in die Schublade ‚Wesen’ stecken. Dieses Ding hat Flügel wie ein Engel und doch wirkt es ganz und gar böse. Außerdem sind seine Flügel nicht fedrig und weich, wie man es sich bei Engeln vorstellt; sie scheinen eher aus Klingen zu bestehen. Diese Erkenntnis begeistert mich nicht gerade und ich muss krampfhaft schlucken und kurz bis zehn zählen, bevor ich mich wieder dem Wesen zuwenden kann. Das geflügelte Wesen hat nussbraune Haut und ähnelt einem gewöhnlichen Menschen sehr. Nur sein Haar kommt mir merkwürdig vor; es ist dunkelgrün und scheint in dicken, rankenhaften Strähnen aus seinem Kopf zu wachsen. Instinktiv trete ich einen großen Schritt zurück, der mich hinter die drei Vampire befördert. Ich will nicht an erster Stelle stehen, was immer dieses Vieh mit uns vorhat! Blaise ist ganz starr geworden. Er steht mit so geradem Rücken da, als wäre er gerade von der Armee boykotiert worden. Seine Augen sind jedoch zu schmalen Schlitzen verengt, was jeden Gedanken, dieses Wesen sei eine Autorität, zunichte werden lässt. „Wer bist du?“, fragt der Vampir mit dem langen Blondhaar kalt, wobei er seine Worte an das geflügelte Wesen richtet. „Ha! Du kennst mich nicht? Ich bin der Bote der Finsternis, ich suche die neuen Mitglieder auf und wache über die dunklen Seelen“, faucht das Geschöpf, wobei es immer noch in der Luft schwebt. Ich verstehe nicht worum es geht und lasse den Blick verwirrt über die Vampire schweifen. Sean wirkt wie ein Schaf unter Wölfen, fährt es mir durch den Kopf. „Was für Mitglieder?“, will der blonde Vampir wissen. Ich hätte es mir nie zugetraut einem solchen Geschöpf in aller Seelenruhe solche Fragen zu stellen! Der Bote der Finsternis, wie sich das Geschöpf vorgestellt hat, lacht schallend auf, es klingt jedoch überhaupt nicht belustigt. „Herr Keith hält nichts davon, wenn seine Gefolgsleute plaudern“, erwidert der Bote der Finsternis grimmig. „Also der schon wieder“, flucht Blaise so leise, dass nur ich es hören kann. Insgeheim wundere ich mich über die wenig galante Art, mit der er sich gerade ausgedrückt hat, aber immerhin weiß ich jetzt, dass Blaise diesen Keith kennt und wahrscheinlich auch das ganze Geschehen hier versteht. Wieso um Himmels Willen unternimmt er dann nichts? Der Bote der Finsternis, der immer noch direkt über Lilith schwebt, richtet die Handflächen auf sie. Jäh schnellt ihr Kopf in die Höhe. Vor Schreck hätte ich um ein Haar laut aufgeschrieen. Nun beginnt das Wesen die Finger zu bewegen, als spielte er mit einer Marionette. Lilith macht langsame Schritte auf uns zu... „Wenn ihr sie gegen uns einsetzt werde ich sie vernichten“, stellt Blaise gleichgültig und an den Boten der Finsternis gerichtet klar. Ich kann einfach nicht glauben, was ich da höre! Nicht aus seinem Mund... Und doch... Ist es vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver, ein Trick? Der Bote der Finsternis zumindest unterbricht sein Fingerspiel für einige Sekunden und Lilith’ Kopf sackt wieder auf ihre Schulter und das, obwohl sie noch aufrecht steht. Doch zu früh gefreut. Stattdessen richtet das Wesen seine Handflächen auf uns und das Nächste, das geschieht, vermag ich kaum zu beschreiben. Es fühlt sich an, als ob mir heiße Luft entgegengeschleudert wird, nur dass diese Luft dunkel und dickflüssig zu sein scheint und außerdem gähnende Löcher in meine schöne Jeans reißt. Und damit nicht genug, auch meine Haut wird in Mitleidenschaft gezogen. Schmerzerfüllt heule ich auf und hebe den Arm vors Gesicht. Doch schon im nächsten Augenblick kann mein Körper dem Gegenwind nicht mehr Stand halten und ich werde hart an die Wand hinter mir geschleudert. Vollkommen erschöpft und schmerzerfüllt sinke ich zu Boden. Hier unten erreicht mich der beißende Wind nicht mehr, doch den Vampiren scheint es da ganz anders zu gehen. Auch sie haben die Arme vor die Gesichter gehoben und schon nach wenigen Sekunden reißt es auch Sean von den Füßen. Er knallt gut zwei Meter von mir entfernt an die Wand, wobei er so hart mit dem Kopf aufschlägt, dass er das Bewusstsein verliert. Kaum liegt Sean unbeweglich da, beginnt eine weiß bis durchsichtige Schicht seinen gesamten Körper zu überziehen. Ich könnte schwören, es handelte sich um Eis. Doch was hat das zu bedeuten, wieso friert Sean ein? Entgeistert starre ich auf meinen reglosen Freund, der vor kurzer Zeit noch mein Partner gewesen ist, mein Verbündeter. Ich muss einige Tränen wegblinzeln, doch ich bin sicher, ich kann nichts für ihn tun. Also wende ich meine Aufmerksamkeit tapfer den beiden verbliebenen Vampiren zu. Blaise hat ein Schwert mit kristallenem Griff gezogen. Wo um alles in der Welt hat er das so schnell her? Er hält das Schwert dem schneidenden Wind entgegen und die Klinge scheint diesen zu spalten und ihn an Blaise vorbeizulenken, der dadurch unversehrt bleibt. Der andere Vampir hingegen müht sich sichtlich ab gegen den Sturm zu bestehen. Ich kann hören wie Blaise ihm irgendetwas zuruft, doch durch das starke Rauschen des Windes in meinen Ohren verstehe ich kein Wort. Sofort lässt sich der blonde Vampir zu Boden fallen. Dort erreicht ihn der jähzornige Wind nicht - genau wie mich. Allerdings ist er jetzt wohl auch nicht mehr in der Lage Blaise zu unterstützen. Ich kann einen leichten Stich im Herzen spüren, als ich mir ausmale, Blaise könne nicht gegen den Boten der Finsternis bestehen. Eine Sekunde Frage ich mich, ob der Schmerz Blaise oder Lilith gilt, doch ehe ich zu einem Ergebnis kommen kann, zerberstet direkt neben mir die Tür.. Mich aus dem Kampf herauszuhalten ist mit Abstand der demütigendste Befehl, der mir je erteilt wurde. In mir brodelt eine so tiefe Wut, dass ich meine Fangzähne hervorträten spüre. Doch dem Befehl eines Vampirs aus dem ersten Rang muss ich Folge leisten, also kauere ich nun vollkommen nutzlos auf dem Boden, als mich das Geräusch von splitterndem Holz zur Tür hinüberblicken lässt. Neben der Tür hockt das Menschenmädchen. Es muss wohl erst einmal seine Wunden lecken. Einige Meter entfernt von ihr ruht Sean. Es wundert mich nicht, dass er so schnell besiegt wurde, immerhin ist er gerade einmal im fünften Rang. In der zerborstenen Tür steht ein weiblicher Vampir mit roter Robe. Sie muss auch dem ersten Rang angehören, denn uns niederen Vampiren ist es nicht gestattet rote Mäntel oder Umhänge zu tragen. Ja selbst über einen roten Pullover kann eine größere Schlägerei ausbrechen, falls man das in unseren Kreisen als Schlägerei zu bezeichnen vermag. Der Vampir des ersten Ranges ist regelrecht winzig. Ich denke selbst das Menschenmädchen ist ihr einen halben Meter über den Kopf gewachsen. Und doch kann ich nicht behaupten, sie wäre noch ein Kind gewesen, als sie starb. Sie scheint etwa zwanzig gewesen zu sein. Es wundert mich jedoch nicht, dass ich ihren Namen nicht kenne; es ist bereits eine große Ehre überhaupt einen der Vampire des ersten Ranges zu kennen und sich mit ihm unterhalten zu haben. Der fremde Vampir hebt die Arme vors Gesicht, als sie den Raum betritt und schafft es sich mit raschen Schritten neben Blaise aufzubauen. Ihr rabenschwarzes schulterlanges Haar wird von dem schneidenden Energiesturm, den uns der Bote der Finsternis entgegenschleudert, nach hinten geweht. „Méridia!“, höre ich Blaise freudig aufkeuchen. Méridia heißt die Kleine also. Und dieses kleine harmlos wirkende Geschöpf hat seine Eckzähne vollkommen entblößt und die Krallen ausgefahren. Dieser Anblick ist durchaus respektheischend, Größe hin oder her. Jäh erinnere ich mich daran, dass ich erst vor Kurzem gelernt habe, diese altbewehrte Kampfposition einzunehmen. Um das Ausfahren der Fänge und Krallen steuern und beherrschen zu können, muss man sehr große Willenskraft aufbringen. Und diese Willenskraft sammelt sich erst im Laufe der Jahre oder Jahrhunderte an. Noch während ich diesen Gedanken angestellt habe, hat sich Méridia auf den Boten der Finsternis gestürzt und ihn aus der Luft gerissen. Es ist mir ein Rätsel, wie ein so kleines Wesen derart hoch springen kann. Der schneidende Energiestoß erlischt auf der Stelle und ich kann mich gefahrendlos aufrichten. Méridia faucht den Boten der Finsternis gerade wütend und achtungheischend an, er solle sich nicht rühren oder sie würde ihm die Kehle zerreißen. Das sagt sie nicht wirklich, sie faucht einfach nur, aber ich kann in ihren Lauten die Absicht klar erkennen. Blaise nimmt sein Schwert herunter und geht auf seine Kollegin und den am Boden liegenden Feind zu. Doch ehe er die beiden erreichen kann, zuckt Lilith’ Kopf erneut nach oben und sie stürzt sich mit ausgefahrenen Krallen auf den höherrangigen Vampir. „Töte ihn“, flüstert eine alt bekannte Stimme in meinem Kopf, „Bring ihn um!“ Wieder spüre ich diese Worte eher, als das ich sie höre. Der Schmerz, der sie begleitet, lässt mich leise wimmern. Ehe ich mich versehe, habe ich mich schon auf eine von gleißend hellem Licht umwaberte Gestalt gestürzt, doch ich kann mich nicht erinnern auch nur einen Finger gerührt zu haben. Sicher, das wird das Werk der zweiten Seele gewesen sein. Aber wen oder was greife ich da an? Ehe ich es nicht weiß, bin ich nicht bereit dich gewähren zu lassen, tut mir Leid! Mit aller Macht konzentriere ich mich darauf, der fremden Steuerung meines Körpers entgegenzuwirken. Erschüttert spüre ich, wie sich meine Krallen in weiches Fleisch graben. Nein, ich muss wissen wem ich gegenüberstehe! Ich fauche erzürnt auf und schaffe es meinen Körper zum Stillstand zu bringen. Dafür muss ich allerdings auch mit einem stechenden Schmerz im Herzen bezahlen, der so stark ist, dass meine Beine einfach wegknicken und ich zu Boden sinke. Jäh klärt sich der Nebel um mich her. Es ist, als würde eine Droge aufhören zu wirken. Die Welt beginnt allmählich wieder klare Konturen anzunehmen und schon bald kann ich erkennen, wen ich angegriffen habe. Blaise steht mit entblößten Fängen vor mir, die linke Hand auf den rechten Arm gepresst. Unter ihr sickert Blut hervor. Mein Gott, ich habe einen Vampir aus dem ersten Rang angegriffen. Und dazu ist es auch noch Blaise. Er sieht meinem Lehrmeister Sven so verblüffend ähnlich... Es ist fast, als hätte ich ihn verletzt und nicht tatsächlich Blaise, der vor mir steht. Ich schlage die Hände vors Gesicht und spüre jäh, wie die fremde Seele wieder die Kontrolle über meinen Körper zu erlangen sucht. Ich beiße die Zähne zusammen und nehme die Hände vom Gesicht. Das darf ich nicht zulassen! Während ich mit mir selbst ringe, nehme ich die Umgebung kaum noch wahr, doch als ich eine Bewegung vor mir bemerke, konzentriere ich mich darauf. Blaise hält ein Langschwert in Händen und richtet es auf mich. Er wird mich töten, er wird mich wirklich töten... Natürlich, was habe ich erwartet? Immerhin ist er eine Autoritätsperson, es ist seine Pflicht. Er wird mich töten... Erschreckt schreie ich auf und schlage dann die Hände vor den Mund. Blaise hat tatsächlich vor Lilith zu töten. Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe gerade angefangen ihn zu mögen, ihn wirklich sehr zu mögen... Ich schaffe es kaum die eben so rasch aufeinander gefolgten Ereignisse zu verarbeiten. Das plötzliche Auftauchen des kleinen Vampirmädchens, der Sturz des Boten der Finsternis und Lilith’ Angriff auf Blaise. Allmählich scheint mir dies alles so unwirklich, als wäre es nur ein Traum. Vielleicht muss ich einfach nur die Augen schließen damit ich erwache. Doch diese These bewahrheitet sich nicht. Genau genommen wird sie schon zunichte, bevor ich die Augen schließen kann, denn der aufdringliche Schmerz, der meinen Körper in einzelnen Wogen durchzuckt, macht mir klar, dass es sich in keinem Fall um einen Traum handeln kann. Wieso passiert so etwas auch immer nur mir? Blaise hebt das Schwert. Nein, das kann ich unmöglich zulassen! Ich rappele mich, meine Schmerzen missachtend, rasch auf, renne auf Blaise zu und packe seinen Arm, ehe er mit dem Schwert zuschlagen kann. „Minachi“, keucht dieser verblüfft, „Du verstehst das völlig falsch!“ Wieso sagt mir heute laufend jemand, ich würde etwas falsch verstehen? Ich denke nicht, dass diese Situation auf irgendeine Weise missverständlich ist! „Du darfst Lilly nicht umbringen!“, schreie ich ihn an. Nur knapp eine Sekunde später spüre ich, wie mir eine erste Träne über die Wange rollt und dann durchzucken heftige Schluchzer meinen ganzen Körper. Ich kann mich nicht erinnern je so verzweifelt gewesen zu sein. Ich kann mich nicht zwischen Blaise und Lilith entscheiden und ich will es auch gar nicht. Mit einem sanften aber gut gezielten Stoß trennt mich Blaise von seinem Arm. Ich stürze zu Boden und lande einfach auf dem Po. Diese rüde Geste gibt mir den Rest und ich kann nur noch weinen. Auch ich kann nicht immer stark sein, oder? Auch ich habe ein Recht auf Trauer, Melancholie und Selbstmitleid! Ich schluchze noch heftiger. Es hat mich einige Überwindung gekostet, Minachi von mir zu stoßen, doch darf ich jetzt nicht daran denken. Ich muss mich voll und ganz auf meine Aufgabe konzentrieren, schließlich bin ich ein Vampir des ersten Ranges. Die Vampire sollen zu mir aufblicken und deshalb kann ich mir keine Fehler leisten. Ich werde Lilith befreien. Ich hebe mein Schwert erneut und lasse es konzentriert und mit viel Schwung zirka zwanzig Zentimeter vor ihrem Körper Entlangschwingen. Das wohl schärfte Schwert in dieser Stadt zertrennt die Luft und lässt einen silbrigen und gebogenen Streifen in ihr zurück. Dieser Streifen bewegt sich nun zielstrebig auf Lilith’ Brust zu und fährt durch ihren Körper hindurch. Man mag es kaum glauben, doch dies alles geschieht in nur wenigen Sekunden. Lilith bäumt sich auf und wirft den Kopf in den Nacken. Mit dieser Geste löst sich ein Schmerzensschrei aus ihrer Kehle. Langsam lasse ich das Schwert sinken und schiebe es zurück in die dafür vorgesehene Einrichtung an meinem Gürtel. Dieses von Gott gegebene Schwert hat den praktischen Nebeneffekt, sich in seinem Volumen auf die Hälfte reduzieren zu können. Seufzend betrachte ich Lilith Körper, der leblos am Boden liegt. Doch ich kenne das bereits, ich weiß, dass ich jetzt nichts für sie tun kann. Ihre helle und ihre dunkle Seele kämpfen zu dieser Sekunde um die Herrschaft über den einen Körper und ich kann nichts weiter tun und abzuwarten. Ich wünsche mir, Lilith’ gute Seele siegt, denn dann wird sie in den ersten Rang aufgenommen werden. Wir nehmen nur Vampire bei uns auf, die nur noch eine Seele besitzen und diese muss in jedem Fall eine Gute sein. Kehrt die böse Seele in Lilith’ Körper zurück, werde ich ihr Leben auslöschen müssen. Mein Blick wandert zu Boden. Ich habe sie eigentlich sehr lieb gewonnen, diese Lilith. Ein leises Wimmern erinnert mich an Minachi und ich wende mich so schnell es geht zu ihr um. Langsam knie ich neben ihr nieder und ziehe ihr die Hände vom Gesicht. „Ich wollte Lilith nicht töten“, versichere ich ihr so liebevoll, wie es ein Dreihundertjahre alter Vampir zu Stande bringen kann. Verwirrt blinzelt Minachi zu mir auf. Immerhin weint sie jetzt nicht mehr. Ich spüre den Anflug eines erleichterten Lächelns auf meinem Gesicht, doch ich schaffe es gerade noch das Lächeln zu verbergen. Gefühle zu zeigen ist schwach, Blaise, wirklich schwach. „Was ist mit ihr?“, will Minachi zittrig wissen. Eine Sekunde spiele ich mit dem Gedanken dieses Menschenmädchen einfach an mich zu ziehen und sie in den Arm zu nehmen, doch auch diesen Reflex unterdrücke ich. Ich bin ein Vampir des ersten Ranges, ich kann mich nicht mit gewöhnlichen Menschen einlassen. Außerdem hätte Minachi wahrscheinlich wild nach mir geschlagen, so wie ich sie einschätze. Sie hätte wohl gedacht ich wollte sie beißen. Apropos... Mein Blick wandert langsam von Minachis Augen ihr Gesicht hinab und bleibt an ihrem Hals kleben. Wie schön weich er scheint. Schon wieder so ein unmöglicher Gedanke. Heute ist wirklich nicht mein Tag. Rasch richte ich meinen Blick wieder auf Minachis Gesicht. „Ihre beiden Seelen ringen um die Oberhand“, erkläre ich ihr leise, als redete ich an jemandes Sterbebett. Als Minachi mich nur noch verwirrter anblickt, hole ich weiter aus, als ich es einem Menschen gegenüber dürfte: „Jeder Mensch - jedes Wesen beherbergt in seinem Körper zwei Seelen. Von diesen Seelen ist die eine gut und die andere böse. Ich weiß nicht, ob du weißt, was das bedeutet.“ Ich mache eine kleine Pause um zu sehen, ob sie es weiß. „Was bedeutet es denn?“, will Minachi leicht verwirrt wissen. Ich glaube das, was ich ihr erzählt habe, ist schon fast zu viel für sie. Natürlich, das alles geht über das Sichtfeld eines Sterblichen hinaus. „Eine Seele in dir hat Spaß am Töten und die andere liebt es in die Kirche zu gehen und allen zu helfen“, erkläre ich also, wobei ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann. Diese sehr vereinfachte Erklärung klingt wirklich zu albern. „Diese beiden Seelen bilden den Charakter eines Menschen. Je nach dem wie stark die böse Seele gegenüber der Guten ist, hat er einen guten oder auch einen schlechten Charakter. Wenn die böse Seele sich allerdings durch Einfluss von außen gegen die Gute auflehnt, kommt es zu Konflikten innerhalb des Körpers, an denen ein gewöhnliches Lebewesen zerbricht. Lilith hat sich sehr gut geschlagen mit diesem Zwiespalt in sich. Ich habe nun mit meinem Schwert die beiden Seelen aus ihrem Körper gelöst: Sie fechten eine Art Kampf und nur der Gewinner kehrt in Lilith Körper zurück“, fahre ich so langsam und vereinfacht wie möglich fort. Ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob ein Mensch in der Lage ist, so etwas zu begreifen. Eigentlich hätte ich es ihr nicht erzählen dürfen. Doch nun ist es geschehen. Es muss an ihren funkelnden Augen liegen, in denen sich so viel Trauer verbirgt. „Was ist das bloß für ein Schwert?“, ist wider Erwartens Minachis erste Frage. „Gott gab es mir, als ich in den ersten Rang der Vampire aufstieg. Nur die Vampire, die nur noch die gute Seele in sich tragen, steigen in den ersten Rang auf. Stärke allein genügt nicht. Und davon gibt es weiß Gott nicht viele Vampire. Bisher nur vier in diesem Land. Wie dem auch sei. Jede gute Seele, die sein böses Ebenbild besiegt, berührt für einige Sekunden die Welt auf ‚der anderen Seite’. Dabei berührt sie auch Gott und dieser verleiht dem Besitzer dieser Seele eine Tierform und ein weiteres Geschenk. Natürlich nur Vampiren. Aber mir ist auch nicht bekannt, dass ein anderes Wesen etwas vergleichbares durchlebt hat, ohne daran zu zerbrechen“, lächele ich sanft und lasse es mir nicht nehmen Minachi ganz rasch übers Haar zu fahren. Ich glaube es hat niemand gesehen. „Ein Geschenk von Gott“, sagt Minachi langsam, „Und was ist eine Tierform?“ Ich räuspere mich. Diese Frage hat mich daran erinnert, dass ich ihr eigentlich gar nichts davon hätte erzählen dürfen. „Ich kann es leider nicht verantworten dir diese Frage zu beantworten“, sage ich wieder in meiner schroffen Art, die ich immer auflege, wenn ich andere Wesen als Vampire des ersten Ranges um mich habe. Minachi schenkt mir einen zutiefst verwirrten Blick und ich muss rasch aufstehen und mich abwenden um nicht noch etwas unüberlegtes zu tun. Mir fällt einiges ein, das ich unüberlegter Weise hätte tun können: Ihr die Frage beantworten, sie beißen oder sie gar küssen und der gleichen sicher mehr, wenn ich nur die Zeit hätte länger darüber nachzudenken. Doch jetzt zieht Méridia meine Aufmerksamkeit auf sich: „Ich glaube sie kommt zu sich!“ „Was... Was passiert mit ihr, wenn die gute Seele nicht gesiegt hat?“, ruft mir Minachi hinterher. Ich senke den Kopf und antworte nicht. „Du hast ihr doch nicht etwa davon erzählt? Du bist echt UNMÖGLICH!“, faucht mich Méridia von unten herauf wütend an. Ich zucke langsam aber an mir selbst zweifelnd die Achseln. Doch dann habe ich nicht mehr die Zeit mir über meine Stellung und die Loyalität den Herrschern gegenüber den Kopf zu zerbrechen, denn Lilith’ Augenlieder flattern. Langsam öffne ich die Augen und nehme zunächst alles verschwommen wahr. Wo bin ich hier? Doch viel wichtiger: Wer beugt sich da über mich? Mein Blick schärft sich langsam und ich erkenne Blaise über mir. Vor Schreck wäre ich fast wieder ohnmächtig geworden. Doch da ist noch jemand. Ein kleine ziemlich kleinwüchsige Lady mit rabenschwarzem Haar. Sie trägt ja einen roten Umhang! Oh mein Gott, zwei Vampire des ersten Ranges auf einem Fleck... Langsam richte ich mich auf. Mir schmerzen sämtliche Glieder, doch ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern wieso. Oh, da sind ja noch mehr Leute! Ich kann Lysander ziemlich unbeteiligt in der Gegend stehen sehen: Schöner Bruder ist der mir. Und da ist auch Minachi. Sie kauert auf dem Boden und sieht ziemlich fertig aus, doch ich bringe es nicht über mich aufzustehen und zu ihr zu gehen. Ich glaube nämlich nicht, dass mich meine beine tragen können. Doch da entdecke ich noch jemanden... „Sean!“, keuche ich und reiße mich nun doch hoch. Ich schwanke leicht und will auf Sean zurennen, doch Blaise packt mich ziemlich fest am Arm und auch die kleinwüchsige Vampirdame mustert mich mit kalten Augen. „Lasst mich los!“, fauche ich Blaise halb verzweifelt an. „Ich glaube du kannst sie jetzt loslassen“, grinst der weibliche Vampir des ersten Ranges. „Oh, natürlich“, gibt Blaise leicht verwirrt von sich. Nun will ich mich endlich zu Sean begeben, doch nur eine Sekunde später werde ich von Minachi überfallen, die sich schwer an meinen Hals hängt. „Du bist wieder da!“, schluchzt diese in meinen Mantel hinein. Ich kann nichts weiter tun als sie verwirrt anzustarren. Was ist geschehen? Hör doch auf zu weinen, das macht mich ganz traurig... Ich lege die Arme um Minachi und spreche mein Stoßgebet nun laut aus: „Ach Minachi, hör doch auf zu weinen.“ Für diesen Satz handele ich mir eine Ohrfeige ein, die sich gewaschen hat. Verwirrt lasse ich Minachi los und halte mir die Wange. Minachi baut sich vor mir auf und hält mir eine Standpauke, die sich gewaschen hat. Ich erfasse nicht jedes einzelne Wort, da ich nicht begreife wovon sie redet. Ich höre nur ‚Was fällt dir eigentlich ein?’ und ‚Wir haben uns solche Sorgen gemacht!’. Wobei ich nicht sicher bin, wie sie ‚wir’ definiert. Auf meine Verwirrung folgt haltlose Wut. Wieso schreit sie mich so an? Ich habe überhaupt nichts getan! Und das tue ich nun auch kund. In einer Lautstärke, dass es wohl noch zwei Blocks weiter zu hören ist. „Jetzt ist nicht die Zeit zum Streiten“, fährt Blaise ruhig dazwischen, wobei er sich zu meinem Erstaunen und auch meiner Bestürzung neben Minachi stellt. Ich balle wütend die Fäuste, wiedersetze mich dem unmittelbaren Befehl jedoch nicht. Minachi funkelt mich über Blaise’ Schulter hinweg böse an. Ich seufze leise und plötzlich fällt mir Sean wieder ein. Ich stürze auf ihn zu knie neben ihm nieder: „Was ist mit ihm?“ „Der ruht nur“, grummelt mein lieber Bruder, als täte ihm die Tatsache Leid, dass er nicht gestorben ist! Ich werfe ihn einen hasserfüllten Blick zu. „Er wurde schwer verletzt und hat seinen Schutz aktiviert um sich schneller heilen zu können. Ein schlauer Bursche. Für einen Vamp aus dem 5. Rang zumindest“, erklärt mir die fremde Vampirdame. Ich frage mich, woher sie das alles über ihn weiß. „Wann wacht er auf?“, frage ich besorgt und streiche über Seans gefrorene Wange. „Sollte wohl bald so weit sein“, flucht Lysander. Diese Freundlichkeit! Aber tatsächlich. Schon eine Minute später zieht sich die Eisschicht, die sich auf Seans Haut gebildet hat zurück und er schlägt die Augen auf. Zu meinem Erstaunen vollkommen gesund. Stürmisch umarme ich ihn. „Lilith, du zerdrückst mich“, ist der erste Satz meines Liebsten. Ich muss unwillkürlich grinsen und ich habe das Gefühl, auch er erinnert sich nicht mehr an das, was vorgefallen ist. So stehe ich immerhin nicht allein da. Mein blick fällt auf ein Wesen, das gefesselt auf der anderen Seite des Raumes liegt: „Was... Wer ist das?“ Das Wese hat harte Schwingen und dunkelgrünes, rankenhaftes Haar. Dieser Anblick befremdet mich doch sehr. „Angeblich der Bote der Finsternis. Er scheint für Keith zu arbeiten. Vielleicht kriegen wir noch einiges aus ihm heraus. Zum Beispiel, wo sich diese vermaledeiten Dunklen Vampire aufhalten. Wir werden ihn mit in die Villa nehmen. Und dich auch Lilith. So ist doch dein Name?“, fragt mich der Vampir des ersten Ranges. „Ja, ich bin Lilith. Und wer seid Ihr? Wieso soll ich in eine Villa? Und überhaupt..:“, doch ich kann meinen Satz nicht beenden, denn etwas Merkwürdiges geschieht. Ein eisiger Windhauch weht durch den Raum und zerrt an meiner Kleidung. Dabei vernehme ich ein leises Klingeln wahr, das mir wohl beim Laufen zuvor nicht aufgefallen ist, da ich mich so um Sean sorgte. Ich taste an mir hinab und finde ein kleines Glöckchen, das mir um den Hals gebunden ist. Wohl so etwas, das man Katzen umbindet, damit sie keine Vögel erwischen. Das wundert mich zwar sehr, doch habe ich nicht die Gelegenheit länger darüber nachzudenken, denn mir dem auftauchen des Windes löst sich der sogenannte Bote der Finsternis einfach in nebeligen Dunst auf. „Das mit der Befragung wird wohl nichts“, bemerkt Lysander schadenfroh. Doch mir macht Blaise viel größere Sorgen. Er verengt die Augen zu Schlitzen: „Er ist hier... Keith ist hier:“ Rauch scheint durch die Ritzen im Fußboden in den Raum zu dringen. Rauch oder Nebel. Im nu verpufft mein ganzer Zorn auf Lilith und weicht Sorge und Angst. Waren das nicht genug Ereignisse für eine Nacht? Ich bin inzwischen hundemüde und könnte einfach im Stehen einschlafen! Der Nebel nimmt in der Nähe der mir gegenüberliegenden Wand langsam eine Gestalt an und dann verwandelt sich der Nebel einfach in einen Menschen! Nein, das ist kein Mensch. Dieser Mann ist ein Vampir und er jagt mir wirklich fürchterliche Angst ein. Sein schwarzes Haar fällt bis zum Fußboden hinab und bildet einen krassen Kontrast zu seiner weißen Haut. Aus seinen Augen scheinen Funken zu sprühen. Erschreckt weiche ich hinter die Vampire zurück an die zerstörte Tür und hoffe, der Vampir würde mich nicht sehen, was natürlich purer Selbstbetrug ist. Das muss also dieser Keith sein... Dunkle Vampire... Gute und Böse Seelen… Das alles ist so verstrickt und kompliziert. Vampire, die nur noch die gute Seele besitzen steigen in den ersten Rang auf. Heißt das Vampire mit nur der bösen Seele werden Dunkle Vampire? Ja, so muss es sein. Und bevor das geschieht müssen diese Vampire scheinbar getötet werden... Ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken, als ich mir vorstelle, wie Blaise Lilith tötet. Ein wirklich grauenhaftes Bild! Ich schüttele es schnell ab. „Keith, was willst du?“, faucht Blaise den anderen Vampir an. „Ich möchte dich nur daran erinnern, dass es uns noch gibt. Und das solltest du nicht so schnell wieder vergessen“, sagt dieser Keith, lächelt gekünstelt und verbeugt sich. Wieder löst er sich in Nebel auf und verschwindet durch die Ritzen der Dielenbretter. Was ist das denn bloß gewesen? Laufen so Auseinandersetzungen zwischen Vampiren? Doch ich bin einfach zu müde um weiter darüber nachzudenken... So müde... Blaise streckt den Arm aus und fängt Minachi, die so eben einfach nach hinten gekippt ist. „Was ist mit ihr?“, frage ich bang. „Sie ist eingeschlafen“, teilt mir Blaise mit, der ebenso verblüfft aussieht, wie ich mich fühle. „Na gut“, sage ich langsam während Blaise Minachi auf den Arm nimmt, „Könnte mir jemand erklären, was hier vorgefallen ist?“ „Zu nächst einmal: Mein Name ist Méridia. Das wolltest du doch wissen, oder?“, grinst die kleinwüchsige Vampirdame. Ich nicke dankend. „Du bist soeben in den ersten Rang aufgestiegen und wirst somit bei uns in ‚der Villa’ wohnen. Du wirst schon sehen, was es mit diesem Haus auf sich hat. Natürlich kannst du uns jetzt duzen. Wenn du nichts dagegen hast würde ich Minachi gerne mit in ‚die Villa’ nehmen, bis sie sich erholt hat“, teilt mir Blaise mit. Ich nicke wieder. Das alles ist ziemlich verwirrend, doch ich bin körperlich und geistig zu erschöpft um viele Fragen zu stellen. Nur eins liegt mir wirklich noch auf dem Herzen: „Was ist mit Sean?“ Méridia und Blaise werfen sich vielsagende Blicke zu. „Ich fürchte er kann nicht mitkommen“, erklärt mir Blaise vorsichtig. „Dann komme ich auch nicht mit“, fauche ich und lehne den Kopf an Seans Schulter. Dieser ist inzwischen aufgestanden und legt die Arme um mich. Blaise seufzt tief: „Na schön aber nur für diese Nacht.“ Darauf hin zieht er ziemlich viele gehässige Blicke Méridias auf sich, doch das ist mir egal. Das sollen die beiden unter sich ausmachen. Sean, Minachi und ich, wir würden bei den Vampiren des ersten Ranges einziehen. Minachi wieder bei mir zu haben ist ein ungeheurer Trost. Immerhin habe ich keine Ahnung was mich erwartet und nicht einmal, was überhaupt geschehen ist. Blaise übergibt Minachi kurz an Méridia und streift sich den roten Mantel von den Schultern. Dann hält er ihn mir so hin, dass ich hineinschlüpfen kann. Natürlich ist der Mantel viel zu groß, doch alleine sein Rot reicht aus, mir die Kraft für das kommende zu geben. Ich schenke Blaise ein schüchternes Lächeln und verlasse zusammen mit ihm, Méridia und meinen Freunden das Haus, in dem viele dunkle Dinge geschehen sein mochten. Verschlafen öffne ich die Augen und erkenne Blaise’ Gesicht über mir. Er trägt mich! Sofort werde ich rot, doch ich er hat den Blick geradeaus gerichtet und bemerkt glücklicherweise nicht, dass ich wach bin. Ich kann seinen männlichen Geruch deutlich wahrnehmen und lasse mich ganz in ihn zurücksinken. Doch jäh sehe ich ein Mädchen in einer Seitengasse, das mit dem Rücken flach an die Wand gepresst dasteht und uns mit Blicken folgt. In ihren Händen glänzt eine Feuerwaffe auf. Ich weiß nicht, ob ich schon wieder halb in das Land der Träume hinübergeglitten bin, doch ich könnte schwören es handelt sich um Kagami. Kapitel 3: Das Echo der Schatten -------------------------------- Eine unsichtbare Macht zerrt an meiner Seele und reißt sie aus meinem Körper. Vor Schreck schreie ich laut auf, doch ich empfinde keinen Schmerz. Ich werde in ein endloses Wolkenmeer empor getragen. Die weißen Wogen sind angenehm kühl und erwecken meine Sinne zu neuem Leben. Immer höher werde ich getragen und schon bald entdecke ich über mir ein gleißendes Licht. Eigentlich ist Licht das falsche Wort. Es ist ein weißer heller Schein, der weder Licht noch Dunkelheit zu sein scheint. Ich tauche in den Schein hinein und stehe nun recht fest auf einer Wolke. Vor mir erhebt sich ein Schatten, dunkler als alles, das ich je gesehen habe. Und doch ruft dieser Schatten Erinnerungen wach... "Wer bist du?", frage ich den Schatten mir gegenüber. "Ich bin du", antwortet der Schatten, "Doch es kann uns nur einmal geben." Mit diesen Worten stürzt der Schatten auf mich zu und direkt durch mich hindurch. Er hinterlässt nur einen tiefen Schmerz, den ich fast Körperlich spüren, jedoch nicht genau erfassen kann. Ich krümme mich zusammen und bemerke, wie ich mich selbst in einen Schatten verwandle - einen Schatten aus gleißend hellem Licht. Kein Licht wie jenes, in dem ich mich befinde, nein, sondern strahlend gelbes Licht, wie das der Sonne. Ich weiß kaum wie mir geschieht, doch schon habe ich zum Angrifft auf den dunklen Schatten angesetzt. Ein wildes Durcheinander aus Wellen von purem Schmerz und Willenstärke brechen über mir zusammen und schließlich zieht sich der dunkle Schatten zurück. Ich hingegen sinke schmerzerfüllt und scheißnass auf die Knie. "Ich werde dich finden! Mein Name ist Shade, merk ihn dir gut!", knurrt der Schatten. Dann bricht die Wolke unter meinen Füßen und ich stürze... Mit einem Schrei schrecke ich aus dem Schlaf. Ich halte mir den Kopf und winkele die Beine an. Was für ein Traum. Er ist mir so real vorgekommen... Jemand klopft an meine Zimmertür. "Alles in Ordnung, Lilith?", fragt eine sanfte Mädchenstimme durch die Tür hindurch. "Alles klar", erwiedere ich und sinke in meine Kissen zurück. Ich verbinde diese Mädchenstimme sofort mit braunem Haar und ebenso braunen Augen. Es muss sich also um Claire handeln, einen Vampir des ersten Ranges, genau wie ich einer bin. An diesen Gedanken kann ich mich nur schwerlich gewöhnen. Ich lasse den Blick durch mein noch recht neues Zimmer schweifen. Es handelt sich um kein gewöhnliches Zimmer. Dieses ganz besondere Zimmer spiegelt immer den Zustand der Seele seines Besitzers wieder. Darum ist es auch strikt untersagt das Zimmer eines anderen Vampirs in diesem Haus ohne Beisein des Vampirs oder gar ohne seine Erlaubnis zu betreten. Um mich her herrscht eine trübe Stimmung gepaart mit einem Spritzer Schrecken. Eine Friedhofszenerie hat sich um mich aufgebaut und wird durch einige vermoste Grabsteine unterstützt. Mein Bett ist ziemlich hart und hat ein schlichtes Drahtgestell, das hier und dar bereits Rost ansetzt. Dazu regnet es in Strömen. Der magische Regen scheint direkt unter der Zimmerdecke zu entspringen und auf das ganze Zimmer niederzuprasseln, wobei jedoch weder ich noch meine Möbel etwas davon abbekommen; gerade so, als wären wir von einem unsichtbaren Schutz umgeben. Nur auf dem erdigen Boden um die Grabsteine herum sammeln sich allmählich Pfützen aus Regenwasser. Ich seufze und zwinge mich, aufzustehen. Mit den Gedanken immer noch bei meinem Traum öffne ich meinen Kleiderschrank (der jetzt ebenso vermodert wie der Rest dieses Zimmers ist) und ziehe einen dicken Pullover und eine Jeans heraus. Über diese gewöhnliche Kleidung ziehe ich meinen roten Mantel. Die Herrscherin hat ihn extra für mich anfertigen lassen, sodass ich mich nun nicht mehr von den anderen Vampiren des ersten Ranges unterscheide. Unsere roten Mäntel haben nämlich alle die ein oder andere Besonderheit. Meiner ist recht schlicht vorne mit Knöpfen verschlossen, die an zwei ineinanderhakende Kreuze erinnern. Zu meinem Bedauern verfügt er über keine Kapuze. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jeder sofort erkennt, doch das wird aufgrund der roten Farbe des Mantels wohl sowieso unvermeidlich sein. Ich verlasse mein Zimmer und trete auf den Flur hinaus. Sofort fröstele ich. Hier im Flur wird nie geheizt. Die meisten Vampire stören die Temperaturen nicht im Geringsten, doch ich bin bei solchen Dingen immer noch etwas Zimperlich. Gedankenverloren drücke ich die Tür zum großen Wohnzimmer auf. In diesem gemütlichen, mit Kerzen beleuchteten Raum treffe ich auf Blaise, der mit gerunzelter Stirn in ein Buch vertieft ist, und Claire, die mit geschlossenen Augen auf dem Boden sitzt und meditiert, das lange braune Haar glatt über die Schultern fallend. "Guten Abend", grüße ich die Beiden. Blaise gibt ein Brummen von sich, das mir zeigen soll, dass er registriert hat, wie ich den Raum betreten habe. Claire antwortet mir überhaupt nicht. Das wird wieder eine sehr unterhaltsame Nacht werden... Ich bewohne die ,Villa' wie dieses Haus genannt wird, gerade einmal seit einer Woche. Ich hatte kaum Zeit seine Bewohner kennen zu lernen oder allgemeine Fragen zu stellen. Das einzige, das ich bereits erfahren habe, ist, dass die Vampire des ersten Ranges ganz anders sind, als sie sich in der Öffentlichkeit geben. Dieses sinnlose ,Versteckspiel' gefällt mir überhaupt nicht, doch ich werde mich wohl oder übel anpassen müssen. Und natürlich weiß ich über die Eigenschaften der Zimmer jedes einzelnen Vampirs Bescheid. Das hat mir Blaise gleich in der ersten Nacht eingebläut. Ich lasse mich in einen flauschigen Sessel nahe des Kamins sinken und starre Claire interessiert an. Noch hatte ich keine Gelegenheit sie zu fragen, was sie eigentlich ganze Nächte lang, auf dem Fußboden sitzend, tut. Leise seufze ich und denke an Sean. Er hatte nur eine nacht in ,der Villa' verbringen dürfen und ich kann ihn nicht so oft besuchen. Ich vermisse ihn richtig, auch wenn mir die kleine Méridia bereits mehrmals erklärt hat, dass dieses verhalten für Vampire mehr als untypisch ist. Blaise hatte jedoch entgegen gehalten, dass es der Welt wirklich an außergewöhnlichen Vampiren fehlt. Dafür bin ich ihm ziemlich dankbar. Ich glaube, er ist der einzige der Vampire des ersten Ranges, der wirklich glaubt, dass ich für diesen Job geschaffen bin. Wieder muss ich seufzen. Vorsichtig öffne ich die Tür zum Wohnzimmer. Hinter ihr erblicke ich Lilith, Claire und Blaise, die alle drei in ihre Arbeit vertieft scheinen. Leise will ich die Tür wieder schließen und mich davonstehlen, als Blaise den Kopf hebt und mich über den Rand eines erstaunlich dicken Buches hinweg anblickt. "Guten Abend Minachi", grüßt er mich und winkt mich zu sich her. Gehorsam betrete ich das Wohnzimmer, schließe die Tür hinter mir und gehe zu ihm hinüber, während er ein unscheinbares Lesezeichen in sein Buch schiebt und es bei Seite legt. Ich blicke zu Lilith hinüber, die in einem gemütlichen Sessel kauert, doch sie hat die Augen geschlossen und scheint zu schlafen. "Gibt es etwas Bestimmtes, das du mir sagen willst?", fragt Blaise freundlich, doch in einem leicht geschäftsmäßigen Tonfall, den er immer anschlägt, wenn wir nicht alleine sind. "Ich hatte nur Hunger und dachte, ich schaue kurz vorbei", weiche ich seiner Frage aus. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich habe in Blaise' Zimmer wach gelegen und bemerkt, wie es sich um mich herum verändert hat, strahlender geworden ist. Da ich weiß, dass die Zimmer dieses Hauses mit seinen Bewohnern eng verbunden sind, habe ich mich gefragt, was Blaise so erheitert hat. "Ich lese gerade einen Roman über Vampire, den ein Mensch geschrieben hat", grinst Blaise, als hätte er meine Gedanken gelesen. Mir fällt auf, dass er momentan keine vampirtypischen Fangzähne aufweist. Das beruhigt mich ungemeint, da ich das Gefühl habe, er verbirgt sie, wenn er nicht hungrig ist - hungrig auf Blut. "Aber ich werde bald mit Lilith aufbrechen und ihr die ,Zentrale' zeigen. Das heißt, ich werde wohl bis zum Morgen wegbleiben", fährt Blaise fort. Ich finde, er redet schon so, als habe er sich mir gegenüber zu irgendetwas verpflichtet und sei es auch nur Anwesenheit. "Was ist die ,Zentrale?", will ich sofort wissen. Meine Neugierde ist und bleibt unverbesserlich. "In der ,Zentrale arbeiten die Gesetzeshüter der Vampire", erklärt Blaise mit einem freundlichen Lächeln, wie ich es selten bei ihm gesehen habe. Es lässt mir einen lauwarmen Schauder über den Rücken laufen, der jedoch nicht unangenehm ist. "Und was tut so ein Polizist unter Vampiren?", frage ich weiter, da Blaise momentan sehr aufgeschlossen zu sein scheint. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass Lilith interessiert den Kopf hebt. Sie schläft also gar nicht. Unverschämtheit! "Eigentlich tun sie nicht viel anderes, als eure Gesetzeshüter auch. Ich bin mir aber nicht sicher ob ,Polizei' wirklich eine geeignete Berufsbezeichnung ist. In der ,Zentrale' gibt es mehrere Abteilungen, in denen jeder Hüter seine eigene Aufgabe hat", erklärt Blaise. Als er mich verdutzt gucken sieht, kann er ein Grinsen nicht unterdrücken: "Ja, die heißen wirklich so." Woher er schon wieder weiß, dass ich über die Bezeichnung ,Hüter' gestutzt habe? Ich finde Hüter klingt eher, als würde jemand ein Geheimnis bewahren oder einen Tempel beschützen. Irgendwie so etwas, etwas mystisches. "Die Hüter erledigen wie gesagt verschiedene Aufgaben. Zum Beispiel..:" Doch Blaise kommt nicht mehr dazu den Satz zu beenden, denn die Wohnzimmertür wird mit einem lauten Krachen aufgestoßen. Hätte ich nicht so rasch einen Sprung zur Seite gemacht, wäre sie mir ins Kreuz geschlagen. Ich wende mich zur Tür um und sehe in ihr den wohl kleinsten Vampir stehen, den ich je gesehen habe. Méridia ist bestimmt einen Kopf kleiner als ich und ich habe nie zu den wirklich großen Menschen gezählt. Doch ihr wutentbrannter Gesichtsausdruck lässt mich wie bereits vor gut einer Woche zusammenzucken. Sie mag vielleicht klein sein, doch habe ich von allen Vampiren aus dem ersten Rang vor ihr den meisten Respekt. Méridia stampf an mir vorbei, darauf bedacht die Füße besonders hart auf dem Steinfußboden aufschlagen zu lassen und mich zu ignorieren - wie sie es übrigens immer tut. "Wie kommst du dazu unsere Geheimnisse Menschen gegenüber auszuplaudern?!", faucht Méridia Blaise an, der die Augen zu Schlitzen verengt hat. Mit ,Menschen' bin offensichtlich ich gemeint. Es ist bereits das zweite Mal, dass mir Blaise unerlaubterweise Vampirgeheimnisse anvertraut. Ich sehe das als Vertrauensbeweis - in der letzten Woche bin ich Blaise näher gekommen, als ich je zu träumen gewagt hätte - doch für Méridia scheint es nichts als Ketzerei zu sein. Blaise seufzt schwer und erhebt sich aus seinem Sessel: "Komm Lilith, ich will dir nun die ,Zentrale' zeugen." Und schon folgt Lilith ihm aus dem Raum. Die Nachtluft duftet nach Regen und ich lege den Kopf in den Nacken, um in den Sternenhimmel empor zu blicken. Ich frage mich, wo diese ,Zentrale' liegen mag, zu der mich Blaise führen will. Sie muss auf jeden Fall weit weg sein, denn wir sind bereits eine gute Viertelstunde unterwegs. Jäh kommt mir mein Traum wieder in den Sinn. Ich habe das Gefühl, ich sollte Blaise von ihm erzählen. Es wiederstrebt mir etwas, meine Fantasien vor Blaise kund zu tun, da ich mich in seiner Nähe immer noch nicht sehr wohl fühle. Es liegt nicht nur daran, dass er mich so an meinen alten Lehrmeister, Sven, erinnert, es stört mich auch, dass ich niemals weiß, was er gerade denkt. Er ist vollkommen undurchsichtig und für mich daher unberechenbar. Manchmal ist er einfach nur sachlich und auf seine Arbeit konzentriert, aber schon in der nächsten Sekunde lacht er zusammen mit den anderen in der ,Villa' oder kehrt seinen Verpflichtungen vollends den Rücken, indem er Minachi von Geheimnissen der Vampire erzählt. Trotzdem, ich glaube einfach, ich muss ihm dringend von diesem Traum berichten. Ich räuspere mich verlegen. "Mh?", macht Blaise neben mir ohne mich anzusehen. "Ich wollte...", beginne ich, breche dann jedoch ab. Aus einer Seitenstraße auf unserem Weg biegt ein Junge, der um die Zwanzig zu sein scheint. Unwillkürlich bleibe ich wie erstarrt stehen. Auf meinen nächtlichen Streifzügen bin ich noch nie jemandem begegnet. Der Junge geht dicht an mir vorbei, ohne mich anzusehen und als er mir so nahe ist, erkenne ich, dass es sich um einen Vampir handelt. Ich blicke ihm nach. Wieso hat Blaise ihn nicht gegrüßt? Der fremde Vampir wendet im Gehen den Kopf und blickt über die Schulter zu mir herüber. Er hat eine wirklich untypische Erscheinung. Sein hellblondes Haar ist kurz und nach neuestem Modetrend stachelartig nach oben gegelt und in seinem linken Ohr befinden sich vier kleine Silberringe. Er grinst mir zu und ich kann sehen, wie er seine Eckzähne ein Stück ausfährt. Was er mir damit wohl beweisen will? Doch dann dreht er sich schon wieder um und beschleunigt seine Schritte, die nun, da Blaise irritiert stehen geblieben ist, laut durch die verlassene Straße hallen. "Was ist denn?", will Blaise wissen. Er hat es nicht geschafft den ungeduldigen Unterton vollends aus seiner Stimme zu verbannen. "Dieser Vampir... Wieso hast du ihn nicht gegrüßt?", will ich wissen und wende den Blick mühsam von dem fremden Vampir ab. Beinahe hätte ich "Ihr" gesagt, es ist wirklich ungewohnt Blaise zu duzen. "Du hast ihn dir wohl lange genug angesehen, um das zu wissen", gibt Blaise leicht säuerlich zurück. Ich rufe mir das Bild des fremden Vampirs erneut ins Gedächtnis. Er war über und über mit Kreuzen geschmückt. Sehr ungewöhnlich. Ich habe zwar noch keinen Vampir getroffen, der Gott verachtete, aber einen, der Gott verehrt, habe ich auch noch nicht gesehen. Dazu hat der fremde Vampir eine Kutte getragen, die mich stark an die Kleidung eines Kirchenmannes erinnert. Schwarz mit rotem Rand. Vor allem passt das ganze Bild überhaupt nicht zu seinen vielen Zuhälterkettchen, die sich alleine schon mit der langen Kreuzkette gebissen haben. Verwirrt richte ich den Blick auf Blaise. "Das war ein Dunkler", erklärt Blaise mir sachlich, als er nach längerer Zeit des Wartens keine Antwort von mir erhält. "Ein Dunkler Vampir?", frage ich verblüfft und mache ein paar schnelle Schritte um Blaise einzuholen, der inzwischen seinen Weg fortgesetzt hat. "Allerdings", nickt Blaise. Seine Miene ist recht missbilligend. "Sehen die etwa alle so aus?", will ich verblüfft wissen und denke an die Kreuze. "Zum Glück nicht", gibt Blaise zurück und rümpft die Nase, "Die meisten von denen erkennst du nur am Geruch oder an den Augen. Man sieht es in den Augen eines Vampirs, wenn er nur noch eine Seele besitzt. Aber scheinbar hatte dieses Exemplar noch beide Seelen." Ich ärgere mich, dass ich nur so wenig über die Welt der Vampire weiß. Nach Svens Tod hätte ich die Chronik der Vampire aus seinem Haus holen sollen, denn ich habe nicht einmal einen Bruchteil dieses Werkes gelesen. Doch zu dieser Zeit hatte ich wirklich Anderes im Sinn... "Was wolltest du mir vorhin berichten?", fragt Blaise mit einem leisen Lächeln, das ich nicht als echt einstufen kann.. "Ach ja", murmele ich. Eigentlich habe ich es mir fast schon wieder anders überlegt, aber nun muss ich wohl mit der Sprache raus. "In meinem Traum flog ich gen Himmel, hinauf zu den Wolken. Dort begegnete ich einer schattenhaften Gestalt, die behauptete, sie sei ich. Dann kämpften wir miteinander, der Schatten unterlag. Doch er schwor, mich zu finden", schildere ich Blaise den Kern des Traumes ohne Umschweife. Blaise legt die Stirn in Falten und ich werfe ihm einen verwirrten Blick zu. "Und was geschah dann?", will er nach einigen Sekunden des Schweigens von mir wissen. "Nichts. Ich stürzte durch die Wolken und erwachte", gebe ich achselzuckend zurück, doch Blaise' Miene verfinstert sich nur noch weiter, sodass ich schließlich unsicher lächelnd einlenke: "Es war ja nur ein Traum." Natürlich habe ich genau das Falsche gesagt. Blaise starrt mich nun mit hochgezogenen Brauen an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Als ich ihn nur weiter verwirrt mustere, begreift er scheinbar, dass ich wirklich keine Ahnung habe, worum es eigentlich geht und so erklärt er: "Wir träumen nicht." "Bitte?", ist das einzige, was ich von mir geben kann. "Vampire träumen nicht. Wenn wir in unserer Schlafphase - falls man das bei uns so nennen kann - Bilder sehen, handelt es sich dabei niemals um Fiktion. Meistens sind es wahrhaftig durchlebte Augenblicke, die unser Hirn verdrängt hat und über die uns unsere Seele versucht aufzuklären. Manchmal handelt es sich auch um vergangene Geschehnisse oder die Zukunft anderer Vampire oder Menschen. Bei dir scheint es sich jedoch um Ersteres gehandelt zu haben", erklärt mir Blaise das ganze sachlich und immer noch mit nachdenklicher Miene. Ich starre ihn einfach nur an. So etwas soll wirklich passiert sein? Von den vielen Fragen, die sich vor mir auftun, beschließe ich die Folgende zu stellen: "Wann?" "Den Tag vor gut einer Woche, an den du dich nicht erinnern kannst, würde ich meinen. Wir..." Damit meinte Blaise offensichtlich auch die anderen Vampire des ersten Ranges ...haben dir bereits einiges über diesen Tag erzählt, doch es gibt Dinge, die nur du selbst wissen kannst. Wir haben alle etwas Ähnliches erlebt und bei dieser Gelegenheit unsere dunkle Seele verloren, doch wie sich herausgestellt hat, läuft dieses Geschehen bei jedem anders ab." Viel haben sie mir nicht über besagten Tag berichtet. Nur, dass ich die Kontrolle über mich verloren hätte, fortgelaufen und von dem Herrscher der Dunklen Vampire, Keith, in ein altes Gemäuer gelockt worden sei, in dem ich dann schließlich auch aus meiner Trance erwacht bin. "Aber Lilith", fährt Blaise mit schwerer Stimme fort, wendet sich zu mir um und legt mir seine Hände auf die Schultern. Von der unerwarteten Berührung erschreckt, zucke ich unwillkürlich zusammen, "Unsere dunklen Seelen existieren nicht mehr, wir haben sie getötet. Deine ist nur geflohen, das heißt, sie wird dich suchen, um sich an dir zu rächen. Und das wiederum bedeutet, dass du eigentlich gar nicht im ersten Rang aufgenommen werden durftest. Du bist nicht vertrauenswürdig, da wir nicht voraussehen können, ob du eines Tages von deiner Dunklen Seele beherrscht wirst und Keith ohne es zu wissen unsere Geheimnisse ausplauderst." Lilith starrt mich einfach nur stumm an und das beunruhigt mich mehr, als wenn sie mich angeschrieen hätte. Ich kann in ihren Augen die verschiedensten Gefühle lesen, doch alle sind sie negativ. Ich glaube, sie fragt sich gerade, wo sie nun wohnen wird. Leider kann ich ihre Gedanken nicht lesen, da die Denkstrukturen der Vampire sich von denen der Menschen unterscheiden. Wir können nur die Strukturen der Menschen entschlüsseln. Ich habe ein wirklich schlechtes Gewissen bei der ganzen Sache. Nicht nur, dass Lilith bereits in ,der Villa' lebt, sie musste auch ihren Geliebten fortschicken und wie ich diesen Taugenichts einschätze, hat er sich bereits eine neue Lady gesucht, statt eine Woche auf seine Angestammte zu warten. Langsam ziehe ich die Hände von Lilith' Schultern und warte ihre Reaktion ab, doch sie bleibt aus. Ich seufze kaum hörbar und gehe dann einige Schritte voraus. Als Lilith mir nicht folgt, gebe ich ihr ein unmissverständliches Handzeichen, wodurch sie sich langsam in Bewegung setzt. Ich lenke meine Schritte in Richtung eines mittelgroßen Pubs, in den regelmäßig eine stattliche Anzahl Vampire einkehrt. So vieles muss ich ihr noch erklären. Vor allem, wie es jetzt weitergehen soll, obwohl ich mir darüber selbst noch nicht im Klaren bin. Doch ich will das Alles nicht auf der Straße besprechen. Es ist ohnehin besser, wenn Lilith meine, Ausführungen sitzend Gehör schenkt. Ich kenne sie noch nicht lange genug, um ihre Reaktion abschätzen zu können. Uns wird ohnehin viel Zeit bleiben, denn in die Zentrale führen, kann ich sie nun unmöglich. Der kleine Pub ist, wie immer um diese Zeit, reichlich besucht. Ich kann die vielen durcheinanderredenden Stimmen schon einige Meter vor dem Gebäude hören und auch eine Wand aus den verschiedensten Gedanken schlägt mir entgegen. Heute Abend scheinen viele Menschen im Pub zu sein. Lilith wirft mir einen verwirrten Seitenblick zu: "Das hier soll die Zentrale sein?" Ich versuche mich an einem vorsichtigen lächeln und erwiedere: "Nein, aber ich denke, wir sollten uns vorher unterhalten." Natürlich steckt in dieser Behauptung eine kleine Lüge, denn Lilith wird die Zentrale nicht besuchen. Nicht heute und wahrscheinlich auch nicht in absehbarer Zeit. Ich drücke die Tür zum Pub auf und bitte Lilith vor mir einzutreten. Diese kleine Geste anerkennt sie mit einem kurzen Kopfnicken und huscht an mir vorbei in den Schankraum. Wie ich erwartet habe, ist der Pub so voll, dass wir erst einmal unschlüssig stehen bleiben und uns nach einem freien Tisch umsehen müssen. Schon nach kurzer Zeit entdeckt Lilith einen freien Tisch in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes, weist mich auf ihn hin und kämpft sich einen Weg durch das Gewühl trinkender Menschen und Vampire frei. Etwa auf der Mitte des Weges bleibt sie so abrupt stehen, dass ich fast auf sie aufgelaufen wäre. Verwundert blicke ich mich nach dem Grund dieser jähen Abbremsung um und entdecke ihn auch den Bruchteil einer Sekunde später. Ihr Geliebter, Sean, sitzt an einem der Tische und spielt Karten, ein kleines Vampirmädchen auf seinem Schoß. Dezent ziehe ich mich einige Schritte zurück "Sean, du bist am Zug", weißt mich ein breitschultriger Kerl auf die Spielsituation hin, doch ich ignoriere ihn. Das, was ich nun vor mir stehen sehe, verschlägt mir den Atem. Lilith hat sich vor mir aufgebaut. Ich glaube ich habe sie nie zuvor so gerade stehen sehen. Doch ihre Augen sind leer und sie lässt die Arme nutzlos an ihren Seiten baumeln. Sofort stoße ich das blonde Vampirmädchen von meinem Schoß. "Aua, Sean, was soll denn das?", fragt Isabelle verständnislos. Ich habe sie wohl etwas zu hart weggestoßen. "Lilly, schön dich zu sehen. Ich dachte schon wir sehen uns gar nicht wieder, so lange warst du fort", lächele ich vollkommen Uneffektiverweise. "Das sehe ich", gibt Lilith tonlos zurück und starrt zweifelnd in meine blauen Augen, als versuche sie in ihnen einen plausiblen Grund für diese Situation zu finden. "Ach, jetzt tu nicht so, als hättest du dich die letzte Woche der Männerwelt enthalten", grummele ich beschwichtigend. "Du wirst es sicher nicht nachvollziehen können, aber ja, das habe ich!", ihre Stimme hat inzwischen gewaltig an Aggressivität zugelegt. Ich verstehe nicht, was sie eigentlich will. Schließlich wollte sie nicht mehr mit mir zusammen wohnen und dass sie sich eine Woche nicht mehr bei mir blicken lässt, war auch nicht meine Idee! "Du amüsierst dich eine Woche unter deinen Rangesgenossen und lässt mich in einer kalten Gruft schlafen und jetzt beschwerst du dich auch noch, dass ich mir ein warmes Plätzchen gesucht habe?", fahre ich sie an. "Ach, du wohnst auch noch bei ihr?", schreit Lilith und macht eine unwirsche Geste in Richtung Isabelle. Zuvor hat sie noch mehr oder weniger in sachlichem Tonfall diskutiert, doch auch diese Fassade lässt sie jetzt fallen und das ist mir nur recht. "Ja, das tu ich!", schreie ich zurück. Ich bemerke kaum, dass ich aufstehe. "Was willst du jetzt tun? Mich schlagen? Wieso nicht, nur zu! Mehr Schmerzen kannst du mir sowieso nicht zufügen!", brüllt Lilith noch eine Spur lauter als zuvor. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen und ziehe Isabelle an mich heran. "Sie lässt mich kleine Woche auf der Straße sitzen.", erwidere ich eisig. In diesem Moment will ich nichts mehr als Lilith weh zu tun. Für die letzte Woche und überhaupt für alles, was ich bisher mit ihr erlebt habe. Wieso kann sie nicht einmal normal sein, wie alle anderen? Als Mensch war sie immer eine Ausnahme und jetzt als Vampir ist sie das immer noch. Wahrscheinlich macht ihr das auch noch Spaß, aber mir ist es einfach nur lästig! Niemals kann man mit ihr ein geruhsames Leben führen! "Dann kannst du ja bei ihr bleiben!", schreit Lilith noch einmal. Leicht erstaunt sehe ich Tränen in ihren Augen aufblitzen. Dann wendet sie sich ab und stürmt durch die Tür hinaus in die Nacht. Es war nicht richtig sie für alles verantwortlich zu machen, das wird mir jetzt erst klar. Doch was soll mir das? Ich bin ohne sie besser dran! Oder...? So schnell mich meine Beine tragen stürme ich durch die verlassenen Straßen der mir unbekannten Stadt. Immer mehr Tränen füllen meine Augen und verschleiern meinen Blick. Vor Schmerz und Tränen halb blind stürze ich und falle der Länge nach auf den harten Asphalt. Ich bringe nicht die Kraft auf, mich wieder aufzurichten und so bleibe ich einige Minuten einfach schluchzend liegen. Es beginnt zu nieseln und dann mittelstark zu regnen. Die Nässe und die Kälte, die sie mit sich bringt, lasse mich erschaudern und endlich richte ich mich auf. Mein roter Umhang ist schmutzig und ich habe mir die Ellenbogen aufgeschlagen. Tief geknickt und den Blick gen Boden gerichtet setze ich meinen Weg langsam fort. Die Wunden, die ich mir bei meinem Sturz zugezogen habe, sind schon fast geheilt, doch der Schmerz in meinem Herzen hält weiter an. Ich weiß nicht, wie lange ich so durch die Straßen gezogen bin, doch irgendwann erreiche ich einen kleinen Friedhof, der einen sehr gepflegten Eindruck macht. Wie magisch angezogen durchschreite ich die kleine Friedhofspforte und lasse mich auf einem horizontal liegenden Grabstein nieder, der sich etwa in der Friedhofsmitte befindet. Es regnet immer noch, doch nicht mehr so stark wie zuvor. Verzweifelt vergrabe ich mein Gesicht in den Händen. Meine Tränen sind versieht, doch sie haben eine unendliche Leere in mir zurückgelassen. Ich kann kein Vampir aus dem ersten Rang mehr sein und Sean will mich nie wiedersehen. Vielleicht hätte ich ihm erzählen sollen, dass ich nun auch kein Zuhause mehr habe, doch wahrscheinlich hätte er mich nur ausgelacht oder mir mitgeteilt, dass es mir recht geschieht. Eine Kälte, die so eisig ist, dass sie unmöglich von Wind und Regen stammen kann, umgibt mich. Alarmiert hebe ich den Kopf und entdecke einen dunklen Schatten, der mich umgibt. Ich will aufspringen, doch meine Glieder sind wie festgefroren. "Gefunden!", lacht der Schatten um mich her höhnisch. Daraus kann ich mir keinen Reim machen. Zu meiner Erleichterung zieht sich der Schatten kurze Zeit später von mir zurück und schwebt einige Meter neben mir auf und ab. Ich fröstele immer noch, doch kann ich mich endlich wieder bewegen. Ich lasse meinen Blick über den Friedhof schweifen und entdecke den Grund für den jähen Rückzug des Schattens: Auf der Friedhofsmauer sitzt ein Vampir mit blondem, nach oben gegeltem Haar. Ich erkenne ihn sofort wieder, die vier kleinen Silberringe in seinem linken Ohr sind unverkennbar, es handelt sich um den dunklen Vampir, der Blaise und mir vor höchstens ein paar Stunden über den Weg gelaufen ist. Der dunkle Vampir hebt seine Oberlippe und entblößt seine Eckzähne ein kleines Stück, genau wie bei unserer letzten Begegnung. Er hat mich also ebenfalls wiedererkennt. Ehe ich mich versehe ist der fremde Vampir wie von Geisterhand verschwunden. Irritiert wende ich den Kopf nach rechts und links und schrecke zusammen, als er direkt neben mir aus dem Nichts erscheint. Ich kann nichts weiter tun als ihn anzustarren. Was geht hier vor? Doch nun ist auch der unheimliche Schatten wieder aktiv. Er scheint sich auf den Vampir zu stürzen und ihn zu verschlucken. „Schnell, wie ist sein Name?“, kann ich eine Stimme aus dem Nebel vernehmen. Sie klingt ruhig aber zugleich drängend. „Was meinst du?“, rufe ich verwirrt, da ich denke, die Stimme gehört zu dem dunklen Vampir. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich durch die zähflüssige schwarze Masse hören kann. „Der Name des Schattens. Denk nach! Du musst ihn kennen, er entstammt deinem Selbst“, ist die Antwort. Was kann er nur meinen? Aus meinem Selbst, ein Schatten... Vor meinen Augen beginnt mein Traum Revue zu passieren. Ein Wolkenmeer, ein Kampf, ein Gegner. „Ich werde dich finden“ „Shade!“, schreie ich unnötig laut. Meine Hände zittern und in meinem Kopf rasen die Gedanken. Das war kein Traum. „Schatten der Seele, SHADE!“, vernehme ich erneut die gebieterische Stimme. Für mich klingt es, als spräche der Vampir eine Art Beschwörung. Der Schatten zieht sich zusammen und weitet sich danach wieder aus. Durch die schnelle Wiederholung des Vorgangs wirkt es auf mich, als würde er zittern. Immer noch vibrierend zieht sich der Schatten einen guten Meter zurück und dort, wo er sich eben befand, kann ich den blonden Vampir wieder erkennen. Ein heftiger Ruck durchfährt den schwarzen Nebel und er beginnt sich zu verformen, festere Konturen anzunehmen. Aus dem Schatten formt sich ein Mädchen in meinem Alter mit fahler Haut, schwarzen Augen und langem schwarzem Haar. Auch sie scheint ein Vampir zu sein, denn sie entblößt erzürnt ihre Eckzähne. Doch lange kann ich mich mit Shades Erscheinung nicht befassen, denn schon scheinen ihre Umrisse erneut zu zerfließen. Der blonde Vampir hat ein Einmachglas hervorgezogen, in das sich der Schatten langsam zurückzieht. Als sich der gesamte schwarze Nebel in dem Glas befindet, schraubt der Vampir einen Deckel darauf und hindert ihn somit am Entfliehen. Ich kann meinen Blick nicht von dem wabernden Nebel in dem Glas abwenden. „Wer bist du?“, hauche ich halb ehrfürchtig. Was immer gerade vorgegangen ist, der fremde Vampir hat die Macht es zu kontrollieren und das Zeugt von einem hohen Rang. „Gabriel“, ist seine schlichte Antwort. Durch seine Stimme aufgeschreckt wende ich meinen Blick wieder ihm zu. Seine Art zu stehen fasziniert mich. Er steht entspannt, fast lässig da, mit leicht gekrümmtem Rück, die Hände in den Hosentaschen. Dazu betrachtet er mich abschätzend, was kombiniert für mich einen solchen Widerspruch ergibt, dass es mich einfach fasziniert. „Was hast du mit ihr gemacht?“, frage ich frei heraus, was mich die ganze zeit innerlich beschäftigt. Ich rede von Shade, das weiß er. „Ich habe den Schatten gefangen. Auftrag von Keith“, antwortet Gabriel geduldig. Nach kurzem Zögern fährt er fort: „Wir sammeln alle freigewordenen dunklen Seelen, um sie Keith zu bringen. Er sucht nach einer bestimmten Seele.“ „Du kennst doch Keith?“, setzt er hinzu, als ich nicht reagiere. „Der Herrscher der Dunklen“, murmele ich mehr zu mir selbst als zu dem Vampir. „Wie ist dein Name?“, fährt Gabriel mich jäh unwirsch an. Durch den plötzlichen Sinneswandel seinerseits erschreckt, zögere ich einige Sekunden, bevor ich antworte: „Lilith.“ „Du besitzt nur noch eine Seele, Lilith. Ich kann dir helfen, deine alte Seele zurückzubekommen. Doch dazu musst du dich zu Keith’ Anwesen begeben und dort arbeiten. Du wärest eine von uns“, erklärt mir er wieder sachlich. Ein Dunkler Vampir? Eine Gesetzesbrecherin? Ich? Ich will gerade etwas erwidern, als Gabriel erneut zu sprechen beginnt: „Vielleicht seid ja ihr die „Dunkeln“ und unsere Gerechtigkeit, ist wahre Gerechtigkeit.“ Ich zögere. Aus diesem Blickwinkel habe ich das ganze noch nie betrachtet. Was, wenn er Recht hat, wenn er tatsächlich Recht hat? Was ist mir nicht schon alles wiederfahren! Ein Rascheln im Gebüsch außerhalb der Friedhofsmauer lässt mich zusammenfahren und Gabriel wendet irritiert den Kopf. „Überlege gut“, fordert er mich mit gedämpfter Stimme auf. Gerade als jemand oder etwas über die Friedhofsmauer auf Gabriel zuspringt, wird dieser Eins mit der Nacht und ist verschwunden. Keuchend komme ich neben Lilith zum Stehen und schiebe mein Schwert zurück in seine Scheide. Ich handele mir einen halb bestürzten Blick ihrerseits ein, ich habe sie wohl erschreckt. „Das war doch der Dunkle, den wir vorhin getroffen haben“, knurre ich. Immer wenn ich an die Dunklen denke, füllt sich meine Brust mit blankem Zorn, „Was wollte er von dir?“ Ich warte einige Sekunden ab, erhalte jedoch keine Antwort. Lilith’ glasiger Blick ruht auf meinem Gesicht und lässt mich unwillkürlich schaudern. Nie hat mich jemand so abwesend angesehen. Jäh macht Lilith’ einen ungeschickten Schritt nach hinten und sinkt dann in sich zusammen. Ich schaffe es gerade noch, sie vor dem Aufprall auf dem Boden zu bewahren, indem ich sie an mich ziehe. „Lilith! Kannst du mich hören?“, frage ich mit leicht bebender Stimme und rüttele ihre schmalen Schultern, doch erhalte keine Reaktion. Panik strömt in mir auf. Sie ist gerade erst zu uns gestoßen und jetzt so etwas. Wie soll ich mich verhalten? Mein Pflichtgefühl der Vampirgemeinschaft gegenüber sagt mir, ich kann sie nicht mit zurück in die Zentrale nehmen, doch mein Gewissen ist anderer Meinung. Genauso wenig kann ich sie hier liegen lassen. Ihre Haut ist fahl, vermutlich hat sie zu lange kein Blut mehr zu sich genommen. In diesem Fall kann sie sich nicht aus eigener Kraft hoch raffen und wenn die Sonne aufgeht, ist sie verloren, sie ist zu jung, zu unerfahren, zu unbehelligt. Ich nehme Lilith auf den Arm und verlasse den Friedhof. Was habe ich für eine Wahl? Ich werde den anderen Vampiren des 1. Ranges nichts von Lilith’ Traum erzählen, bis sie wieder bei Kräften ist. Als ich die Haustür ins Schloss fallen höre, setzte ich mich sofort auf. Bis eben habe ich in Blaise' Bett gedöst. Ich weiß genau, dass niemand außer er und Lilith die 'Villa' verlassen haben, also bin ich schon fast an der Zimmertür, um die beiden zu begrüßen, als mir der Widersinn der Sache bewusst wird. Die beiden sind erstaunlich schnell wieder hier - ich würde fast sagen zu schnell. Mit gerunzelter Stirn entscheide ich mich nun doch die Türklinke hinunterzudrücken und öffne die Tür einen Spalt breit. Ich kann nun in den Flur blicken und erkenne tatsächlich Blaise im Dämmerlicht des Gangs. Erfreut verlasse ich nun endgültig sein Zimmer und will ihm enntgegenlaufen, als ich im Fackelschein seinen Gesichtsausdruck erkenne. Seine Augen funkeln ausdruckslos und seine kaum merklich in Falten gelegte Stirn lässt mir einen Schauder über den Rücken laufen. Erst nach dieser Feststellung bemerke ich Lilith auf seinen Armen. Was um alles in der Welt soll denn das werden? Eine wirklich bodenlose Unverschämtheit! "Minachi", stellt Blaise sehr trocken fest, was mich zu einer weiteren Erkenntnis bewegt: Lilith scheint bewusstlos zu sein. Die Wut, die sich innerhalb von Sekundenbruchteilen in meiner Brust zusammengeballt hat, löst sich mit einem Mal auf und hinterlässt eine gähnende Leere, die nach meinem Herzen auch meinen Kopf zu füllen scheint. "Blaise, ihr seid schon wieder da?", vernehme ich eine Mädchenstimme, die ich noch nicht sehr oft gehört habe. Sie gehört Claire, die sich nun auch von einer seitlich vom Gang abgehenden Tür in mein Sichtfeld schiebt. Ich hätte sie beinahe nicht erkannt. Alles erscheint mir so vernebelt, so unwirklich... Doch schon im nächsten Moment werde ich aus meiner Trance gerissen: "Was steht ihr denn alle im Flur rum? Geh mal beiseite, Menschenkind." So etwas kann zweifellos nur die kleine Méridia von sich geben, die mich nun auch unwirsch beiseite schiebt und genau wie Claire mitten im Gang stehen bleibt, scheinbar nicht sicher was zu sagen, was zu tun ist. Claire schüttelt den Kopf und hebt die Hand an die Stirn, als würde sie verzweifelt versuchen sich einzureden, dass sie träumt. Und nach dieser kleinen Geste wagt sie sich nun auch endlich wieder zu Wort: "Was ist passiert?" "Lange Geschichte", würgte Blaise jegliche Fragen, die sicherlich allen auf der Zunge lagen, trocken ab, "Sie braucht Blut." Claire und Méridia werfen sich fragende, vielleicht auch entgeisterte Blicke zu. Ich kann ihre Gesichter im Halbdunkel nicht genau erkennen. Doch mir jedenfalls ist spätestens jetzt das Herz in die Hose gerutscht. zwar habe ich lange nicht mehr viel mit Lilith geredet und ich fühlte mich von ihr auch halb betrogen, doch die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit als gewöhnliche Teenager ist einfach zu schön und zu lang um sie zu verdrängen. Hinter mir höre ich eine Tür leise quietschend aufgehen. Erschreckt zucke ich zusammen. Wie ist das möglich? Wir sind doch alle im Flur. Wer...? Feines Silberhaar streift meine Schulter und beschert mir eine Gänsehaut, als der langhaarige Mann an mir vorbei und auf Blaise zugeht. Ich habe ihn noch nie gesehen, und doch muss er zu den Vampiren des 1. Ranges gehören: Er trägt einen roten Umhang. "Silencius...", sagt Blaise halb erstaunt, halb erfreut. Ohne ein Wort zu sagen durchschreitet der Vampir - sein Name ist offensichtlich Silencius - den Gang und nickt Blaise zu. Dieser scheint zu verstehen und legt Lilith vorsichtig auf dem Boden ab, wo sich Silencius neben ihr niederkniet. Gerade als ich mich beginne zu fragen, was das werden soll und mir panische Gedanken durch den Kopf rasen, die mir erzählen wollen, wo ich Blut für Lilith herbekommen kann, ohne mein eigenes zu verwenden, ritzt der silberhaarige Vampir mit einem langen Fingernagel eine kleine Wunde in sein Handgelenk. Fragend blicke ich zu Blaise hinüber, der sich etwas zurückgezogen und an die Haustür gelehnt hat, doch seine Augen sind geschlossen. Ich glaube er versucht sich zu beruhigen, vielleicht auch einfach nur wegzuträumen, denn aufgeregt war er auf jeden Fall. Auch wenn ich ihn immer noch nicht ganz durchschauen kann, so erkenne ich doch seine starken emotionalen Regungen, egal wie verzweifelt er auch versucht, sie zu verstecken. Ich frage mich sowieso, wieso er das immer tut... Silencius hat inzwischen seinen Arm zu Lilith' Mund geführt und scheint ihr sein Blut in den leicht geöffneten Mund tropfen lassen zu wollen. Ich wusste nicht, dass Vampire auch das Blut von anderen Vampiren trinken können! Schon nach kurzer Zeit kann ich Lilith' Lippen zucken sehen und etwas später scheint sie Silencius' Blut schon selbst zu trinken. Ich bemerke erstaunt, dass ich die einzige Zuschauerin bin. Blaise hat immer noch die Augen geschlossen, Méridia hat sich abgewandt und Claire starrt auf ihre Schuhe, als seien sie unendlich interessant. Jäh fühle ich mich, als dürfte auch ich nicht zusehen, obwohl ich nicht weiß, was es damit auf sich hat. Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, sehe ich Lilith' Augenlider flattern. Der Vampir mit dem langen Silberhaar hebt Lilith' nun hoch und wendet sich zu mir um. Er hat so stahlblaue Augen, dass mir augenblicklich kalt wird. Auch Lilith' Augen sind einen Spalt breit geöffnet und sie lächelt mich matt , was mir auf eine seltsame Art ein schlechtes Gewissen bereitet. Nun blickt Silencius auf Lilith herab. Diese nickt und der silberhaarige Vampir öffnet die Tür zu ihrem Zimmer und durchschreitet sie. Ich starre noch einige Seknunden lang weiter auf die geschlossene Tür, gehe dann zu Blaise hinüber und berühre ihn vorsichtig am Arm. Er öffnet die Augen und schenkt mir ein Lächeln, das mich traurig macht. Es sieht so niedergeschlagen aus. Ich seufze und lasse mich von Blaise an Méridia und Claire vorbei, die uns beidenn keine Beachtung schenken, in sein Zimmer führen. Gedankenverloren lasse ich mich in meinem Zimmer auf das Bett fallen und starre die Decke an, von der ununterbrochen Regen fällt, der jedoch nie den Boden erreicht. Eine Bewegung der Matraze verrät mir, dass sich Minachi neben mich auf die Bettkannte gesetzt hat. Als ich ihr den Kopf zuwende, kann ich sie kaum erkennen, das Zimmer ist voll mit weißem, kalten Nebel. "Was hast du?", fragt sie mich und starrt mich durch die Dunstschleier hinweg mit einem typisch menschlichen Blick an, der mich schmunzeln lässt. "Nichts", lüge ich. "Nichts?" "Gar nichts" "Und was ist dieses 'Nichts'?" Wieder bringt sie michh zum Schmunzeln. Sie ist klug und wortgewandt und egal was ich mache, ich komme doch nicht an ihr vorbei. Vielleicht ist es das, was mich an ihr so fasziniert. Ich setze mich auf und stütze den Kopf in die Hände. Ungewollt entweicht mir ein leises Seufzen, das Minachi sicher gehört hat. Zumindest taxiert sie mich mit einem Blick, der noch ein Stück besorgter wirkt, als der erste. Ich will sie nicht mit meinen Sorgen belasten und doch werde ich wohl nicht darum herumkommen. Ich lächele matt, eine schlechte Angewohnheit von mir, und beginne ihr zu berichten. Nach einigen Sätzen bemerke ich kaum noch, dass ich mit ihr rede; ich scheine in einer Art Zeitschleife noch einmal durch diesen Tag zu wandern, noch einmal Lilith entgeistertes Gesicht zu sehen, noch einmal den Dunklen Vampir in die Flucht zu schlagen. Die Worte sind nun keine Worte mehr, sie sind Bilder, Gefühle. Umso verwirrter bin ich, als ich geendet habe unnd jäh Stille um mich herrscht. ich spüre Minachis Hand auf meiner Schulter. "Warum belastet dich das so?", fragt sie ernst. Ich scheine ihr das Ganze wirklich erzählt zu haben, Detail für Detail. "Lilith' ist noch so jung. Sie hat keinen Lehrmeister mehr; als Anführer der Vampire des ersten Ranges ist es meine Pflicht auf sie aufzupassen." Erschreckt über mich selbst verfalle ich wieder in tiefes Schweigen. Habe ich doch noch nie mit jemanden über solche Dinge gesprochen - über Gefühle... Minachi öffnet schon wieder den Mund, um etwas zu fragen. Doch ich will keine Fragen mehr hören, nicht jetzt. Ehe sie aussprechen kann, was sie denkt, habe ich sie an mich gezogen und mich mit ihr ins Bett zurückfallen lassen. Gemeinsam blicken wir nun zur Zimmerdecke empor, auf der sich der Himmel langsam lichtet - schweigend. Ich erwache und fühle mich zu schwach auch nur die Augen zu öffnen. Kein Glied mag sich rühren, ich fühle mich wie an den Untergrund, auf dem ich liege, gekettet. Als mir Aufgrund dieses unangenehmen Gefühls ein leises Stöhnen entfährt, spüre ich wie sich jemand in meiner Nähe bewegt. Ein Umhang raschelt. Vielleicht ist es Blaise? Doch ich scheine mich nicht mehr auf dem alten Friedhof zu befinden, es ist zu warm und der Untergrund ist zu weich. Was ist geschehen? Mit Mühe schaffe ich es endlich die Augen zu öffnen und erblicke einen dunkelgrauen Himmel. Ist es für dieses Wetter nicht viel zu warm? Natürlich, ich muss in meinem Zimmer sein - zumindest in einem Zimmer der Vampire des 1. Ranges. Ein düsterer Himmel und doch diese angenehme Wärme - ja, anders kann es nicht sein. Jemand beugt sich über mich und ich erschrecke. "Wer seid Ihr?", habe ich fragen wollen, doch ich bbringe die Worte nicht über meine Lippen. Zu anstrengend der Versuch, zu schwer meine Lippen. Der Fremde starrt mich aus stahlblauen Augen an, die mich zu durchbohren scheinen. ich weiß nicht wieso, doch ich fühle mich als gäben seine Augen eine Antwort auf meine ungestellte Frage. Doch das ist nicht möglich. Vampire können die Gedankenstrukturen anderer Vampire nicht entschlüsseln. Und doch beruhigt mich dieser Blick. Er sagt mir, dass dieser Vampir rechtens hier ist und dass er mir nur Gutes will. "Wie bin ich hier hergekommen? Wieso kann ich mich nicht bewegen?", schaffe ich es endlich zu sagen. Meine stimme klingt krächzend und überhaupt nicht nach mir. Einen Moment lang denke ich, der fremde Vampir will mich nur weiterhin stumm anstarren, doch dann spricht er zu mir: "Blaise hat dich hergebracht." Seine Stimme lässt mir einen warmen Schauder über den Rücken laufen. Er spricht mit einem sanften, kaum merklichen Akzent und seine Stimme ist die zarteste, die ich je gehört habe; sie scheint jede Sekunde zerbrechen zu können. "Mein Name ist Silencius", fügt er nach einigen Sekunden noch eine Spur leiser als zuvor hinzu. Ich versuche mit der Bewegung meiner Augen ein Nicken anzudeuten und bringe ihn dabei zum schmunzeln. Er sieht wirklich sehr nett aus, wenn er lächelt. Zuerst hat er auf mich einen kalten, fast schaurigen Eindruck gemacht - vielleicht liegt das an seinem langen Silberhaar und seinen so blauen Augen. Jäh tritt Silencius aus meinem Sichtfeld. Aus Neugier blicke ich ihm nach und schaffe es dabei tatsächlich den Kopf zu wenden. "Wohin geht Ihr?", frage ich. Diese Frage mag ihm unhöflich erscheinen, doch sie entsprang nur reinem Interesse und vielleicht auch dem Wunsch jetzt nicht allein zu sein. Doch Silencius scheint sein Pensum an Gesprächigkeit für den heutigen Tag ausgeschöpft zu haben, denn als Antwort erhalte ich wieder nur einen seiner tiefgründigen Blicke, bevor er durch die Tür verschwindet. Ich bleibe in tiefer Stille zurück, die mich zum Nachdenken verleitet. Blaise hat mich also hier hergebracht. Aber wieso? Was ist geschehen? Ich lege die Stirn in Falten. Die karge Wand, auf die ich starre, seit Silencius den Raum verlassen hat, nehme ich kaum noch war. Verzweifelt versuche ich mich zu erinnern. Wieso passiert so etwas immer nur mir? Es ist bereits das zweite Mal, dass ich einen ganzen Tag einfach vergesse. Durch meine Verzweiflung angespornt, konzentriere ich mich stärker auf den vorigen Tag. Kälte und Schmerz.... Ich bin diesem schwarzen Vampir begegnet – wie war sein Name? Gabriel! Aber wieso? Natürlich, Blaise wollte mir die Zentrale zeigen aber... Mein Traum. Wegen diesem Traum ist das alles passiert. Ich habe Sean getroffen. Sean... Mein Herz scheint einige Sekunden auszusetzen. Das Bild von Sean und einem mir fremden Mädchen brennt sich erneut in meinen Kopf. Ein Klopfen an der Tür schreckt mich auf und lässt mich alles zuvor gedachte vergessen. „Wer ist da?“, frage ich mit meiner kratzigen Stimme, an die ich mich wohl werde gewöhnen müssen. Die Tür wird einen Spalt breit aufgedrückt, sodass ich eine von rotem Stoff bedeckte Schulter und ein paar silberne Haarsträhnen erkennen kann. „Kommt rein“, sage ich heiser, nachdem ich Silencius erkannt habe. Wie geheißen betritt dieser den Raum und schließt die Tür hinter sich. Im Arm hält er einen Hasen, den er mir nun reicht. Überrascht greife ich nach dem Tier und erlebe eine weitere Überraschung: Meine Arme lassen sich bewegen – wenn auch nicht ganz schmerzfrei. Silencius war also auf der Jagd. Gedankenverloren streiche ich durch das Fell des toten Tiers. Ich weiß nicht wieso, doch ich muss in diesem Moment an meinen Lehrmeister Sven denken. Das erste Wesen, dessen Blut ich getrunken hatte, ist ein Hase gewesen. Ich muss lächeln, als ich mich daran erinnere, wie ich Sven gebeten habe, den Hasen zu begraben. Erst jetzt bemerke ich Silencius' Blick, der abschätzend auf mir ruht und mir wird klar, wieso ich mich nicht so gut bewegen kann. Meine Adern brennen, es ist mir kaum aufgefallen. Wie lange habe ich kein Blut mehr getrunken? Ich schüttele den Kopf und damit auch meine Gedanken ab, entblöße meine Eckzähne und durchtrenne damit das zarte Hasengewebe. Nach einiger Zeit hebe ich den Kopf und wische mir mit dem Handrücken einen Bluttropfen von den Lippen. Fragend blicke ich Silencius an, doch dieser schüttelt den Kopf. Er hat diesen Hasen also nur für mich mitgebracht. Ohne weiter darüber nachzudenken, versenke ich meine Zähne erneut in dem Tier und trinke, bis kein Tropfen Blut mehr übrig ist. Ein angenehmes Gefühl durchfährt meinen Körper. Es fühlt sich an, als würden meine brennenden Adern mit der warmen Flüssigkeit gelöscht werden. Meine Sinne scheinen sich zu Überschlagen und warme Dunkelheit empfängt mich. Schnaubend lege ich das Buch zur Seite, in dem ich eigentlich nicht einmal ernsthaft gelesen habe. „Claire?“, frage ich, die Stirn in Falten. Claire, die vor mir auf dem Boden sitzt und meditiert, hebt den Kopf. „Méridia?“, ist ihre trockene Antwort. „Wie sollen wir so gegen die Dunklen Vampire bestehen? Jeder kümmert sich nur noch um seinen eigenen Kram! Lilith ist viel zu jung für eine solche Aufgabe und Blaise? Der kümmert sich nur noch um dieses Menschenkind und vernachlässigt seine Pflichten. Das ist sowieso das letzte! Ein Menschenkind in der 'Villa'! Was soll das?“, entrüste ich mich. Ich bin kein Mensch, der seine Gedanken gerne für sich behält. Vielleicht halten mich deshalb viele für unsympathisch, aber das ist mir egal. „Ich weiß nicht“, ist Claires Antwort, die mich fast zur Weißglut bringt. „Und es scheint dir ja auch ziemlich egal zu sein!“, fahre ich sie an. Claire wendet den Kopf ab und antwortet nicht. Diese Reaktion ist das letzte, was ich erwartet habe. So kenne ich sie gar nicht. „Claire?“, hake ich dieses mal etwas sanfter nach, warte jedoch keine Antwort ab. Ich rutsche von dem Stuhl, auf dem ich gesessen habe, sodass meine Füße nun endlich wieder den Boden berühren und gehe ein paar Schritte auf sie zu, um mich dann neben ihr auf dem Boden niederzulassen. Was ich nun erblicke, erstaunt mich mehr als alles, was ich in den letzten Wochen in diesem verrückten Haus erlebt habe. Claire hat die Augen geschlossen, doch ihre Wangen schimmern feucht. Eine Strähne ihres braunen Haares fällt ihr vors Gesicht und ich streiche sie weg. „Claire? Weinst du?“, frage ich vorsichtig und sehr leise. Blitzschnell schlägt sie die Augen auf und funkelt mich aus feuchten Augen halb verzweifelt, halb zornig an: „Wieso hat er ihr von seinem Blut gegeben?!“ Ich verschränke die Arme. „Weil er der einzige von uns ist, der mächtig genug ist“, gebe ich schlicht zurück. „Das ist nicht Recht!“, braust Claire erneut auf. „Es schafft tiefe Bänder zwischen den Herzen...“, fügt sie wesentlich leiser und bedrückter hinzu, „Er hätte das nicht tun müssen – niemand hätte ihn gezwungen!“ Und damit springt sie auf, verlässt den Raum und schlägt die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Ich bleibe zurück und hänge meinen Gedanken nach. Bevor Lilith dem 1. Rang beigetreten ist, gab es nie Probleme. Die Vampire des 1. Ranges waren immer eine Einheit, die sich gegenseitig unterstützt und die sich nicht um Außenstehende geschert hat. Das hat uns stark gemacht. Was ist nur geschehen? Was ist los mit diesem Haus? Als ich erneut erwache, stelle ich erstaunt fest, dass meine Glieder mir ausnahmslos zu gehorchen scheinen. Erfreut schlage ich die Augen auf und blicke mich um. Silencius ist nicht gegangen, während ich geschlafen habe. Er hat sich einen Stuhl an mein Bett gerückt und ist mit dem Oberkörper auf der Matratze ebenfalls eingeschlafen. Sein langes Silberhaar ist wie ein Fächer aus feiner Seide auf dem Laken ausgebreitet und glitzert im Mondlicht, das von der Zimmerdecke herabscheint. Ich lege den Kopf leicht schräg und strecke die Hand aus, um dieses schimmernde Haar zu berühren, halte jedoch ein. Wie Silencius so darliegt, erscheint er mir so anmutig und zerbrechlich wie ein Einhorn, wie eine Blume, die welkt, wenn man sie berührt. Schon im nächsten Augenblick frage ich mich, wieso mir Silencius' Anwesenheit nicht unangenehm ist, wieso ich – die ganze Zeit schon - auf ihn reagiere wie auf einen alten Bekannten, nicht wie auf einen Fremden. Ich winkele die Beine an und umschlinge sie mit meinen Armen, den Kopf lege ich auf meine Knie. So wache ich über Silencius' Schlaf, bis er erwacht. by Lilly Hidomi www.goldenelettern.de.vu Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)