Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 17: ------------ "Ok, Leute", begann Frau Hanabira, "zunächst mal die Formalitäten. Wer fehlt denn heute? Bitte melde sich, wer fehlt." Ein leises Kichern ging durch die Klasse. Motoki stupste Mamoru leicht mit dem Ellenbogen an. "Meld Dich doch." "Natürlich", zischte Mamoru, "sieht ja auch jeder, dass ich nicht da bin. Also, manchmal zweifle ich an Deinem Verstand." Doch Mamoru fand keine Zeit, sich weiter über etwas so Belangloses den Kopf zu zerbrechen. Eine wahnsinnige Hitzewelle überrollte seinen Körper und raubte ihm schier den Atem. Es war, als versuche er, flüssige Lava in seine Lungen zu pressen. Einen Moment lang wankte er auf seinem Stuhl hin und her und drohte, hilflos auf den Fußboden zu stürzen. Im letzten Moment fing Motoki ihn auf. Der Blonde sagte irgendwas, aber Mamoru hörte nur das wilde Rauschen von Blut in seinen Ohren. Dieser eine Gedanke schoss ihm immer wieder durch den Kopf. Es war alles, woran er denken konnte. Sekunden vergingen, doch sie krochen dahin wie Jahrtausende. Mit aller Gewalt klammerte sich Mamoru an seinem Freund fest und versuchte verzweifelt, die Kontrolle über seinen Körper zurück zu gewinnen. Es war ein harter Kampf. Doch schließlich besiegte Mamoru den Anfall. Leise keuchend und mit geschlossenen Augen sank er in seinen unbequemen Holzstuhl zurück. Sein Atem beruhigte sich allmählich wieder. Schließlich zückte er ein Taschentuch hervor und wischte sich den klebrigen Schweiß aus dem Gesicht. Mit sorgenvollem Blick sah Motoki ihn an. "He, Kumpel, Du machst mir echt Angst. Meinst Du nicht, es wäre doch besser für Dich, nach Hause zu gehen? Was Du hier machst ist höchst gefährlich!" Mamoru schüttelte den Kopf. Oder viel mehr, er drehte ihn nur müde hin und her. "Nein", sagte er bestimmt, "ich rühre mich hier keinen Millimeter von der Stelle." "Aber...", begehrte Motoki auf, "aber... aber ich muss doch irgendwas tun! Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich einfach nur dasitze und Däumchen drehe. Du musst verrückt sein! Wahrscheinlich bist Du längst im Fieberwahn." , überlegte sich Mamoru. Er seufzte schwer. "Motoki, lass es einfach gut sein, ja? Mir geht es schon etwas besser. Gib mir noch einen Moment, dann hüpfe ich wieder herum wie ein junges Reh." "Du meinst, genau in ein Auto rein?" Mamoru verdrehte die Augen und ließ Motokis Sarkasmus unkommentiert. "Vergiss es, Mamoru", sagte Motoki bestimmt, "ich werde jetzt sofort Bescheid sagen, was mit Dir los ist; und dann kümmere ich mich darum, dass Du ärztlich versorgt wirst. Mir ist egal, was Du dazu sagst." "Ja, das hat Dich aber auch noch nie interessiert." "Genau. Du hast es erfasst." "Motoki, Du wirst die Klappe halten, ist das klar?" Ein böses Funkeln erglomm in Mamorus linkem Auge. Um keinen Preis der Welt wollte er zulassen, dass auch nur irgendjemand von seinem desolaten Zustand erfuhr. Er hatte zwar inzwischen eingesehen, dass er schwer krank war, aber die Einsicht, dass er sich durch seine Sturheit in gesundheitliche Gefahr brachte, ließ auch jetzt noch auf sich warten. Noch immer war der Stolz zu groß, und Mamoru war besessen von dem Gedanken, Chikara auf jeden Fall keine Schwäche zeigen zu dürfen. Koste es, was es wolle. "Du Sturschädel", zischte Motoki wütend, "meinst Du etwa, ich tu das nur, um Dich zu ärgern? Glaubst Du das wirklich? Jetzt hör mir mal ganz genau zu: Du bist der mit Abstand beste Kumpel, den ich in meinem ganzen Leben jemals hatte. Und glaub mir eines, ich würde einiges aufs Spiel setzen, um Dich aus der Scheiße zu ziehen. Und Du steckst tief drin, in der Scheiße. Du siehst es nur nicht, weil Du blind bist. Blind vor Stolz. Die Scheiße verschmiert schon Deine Augen! Verdammt noch mal! Ich mach mir doch bloß riesige Sorgen um Dich!" Mamoru wandte den Blick von Motoki ab. "Ich weiß, Du hattest es nicht leicht mit mir, ganz besonders in den letzten Tagen. Und das tut mir auch wahnsinnig Leid, ja? Aber, Motoki, versuch doch auch mal, mich zu verstehen: Ich will das hier nur heute durchziehen. Nur heute, ja? Sobald die Schule vorbei ist, tu ich alles, was Du willst. Alles! Aber bis dahin musst Du mich einfach machen lassen, in Ordnung?" "Nichts ist in Ordnung", flüsterte Motoki und warf einen prüfenden Blick in Richtung Pult. Noch schien Frau Hanabira nichts von der Unterhaltung mitbekommen zu haben, und das war gut so. Dann sah er wieder Mamoru fest in die Augen. Oder vielmehr: in das, was von dessen teilweise immer noch stark geschwollenen Augen zu sehen war. "Sieh es endlich ein, Du redest Schwachsinn! Ich werde jetzt auf der Stelle sagen was los ist, und es gibt nichts, was Du dagegen tun könntest!" Blitzschnell griff Mamoru nach Motokis Handgelenken und hielt sie eisern fest. "Das wirst Du nicht tun", zischte er aufgebracht. Dieses Streitgespräch kostete ihn unheimlich viel Kraft, die er einfach schier nicht mehr aufbringen konnte. "Du wirst ganz ruhig sitzen bleiben und still sein, klar?" "...sprach die Jungfrau zum Matrosen", sagte Motoki in ironischem Unterton. "Ich meine es ernst, Du Stussschwätzer!" "Ich etwa nicht?", knurrte Motoki. Mit einem resignierten Seufzer ließ Mamoru die Handgelenke seines Freundes wieder los und Motoki rieb sie sich mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht. Forderungen und Beleidigungen brachten hier gar nichts. Mamoru sah nur noch einen letzten Ausweg: ein Pseudoabkommen. "Motoki, ich mache Dir einen Vorschlag: Ich werde noch eine Weile versuchen, hier zu bleiben. Und sobald ich mich wieder schlechter fühle, gehe ich ganz bestimmt heim, ja? Aber ich bitte Dich, gib mir eine Chance, es zu probieren! Bitte!" Motoki sah seinen Freund mit prüfendem Blick an. "Ich weiß nicht..." "Ich flehe Dich an. Bitte." Mamoru gab sich alle Mühe, Motoki mit bettelndem Blick anzusehen. Er war ansonsten vielleicht ein miserabler Schauspieler, aber das hat er schon immer beherrscht wie kein Zweiter. "Mir geht es auch wirklich schon ein gutes Stück besser. Ehrlich!" Tatsächlich fühlte sich Mamoru etwas besser, aber nicht so viel, als dass man es als ein hätte bezeichnen können. Dadurch, dass er sitzen konnte und so seine Beine nicht mehr sein ganzes Körpergewicht tragen mussten, konnte er etwas Kraft sammeln. Natürlich verschwieg er Motoki, dass sich sein Blick immer wieder leicht verdunkelte und dass die Wände sich wieder und wieder aufs Neue zu drehen schienen. Schließlich willigte der Blonde ein. "Na gut, aber Du gibst mir Dein Wort, dass Du wirklich ehrlich zu mir bist, und auch tatsächlich gehst, wenn es Dir wieder schlechter wird?" Mamoru nickte. "Ja, ganz bestimmt." Was Motoki nicht sah, war Mamorus Hand, die hinter seinem Rücken verschwand und deren Finger sich kreuzten, um das Versprechen null und nichtig zu machen. Eine Weile hörten beide mit halbem Ohr hin, wie Shôgai einen englischen Text vorlas. Mamoru war inzwischen in der Lage dazu, seinen Blutdruck einigermaßen zu normalisieren, und ihm wurde nicht mehr andauernd schwindlig. Er fragte sich nur, was geschehen würde, wenn er sich von seinem Stuhl erhob. "Motoki?" "Was ist denn noch?" Mamoru zögerte kurz. Dann stupste er seinen Kumpel freundschaftlich mit dem Ellenbogen an. "Danke, Mann. Danke, dass Du mich verstehst." Motoki grinste sofort wieder. "Kein Thema, Alter." Mamoru fühlte sich ziemlich mies. Er hasste es, seinem besten Freund eine heile Welt vorspielen zu müssen, aber es ging nun mal nicht anders. Mamoru wusste selbst nicht zu sagen, warum es ausgerechnet dieser eine Tag sein musste. Was wäre schon dabei gewesen, auf Motoki zu hören und einfach aufzugeben? Wofür quälte er sich nur so? Womöglich störte sich Chikara gar nicht an seiner Anwesenheit? Dennoch biss Mamoru die Zähne zusammen. Er wollte unbedingt durchhalten, musste mit allen Mitteln weitermachen, musste Stärke beweisen, koste es, was es wolle! Vorsichtig und darauf bedacht, Motoki davon nichts mitbekommen zu lassen, fuhr sich Mamoru prüfend über die Stirn. Sie war nicht mehr ganz so heiß wie noch vor Augenblicken, aber dennoch war die Temperatur beunruhigend hoch. Finde den Heiligen Silberkristall. Bitte, Du musst ihn finden! Die Vision überkam ihn völlig überraschend. Er hörte die Stimme der Unbekannten so deutlich, als stünde sie direkt neben Mamoru. Ich bitte Dich! Du musst ihn finden! Pochende Kopfschmerzen begleiteten die Stimme, die wie tausendfach verzerrtes Echo hinter seiner Stirn widerhallte. Finde den Heiligen Silberkristall! Es kostete Mamoru all seine Kraft. Er durfte nicht schlappmachen; nicht jetzt! Die Kopfschmerzen wurden stärker und Mamoru rief seine letzten Energiereserven zusammen, um nicht vor Pein aufzustöhnen. Der Heilige Silberkristall! Doch so plötzlich, wie die Stimme gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder, und mit ihr vergingen die Schmerzen wie auf einen Schlag. Mamoru hatte die Stimme der Unbekannten bisher nur in seinem Traum gehört. Eine Vision wie diese war ihm völlig fremd; sie ängstigte ihn sogar. Seine Gedanken überschlugen sich schier. War er vielleicht durch sein Fieber empfänglicher für die Stimme der Fremden geworden? Egal, er musste schnell aus diesem Klassenzimmer heraus. Er musste nach dem Kristall suchen. Fieber hin - Fieber her - er musste ihn finden. Den Heiligen Silberkristall... "Herr Chiba?" Frau Hanabiras Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch. "Was? Äh... ja, bitte?", versuchte er sich zu retten. Frau Hanabira legte den Kopf schief. Lag etwa Sorge in ihrem Blick? "Herr Chiba, Sie sehen irgendwie... gar nicht gut aus, wenn ich das mal so sagen darf. Fehlt Ihnen irgendetwas?" "Ich... na ja, also... nein... ich...", stammelte Mamoru vor sich hin. Er warf einen kurzen, fast ängstlichen Seitenblick auf Motoki, doch der rührte sich nicht. Er hielt sich an die Abmachung und ließ Mamoru den nötigen Freiraum. Jetzt musste Mamoru nur noch eine passende Ausrede einfallen... "Ich... ich..." "Ja?" "Ich..." Mamoru atmete tief durch und setzte alles auf eine Karte. "Ich... muss mal aufs Klo. Darf ich? Es ist echt dringend." Ein leises Raunen und Kichern lief durch die Klasse. Frau Hanabiras Gestik forderte zur allgemeinen Ruhe auf, dann wies sie mit dem Daumen auf die Tür. "Wenn's denn sein muss. Aber beeilen Sie sich." "Danke sehr." Mamoru sprang vom Stuhl auf, lief ein paar Schritte und musste dann notgedrungen um einiges langsamer laufen. Sein niedriger Blutdruck protestierte heftig gegen die plötzliche Bewegung. Mamoru wurde es schwindlig und sein Blick trübte sich einen Moment lang, aber er konnte trotz seines Blindfluges sicher zur Tür finden. Er stolperte hinaus, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und atmete erst tief durch. Finde den Heiligen Silberkristall... Diesmal war es keine Vision, doch die Stimme, die sich Mamoru gerade ins Gedächtnis rief, war so frisch in seiner Erinnerung geblieben, dass kaum ein Unterschied bestand. Er blickte den langen Gang hinauf und wieder hinunter, doch es war absolut niemand zu sehen. Doch das musste nichts heißen. Wenn sich tatsächlich der Träger des Silberkristalls hier aufhielt, dann konnte er seit der letzten Minute gut und gern wieder weiter gegangen sein. Falls es hier denn tatsächlich jemanden gab, der den Kristall bei sich trug... Womöglich wusste derjenige gar nicht, was er da bei sich hatte? Vielleicht hielt er oder sie es nur für ein hübsches Schmuckstück? ...Wenn der Silberkristall überhaupt ein Kristall war... Es wurde Mamoru schon fast schmerzhaft bewusst, dass er immer noch keine Ahnung davon hatte, wie das, was er suchte, überhaupt aussah. Doch das spielte keine Rolle. Er war sich sicher, die Unbekannte aus seinem Traum würde ihm schon sagen, ob es sich um den Silberkristall handelte. Er rannte los, wahllos irgend eine Richtung einschlagend. Die Hoffnung, einfach nur irgend jemanden zu finden, trieb ihn voran. Immer öfter musste Mamoru anhalten und sich eine Verschnaufpause gönnen. Er war absolut am Ende, und das systemlose treppauf - treppab Rennen brachte ihn nicht weiter. Weit und breit war absolut keine Menschenseele zu finden. Es war wie verhext! Die gewaltige Anstrengung war zu viel für ihn, und je weiter er seinen gequälten Körper durch die Gegend jagte, umso schlechter ging es ihm. Er war schon völlig abgekämpft und stützte sich schwer keuchend gegen eine Wand. Die ewige Karussellfahrt vor seinen Augen rief eine entsetzliche Übelkeit in ihm hervor. Er wankte und torkelte den Gang entlang, sich ohne Unterlass an der Wand abstützend. Sein Magen krampfte sich immer wieder schmerzhaft zusammen und ein unerträglich bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus. Der Geschmack von Galle. Sein Adamsapfel hüpfte unablässig auf und ab als er durch heftiges Schlucken versuchte, die Übelkeit zurück zu kämpfen. Endlich erreichte er die Toilette, stürzte in eine Kabine hinein und musste sich übergeben. Er hing einige schreckliche Augenblicke über der Schüssel, und als sein Magen endlich ausgepumpt war, fühlte er sich zwar so unendlich kraftlos und abgekämpft wie nie zuvor in seinem Leben, aber irgendwie hatte sich jetzt ein undefinierbares Gefühl von innerem Frieden und von Erleichterung in ihm ausgebreitet. Er beugte sich daraufhin lange Zeit unter den Wasserhahn, den Strahl bis zum Anschlag aufgedreht, und hielt seinen Kopf unter das kühle Nass, um seine Lippen zu befeuchten und den widerlichen Geschmack hinfort zu spülen. Schlussendlich, als er wieder schwankenden Schrittes aus dem Toilettenraum hinaus getorkelt war, setzte er sich resigniert auf eine Treppenstufe und seufzte. Es war zum Haare raufen, aber er hatte nichts -nichts, nichts, nichts- erreicht; nicht einen winzig kleinen Hinweis auf den Silberkristall hatte er bei seiner Odyssee gefunden. Mamoru schalt sich einen unendlichen Narren. Für einen kurzen Moment schloss er sein Auge. Er hatte bei der Rennerei sein Zeitgefühl völlig verloren und so langsam fragte er sich, ob ihn Frau Hanabira schon vermisste. Das Gefühl absoluter Resignation breitete sich in ihm aus. Nun, am Ende seiner Kräfte angekommen, begrüßte er den Gedanken, sich tatsächlich entschuldigen zu lassen und nach Hause zu gehen. Er wollte nur noch schlafen. Schlafen, träumen, und alles vergessen... Als er das Auge öffnete, sah er verschwommen eine Gestalt vor sich stehen. Er rieb sich das linke Auge und blinzelte, doch das Bild blieb einige Herzschläge lang unerkennbar. Er erinnerte sich an die Worte, die sie letzte Nacht im Traum zu ihm gesagt hatte: "Du, Herr der Erde, musst wiedererwachen. Du musst Deine Vergangenheit finden." Langsam, ganz langsam nur klärte sich sein Blick... und als er erkannte, wen er da vor sich hatte, hätte er beinahe vor Schrecken aufgeschrieen. "Na, Chiba? Endlich aus Deiner Traumwelt zurückgekehrt?" Chikara hatte sich vor ihm aufgebaut und starrte ihn nun aus boshaften Augen an. Das Grinsen in seinem Gesicht war trügerisch und kalt. Mamoru konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange er schon dagestanden haben mochte. "Was willst Du hier?", fragte Mamoru unsicher. Noch immer war weit und breit niemand zu sehen. Das gefiel Mamoru so ganz und gar nicht. "Och, ich hatte Sehnsucht nach Dir", entgegnete der Blonde völlig sachlich. Dann wurde das Grinsen wie auf ein unhörbares Kommando hin von seinem Gesicht radiert. "So, Chiba. Du hast es also tatsächlich geschafft, Deinen mickrigen, verbeulten Körper hier her zu schleifen. Meinen Respekt, das hätte ich nicht gedacht. Und was willst Du damit beweisen, Du Wurm?" "Nichts, gar nichts. Wirklich." Unsanft wurde er am Kragen gepackt und hoch gerissen. Er wehrte sich noch nicht einmal, das konnte er gar nicht. Er starrte Chikara nur trotzig an. Doch genau dieses Verhalten provozierte den Blonden nur noch mehr. Er knurrte wie ein Wolf, der sein Territorium vor einem Rivalen verteidigen wollte. "Was los, Würstchen? Muckst Du auf?" Nein, das tat er nicht. Dazu war er absolut nicht in der Lage. Ein lautes Rauschen ertönte in seinen Ohren. Die ganze Welt drehte sich irr vor seinem Gesichtsfeld. Blaue und grüne Punkte tanzten auf und ab. Schweiß klebte wie eine ekelhafte Geisterhand in seinem Nacken, und immer mehr der salzigen Flüssigkeit kam hinzu. Doch das bekam Mamoru nur noch am Rande mit. Ein leichtes, fast schon sanftes Pulsieren drang in seinen Schädel, begleitet von einer angenehmen, wohligen Wärme. Nur einen ganz kurzen Moment wurde sein Blick noch mal etwas klarer, und er sah in Chikaras Gesicht. Eine merkwürdige Veränderung schien darin vorzugehen: Für Mamoru sah es aus, als würden die Gesichtszüge des Blonden zerfließen und sich in eine zähnefletschende Grimasse verwandeln; von einer goldfarbenen Löwenmähne umgeben. Dann verschwamm das Bild wieder auf so unerträgliche, beinahe schmerzliche Art und Weise, dass Mamoru mit einem Stöhnen das Auge schloss. Das war der letzte, klare Gedanke, den er noch erfassen konnte. Müde erhob er wieder das Augenlid und blickte in eine seltsam verzerrte Welt aus völlig falschen Farben, die alle hin und her wogten und gar nicht existieren durften. Dann schob sich ein eigenartiger, zuckender Nebel vor diese grausig verzerrte Welt. Es sah fast so aus wie ein Fernsehbildschirm, der keinen Empfang hatte und nur Schnee zeigte. Alles andere war verschwunden. In Mamorus kleiner, geistiger Welt gab es nur noch zwei Worte: Immer und immer wieder hämmerten diese Worte von innen gegen seine Stirn. ... Doch bald wurden sie auf sonderbare Weise durch zwei neue Worte ersetzt: Mamoru konnte seinem eigenen, plötzlichen Gedankensprung nicht folgen. Noch immer waberte der schwarz-weiße Nebel vor seinen Augen. Es erinnerte auf schreckliche Art und Weise an Tausend schwarze Ameisen, die durch Tausend weiße Ameisen hindurch wuselten. Doch bald wurde sein Blick klarer. Irgend etwas blendete sein Auge, ein weißes, gleißendes Licht, das sich durch seine Pupille brannte und schmerzhaft in seinen Kopf hinein floss. Ganz leise, fast wie ein Flüstern, hörte er die Worte der Unbekannten: ...Silberkristall... suche... den Heiligen Silberkristall... Du, Herr der Erde, musst wiedererwachen. Du musst Deine Vergangenheit finden. Suche den Heiligen Silberkristall... Kristall...! Ihre Stimme schien anzuschwellen und wieder abzuklingen, im gleichen Rhythmus, in dem das Pochen in seinem Kopf gegen seine Schädeldecke schlug. Dann veränderten sich die Worte, die er zu hören glaubte. Sie klangen leise, obwohl die Stimme relativ nah an seinem Ohr zu sein schien. Es war die Stimme einer Frau. "Er kommt zu sich." Die Stimme von Frau Hanabira? Wie kam sie so plötzlich hier her? Mamoru war vollkommen verwirrt. Sein Gehirn war mit der Suche nach einer Erklärung für das alles völlig überfordert. Ganz verstört blickte er um sich. Seine Bewegungen waren ruckartig; abgehakt. Als wären seine Muskeln völlig steif. Endlich erkannte er seine Umgebung wieder. Er lag im Sanitätsraum der Moto-Azabu-Oberschule, umgeben von einigen Leuten, die er nicht kannte, und die Sanitätswesten trugen; noch dazu in Gesellschaft von Frau Hanabira, Chikara und - was ihn am meisten verwunderte - seiner Tante Kioku, die ein bestürztes Gesicht machte. "Du bist wach! Mein Kurzer, ich hab mir solche Gedanken gemacht!" Kioku näherte sich ihrem Neffen langsam. Vorsichtig, als könne er zerbrechen, fuhr sie ihm über die Stirn. "Wie geht es Dir?" Doch seine Verwirrung war noch zu groß, er hörte die Worte kaum. Sie gingen noch dazu in dem leisen Pochen hinter seiner Stirn unter. "Was ist passiert?", fragte Mamoru total perplex, "Was tu ich hier?" "Was passiert ist? Das würde ich gerne von Ihnen erfahren, Herr Chiba", verlangte Frau Hanabira. "Ich entlasse Sie auf die Toilette, drei Minuten später fragt mich Herr Shizen das gleiche, und zwei weitere Minuten später kommt er ins Klassenzimmer zurückgerannt und berichtet mir, Sie seien zusammengebrochen. Ich will alles wissen. Und wo Sie gerade dabei sind..." Sie sah Mamoru voller Sorge an. "...können Sie mir auch gleich erzählen, woher Sie dieses blaue Auge haben. Und die aufgeplatzte Lippe, und die Wunde über der Augenbraue. Also?" Einen Augeblick starrte Mamoru seine Lehrerin noch verwirrt an. Dann, unendlich langsam, schärften sich seine Sinne wieder. Er blickte seiner Tante einige Herzschläge lang in die bekümmerten Augen, warf dann einen kurzen Blick auf Chikara und fasste einen Entschluss. Er wies mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf sein geschundenes Gesicht. "Das hier sind Verletzungen, die ich mir im Privaten zugezogen habe. Sie haben mit der Sache hier nichts zu tun." "Und was hat dann mit der Sache hier zu tun?", hakte Frau Hanabira nach, "Hat er..." Mit wissendem Blick in den Augen sah sie Chikara an, der nur das Gesicht abwandte und wortlos die Wand anstarrte. "...Sie vielleicht bedroht oder etwas derartiges? Sie können mit mir gerne darüber reden, wenn es so war." Mamoru litt gerade wieder einen erneuten Schwindelanfall aus. Leise stöhnend hielt er sich den Kopf und biss die Zähne zusammen, bis es vorbei war. "Lassen Sie ihn in Ruhe", bat Kioku, setzte sich neben Mamoru und schloss ihn in ihre Arme, "Sie sehen doch, dass es ihm gar nicht gut geht." "Schon in Ordnung, Tante Kioku", brachte er mühsam heraus und lächelte sie tapfer an. Zu Frau Hanabira gewandt antwortete er endlich: "Nein, er hat mich nicht bedroht, im Gegenteil." Chikaras Kopf flog herum, als hätte man ihn geschlagen. Mit ungläubigem Blick musterte er Mamoru. Das fiel Frau Hanabira allerdings nicht auf. Chikara stand hinter ihr, und ihr Blick war fest auf Mamoru gerichtet. Dieser nickte, um seine Worte noch zu bekräftigen. "Als ich... wieder auf dem Weg zurück ins Klassenzimmer war, ist mir schwindlig geworden, und Chikara hat mich gestützt. Wäre er nicht gewesen, hätte ich mir wohl auf dem harten Boden den Kopf aufgeschlagen. Danke, Mann. Das war echt nett von Dir." Mit den letzten beiden Sätzen hatte er Chikara angelächelt. Man musste nicht mal genau hinsehen, um zu bemerken, wie viel Kälte in diesem Lächeln lag. Aber alle anwesenden, außer Chikara selbst, waren zu sehr mit der ganzen Situation beschäftigt, um es zu realisieren. Der Blonde allerdings verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und nickte nur knapp und wortlos. "Wenn das so ist", räumte Frau Hanabira ein und wandte sich zu Chikara um, "dann bitte ich Sie um Verzeihung, Herr Shizen, für die falsche Verdächtigung." Wieder nickte er nur knapp als Antwort. Einige der Fremden zogen sich ihre Sanitätswesten aus. Ihrem Alter nach zu urteilen waren sie keine wirklichen Profis, sondern auch nur Schüler, die eine Erste-Hilfe-Ausbildung hinter sich gebracht hatten und im Notfall aus dem Unterricht geholt werden konnten. Da es nun nichts mehr zu tun gab, trollte sich jetzt einer nach dem anderen. Und abgesehen vom dem Rascheln der Westen und der Schritte war es fast erdrückend still im kleinen Sanitätsraum geworden. Schließlich brach Frau Hanabira das Schweigen mit einem leisen Seufzer. "Ich denke, mehr können wir im Augenblick sowieso nicht tun. Ich rate Ihnen, Herr Chiba, in Zukunft etwas mehr acht auf sich zu geben, und nun einen Arzt aufzusuchen. Herr Shizen? Kommen Sie? Der Unterricht geht weiter." Damit stand sie von ihrem Stuhl auf, verabschiedete sich von Kioku und Mamoru und ging schon mal voraus. Auch Chikara wandte sich zum Gehen um. "Chikara! Warte!", rief Mamoru. Er kletterte umständlich vom unbequemen Bett herunter, trat nah an seinen Widersacher heran und wisperte ihm tonlos zu: "Du... schuldest... mir was!" Die Pausen legte er ganz bewusst fest, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. "Ich weiß", flüsterte er ebenso lautlos zurück. "Und es gefällt mir nicht." Dann schlurfte er der Lehrerin hinterher, ohne auch nur mehr einen einzigen Blick auf Mamoru zurück zu werfen. Kioku trat neben ihren Neffen. "Gehen wir. Ich hab mich schon um Deinen Schulranzen und Dein Jackett gekümmert." Mamoru nickte und folgte seiner Tante. Sie musste ihn stützen. Noch immer war er sehr entkräftet, und es bereitete ihm unendliche Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)