Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 19: ------------ Als er die Augen öffnete, war es sehr still um ihn herum. Die Sonne sandte ihre warmen Strahlen durch das Fenster in sein Schlafzimmer. Es war ein Bild des Friedens und der Ruhe. Von dieser Ruhe hatte man in der Nacht zuvor allerdings nichts merken können. Unzählige Male war Mamoru in dieser Nacht unter Schmerzen aufgewacht. Jedes Mal hatte er einige Minuten lang gegen wahre Höllenqualen zu kämpfen gehabt, und jedes Mal hatte er vor Pein das Bewusstsein verloren. Nur für Minuten. Dann waren die Schmerzen zurück gekehrt. Jedes Mal aufs Neue. Und bei jedem Mal war ein Erdbeben gemeldet worden. Aber nun war das Schlimmste überstanden. Mamoru drehte sich in seinem Bett hin und her um eine gemütliche Position zu finden. Sein Onkel hatte ihn irgendwann in einer Phase der Bewusstlosigkeit in sein Bett getragen. Im Wachzustand wäre das nicht möglich gewesen; Mamoru hatte zwischenzeitlich gar nicht gewusst, was er tat; er hatte wild um sich geschlagen und sich tobend hin und her geworfen. Er seufzte schwer. Er konnte sich kaum noch an die letzte Nacht erinnern. Es war, als hätte sein Gehirn den dicken Vorhang der Verdrängung und des Vergessens um die Erinnerung aufgebaut. Um seine Seele davor zu schützen, wahnsinnig zu werden. Er rieb sich die Müdigkeit aus dem linken Auge und gähnte herzhaft. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es inzwischen kurz nach zwei Uhr Nachmittags war. Seine Hand fuhr über seine schweißnasse Stirn. Sein Fieber war schon um einiges gesunken, wenn auch noch nicht völlig besiegt. Mamorus Magen verlangte lauthals nach Futter. Immerhin war seine letzte Mahlzeit am Morgen des vorigen Tages gewesen, und dieses Essen hatte er auch noch herausgewürgt. Langsam und vorsichtig richtete er sich auf. Noch immer fühlte sich sein Kopf so dick an wie eine reife Wassermelone, aber die grässlichen Schmerzen hatten sich weitestgehend zurückgezogen; fast wie ein Raubtier, das sich ruhig verhält um im passenden Moment zuzuschlagen. Mamoru arbeitete sich unter der Bettdecke hervor, setzte seine Füße auf dem Boden auf, hielt sich am Bettrand gut fest und stand langsam auf. Unverzüglich quälte er sich durch einen Schwindelanfall und die Welt wurde kurzzeitig dunkel vor seinem Blick. Einen Moment später hatte er sich wieder im Griff. Er zog sich die Hausschuhe an, verließ sein Zimmer und schlurfte ins Wohnzimmer, wo Kioku gerade dabei war, den Couchtisch zu wischen, der ja bis dahin noch immer übervoll war mit klebrigen Pfützen von Tee. Allerdings hatte sich der Gesamteindruck des Wohnzimmers um einiges gebessert, wenn man bedachte, dass vor einigen Stunden noch ein wahres Chaos geherrscht hatte. Die leeren Tassen waren weggeräumt und die Kissen und Decken auf den Sitzmöbeln wieder in Ordnung gebracht. "He, Kurzer! Alles wieder im grünen Bereich?", begrüßte ihn seine Tante. Sie kam zu ihm, umarmte ihn und küsste seine Stirn. "Du bist nicht mehr ganz so glühend heiß, mein Kleiner. Bald bist Du wieder voll auf dem Damm", prophezeite sie. Mamoru nickte zustimmend. "Ich fühle mich auch wieder ein bisschen besser. Aber..." Er drückte die Hand gegen seine Schläfe. "...mein Kopf tut noch so sehr weh", jammerte er. "Och, mein Kurzer, das wird wieder!", munterte ihn Kioku auf. Mit sanfter Gewalt drückte sie ihn auf das Sofa, umwickelte ihn rasch mit einer Decke und steckte ihm ein Kissen in den Nacken. "Möchte mein Kleiner was essen?" Sein Magenknurren antwortete ihr noch ehe er seinen Mund geöffnet hatte. Mamoru bekam rote Wangen und nickte bestätigend. Kioku lachte. "Hast Du Lust auf Hühnchen mit Reis?" Er nickte erneut mit purer Begeisterung. "Im Augenblick ist mir alles recht." "Das ist gut", entgegnete sie amüsiert lachend und ging in die Küche, "weil ich das heute Mittag nämlich gekocht habe. Etwas anderes hätte ich Dir so oder so nicht gemacht." Mamoru lehnte sich seufzend zurück und machte es sich auf dem Sofa bequem. , dachte er so bei sich, Er nahm von Kioku den Teller mit dem wie sonst auch so leckeren Essen entgegen und stürzte sich gierig darauf. Kioku sah ihm belustigt dabei zu, wie er sich genüsslich durch die Speise hindurch mampfte. "Bin pappsatt!", meldete Mamoru nach einem gewaltigen Nachschlag. Zufrieden stellte er seinen Teller auf dem Couchtisch ab und vergrub die Arme unter der warmen Decke. "Dem Himmel sein Dank", bemerkte Kioku spöttisch und trug den Teller in die Küche. Als sie zurückkam, hockte sie sich neben ihn und fuhr ihm durch die langen Haare, die ein wenig zusammenklebten. "Meinst Du, Du hast die Kraft, heute zu duschen? Oder willst Du lieber vorsichtig sein und noch einen Tag abwarten?", fragte sie. "Ich weiß nicht", entgegnete er mit einem Schulterzucken. "Ich könnte auch einfach baden gehen." "Auch ne Möglichkeit", bestätigte seine Tante. "Sag mal, hast Du nicht gestern morgen noch irgend was gesagt, dass Du Deine Haare schneiden lassen willst?" "Ja, hab ich. Warum?" "Meintest Du das ernst?" "Klar, tu ich immer noch. Aber warum denn?" Kioku grinste ihn spitzbübisch an. "Heute morgen beim Tratsch mit der Nachbarin..." Mamoru verdrehte die Augen und seufzte. "Was denn?", verteidigte sich Kioku, "Ist doch nichts dabei! Na, jedenfalls hat sie mir die Adresse gegeben von einer super Friseurin, die hat ihren Salon gar nicht mal so weit weg von hier. Da können wir hin, wenn Du wieder auf dem Damm bist." "Ja, aber..." Mamoru lehnte seinen Kopf gegen die Schulter seiner Tante, wobei das etwas komisch aussah, da Kioku immerhin ein gutes Stück kleiner geraten war als er und er sich schon ziemlich bücken musste. Schließlich rückte er einfach einige Zentimeter zur Seite und musste so seinen Nacken nicht mehr so übel verrenken. Dann nahm er den sprichwörtlichen roten Faden wieder auf: "...aber heute noch nicht. Ich fühle mich dafür einfach noch nicht bereit. Ich brauche noch eine Menge Ruhe. Mein Kopf dröhnt so sehr." Was für unaufrichtige Aussagen stellt man doch auf, nur um etwas bemitleidet und umhätschelt zu werden! In Wahrheit spürte er nur noch einen leichten Druck zwischen den Schläfen; nichts Weltbewegendes, nur ein wenig lästig. Aber er wollte einfach mal etwas Aufmerksamkeit haben und etwas Anteilnahme genießen. Seine Tante sprang auch sofort darauf an. Mit den Worten "Och, mein armer Kleiner!" schloss sie ihn in ihre Arme und knuddelte ihn. Er genoss ihre Zuneigung und ihre Liebkosungen. "So", sagte Kioku nach einer ganzen Weile, "geht es Dir jetzt besser?" Er lächelte sie zufrieden an. "Ja, viel besser. Danke schön." "Ist doch kein Ding", meinte sie darauf. "Und was hast Du jetzt vor?" "Ich denke, es ist jetzt Zeit zum Baden, nicht?", stellte er fest und streckte seine müden Glieder. "Na, dann mach mal. Ich hab noch einiges zu tun. Danach können wir ja wieder etwas mit einander plaudern, was? Auf geht's, Kurzer, dann erhebe Dich mal von Deinem Thron." Er arbeitete sich unter der Decke hervor, stand vom Sofa auf und schlurfte ins Bad. Dort angekommen schloss er die Tür ab. Ein paar Schritte weiter kam er an dem großen Spiegel vorbei, und rein gewohnheitsmäßig warf er einen kurzen, prüfenden Blick in das spiegelnde Glas. Was er dort sah, erschreckte ihn sogar ein wenig. Er schluckte schwer, latschte zur Badewanne, drehte das Wasser auf und brachte es auf eine angenehme Temperatur. Daraufhin entledigte er sich seiner Kleidung, legte sich ein Badetuch zurecht, und dann nahm er sich endlich die Zeit, noch mal viel genauer in den Spiegel zu sehen. Er war nichts weiter als Haut und Knochen. Nun gut, er war in seinem ganzen Leben noch nie dick gewesen, noch nicht einmal leicht pummelig. Das hatte er von beiden Eltern geerbt. Aber jetzt war er bloß noch - man konnte es nur als mager bezeichnen! Der Kampf gegen das Fieber hatte schwer an seinen Energiereserven gezehrt, und das sah man seinem ausgemergelten Körper wirklich an. Das Gesicht hatte eine leichenblasse Farbe angenommen und die Haut war eingefallen, sodass seine Wangenknochen beinahe unnatürlich hervorstachen. Die Augen waren von tiefen, pechschwarzen Rändern umgeben und schienen ihren Glanz verloren zu haben. Sie wirkten dunkel, stumpf, und auf nicht näher zu beschreibende Art und Weise leblos. Die Stirn glitzerte vor teilweise eingetrocknetem, jedoch größtenteils frischem Schweiß, in dem einige der langen, zerzausten Haare klebten. Hie und da sprossen einige winzige Bartstoppeln aus dem Kinn heraus, die den erbärmlichen Eindruck irgendwie sogar noch unterstrichen. Nur eine leichte Kruste im Mundwinkel erinnerte an die aufgesprungene Lippe, die sich Mamoru beim Kampf gegen Chikara und Buki eingehandelt hatte. Allerdings prangte immer noch eine leuchtend rote Narbe über der rechten Augenbraue und das Auge selbst war auch weiterhin gut dick. Mamoru seufzte. Er hob sich den rechten Unterarm vor Augen, drehte ihn ein paar Mal herum und betrachtete die beiden langgezogenen Narben, die er schon seit so vielen Jahren mit sich herum trug. Nach einem erneuten Seufzer und einem letzten Blick auf sein armseliges Spiegelbild wandte er sich der Badewanne zu, tapste hin, drehte den Wasserhahn ab und stieg vorsichtig hinein. Das Wasser war etwas zu heiß geraten, doch Mamoru biss tapfer die Zähne zusammen und schon bald hatte er leise stöhnend eine gemütliche, halb sitzende, halb liegende Position in der Badewanne gefunden. Er verbrachte einige Minuten damit, in der großen Wanne zu liegen, mit geschlossenen Augen das heiße Wasser zu genießen, das seinen geschundenen Körper sanft umspielte, und dann und wann ein wenig mit den Fingern herumzuplanschen. Dann endlich griff er - erneut seufzend - nach der Shampooflasche und begann damit, die weiße, zähe Flüssigkeit in seine langen Haare einzuarbeiten. Er ließ sich sehr viel Zeit damit, sich zu waschen. Unter anderem lag es auch einfach daran, dass das Seifenwasser unangenehm in seinen Wunden juckte. Aber er hatte ja Zeit. Viel Zeit. Zeit genug, um über das Ein oder Andere nachzudenken. Er erinnerte sich an den langen, beschwerlichen Schulweg, an den kleinen Disput mit Motoki, an die Vision, die ihm befohlen hatte, den Silberkristall zu finden, an sein ergebnisloses Herumirren in der Schule, daran, dass er zusammengeklappt war, und daran, wie er am Abend mit diesen überirdischen Qualen hatte kämpfen müssen. Stand das alles vielleicht im Zusammenhang zu einander? Wahrlich, das Schicksal schien ihn zu hassen und ein diabolisches Spiel mit ihm zu treiben. Wieso er? Er war derjenige, dessen Eltern starben, als er noch ein kleiner Junge war. Er musste den Silberkristall finden, ohne genau zu wissen, was das überhaupt war. Er musste sich ja unbedingt in die unnahbare Hikari verlieben, die ausgerechnet mit King Kong zusammen war. Er musste diese grässlichen Schmerzen ertragen, und er wusste noch nicht mal, weswegen! Es war einfach nicht gerecht! Sollte doch ein anderer nach dem Kristall suchen! Sollte Hikari mit diesem Affen doch glücklich werden! Sollte sich doch sonst wer den Kopf darüber zerbrechen, was das für ominöse Schmerzen waren! Nichts, flüsterte ihm eine unendlich leise Stimme in seinem Inneren zu. Du bist in dieser Welt zu nichts zu gebrauchen! Wieso befreist Du diese Welt nicht von Dir? Du bist ihr doch nur eine Last! Geh dort hin, wo Du glücklich sein kannst! Verlasse diese gottverdammte Welt! Es war nicht die Stimme der Unbekannten, die ihm schon so vertraut war wie seine eigenen Gedanken. Oh, nein, diese Stimme hier war eher eine Art bisher nie laut gewordener Wunsch, ein Verlangen und Trachten, das hinter seiner Stirn geschlafen hatte und nun erwacht war, wie ein blutrünstiges Raubtier, das wusste, dass es längst an der Zeit war, auf die Jagt zu gehen; Beute zu machen! Und es hatte bereits seinen Köder ausgelegt. Einen unwiderstehlichen Köder. Die Beute war schon so gut wie in seiner Gewalt! Langsam, Zentimeter für Zentimeter, bewegte sich Mamorus Körper im Wasser. Der Winkel in den Knien wurde immer spitzer während der Kopf langsam auf die Wasseroberfläche zuglitt. Schon bald war das Kinn unter Wasser, dann die Lippen, die Nase, und schließlich, in einem abschließenden Rutsch, tauchte der ganze Kopf in die angenehm riechende Flüssigkeit ein. Die Seife nagte entsetzlich in seinen Verletzungen, doch Mamoru biss nur die Zähne auf einander. Er drückte die Hände gegen die Innenwände der Wanne, damit der Auftrieb ihn nicht sofort wieder nach oben drückte. Salzgefüllte Tränen verließen seine Augen und vermischten sich sofort mit dem Wasser. Ein gewaltiger Druck schien auf seinen Lungen zu lasten, obwohl vielleicht nur ein winziger Augenblick vorüber gegangen sein konnte. Er kämpfte mit aller Macht gegen den Impuls an, den Kopf zu erheben und den dringend benötigten, frischen Sauerstoff in seine schmerzende Brust fließen zu lassen. In seinen Ohren erklang bereits ein leises Piepsen, und kleine bunte Pünktchen tanzten vor seinem Gesichtsfeld umher. Das ekelhafte, monotone Geräusch in seinen Ohren verstärkte sich, und dann schien es Mamoru, als höre er, wie aus weiter Entfernung, eine Art Hupen, wie von einem Auto. Bald mischten sich noch andere Geräusche hinzu: das Splittern von Glas, ein grässliches Quietschen, dann der Laut, der entsteht, wenn Metall zu einem unförmigen Klumpen zerquetscht wird. Die Erinnerungen an den Unfall, als er sechs Jahre alt war? Mamoru spürte einen immer stärker werdenden Schmerz in der Brust; und dazu kam die brennende, stechende Pein, die sich in den beiden langgezogenen Narben an seinem rechten Unterarm festbiss. Winzige Luftbläschen stiegen empor, als er reflexartig nur für einen ganz kurzen Moment die Lippen öffnete. Ekelhaftes Seifenwasser drang in seinen Mund und rann in seine Kehle. Es verursachte einen grässlichen Hustenreiz. Unerträglich groß wurde in ihm das Verlangen nach frischer Luft. Gegen seinen Willen öffnete sich sein Mund und das wertvolle Gas entwich seinen Lungen. Mit einem Ruck stieß er seinen Oberkörper vom Wannenboden ab, durchbrach mit dem Kopf die Wasseroberfläche und sog gierig das unsichtbare Gut in seinen Brustkorb. Spuckend, keuchend, hustend, zitternd und fast lautlos schluchzend ließ er sich zurücksinken, lehnte den Rücken gegen den Badewannenrand und kämpfte nicht mehr gegen seine Tränen an. Er fuhr mit den Händen über sein Gesicht und berührte dabei versehentlich die Platzwunde über dem rechten Auge. Der beißende Schmerz war ihm egal. Er spürte nur noch ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Verzweiflung und der unendlichen Leere in seinem Brustkorb. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und wippte leise wimmernd vor und zurück. Immer wieder vor und zurück. Er wusste beim besten Willen nicht zu sagen, warum, aber es beruhigte ihn ein wenig. Die Kontrolle über seinen Körper zerbröckelte unablässig weiter. Maßlos zitterte er am ganzen Leib. Sein Zeitgefühl hatte er völlig verloren. Es war ihm unmöglich zu sagen, ob er nur einen Moment so dasaß, oder ob er womöglich Stunde um Stunde so verbrachte. Aber es war ihm auch vollkommen gleichgültig. Er spürte nur noch Verzweiflung und tief in den Knochen verwurzelte Furcht. Er atmete tief ein und aus. Die frische Luft nahm ihm seine Benommenheit ein wenig. Er brauchte einige Augenblicke, um sich wieder einigermaßen zu fangen. Mamoru ließ das Wasser ablaufen. Zu sehen, wie es unaufhaltsam in den Abfluss hinabgezogen wurde, weckte in ihm das eigenartige Gefühl, das man hat, wenn man morgens aufwacht und feststellt, dass alles nur ein Albtraum gewesen ist. Doch das hier war kein Albtraum gewesen. Es war die Wirklichkeit. Er hatte tatsächlich versucht, sich das Leben zu nehmen. Dieser Gedanke ließ ihn schaudern. Er hielt sich am Badewannenrand fest, richtete sich langsam auf, und gab sich die größte Mühe, dabei nicht auszurutschen oder sonst wie neue blaue Flecke in sein so schon beachtliches Repertoire aufzunehmen. Das war nicht ganz leicht, denn sein Körper, der immer noch sehr mitgenommen war, litt weiterhin unter niedrigem Blutdruck. Einen kurzen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und er kämpfte gegen Übelkeit und Ohnmacht. Aber wirklich nur für einen kurzen Moment. Mamoru angelte daraufhin nach dem Badetuch, dass er sich bereitgelegt hatte und trocknete sich damit ab. Als er aus der Wanne kletterte, überkam ihn erneut dieses Schwindelgefühl, doch nun machte er sich erst gar nicht die Mühe dagegen anzukämpfen. Er kniete sich vor die Kloschüssel und kotzte sich nicht nur all seine Gefühle von der Seele, sondern er wurde auch noch etwa die Hälfte von Kiokus Essen los. Immerhin half ihm das, wieder klarer denken zu können. Danach spülte er den ekelhaften Gallengeschmack von seiner Zunge, indem er sich einfach unter den Wasserhahn des Waschbeckens hängte und den Strahl ganz aufdrehte. Es klopfte an der Tür, und dumpf ertönte Kiokus Stimme: "Kurzer? Was ist mit Dir? Ist Dir wieder schlecht geworden?" Er drehte das Wasser ab. "Ja. Aber das wird schon wieder." Seine Stimme klang fast unnatürlich hoch und zitterte. "Kann ich rein kommen?", bat Kioku. Er zögerte kurz. "Ja, sicher", brummte er dann resigniert. Er fuhr noch mal kurz mit dem Badetuch durch seine Haare, band es sich dann um die Lenden und entriegelte die Tür. Mit besorgtem Gesichtsausdruck trat Kioku ein und besah sich ihren Neffen. "Himmel, Kleiner! Du siehst so furchtbar blass aus! Okay, Du hättest schon die letzten paar Tage einen Schönheitswettbewerb der Toten gewonnen, aber jetzt ist es irgendwie... noch schlimmer...", erläuterte sie. Ihre Hand fuhr prüfend über seine Stirn. "Na ja", fuhr sie fort, "Du hast gerade gebadet, da ist völlig klar, dass Du gut warm bist. Wir sollten etwa in einer Stunde oder so Deine Temperatur messen, in Ordnung? Oh, mein Kurzer! Du machst mir nichts als Sorgen!" Er war immer noch zu geschockt. Er konnte schier nicht fassen, was er da gerade eben noch zu tun versucht hatte! Der Gedanke an einen Suizidversuch war ihm mit einem Male unbegreiflich und so unglaublich fremd! So, als sei er nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen, sondern als habe ihm jemand oder etwas diese Flausen in den Kopf gesetzt. "So, Kurzer, Du setzt Dich erst mal hier hin." Sie drückte ihn sanft zur Badewanne, half ihm, sich auf den Rand zu setzen und dabei das Gleichgewicht zu halten und wich dann ein paar Schritte zurück. "Ich denke, ich besorge Dir jetzt erst mal Klamotten. Dieses Badetuch ist zwar chic, und es steht Dir hervorragend, aber es ist doch etwas luftig für den Februar, findest Du nicht?" Sie verschwand aus dem Bad. Natürlich blieb Mamoru nicht einfach sitzen. Er stand vorsichtig auf und wankte zum Spiegel, um einen Blick hinein zu werfen. Der Dunst, der den Spiegel hatte beschlagen lassen, verschwand langsam, jetzt, wo die Zimmertür sperrangelweit offen stand und kühle Luft hereinwehte. Sein verschwommenes Spiegelbild wurde langsam klarer und die Konturen schärfer. Mamoru fand, er sah grausig aus. Er hörte nicht, wie Kioku einen Augenblick später wieder in der Tür erschien; mit seinen Kleidern im Arm. Er bemerkte auch nicht, dass sie ihn einige Herzschläge lang musterte. Er erschrak nur leicht, als sie ihn fragte: "Was siehst Du?" "Einen Spiegel", brummte er. "Das meine ich nicht", erklärte seine Tante und stellte sich ganz nah zu ihm, um mit ihm in den Spiegel sehen zu können. "Ein Spiegel zeigt Dir manchmal die Wahrheit, und manchmal nur das, was Du sehen willst. Und mich würde interessieren: Was siehst Du?" Er zuckte mit den Schultern. "Ich sehe... so was wie Tarzan. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, mit wilden, langen, zerzausten Haaren, und der schon seit einigen Wochen nicht mehr geschlafen hat, weil die Wölfe so laut geheult haben." "Dann bist Du aber ein Spaghetti-Tarzan", zog ihn Kioku auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. "Sehr witzig. So dünn bin ich auch nicht", murrte er vor sich hin. "Und was siehst Du, Du allwissende Hexe?" Sie legte seine Kleider auf dem Boden ab, umarmte ihn von hinten, blickte an seiner Schulter vorbei auf sein Spiegelbild und antwortete mit einem Lächeln, dem man den Stolz richtiggehend ablesen konnte: "Ich sehe einen der hübschesten Kerle auf diesem Planeten. Jung und unerfahren, aber mit einem guten Herz. Und er wird lernen, seine Probleme zu meistern. Eines Tages wird er viele Freunde haben und von hübschen Mädchen nur so umringt sein. Und bis es soweit ist, bleibt er einfach mein kleiner Lieblingsneffe." Mamoru drehte sich zu ihr um und umarmte sie. "Ich liebe Dich." "Ich Dich doch auch, mein Kurzer. Mehr, als Du Dir vorstellen kannst." Einige Herzschläge später löste sie sich wieder aus seinem Griff. "Du siehst schon viel gesünder aus, Kurzer. Und jetzt zieh Dich lieber an, bevor Dein Fieber wieder schlimmer wird." Sie verließ das Badezimmer und schloss behutsam die Tür hinter sich zu. Er war an diesem Tag nicht gestorben. Er lebte. Und selbst, wenn er nur für seine Tante leben würde, und für niemanden sonst auf diesem Planeten, dann wäre das schon Grund genug, weiter zu leben. Außerdem hatte er noch so viele andere Gründe, zu leben: Seinen Onkel Seigi. Oder Motoki. ...Und vielleicht auch Hikari?... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)