Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 20: ------------ "Mamoru? Komm, Du Schlafmütze, steh endlich auf", sagte Kioku leise in sein Ohr. "Nur noch fünf Minuten", tönte es dumpf irgendwo aus den Tiefen zwischen dem Kopfkissen und der Decke. "Das sagst Du jetzt schon seit einer halben Stunde", seufzte Kioku. Doch so, wie Mamoru seinen Kopf unter der Decke vergrub, konnte er nicht sehen, dass ein verständnisvolles Lächeln die Lippen seiner Tante umspielte. Sie beugte sich herunter und begann, ihn am Ohr zu kribbeln. Quietschend zog er die Decke ganz über den Schädel, bis nur noch einige lange Haarsträhnen hervorlugten. "Lass das gefälligst!", schimpfte die Decke mit Kioku. Kichernd und vorsichtig arbeitete sie ihre Finger unter die Decke und tastete nach seinen Rippen. Endlich dort angelangt kitzelte sie ihren Neffen durch und sagte immer wieder: "Hab Dich! Kommst Du jetzt raus? Na? Ergibst Du Dich? Stehst Du jetzt auf?" Mamoru schrie auf, rollte sich auf dem Bett hin und her, lachte, kicherte, gab glucksende Geräusche von sich und schließlich rief er: "Also gut! Ich gebe auf! Ich gebe auf!" Endlich schlug er die Bettdecke zurück. Er wollte seiner Tante einen bitterbösen Blick zuwerfen, aber das ging schon bald in einem breiten Grinsen unter. Seine dunkelblauen Augen strahlten vor Freude und Lebenslust. Die Narbe über seinem rechten Auge war in den letzten paar Tagen sehr gut verheilt, das Auge selbst war so weit abgeschwollen, dass er wieder normal schauen konnte, wenn auch noch immer ein dunkler Rand zu sehen war. Außerdem hatte Kioku ihn - man konnte es nicht anders ausdrücken - gemästet wie ein Schwein. Nicht, dass man ihn jetzt hätte als dicklich bezeichnen können - das war er nie gewesen. Doch von seinem kräftezehrenden Kampf gegen das Fieber war nun nichts mehr zu merken. Und Mamoru schaufelte in letzter Zeit wirklich Futter für Zwei in sich hinein. Er setzte sich im Bett auf, versuchte ein Gähnen zu unterdrücken, was aber nicht recht gelingen wollte und reckte die Glieder. Kioku setzte sich zu ihm und nahm ihn behutsam, fast schon zärtlich in die Arme. "Huch", heuchelte er Überraschung vor und lächelte dabei amüsiert, "womit habe ich denn das verdient?" "Ach, nur so", nuschelte Kioku vor sich hin. "Ich bin bloß so froh, dass Du wieder gesund bist." Beruhigend strich er über ihren Hinterkopf und fuhr mit seinen Fingern durch ihre langen, pechschwarzen Haare. Hinter seinem Rücken spürte er eine Bewegung, als würde sich Kioku hastig über ihre Wangen fahren. "Ist was?", fragte er unsicher, löste sich behutsam aus ihrer Umarmung und sah sie fragend an. Ihre Augen schimmerten feucht und ihre Wangen glitzerten leicht. "Ach was", wehrte sie ab. Ihre Stimme klang etwas unsicher und hoch. "Ich hab nur... nur zu viel Parfüm drauf. Das juckt in den Augen, fällt mir grad so auf." Mamoru nickte schelmisch grinsend. "Ja, sicher doch." "Wie dem auch sei", meinte Kioku um dem Thema aus dem Weg zu gehen. "Jedenfalls solltest Du Dich jetzt anziehen. Frühstück steht schon auf dem Tisch." Mamoru warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Darauf meinte er: "Frühstück? Es ist zehn Uhr, das läuft dann ja eher unter Spätstück, findest Du nicht?" "Spaßvogel", lachte Kioku, strubbelte ihm durch die Haare und ging dann in die Küche. "Und zieh Dich endlich an!", rief sie ihm noch zu. Genau das tat er dann auch, und einige lange Minuten später saß er in der Küche am Tisch und mampfte fröhlich Brötchen um Brötchen in sich hinein. "Beeil Dich, Kurzer", meinte Kioku mit einem Blick auf die Armbanduhr an ihrem zierlichen Handgelenk. "Hmpf?", nuschelte Mamoru mit vollen Backen vor sich hin. Er zerkaute das Gröbste, schluckte es hastig herunter, lagerte einen Großteil in seinen Backen, was ihm irgendwie entfernt das Aussehen eines Hamsters verlieh und brachte endlich unter großen Anstrengungen hervor: "Beeilen? Wieso denn das? Heute ist es schon viel zu spät am Tag für die Schule. Ich kann ja morgen wieder gehen, hm?" Während er die Backen wieder etwas leerte, um weiter auf dem Inhalt herum zu kauen, nahm er sich schon das nächste Brötchen und bearbeitete es. Das letzte Mal war er am Mittwoch vor einer Woche in der Schule gewesen, und das nur eine klägliche Stunde lang. Inzwischen war es Donnerstag. Damals, an diesem Tag, als seine Krankheit begonnen hatte, war er immer wieder zusammengebrochen und sein mysteriöses Fieber hatte angefangen. Noch immer konnte sich Mamoru nicht wirklich erklären, woher es gekommen war und was es zu bedeuten gehabt hatte. War der Grund etwa der Kampf gegen Chikara und dessen Speichellecker gewesen? Immerhin hatte Mamoru daraufhin lange Zeit im Schnee verbracht, und er war schon immer schwer anfällig gegen die Kälte gewesen. Oder hatte es eher etwas mit diesem geheimnisvollen Silberkristall zu tun gehabt? Die Stimme der Unbekannten hatte etwas vom Erwachen des Herrn der Erde gesagt, und daraufhin hatte Mamoru unerträgliche Schmerzen verspürt, bei jedem schwereren Erdbeben, das diesen Planeten durchgeschüttelt hatte. Das konnte unmöglich ein Zufall gewesen sein. Und doch... war so was überhaupt möglich? Ein Mensch, der das Leid der Erde spürt? Ein Herr der Erde? Was gab es noch für Geheimnisse, um die Mamoru nichts wusste? Nur eine Tatsache stand augenblicklich im Raum: Mit den abklingenden Erdbeben hatten auch Mamorus Schmerzen gleichmäßig nachgelassen, und waren - zusammen mit dem Fieber - völlig verschwunden. Und noch etwas nagte an Mamoru, das er zu verstehen absolut nicht imstande war: Er hatte wahrhaftig versucht, sich das Leben zu nehmen. Er wusste im Nachhinein nicht einmal mehr zu sagen, weshalb! Und noch dazu war nur kurz darauf im Fernsehen von einer Flutkatastrophe berichtet worden, die sich wohl irgendwo in den USA zugetragen hatte... Was war das? Zufall? Schicksal? Oder womöglich die Kraft des Heiligen Silberkristalls, von dem Mamoru nicht einmal sagen konnte, ob seine Macht von guter oder von böser Natur war? Schnell wie ein Blitz und auch ungefähr genau so schmerzhaft zuckten all diese Gedanken durch seinen Kopf und nahmen seine volle Konzentration in Anspruch. Es war fast, als hätte sich eine gewaltige, dämonische Hand um sein Gehirn gelegt und fest zugedrückt, um keinen anderen Gedanken zuzulassen. Aber nur ganz kurz; diese schier gewaltige Flut an Informationen und Fragen hatten nicht mal eine Nanosekunde in Anspruch genommen und waren beinahe ebenso schnell aus seinem Kopf verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Was übrig blieb war nur dieses unangenehme Gefühl, dass da etwas Fremdes und vielleicht sogar Gefährliches war, das sich aber versteckt hielt wie ein wildes Tier. Ein sehr geduldiges, blutrünstiges Tier. Endlich konnte er sich wieder auf seine Tante konzentrieren, und das gerade rechtzeitig, um ihre Antwort mitzubekommen: "Ach, Quatsch, Schule! Hast Du schon wieder vergessen, was wir beiden Hübschen heute vorhatten?" "Ja", antwortete er kauend, "das hab ich ganz offensichtlich vergessen. Also?" Kioku seufzte. "In Zukunft werde ich Dir immer ein Ohr zuhalten, wenn ich mit Dir rede, damit es nicht zum einen Ohr rein und zum andren wieder raus geht. Ich wollte Dich doch heute zur Friseurin mitnehmen! Das hab ich Dir aber schon ein paar Mal gesagt!" "Hm...", stellte er kauend fest. "Ja, da war was." "Meine Nerven!", stöhnte Kioku und massierte mit beiden Händen ihre Schläfen. "Jedenfalls solltest Du in fünf Minuten fertig sein, dann gehen wir los." Diesmal schluckte Mamoru zuerst, fragte dann "Schon?" und biss erneut in sein Brötchen. "Ja, schon! Mach hin, Kurzer, na los!" Bewaffnet mit einer handvoll alter Fotos von Mamorus Vater Keibi als Modell für die Frisur gingen sie endlich los. Und eigentlich hätten sie nur etwa eine Viertelstunde Fußmarsch gehabt, wäre Kioku nicht immer wieder staunend und seufzend vor irgend welchen Schaufenstern stehen geblieben. "Und mir sagst Du, ich soll mich beeilen", brummte Mamoru. "Ja", antwortete sie schnippisch, ohne auch nur einen Blick vom Schaufenster des Schuhgeschäfts zu nehmen, "das hab ich gesagt, damit ich Zeit habe für nen Bummel!" So leise, dass sie es vielleicht gerade noch so hätte hören können murmelte er: "Weiber!" Er schlenderte zum benachbarten Geschäft, einem Buchladen, und sah sich desinteressiert die Auslagen an. Kochbücher, Kinderbücher und Wörterbücher. Die wirklich interessanten Stücke wurden hier nicht ausgestellt. Das wusste Mamoru gut, er war oft und gern hier und stöberte herum. Aber im Augenblick war er einfach nur ungeduldig. Ohne sich zu ihr umzudrehen rief er seiner Tante zu: "Kommst Du endlich?" "Aber ich bin doch schon da, Süßer", raunte ihm eine tiefe Stimme zu. Erschrocken drehte er sich um und nur mit Mühe konnte er einen Schrei unterdrücken, als er realisierte, wer da neben ihm stand. "Chikara! Du hier? Was... Wie... Warum... Was tust Du hier?" "Sind ziemlich viele Fragen auf einmal, findest Du nicht?", antwortete der Blonde gelassen und kratzte sich am Kinn. Er grinste, aber sein Blick war so kalt, dass Mamoru am liebsten einen ganzen Haufen Salz um sich gestreut hätte, um nicht sofort festzufrieren. "Was ich hier mache?", griff Chikara das Thema wieder auf, als Mamoru mit keinem Muskelzucken reagierte. "Die Doppelstunde Kunst fällt aus. Aber wenn der Lehrer so todsterbenskrank ist wie Du, dann muss ich mir um ihn ja wohl keine Gedanken machen, was?" Er lachte leise, aber ohne eine Spur von Humor. "Ich wollte mir nur die Zeit ein wenig vertrödeln. Und was tust Du hier? Einkaufsbummel? Ist ja hoch interessant!" "Ich hab einen Termin", nuschelte Mamoru ausweichend. "Beim Arzt oder bei einem Totengräber?", fragte Chikara in spöttischem Ton nach. "Was willst Du?", erkundigte sich Mamoru. Nervosität machte sich in ihm breit. Hektisch fuhr er mit der Zungenspitze über seine Lippen. Ein kaum merkliches Funkeln ging durch Chikaras silbergraue Augen. Mehr denn je glich er mit seinem selbstsicheren Gesichtsausdruck einem Wolf, der mit tödlicher Sicherheit wusste, dass er seine Beute schwer getroffen hatte und die Jagt nun zu Ende war. "Ich will meine Schulden begleichen. Du erinnerst Dich sicherlich. Vor etwas mehr als einer Woche hast Du meine Haut beschützt. Und ich stehe nicht gerne in Deiner Schuld. Nun bin ich dran, Dir was Gutes zu tun", entgegnete er geheimnisvoll. Trotz Aufregung versuchte Mamoru, es locker anzugehen: "Du überlässt mir Hikari freiwillig?" Schlagartig verschwand das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht des Blonden und wich einem düsteren, bösartigen Gesichtsausdruck. "Ich schulde Dir einen Gefallen, und nicht gleich ein ganzes Leben in Sklaverei und Stiefelleckerei, Du Null!", knurrte er, und es erinnerte wirklich stark an einen knurrenden Wolf. "Was dann?", wollte Mamoru wissen. Er klang dabei nicht halb so abfällig wie es geplant war, aber zumindest konnte er einen Gutteil seiner Aufregung und seines gewaltigen Respekts verbergen. Chikaras Augen blitzten kurz auf vor Zorn. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet, auf so viel Gelassenheit und Widerstand zu stoßen. Aber es konnte ihm egal sein. Für ihn war Mamoru absolut kein Gegner. Er fing sich schnell wieder, und das eiskalte, gefühllose, ja schier unmenschliche Grinsen kam in sein Gesicht zurück. "Ich drücke es mal so aus." Chikara war sehr bedacht mit seiner Wortwahl. "Ich kann mir gut vorstellen, dass es den einen oder anderen Lehrer gibt, den es brennend interessieren würde, was Du so treibst, wenn Du mal nicht in der Schule bist." Er kam näher, blieb dicht vor Mamoru stehen und bückte sich herunter, um mit ihm auf etwa der gleichen Höhe zu sein. Dann fuhr er fort: "Von mir wird natürlich keiner auch nur ein Sterbenswörtchen erfahren. Unter einer Bedingung: Zwischen uns wird alles wieder so wie früher. Ich hab das irgendwie cool gefunden. Du gibst einen prima Sandsack ab. Hat Dir das schon mal jemand gesagt?" "Zuviel der Ehre", spöttelte Mamoru, doch damit konnte er Chikara nun nicht mehr reizen. "Also abgemacht?", fragte Chikara und hielt Mamoru die Hand hin. "Abgemacht", antwortete Mamoru und schüttelte Chikaras riesige Pranke. Grinsend drückte Chikara viel fester zu als nötig gewesen wäre, doch Mamoru versuchte den Schmerz zu ignorieren und verzog keine Miene. "Das finde ich toll, Chiba. Also, wann darf ich Dich wieder im Unterricht sehen, mein liebster Klassenkamerad?" Chikaras Stimme troff nur so vor Sarkasmus. "Morgen", antwortete Mamoru kurz. "Ich freu mich schon drauf. Und wehe, Du kommst nicht! Willst mich ja nicht hängen lassen, was? Würde Dir auch nicht gut bekommen. Mach's gut, Pfeife!" Chikara winkte zum Abschied und zog lachend von dannen. Endlich konnte Mamoru aufatmen. Ihm zitterten die Knie ein wenig und sein Herz machte riesige Sprünge in seiner Brust, aber im Großen und Ganzen war nichts wirklich Schlimmes passiert. Was Mamoru bloß störte, war die Tatsache, dass sein Bonus jetzt flöten war und er seinen Feind nicht mehr in der Hand hatte. Wie gewonnen, so zerronnen. Aber irgendwie war das klar. Mamoru konnte einfach kein Glück haben. Er wandte sich seiner Tante zu, die in ein paar Metern Entfernung dastand und ihn fragend ansah. Dann kam sie auf ihn zu. "Hat Dir der Kerl irgendwas getan?", erkundigte sie sich vorsichtig. Zaghaft lächelnd schüttelte Mamoru den Kopf. "Mach Dir da mal keine Gedanken. Es ist nichts passiert." Kioku warf einen boshaften Blick in die Richtung, in der Chikara verschwunden war. "Ich trau diesem Kerl nicht. Er ist so... na, Du weißt schon... Wenn ich ihn sehe, denke ich automatisch an riesige Fangzähne und messerscharfe Krallen." Mamoru antwortete nicht laut auf ihre Aussage sondern drehte sich nur um und lief weiter. Zwei Sekunden später folgte ihm seine Tante und fragte: "Was hat er eigentlich von Dir gewollt?" "Hallo sagen", meinte Mamoru knapp. "Auf den Arm nehmen kann ich mich selber!", schnappte Kioku. "Ja? Das Kunststück will ich sehen", brummte ihr Neffe. "Nicht hier in der Öffentlichkeit. Das kann ich nachher machen, wenn wir zu Hause sind", spottete sie. "Und jetzt sag mir, was das gerade sollte. Was war das für ein Handschlag?" Genervt blieb Mamoru wieder stehen und Kioku wäre fast in ihn hineingerannt. Er sah ihr tief in die Augen und wollte eigentlich drohend wirken, aber er war einfach noch zu aufgeregt. Kioku starrte einfach nur einige Herzschläge lang zurück, und bald wandte er betreten den Blick wieder ab und seufzte. "Bitte, lass das meine Sache sein, ja? Ich finde, ich bin alt genug, Dir nicht mehr alles erzählen zu müssen." Einige Sekunden lang war es still. Sehr still. Schließlich seufzte auch Kioku, setzte ein warmes Lächeln auf und tätschelte die Schulter ihres Neffen. "Schon Okay. Wenn Du nicht willst, dann musst Du nicht. Aber Du kannst immer zu mir kommen, wenn Du es Dir anders überlegst oder wenn Du in Schwierigkeiten gerätst, ja?" Er nickte ihr zu. "Gehen wir weiter?" "Ist gut, Kurzer. Wir haben wirklich genug Zeit vertrödelt." Wenige Minuten später erreichten sie den Friseursalon. Der Laden setzte weniger auf Moderne, dafür umso mehr auf persönliche Nähe. Er war mit gemütlichen Möbeln eingerichtet, an den Wänden hingen wunderschöne Fotos von Blumen oder von Landschaften und es gab auch nicht sehr viele Sitzplätze, nicht mal ein halbes Dutzend. Mamoru war durchaus Größeres gewohnt. Dieser Salon hatte etwas Persönliches, es fühlte sich schon fast wie ein Zuhause an. Eine Dame mit kurzen, roten Haaren kam heran und begrüßte Kioku und Mamoru höflich lächelnd. Kioku nannte Mamorus Namen und sagte, er habe einen Termin, worauf die Rothaarige Mamoru zu seinem Platz führte. Er bedankte sich, setzte sich dann hin und sah sich staunend um, während Kioku sich auf einer gemütlich anmutenden Sitzecke niederließ und unverzüglich nach einer der vielen Zeitschriften griff, die auf einem kleinen Couchtisch ausgelegt waren. Außer Mamoru war nur ein weiterer Kunde anwesend: eine ältere, dickere Frau, die unablässig irgendwas erzählte von ihren Enkelchen, ihrem Hund und dem unverschämten Nachbarn, während ihr die Haare geschnitten wurden. Mamorus Blicke schweiften weiter durch den Raum und blieben an einem außergewöhnlichen Foto haften. Darauf war eine wunderschöne, rote, geschlossene Rosenblüte zu sehen, die über und über von weißen, glitzernden Eiskristallen überzogen war. Mamoru war absolut fasziniert von diesem Bild. Eigentlich hatte er sich nie sehr viel aus Blumen gemacht, aber diese Rose war so atemberaubend schön und sie wirkte irgendwie sanft und beruhigend auf ihn. "Gefällt Dir dieses Bild?" Erschrocken wandte er den Kopf und sah eine bildhübsche, junge Frau neben sich stehen, die einen der typischen Kittel des Salons trug. Ihr blondes, leicht gewelltes Haar war außergewöhnlich lang und es schimmerte golden. Ihre großen, hellblauen Augen ruhten auf Mamoru und musterten ihn amüsiert. Sie mochte Mitte Zwanzig sein, die perfekte Mischung zwischen der funkensprühenden Lebensenergie der Jugend und der Weiblichkeit und Reife einer Erwachsenen. Sie war, wie die Rose auf dem Foto, atemberaubend schön und - es gab kein besseres Wort dafür - perfekt!!! Irgendwann realisierte Mamoru, dass er diese Frau einfach nur sekundenlang wortlos angestarrt hatte - und sofort bekamen seine Wangen einen deutlichen Rotschimmer. "Äh, ja! Ähm, ich finde das Foto ganz toll. Es ist... wirklich wunderschön", stammelte er los, einfach um irgendwas zu tun. Die Frau kicherte amüsiert. "Na, dann wollen wir doch als nächstes mal schauen, was wir für Dich tun können... Mamoru, das ist Dein Name, richtig?" "Äh, ja, richtig", antwortete er eine Spur zu hastig. Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und sagte: "Mein Name ist Tomoko. Freut mich, Dich kennen zu lernen." "Die Freude ist ganz meinerseits." Mamoru erwischte sich dabei, wie er schon wieder diese Frau fasziniert anstarrte. Er hoffte nur inständig, dass sie es nicht bemerkte. "So", machte Tomoko, entfernte vorsichtig das Haargummi, das - wie immer - Mamorus Frisur zusammengehalten hat und fuhr ihm dann vorsichtig durch die langen Haare. Erst nur grob mit den Fingern, dann mit einer weichen Bürste. Für einen kurzen Moment machte Mamoru die Augen zu und genoss die sanften Berührungen. "Mamoru, Du hast wunderschöne Haare. Und was soll ich jetzt daraus machen?", erkundigte sich Tomoko. Mamoru zauberte die Fotos seines Vaters hervor und reichte sie Tomoko. "Diese Frisur hätte ich gerne." Einen Moment lang betrachtete Tomoko die Bilder. "Haargenau diese Frisur?", witzelte sie. Mamoru lachte. "Ja, haargenau diese Frisur. Aber jetzt sollten wir mit dieser Haarspalterei aufhören. Sonst wird das ganze eine zu haarige Angelegenheit. Meinst Du nicht?" "Hast ganz schön Haare auf den Zähnen", antwortete sie lachend. "Ist das Dein Vater?" "Was?" Er sah sie entsetzt an. Die heitere Stimmung war im Nu verflogen. "Na, das auf dem Foto. Ist das Dein Vater? Ich meine ja nur. Der sieht Dir nämlich verdammt ähnlich", erklärte Tomoko. "Ähm", machte Mamoru, "nein. Äh, doch. Also... er war mein Vater." "War?", fragte sie nach. "Bitte vergiss es einfach", wich er aus. Er seufzte schwer. Tomoko druckste etwas herum. Dann meinte sie: "Tut mir Leid, wenn ich zu aufdringlich war." Mamoru nickte stumm. Tomoko setzte wieder ihr Lächeln auf, obwohl es diesmal so antrainiert und kühl wirkte. "So, als erstes werde ich Deine Haare mal waschen. Folge mir bitte." Vor einem niederen Waschbecken ließ sich Mamoru in einen weichen Ledersessel fallen. Es tat ihm gut, sich einfach mal zurückzulehnen, das warme Wasser auf seinem Kopf und die sanfte Massage zu spüren, die Tomoko ihm gab während sie seine Haare wusch. Schon bald war sein Anflug von Traurigkeit verflogen und er konzentrierte sich ganz darauf, die angenehmen Berührungen zu genießen. Überhaupt, was hätte es gebracht, jetzt darüber nachzusinnen, wie einsam sich Mamoru fühlte, seit er seine Eltern und sein Gedächtnis verloren hatte? Ein angenehmes Gefühl von Wärme breitete sich in seinem Körper aus, und er begann schläfrig zu werden. Seine Glieder wurden so schwer und er musste schon richtiggehend darum kämpfen, nicht einzuschlafen. "Mamoru?" Er zuckte zusammen. "Was? Ja?", fragte er. "Entschuldige, ich wollte Dich nicht erschrecken. Wie ist die Wassertemperatur? Angenehm?" "Ja, ist gut so", antwortete er. Immerhin war er jetzt wieder wach. Er atmete tief durch. "Bist Du Dir sicher, dass Du die Haare so extrem kurz haben möchtest?", erkundigte sich Tomoko. "Klar, wieso nicht?", meinte er. "Ich meine ja nur. Du hast so lange Haare, bestimmt lässt Du sie schon seit einigen Jahren wachsen, hab ich Recht? Und da ist es eine große Umstellung, auf einmal so kurze Haare zu haben", erklärte sie. "So kurz kommt mir das alles gar nicht vor", erwiderte er nachdenklich. "Ich meine, im Vergleich zur jetzigen Länge ist diese Frisur, die Du mir auf dem Foto gezeigt hast, ziemlich kurz", erläuterte sie. "Trotzdem", meinte er bestimmt, "ich will es genau so. Und keinen Millimeter Abweichung!" "Okay", antwortete sie darauf, "dann bin ich mal gespannt, wie es hinterher aussieht." Nach dem Waschen trocknete Tomoko kurz seine Haare an und setzte ihn wieder auf den Stuhl, auf dem er schon zu Anfang gesessen hatte. Sie legte ihm eine Art Kittel um, der seine Kleider vor den abgeschnittenen Haaren schützte. Und dann nahm sie endlich die Schere zur Hand. Mamoru fühlte sich so wahnsinnig wohl und behaglich unter ihren Berührungen. Zum einen war er natürlich aufgeregt und neugierig; er wollte unbedingt so schnell wie möglich das Endergebnis sehen. Zum andren aber genoss er die Anwesenheit dieser bezaubernden Frau, die Sanftheit und Ruhe, die von ihr ausgingen und die sanften Bewegungen ihrer Finger, mit denen sie unablässig durch seine Haare fuhr. Immer mal wieder griff sie vorsichtig an sein Kinn, um die Haltung seines Kopfes an ihre Arbeit anzupassen. Schon bald begann zwischen den Beiden der Smalltalk. Man erzählte sich dies oder jenes. Mit wachsender Begeisterung beobachtete Mamoru die Veränderungen, die ihm sein Spiegelbild zeigte. Doch nicht nur seine Frisur hatte er im Blick, oh nein! Er beobachtete gebannt jede einzelne Bewegung Tomokos. Nicht ein Zucken entging ihm. Sie erledigte ihre Arbeit flink und mit wahnsinnigem Geschick - zugleich war sie vorsichtig und einfach nur ... wie konnte man das beschreiben? ... liebreizend. Eine angenehme Wärme durchströmte Mamorus Körper. Trotz der fremden Umgebung fühlte er sich außerordentlich wohl und geborgen. Immer öfter wurde seine Fähigkeit, logisch zu denken, ausgeschaltet. Stattdessen fühlte er eine unglaubliche Anziehung zu diesem blonden Busenwunder mit diesen schönen, vollen Lippen. Die langen, tiefschwarzen Wimpern verdeckten fast unablässig den Blick in ihre atemberaubenden, hellblauen Augen, und dennoch glaubte Mamoru, dass sie immer wieder einen verführerischen Blick auf sein Spiegelbild warf. Er bekam nur noch so halb mit, dass er auf ihre Fragen etwas antwortete, aber er hätte schon längst nicht mehr zu sagen gewusst, was genau er da sagte. Er fühlte sich wie unter einem Zauberbann gefangen - einem sehr angenehmen Zauberbann. Es war ein unglaubliches Gefühl der Nähe und der Zärtlichkeit. Und sein Körper reagierte darauf. Heftig. Seine ausgebeulte Hose wurde nur von dem langen Kittel verdeckt, der bis zu den Knien hinunter reichte und auf dem hier und da ein paar Haarbüschel lagen. Mamoru focht einen harten Kampf aus zwischen seinem Verstand, der darauf aus war, seine Erregung um jeden Preis geheim zu halten, und seinem Körper, der schier nach diesem Prachtexemplar der Weiblichkeit schrie. Und so langsam sah es nach einer Niederlage für den Verstand aus. Sieg für das zweite Gehirn knapp unter der Gürtellinie durch Knock-out. Seine Hände hielt er unter dem Kittel. Doch entgegen allem Anschein hatte er sie nicht einfach ruhig daliegen - nein! Sie krallten sich in den Seiten seiner Jeans ein. Er spannte seine sämtlichen Muskeln an, in der Hoffnung, sich auf diese Art und Weise unter Kontrolle halten zu können. Eine zeitlang schien diese Methode sogar vielversprechend. Doch zu oft trügt der Schein. Mamoru bemühte sich darum, ruhig zu atmen. Doch wem könnte etwas Derartiges leicht fallen - mit einer wunderschönen Frau in unmittelbarer Nähe, die einem unablässig durch die Haare fährt und dabei eine Frage nach der anderen stellt? Und er konnte weder irgendwas antworten, noch die Fragen unbeantwortet lassen. Ihm fiel es schwer, so unendlich schwer, sich auf die Unterhaltung und auf seine Körperfunktionen gleichzeitig zu konzentrieren. Sein Spiegelbild verriet ihm, dass seine Wangen bereits einen kräftigen, roten Farbton angenommen hatten. Noch dazu begannen seine Muskeln allmählich, leicht zu zittern; teils vor Anstrengung, teils vor Erregung. Und teilweise aufgrund einer gewissen Vorfreude. Die Vorfreude auf Befriedigung und Ekstase. Ein uralter Instinkt, der existiert hatte, lange bevor das moralische Denken da gewesen war. Und der noch heute nichts von seiner Stärke und seiner ungezügelten Macht verloren hatte. Mit letzter, verbliebener Konzentration zwang sich Mamoru dazu, den Rhythmus seiner Atmung zu kontrollieren. Sein Spiegelbild interessierte ihn schon lange nicht mehr. Er sah nur noch sie; sie, wie sie beim Sprechen und beim Lächeln die Lippen bewegte; sie, wie sie mit den langen, schlanken Fingern durch seine immer kürzer werdende Frisur fuhr; sie, wie sie ein- und ausatmete und dabei das pure Leben und die heiße Lust im Raum verströmte. Er konnte den Blick nicht mehr von ihrem Spiegelbild abwenden. Er war ein Sklave seines Verlangens geworden. Und dann... Wie aus unendlich weiter Ferne drang die Stimme der anderen Friseurin an sein Ohr: "Tomoko? Ich kann hier beim besten Willen nicht weg. Kannst Du grad ans Telefon gehen, bitte?" Und durch das wilde, laute Rauschen in seinen Ohren hörte er Tomoko, die ihre Lippen nah an sein Ohr gebracht hatte: "Macht es Dir was aus, kurz zu warten?" Unter großer Kraftanstrengung brachte er zuerst ein Lächeln, dann ein Nicken zustande und antwortete: "Geh ruhig. Ich werde Dir nicht weglaufen." Sie nickte ihm zu und verschwand darauf in einem Nebenzimmer, woraufhin das Klingeln des Telefons verstummte. Er warf einen kurzen, prüfenden Blick zu seiner Tante, die den Eindruck machte, als sei ihre Nase in dieser einen Zeitschrift festgeklebt. Nicht ein einziges Mal hob sie ihren Blick aus dem Heft. Doch daran störte sich Mamoru nicht. Er lehnte sich in den gemütlichen Stuhl zurück und biss sich auf die Unterlippe, immer noch in den Kampf gegen sich selbst vertieft. Sein Atem ging ungleichmäßig und stockend. Er zwang sich dazu, durch die Nase zu atmen, um erst gar nicht in die Verlegenheit zu kommen, in lustvolles Stöhnen zu verfallen. Sein Herz jagte wild in seiner Brust und in seinem Geiste war er längst an einem ganz anderen Ort. Bei ihr. Bei dieser einzigartigen Frau. Er krallte seine Finger in der Jeans fest, bis die Fingerspitzen weiß wurden und zu schmerzen begannen. Ein angenehmes, leichtes Pulsieren im Takt seines Herzschlages durchfuhr seinen Körper. Eine wohlige Wärme vernebelte all seine Sinne. Und dann wurde Mamorus Gefühlswelt nur noch von einer Emotion beherrscht: der Empfindung des höchsten Glücks. Er schaffte es doch tatsächlich, irgendwie das übermächtige Verlangen seines Körpers zu stillen, ohne dabei verräterische Laute von sich gegeben oder sonst wie Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Es war so was wie ein kleines Wunder, fand zumindest Mamoru, als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Allmählich beruhigte er sich wieder. Als Tomoko zurückkam, hatte sich seine Atmung weitestgehend wieder normalisiert; nur seine Wangen hatten immer noch einen rosa Touch. Doch davon schien sie nicht im Geringsten etwas mitbekommen zu haben. Sie entschuldigte sich, dass es so lange gedauert hatte, griff dann wieder zu ihrem Schneidewerkzeug und strebte der raschen Vollendung ihrer Arbeit entgegen. Schon bald darauf warf Tomoko einen kritischen Blick auf ihr Werk. Sie betrachtete abwechselnd ihren Kunden und das Foto, das als Modell gedient hatte. Schließlich nickte sie zufrieden, reichte Mamoru das Bild und fragte: "Was sagst Du? Ist das so in Ordnung?" Mamoru glich das Foto mit seinem Spiegelbild ab - und nickte begeistert. "Das hast Du wirklich klasse hinbekommen. Absolute Spitze!" "Freut mich, dass es Dir gefällt", meinte Tomoko und strahlte glückselig. Tomoko befreite ihn vom Kittel und begann damit, das riesige Büschel Haare aufzuräumen, das nun auf dem Boden lag. "Na, wie fühlst Du Dich?", erkundigte sie sich währenddessen, "Ist schon ganz anders, stimmt's?" Er nickte bestätigend und fuhr sich durch die kurzen Haare - immer und immer wieder. Es war ein eigenartiges Empfinden, wenn auch nicht unangenehm. Grinsend schlenderte er zu seiner Tante, baute sich vor ihr auf und tippte gegen die Zeitschrift. "Jemand zu Hause?" "Siehst Du nicht, dass ich grade weg bin?", witzelte Kioku, senkte endlich das Magazin, sah lächelnd zu Mamoru hoch - und erstarrte. Langsam, richtiggehend zögerlich stand sie auf und begann, Mamoru von allen Seiten zu mustern. Es war Mamoru in diesem Moment völlig unmöglich, die Gefühle in ihrem Blick zu lesen. Ihre Augen waren von scheinbar vielen verschiedenen Gefühlen gleichzeitig erfüllt: Erstaunen, Bewunderung, Gefallen; doch zur gleichen Zeit Trauer und aus der Tiefe der Seele stammender Schmerz. "Weißt Du was?", flüsterte sie, "Du bist Keibi wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein perfektes Ebenbild! Es fehlt nicht mehr viel - Du müsstest noch etwas wachsen und einfach nur etwas älter werden. Aber sonst ... Du sieht ganz genau so aus, wie Dein Vater! Oh, Mamoru! ... Mamoru..." Vorsichtig, fast andächtig strich sie über sein Gesicht und für einen Moment glaubte Mamoru, Tränen in ihren Augenwinkeln zu sehen. Doch urplötzlich lächelte sie. "Du siehst ganz toll aus, mein Junge. Wirklich ganz toll. Mir fehlen die Worte." "Wow. Wenn Dir mal die Worte fehlen, dann heißt das was!", antwortete Mamoru erstaunt. Dann lächelte er unendlich glücklich und streichelte seine Tante leicht über die Wange. Kioku wandte sich daraufhin Tomoko zu und bedankte sich für die großartige Leistung, die diese vollbracht hatte. Sie bezahlte, dann hakte sie sich bei Mamoru unter und beide gingen. "Na, mein Kurzer, hat's Dir gefallen?" Mamoru nickte begeistert. "Jetzt noch Sauna, Whirlpool und Massage und ich bin zufrieden", witzelte er. Kioku lachte leise und fuhr ihm durch die Haare. "Du siehst großartig aus, Kleiner!" "Tante Kioku? Hier gehen wir von nun an öfter hin, nicht wahr?", seufzte Mamoru und warf einen fast sehnsüchtigen Blick über die Schulter. "Nun mach mal langsam", mahnte sie. "Ich hab gerade gutes Geld für Dich hingelegt, und Deine Haare sind jetzt wirklich kurz genug." "Ich meine ja nur", antwortete er grinsend. Er lief zum nächstbesten Schaufenster und blickte hinein. Verwundert blieb Kioku stehen und sah sich den Laden an. "Was willst Du denn in einem Feinkostgeschäft?" "Nichts", antwortete er, "ich bewundere nur gerade mein Spiegelbild im Schaufenster." Seufzend schüttelte Kioku den Kopf. Die Prozedur wiederholte er an jedem Schaufenster, das einigermaßen spiegelte. Wie auf einer Modenschau drehte und wendete er sich und lächelte dabei vergnügt. Bald wurde es Kioku zu bunt. So laut, dass er es auf jeden Fall hat hören müssen schimpfte sie: "Männer!" Doch er antwortete darauf nur mit einem Grinsen. Sie packte ihn am Arm und zog ihn weiter. "Hey, was soll das?" "Ich will hier keine Wurzeln schlagen", erklärte sie. "Man schlägt aber auch keine Wurzeln", belehrte Mamoru, "das sind Lebewesen wie Du und ich! Die haben auch Gefühle!" "Scherzkeks!" Bald schon kamen sie an dem Buchladen vorbei, wo Mamoru auf Chikara getroffen war. Schlagartig verging Mamoru die gute Laune. Grübelnd lief er einfach weiter neben Kioku her und tat so, als würde er konzentriert zuhören, was sie schon wieder zu tratschen hatte. Er warf einen kurzen Blick auf Kioku. Was würde sie wohl tun, wenn ihm tatsächlich ernstlich was passieren würde? Er lächelte. Irgendwie würde schon alles gut gehen. "Hörst Du mir überhaupt zu?", fragte Kioku gerade. "Natürlich tu ich das", behauptete er dreist. "Und was habe ich gerade gesagt?" "Du hast gefragt, ob ich Dir zuhören würde." "Drecksack!" Mamoru lachte. Er wusste ja, wie es gemeint war. Er drückte ihr ein Küsschen auf die Wange und grinste sie herausfordernd an. Sie grinste schnippisch zurück. So war das zwischen den beiden. Und das war gut so. Des Abends saß Mamoru gemütlich mit Kioku im Wohnzimmer und unterhielt sich mit ihr, eine dampfende Tasse heißen Tees in der Hand haltend. Das Radio lief ruhig im Hintergrund, und die Atmosphäre war sehr entspannt. Und dann hörte Mamoru zuerst ein kratzendes Geräusch, dann ein metallisches Klicken, und dann das Geräusch, das entsteht, wenn jemand leise die Haustür schließt. Onkel Seigi kam nach Hause. "Na los, geh schon und präsentier Dich ihm", schlug Kioku vor. "Nöh", meinte Mamoru, "bin zu faul. Soll er doch herkommen." Er stellte seine Tasse ab und wartete ungeduldig darauf, dass Seigi endlich im Wohnzimmer erschien. Er hörte schon die Stimme seines Onkels, als dieser noch im Flur war: "Bin wieder zu Hause! Wo seid ihr denn alle?" Er kam lächelnd durch die Tür ins Zimmer getreten. "Ah, da seid..." Seigi stockte und sah Mamoru an, der sich grinsend aus seinem Sessel erhoben hatte. Er starrte seinen Neffen an und wurde dabei weiß wie die Wand. Achtlos ließ er seine Aktenmappe einfach auf den Boden fallen und schlug sich die Hände vor den Mund. Tränen verschleierten seinen Blick. "Keibi", flüsterte er tonlos, "das kann nicht sein!" Er schüttelte ungläubig den Kopf und lief langsam rückwärts bis die Wand ihm ein jähes Ende setzte. "Keibi!", wisperte er immer wieder heiser. Mit besorgtem Blick kam Mamoru langsam immer näher. "Onkel Seigi? Ich bin es, Mamoru! Erkennst Du mich denn nicht? Onkel Seigi! Beruhig Dich!" "Du...", stotterte er, "Du... Du... Mamoru?" Seigi rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang, setzte sich kraftlos auf den Boden und begann leise zu schluchzen. Mamoru ging zu ihm und nahm ihn in den Arm. Auch Kioku kam nun angelaufen und legte tröstend die Hand auf die Schulter ihres Mannes. "Ich... ich dachte...", stotterte er, "ich dachte, ich... hätte... Dich wieder, Keibi! Oh, Keibi! Ich vermisse... Dich so!" Dann wischte er sich über die Augen und die Wangen und versuchte, Mamoru ein Lächeln zu schenken, aber es endete eher kläglich. "Mamoru, Du siehst genauso aus, wie mein großer Bruder." Mamoru nickte. "Ja, ganz offensichtlich. Tut mir Leid, ich wollte Dich nicht erschrecken. Ich wollte Dich überraschen. Ich hätte..." Er zögerte kurz, um nach den richtigen Worten zu suchen. "Ich hätte niemals gedacht, dass Du so reagieren würdest. Aber ich hätte es mir eigentlich denken können. Bitte verzeih mir!" Noch einmal wischte sich Seigi über die Wangen und dann lag diesmal wirklich eine freundliche Wärme in seinem Lächeln. Stolz erfüllte seinen Blick. Er stand endlich vom Boden auf und umarmte seinen Neffen. "Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen", entgegnete Seigi. "Ich war dumm. Wie hätte ich glauben können, dass er wirklich wieder hier sein könnte?" "Das war nicht dumm", erwiderte Mamoru bestimmt und fuhr seinem Onkel tröstend über den Rücken. "Es war nur menschlich. Aber..." Auch Mamoru stiegen jetzt langsam Tränen in die Augen. "Papa ist ... nicht wirklich ... weg. Er lebt weiter. In Dir. Und in mir. Ich bin für Dich da. Ich lass Dich nicht allein, Onkel Seigi." Seigi löste die Umarmung. Voller Liebe, neu geschöpfter Hoffnung und Dankbarkeit blickte er seinen Neffen an. Dann nickte er. "Ich weiß." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)