Die Judenküsserin von abgemeldet (Ein großes DANKE an Nessi für die schönen, neuen Charakter-Bilder ^^) ================================================================================ Es war einmal in Wien... ------------------------ ::Vorwort:: Liebe Leserinnen und Leser, ich freue mich sehr jetzt endlich wieder an der Judenküsserin weiter schreiben zu können! Ich habe praktisch die gesamte Fanfic neu geschrieben oder zumindest bearbeitet! Ich hoffe sehr, dass euch die neue Form der Judenküsserin genau so gut (oder vielleicht sogar noch besser *g*) gefällt wie die alte. Ich habe dieses mal verstärkt darauf geachtet, dass meine Geschichte so realistisch wie nur möglich ist (was mir ja bei der alten Form der Geschichte nicht wirklich gelungen ist). Nun möchte ich noch zwei Punkte nennen, die mir bei dieser fiktiven Geschichte ganz besonders wichtig waren: 1. Die Hauptperson ist keine Jüdin, 2. Der Schauplatz der Geschichte ist nicht Auschwitz! Ich weiß, das Auschwitz mit abstand das schlimmste Todeslager war, und dass die im Holocaust ermordeten Personen auch großteils Juden waren, aber trotzdem war es mir unglaublich wichtig eine eher ungewöhnliche Geschichte zu schreiben, die es so noch nicht gibt und die auch auf provozieren kann!! Deshalb: Die Geschichte eines 16 jährigen, lesbischen, christlichen, antifaschistischen Mädchen das den Holocaust überlebt! In diesem Sinne: Viel Spaß mit der Jüdenküsserin!! ♥ Eymika ♥ ::Kapitel 1:: Die heiße Septembersonne brannte auf den Asphalt, ich setzte schnell einen Fuß vor den anderen. Hastig lief ich immer weiter und weiter durch die Straßen des dritten Bezirks. Es war der 10. September 1944. Ich, gerade mal 16, war Schülerin des Erich-Fried-Gymnasiums in Wien, jedenfalls bis zu diesem September. Ich ertappte mich immer wieder dabei, verstohlene Blicke auf die Brust der Menschen um mich herum zu werfen. Keine hier trug den gelben Stern, gar niemand. Ich erinnerte mich noch gut an vor 4 Jahren, als wir Deutsche an jeder Ecke den Judenstern sehen konnten. Ich hasste ihn, den Stern, ich hasste ihn, weil er mir meine Freunde wegnahm. Meine lieben Judenfreunde. Und Miriam, meine, meine Miriam. So schnell mich meine Füße tragen konnten, lief ich vorbei an hoffnungslosen Menschen, Menschen deren Kleidung alt, staubig und zerrissen war, aber auch an großen, stattlichen Frauen, deren Haar ordentlich gekämmt waren und deren Kinder brav gestriegelt und frisiert neben ihnen her tappten. Ihre Männer waren wohl nicht im Kampf gefallen und ihre Hauser standen noch, genauso wie vor dem Krieg. Sie konnten noch an den Sieg und an unseren Führer glauben. Doch durch den Krieg war alles ziemlich knapp geworden, manche merkten davon mehr, manche weniger. Die Lebensmittelmarken reichten für mich und meine Familie kaum aus. Dazu kam noch der ständige Fliegeralarm. Ich kam vorbei an zerbombten Gebäuden, an beschmierten, verwüsteten jüdischen Geschäften und Wohnungen. Endlich stand ich vor der Treppe meiner Wohnung. "Mami, Ana ist endlich da!!" rief mein kleines Brüderchen Paul freudig, als ich endlich, völlig außer Atem, im Türrahmen auftauchte. Anastasia Sophia Peters, das ist mein Name. Tochter von Josephine Peters, geborene Lins, und des Heinz Peters, gefallen 1940 in Osteuropa. "Stell dir vor, Ana: Mutter bäckt einen Kuchen! Weil Johannes doch Morgen Geburtstag hat. Einen echten Kuchen!!"schrie Paul freudig. Ich antwortete nicht. Ich versuchte mich bloß zu erinnern, wann ich das letzte Mal Kuchen gegessen hatte. Mein Magen zog sich bei dem Gedanken krampfhaft zusammen, ich versuchte, an etwas anderes zu denken. "Ja, natürlich musste ich Mehlersatz verwenden, und es ist auch nur wenig Zucker drinnen, aber Kuchen ist immer noch Kuchen." meinte meine Mutter, und holte das leckere Gebäck aus dem Ofen. "Schön." sagte ich "Du weißt ja, ich bin noch mit Miriam verabredet." Schlagartig verfinsterte sich die freundliche Miene meiner Mutter. "Du weißt ja, Ana. Ich will nichts dagegen sagen, dass du dich mit dem Mädchen triffst. Aber sei bloß vorsichtig... Du weißt, wie gefährlich das alles ist. Für dich und für die Mosers! Sieh einfach zu, dass du keiner Polizei begegnest.""Na gut." antwortete ich bedrückt und verließ die Wohnung erneut, um mich auf den Weg zu Miriam zu machen. Ihr war es schon lange verboten worden, mich zu besuchen. Auch ihr Fahrrad musste sie abgeben, ihr Vater musste die Arbeit als Arzt aufgeben und selbst ins Kino durfte sie nicht mehr mit mir gehen. In unser geliebtes Kino... Aber sollten die Deutschen doch machen, was sie wollten, Miriam und mich könnten sie niemals trennen. Auf gar keinen Fall! Das würde ich nicht zulassen. Ja, so dachte ich damals... Ich liebte Miriam, ich liebte sie nicht nur als beste Freundin, ich liebte sie auch so, wie andere Mädchen die Jungs lieben. Natürlich erzählte ich das niemandem, niemandem außer ihr. Wir wollten für immer und ewig zusammen halten, das versprachen wir uns, in Ewigkeit, Amen!! Auf der Straße brannte eisern die Sonne auf meinen Kopf, während ein heißer, stickiger Wind den Staub der Straßen aufwirbelte und in meine langen, blonden Haare blies. Neben zerstörten Wohnungen konnte ich einen alten, schmutzigen Mann sehen, der in einem Hauswinkel kauerte und ins Leere starrte. Die Blicke der Menschen um mich herum waren leer. Hoffungslos. Wann würden diese Qualen endlich vorbei sein... Ich hatte die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang für das Deutsche Reich schon lange verloren. Und spätestens seit der Invasion ging es den Menschen um mich herum auch nicht viel anders. Hitler war für mich auch nie wirklich ein Held gewesen. Er war halt da, und ich dachte auch wirklich, dass ich mich mit dem System arrangieren könnte. Bis, ja, bis dann diese Sache mit dem Antisemitismus, dem Hass auf die Juden so schrecklich außer Kontrolle geriet. Damals war ich enttäuscht, heute hasste ich, ja, ich hasste die Nazis von ganzem !Herzen. Und für Miriam und ihre Familie... Für sie konnte ich nur beten. Als ich an zwei finsteren SS-Männern vorbeikam, zuckte ich erschreckt zusammen. Sie redeten, wie sollte es anders sein, über die Juden. Sie meinten, sie hätten sowieso keine Chance mehr. Hitler regele das mit ihnen schon. Ich beschleunigte meine Schritte, immer weiter und weiter. Ich hatte Angst um Miriam, schreckliche Angst. Endlich kam ich vor ihrem alten, grauen Block an, und ging hastig die schmutzige Treppe hinauf. In diesem Gebäude wohnten ausschließlich Juden, so wie im ganzen zweiten Bezirk. Die Nazis hatten sie damals hier zusammengepfercht, jeder Familie nur ein Zimmer. Ein Zimmer!! Für fünf Menschen! Nur noch wenige Familien versteckten sich hier. Auch die Familie meiner Miriam ließ sich so gut wie nie in der Öffentlichkeit blicken. Es war einfach zu gefährlich. Sie blieben, wenn es nur irgendwie ging, in der Wohnung und waren ruhig. Die Schule durften Miriam und ihre Geschwister ja schon lange nicht mehr besuchen... Ich war mir fast 100 %ig sicher, dass sich die Familie Moser mit irgendwelchen gefälschten Papieren oder mit Sonderrechten hier aufhielt. Dass sie vor gut einem Jahr schon einmal die "Wohnung" gewechselt hatte, das wusste ich ja. Erschöpft und schwitzend klopfte ich an die verkratzte, schon arg mitgenommene Tür. Niemand öffnete. Wieder klopfte ich. Dieses mal hörte ich wie jemand zur Tür schlich, sie jedoch nicht öffnete. Wieder trommelte ich an die Wohnungstür. Nun endlich konnte ich ein schüchternes "Wer ist da?" hören. "Ich bin's, Ana!" zischte ich. Ehe ich mich versah wurde die Tür aufgerissen, ich wurde am Arm gepackt, und von einem schmalen, blassen Mädchen hinein gezerrt. Miriam! Ich entdeckte sofort, dass Miriams Gesicht blasser war als sonst, und ihre verweinten Augen waren nicht zu übersehen "Was ist denn los?" fragte ich vorsichtig. "Mein Onkel Franz... Du weißt schon, der mit den süßen kleinen Zwillingen... Er und seine Familie sind nicht mehr aufzufinden. Ich wette... die Gestapo hat sie abgeholt." Erzählte Miriam leise, und brach in heftige Tränen aus. Sofort nahm ich sie zärtlich in den Arm. "Er schafft das schon... und die Kleinen auch. Es wird eh nicht mehr lange dauern, bis die Alliierten da sind.""Vielleicht hast du ja recht... aber wenn nicht..."entgegnete sie. "Psst... sei schon still." Murmelte ich, und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. "Hilfst du mir, auf die Kleinen aufzupassen, Ana?" fragte mich Miriam flehend. Erst jetzt bemerkte ich, dass nur ein paar Meter von uns entfernt Franziska und Peter, die kleinen Zwillinge auf dem Boden saßen und mit alten Bauklötzen spielten. Doch die beiden Süßen kümmerten sich nicht weiter um uns. "Weißt du was? Meine Mutter hat für Johannes einen Kuchen gebacken. Er hat ja morgen Geburtstag.""Kuchen?!" riefen die zwei Kleinen wie aus einem Mund. "Ja, Kuchen. Schmeckt sicher lecker." antwortete ich lächelnd. "Miriam! Wir wollen auch gerne Kuchen haben. Wieso kriegen wir nie welchen?""Weil ihr nicht Geburtstag habt. "Entgegnete sie knapp. Wieder trommelte es an der Tür. "Seit ruhig!" zischte Miriam und flitzte zur Türe. Sie lauschte kurz und öffnete dann vorsichtig. Ich sah, wie Miriams Mutter schnell zur Tür herein kam, und einen Korb mit Nahrungsmitteln abstellte. "Hallo, Anastasia!" begrüßte sie mich nervös, und nahm die kleine Franziska auf den Arm. "Um Himmels willen hatte ich Angst."keuchte sie erschöpft, und erzählte uns, was ihr geschehen war. Sie war angeblich nur kurz weg, um das nötigste einzukaufen, als ein wildfremder Mann auf sie zukam, und sie rücksichtslos auf den Boden stieß. Er beschimpfte sie und drohte ihr heftigst, bis er endlich von ihr abließ, und mit finsterer Miene weiterging. "Der Judenstern, auf unseren Sachen, macht es uns nicht unbedingt leichter..."murrte sie, während sie ihren Einkauf verräumte. "Wenn alles vorbei ist, braucht ihr ihn eh nicht mehr." antwortete ich, in der Hoffnung die bedrückte Familie etwas aufzuheitern. "Ja... wenn alles vorbei ist..."flüsterte Miriam mit schwacher Stimme. Als ich am nächsten Morgen in meinem Bett aufwachte, spürte ich das warme Kitzeln der Sonne in meinem Gesicht. Es war Sonntag. Und das Kitzeln der Sonne, fühlte sich genauso an, wie das Kitzeln, dass ich vor dem Krieg so oft spürte. Es war, als wäre alles in Ordnung. Als Paul bemerkte, dass ich wach war, hüpfte er auf mein Bett und rief vergnügt: "Heut gibt's Kuchen! JUHU!!" er rollte, ja, er kugelte richtig durch mein Bett. Und quietschte wie ein kleines Hündchen. Eigentlich war es ja mehr als seltsam: Trotz dieser schrecklichen Zeit, und allem was geschah, waren wir Kinder doch immer noch fröhlich, und lachten und spielten, als ob nichts wäre. Mein Bruder Johannes war schon aufgestanden, und machte Ersatzkaffee. Ich hatte noch nie in meinem Leben mehr als einen kleinen Schluck Kaffee getrunken. Vor dem Krieg war ich noch nicht alt genug, um ihn zu kosten. Und nun... Naja, der Ersatzkaffee schmeckte einfach nicht. Als wir vier an diesem Morgen Mutters Kuchen probierten, hätte ich tatsächlich weinen können vor Glück. Ich konnte mich kaum erinnern, jemals etwas so Leckeres gegessen zu haben. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie sich Johannes über dieses Geburtstags Geschenk gefreut hat. Unsere Mutter sagte uns aber auch noch, dass dies wirklich eine Ausnahme sein sollte, da wir die kostbaren Lebensmittelmarken in nächster Zeit für wichtige Dinge brauchen würden. Als sie das, in einem wirklich sehr ernsten Ton, zu uns Kindern sagte, hätte Paul fast los geheult. Er hatte sich doch so gefreut, dass es endlich wieder Kuchen gab. Endlich, nach so langer Zeit! Manchmal wünschte ich mir nichts sehnlicher, als einfach mal Miriam anzurufen, um mit ihr zu plaudern. Aber selbstverständlich war das Telefon für uns schon lange tabu. Durch dieses Verbot wurde es für uns zwei mit der Zeit recht schwierig, uns zu sehen. Denn wir konnten uns ja weder am Telefon, noch in der Schule miteinander verabreden. So kam es mit der Zeit, dass ich Miriam einfach so, ohne Ankündigung, besuchte. Zu Hause war sie sowieso so gut wie immer. Schließlich musste jemand ja auf die zwei Kleinen aufpassen und vernünftig genug, sich nicht in Gefahr zu bringen, war sie ja sowieso. Auch an diesem Morgen machte ich mich wieder auf den Weg zu der Wohnung von Familie Moser. Ich wunderte mich immer wieder, wie Miriam es so viele Jahre lang ausgehalten hatte, ohne von hier weggebracht zu werden, so wie all die anderen Juden. Wieder warf sich bei mir der Verdacht auf, dass sich irgendwo im Wohnblock ihrer Familie ein geheimes Versteck befand, aber... Sehr realistisch erschien mir nicht einmal das. Die Nazis wussten doch, wo die Juden wohnten. Aber auch gefälschte Ausweise erschienen mir plötzlich unsinnig, immerhin trugen die Mosers, wenn sie schon mal auf der Straße unterwegs waren, immer noch den Judenstern. Ich wusste nicht, warum sie so lange nicht deportiert wurden, und ich sollte es auch niemals erfahren. Dieses Mal begegnete ich auf der Straße keiner Polizei und auch keiner SS. Aber das war wirklich nur gut so. Doch auch wie am Vortag klopfte ich wieder und wieder an die Tür, bis ich wieder ein leises "Wer ist da?" hören konnte. "Ana!" antwortete ich. Die Türe schwang auf, und im Türbogen stand ein fröhliches, junges Mädchen, welches ein ganz neues, wunderschönes rot-blau kariertes Sommerkleid trug. Ãœberfröhlich legte Miriam ihre Arme um meine Schultern, beugte sich vor, und gab mir einen langen, wunderschönen Kuss. Schnell packte ich sie an der Hand und zog sie wieder ins Haus hinein. "Bist du noch zu retten?!" knurrte ich wie ein wütender Kläffer, "wenn das jemand gesehen hätte... dann..."ich war sprachlos. "Wo hast du überhaupt das Kleid her?" fragte ich plötzlich ganz verdutzt. "Eine sehr gute Freundin von Mutter hat uns etwas Stoff geschenkt. Sie hatte schreckliches Mitleid mit uns. Und... tada!" Miriam drehte sich wie wild im Kreis, "Mutter hat mir daraus dieses wunderhübsche Kleid genäht!!""Wunderschön..."murmelte ich, und schaute mit verträumtem Blick in die strahlenden Augen meiner Freundin. "Guten Morgen, Ana." Begrüße mich Miriam's Vater. Seine Ehefrau stand vor dem kleinen, verbeulten Herd und brutzelte ein paar schon recht verfault aussehende Kartoffeln, während er in einer schon längst veralteten Zeitung schmökerte. "Schon wieder Kartoffeln." berichtete mir Miriam, "Seit zwei Wochen gibt es jetzt schon Kartoffeln. Nur Kartoffeln!! Kannst du dir das vorstellen?""Ja, aber wir müssen sie aufbrauchen, wir lagern sie hier schon viel zu lange... Außerdem... Naja, außerdem haben wir nicht mehr so viel. Aber das reicht schon..."Antwortete ihr ihre Mutter. Ich wusste beim besten Willen nicht warum, aber ich schämte mich fürchterlich. Fast so, als ob ich selbst daran schuld wäre, dass diese arme Familie fast nichts mehr zu essen besaß. Plötzlich trommelte jemand an die Tür. Es war ein unglaublich lautes Trommeln. Knallhart. Eisern. Erstaunt horchten alle auf. Wieder das Trommeln. Endlich stand Miriam's Vater auf, und ging den staubigen Gang entlang zur Wohnungstüre. Ich kann wirklich nicht sagen, was als nächstes geschah, da ich es selbst nicht weiß. Ich weiß nur, dass sich Miriam's Vater wenige Augenblicke später mit leichenblassem Gesicht zu uns umdrehte. Er schaute niemanden an, er sagte nichts, nur eines: "Gestapo." In dem Moment schalteten alle meine Sinne ab. Ich hörte nichts mehr, ich fühlte nichts mehr und dachte an nichts mehr. Das nächste was ich mitbekam war, dass die Gestapo, nachdem sie alles, ja wirklich jede Schublade, durchsucht hatte, wieder an uns wendete. "Zusammenpacken! Ihr habt 5 Minuten!!" rief einer von ihnen, mit bellender Stimme. "Na los, macht schon!!""Lassen Sie doch wenigstens das Mädchen gehen. Sie ist keine Jüdin, lassen Sie sie gehen." rief Miriam's Mutter erschrocken dazwischen. "Die da?!" fragte einer wütend, und zeigte auf mich. "Bist du die Judenküsserin?! NA?!"Ich wusste nic!ht, was ich antworten sollte. Ich konnte nichts sagen. Ich sah nur, wie Miriam verzweifelt mit den eiskalten Tränen kämpfte. "ES IST UNGLAUBLICH! UNGLAUBLICH! LOS, PACKEN! ALLE!" brüllte einer, in so einem Ton, wie ich das mein Leben lang noch nicht gehört hatte. Ich weiß bis heute noch nicht, wie die Gestapo von Familie Moser erfahren hat. Sie waren einfach plötzlich da. Vielleicht hatte uns jemand an diesem Morgen vor der Wohnungstüre beobachtet, und uns verraten... Ich weiß es nicht. Sofort zerrte mich Miriam an der Hand zu einer kleinen, dunklen Holzkommode die in einer Ecke stand. "Na los.. komm schon, pack dir etwas von meinen Sachen ein. Wo immer wir hinkommen... Du kannst da nicht ohne Kleider ankommen" meinte Miriam mit beschlagener Stimme. Wie sehr sie sich doch irrte. Trotzdem packte ich folgsam zwei Röcke, zwei Blusen, ein Kleid und etwas Unterwäsche sowie eine Strickjacke in einen kleinen Lederrucksack den sie mir reichte. "Gut, hast du alles, was du brauchst?" fragte sie mich, mit fürsorglicher Stimme. Ich nickte nur kurz, und starrte ins Leere. Viele Leute fragten mich schon, wie man sich in so einem Augenblick fühlte, aber ich konnte es keinem sagen. Man fühlte eigentlich regelrecht nichts. Gar nichts. Mein Kopf war leer, komplett leer. Kein Gefühl und kein Gedanke drang in diesen Minuten zu mir durch, und das war wohl gut so, denn wäre es anders gewesen, wäre ich wohl daran verzweifelt. In Begleitung von Miriam und ihrer Familie verließ ich kurze Zeit später lautlos die heruntergekommene Wohnung. Jeder von uns hatte eine Tasche dabei. Keiner sagte auch nur ein Wort. Selbst die beiden Kleinen waren vollkommen ruhig. Draußen, in der heißen Septembersonne angekommen, wartete ein Wagen auf uns. Als erstes hoben die Männer der Gestapo Franziska und Peter durch die hintere Tür des kleinen Lieferwagens, dann kamen Miriam und ihre Mutter an die Reihe, bis sie schlussendlich noch ihren Vater und mich hinauf stießen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen stiegen zwei von ihnen vorne ein, einer setzte sich zu uns nach hinten. Im Wagen herrschte eine Grabesruhe. Nur Franziska konnten wir leise schluchzen hören. Der Wagen ratterte eine halbe Ewigkeit über die Straßen Wiens. Die warme Spätsommersonne brannte auf das schwarze Dach des Lieferwagens. Die Luft war unglaublich stickig. Und ich spürte, wie mir immer übler wurde, bis der Wagen plötzlich ruckartig stehen blieb. Der Mann, der bei uns saß, riss mit einem mal die Hintertür auf, und die gleißende Sonne strahlte uns entgegen. Nun stiegen auch die anderen zwei aus, und halfen uns aus dem Wagen. So standen wir also draußen... Die Sonne über uns, vor uns ein Gefängnis der Gestapo. Ohne etwas zu sagen, gingen uns die Männer voran in das große, kahle Gebäude. Als erstes gingen wir durch einen langen, steinernen Gang, vorbei an ein paar Türen, direkt in ein großes Büro. An der Wand, gegenüber der schmutzigen Fenster, hing ein riesiges, in Gold gefasstes Bild von Adolf Hitler. Ich würdigte ihn kaum eines Blickes. "Heil Hitler!" begrüßte ein junger Mann die Gestapo, die uns begleitete. Einer von ihnen winkte ab, als Zeichen, er solle den Raum verlassen. Als die Bürotüre zuschwang, setzte sich der Winkende an den großen, sperrigen Schreibtisch und sah uns fragend an. "Papiere?" fragte ein anderer mit uninteressierter Stimme. Miriams Vater kramte kurz in der Außentasche seines Koffers, und legte ein paar Ausweise auf den Tisch. Fast drohend stach einem das aufgedruckte "J" ins Auge. Ja, wieder konnte es jeder sehen. Sie waren Juden. Auch ich legte meinen Pass, den ich, wie es das Gesetz verlangte, immer bei mir trug, auf den Schreibtisch. "Nun denn, Fräulein... Peters. Folgen sie dann bitte Herrn Giesler. Er wird sie zu ihrer Zelle führen... Sie werden dann informiert, wann ihre Vernehmung beginnen kann.""Vernehmung?!" fragte ich verwundert. "Haben Sie etwas zu melden? Meine Dame?" fragte der Schreibtischmann laut. Ich antwortete nicht. "Was den Rest betrifft... Gehen sie mit Herrn Fink. Ihr Zug fährt voraussichtlich heute Abend." Erschrocken blickte ich in Miriams Gesicht, doch die war vollkommen ruhig. Bereit, alles was mit ihrem jungen Leben geschehen sollte, anzunehmen. Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, packte mich plötzlich dieser Giesler an meinem Handgelenk, und zerrte mich aus dem Büro. Noch einmal konnte ich Miriam durch den Türspalt sehen. Dieses kleine, magere Mädchen... Gerade einmal 16 Jahre alt... Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Giesler zerrte mich eine steinerne Treppe hinunter. Es war recht kühl dort unten und in der Ferne konnte ich Stimmen hören. Unten war wieder ein Korridor. Doch dieser sah recht schäbig aus, und auf beiden Seiten konnte man unzählig viele Zellen sehen. Giesler ging an Zweien vorbei, zog einen kleinen Messingschlüssel aus der Hosentasche, und begann eine Zelle auf der linken Seite aufzusperren. Er öffnete die Türe, so, dass ich eintreten konnte. "Ich hol' Sie dann später wieder ab... zur Vernehmung." murrte er gelangweilt und schlug die Türe hinter mir zu. In der kleinen Zelle befanden sich außer zwei eisernen Betten, einem Waschbecken und einer alten Toilette eigentlich nichts. Hier war es kalt, dunkel und schmutzig. Ich fröstelte, obwohl Spätsommer war. Plötzlich viel mir auf, dass außer mir noch jemand da war. Auf einem der beiden Betten saß eine junge Frau. Ihr kastanienbraunes, etwas sprödes Haar fiel ihr offen über die Schultern. Sie lächelte. "Wie heißt du, Kleine?"fragte sie mich vorsichtig. "Ana... Anastasia." "So, so. Ich heiße Hannah. Was hast du gemacht...? Sperren die Deutschen neuerdings auch Kinder ein?" fragte sie. "Ich... Ich hab' eine Jüdin geküsst..."antwortete ich etwas nervös. Ohne sie anzusehen. "Ohje..."Murmelte Hannah traurig. "Aber es gibt Hoffnung... Die Russen sind nicht mehr weit. Dann wird alles besser, und hoffentlich komm ich dann auch endlich aus diesem Rattenloch hier raus...""Alles ist besser als dieser schreckliche Krieg... Mein Vater ist gefallen, weißt du." sagte ich. "Mein Bruder auch... Stalingrad." antwortete sie ohne mich anzusehen. "Egal was sie fragen... Gesteh denen bloß nichts!" sagte sie plötzlich in sehr lautem Ton. "Es gibt nichts zu gestehen. Ich hab getan, was ich getan habe!! Und das ist kein Verbrechen!!!"-"Vergiss alles was du über Recht und Unrecht weißt, Kleine... Es sind die Deutschen, schon vergessen?" "Ja... Du hast wohl Recht. Aber trotzdem..."sagte ich. Mein Blick glitt aus dem kleinen Fensterchen, ganz oben an der Wand. Was würde jetzt wohl geschehen? Ich hatte furchtbare Angst, zeigte sie jedoch nicht. Jetzt musste ich sehr, sehr stark sein. Das wusste ich. So verging Minute um Minute. Stunde um Stunde. Als sich die Sonne draußen schon rötlich verfärbte, ging plötzlich die Türe der Zelle auf. Hannah drehte sich nicht um. Sie blieb auf ihrem Bett sitzen und starrte gegen die leere Wand. Im Türrahmen stand einer der Männer von vorhin. Wenn ich mich richtig erinnere, war es dieser Herr Fink, aber ich bin mir nicht ganz sicher... "Anastasia Sophia Peters? Folgen Sie mir bitte." Erschrocken wich ich einen Schritt zurück, begab mich dann aber widerwillig zu Türe. Schnell warf ich Hannah noch einen Blick zu, doch diese erwiderte ihn nicht. Sie starrte immer noch die kalte Wand an, als hätte sie noch nie etwas Interessanteres gesehen. So lief ich ruhig hinter dem Herrn her. Mein Blick glitt über den steinernen Boden. Hellgrauer Granit. Ich sah nicht nach links und nicht nach rechts, bis mein Begleiter plötzlich abrupt stehen blieb und eine Türe aufschloss. "Der, der Sie vernehmen wird, ist bald bei Ihnen. Warten Sie so lange hier drinnen... Und bewegen Sie sich nicht vom Fleck, klar?" mit diesen Worten verließ er mich wieder, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen. So betrat ich den kleinen dunklen Raum. In der Mitte konnte ich einen alten Schreibtisch sehen. Er war vollbepackt mit Zettel und Ordnern. An den Wänden standen ein paar große sperrige Regale, die ebenfalls voll mit verschiedenstem Bürokram waren. Vor dem Schreibtisch stand ein kleiner, knorriger Holzstuhl. Ich setzte mich. Ich atmete tief ein und aus, ein und aus, immer wieder, als hoffte ich, dadurch die Nervosität vertreiben zu können. Plötzlich hörte ich, wie jemand die Türe hinter mir öffnete. Herein kam ein bulliger, etwas älterer Mann im Anzug. Er setzte sich eilig hinter den Tisch und schrieb schnell etwas in eine dicke, ein wenig staubige Mappe. "Hermann Gunner mein Name." Murmelte er abwesend und schüttelte mir eilig die Hand. "Also gut, Fräulein... Peters. Was haben Sie uns zu sagen?" fragte er mich mit monotoner Stimme. "Wussten Sie, dass es rein biologisch keine Unterschiede zwischen arischem - und nicht arischem Blut gibt...?"fragte ich ihn, ebenso gelangweilt, wie er auch mit mir redete. Er blickte mir direkt ins Gesicht. Seine braunen, kleinen Augen funkelten böse. "Antworten Sie mir bitte korrekt!" Ich seufzte, während ich mich über meinen eigenen Mut wunderte. "Ich habe getan, was ich getan habe. Das war's.""Und was war das, bitte schön?!" rief dieser Gunner nun schon richtig wütend, wie ein kleiner Kläffer. "Ich habe eine Jüdin geküsst! Ja, eine Jüdin!! Herrgott noch mal, wissen Sie eigentlich, wie lächerlich das ist? Das ist doch kein Kapitalverbrechen! Ich bin doch erst 16! 16!!"fügte ich ebenso laut hinzu. Plötzlich starrte er mich vollkommen überfordert an. Er hatte wohl keineswegs ein so rasches "Geständnis" erwartet. Doch zu diesem Zeitpunkt war mir einerseits alles hier ziemlich egal, andrerseits konnte ich mir nicht im Geringsten vorstellen, was diese Menschen mit mir machen würden. Herr Gunner seufzte, er nahm seine Brille umständlich ab, betrachtete sie genau und setzte sie schließlich wieder auf. In seinen Augen glaubte ich sehen zu können, dass ihm das alles genau so lächerlich vorkam wie mir. "Wieso... Wieso tun Sie das? Wieso machen Sie einen auf Nazi? Ich weiß, dass Sie die Ãœberzeugung der Deutschen und deren, Entschuldigung...unseres Führers nicht teilen!! Ich hab doch Augen im Kopf! Und ich weiß, dass Sie wissen, dass ich Recht habe! Ich sehe doch Ihren Blick und Ihre Miene, Sie würden mich doch am liebsten wieder nach Hause schicken. Das alles für "unseren" Führer?! Diese Gottesgeißel der Menschheit!!" sagte ich in rebellischem Ton. Ach, wenn ich heute darüber nachdenke, wie dumm und naiv ich war..! "Zügeln Sie Ihren Ton, Fräulein Peters, Sie sind hier die Angeklagte, nicht ich!!" "'Ist doch nur eine Frage der Zeit... Sie werden auch noch hier sitzen!" rief ich in meinem naiven Widerstand. "Jetzt reicht's doch wirklich!! Sie führen sich hier auf, als hätten Sie die Herrschaft über alles und jeden hier! Reißen Sie sich zusammen! Ãœber meine politische Situation brauchen Sie sich momentan garantiert keine Gedanken zu machen!! Denken Sie an meine Worte: Ich werde Sie ans Ende der Welt schaffen, an dem Sie keinerlei Gedanken mehr an mich oder unseren Führer verschwenden müssen." Erst jetzt bemerkte ich, in welcher Situation ich mich hier, in diesem Verhör, tatsächlich befand. "Ursprünglich wollten wir Sie ja schon recht gleich wieder laufen lassen, Sie sind ja noch benahe ein Kind! Da sich Ihre politische Einstellung allerdings als ziemlich eindeutig herausstellt... Werden Sie mir aber wohl doch noch eine gewissen Zeit Gesellschaft leisten! Also gut... Können Sie mir etwas über Ihre Familie erzählen?" "Was hat meine Familie damit zu tun?" fragte ich erschrocken. "Na los, Sie reden doch anscheinend so gerne, also legen Sie mal los..."antwortete Gunner spöttisch. "Meine Mutter, Josephine Peters, ist absolut unpolitisch! Mein Vater, Heinz Peters, ist schon vor Jahren im Kampf gefallen." "Ist das etwa alles? Welche Beziehung hatte Ihre Mutter zu dem Judenpack Moser?" fragte er absolut unberührt. "Mutter kannte die Familie Moser kaum. Das Ehepaar Moser hatte sie vielleicht 3 oder 4 Mal gesehen, Miriam etwas öfters... Wir sind ja Freundinnen." "Das merke ich... Was bedeutet für Sie der Begriff ,unpolitisch'?" fragte er, während er begann seine Brille zu polieren. "Meine Güte, was soll das schon heißen? Unpolitisch eben..." "Eine Feindin der Bewegung?" "Ach Unsinn!! Ich sagte doch: Unpolitisch! Sie hält sich aus allem, was das Regime betrifft, heraus." "Ach tatsächlich? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme, nicht wahr?" "Ich kann mich nicht erinnern irgend ein Wort über meine Gesinnung verloren zu haben!" rief ich mit beschlagener Stimme, die beklemmende Situation schlug doch langsam ihre Wellen. "Gut, dann legen Sie mal los." "Ich..."Jetzt musste ich mich entscheiden. Mein Leben oder meine Freundschaft und Liebe zu Miriam? Meine Vernunft oder mein Gewissen? "Na?" Gunner wurde langsam aber sicher ungeduldig. "Ich... Ich liebe mein Land." Antwortete ich leise. "Das deutsche Reich? Das glauben Sie ja wohl selbst nicht, Fräulein Peters." "Nein... Österreich!!" Ich blickte ihm, voller Feuer, in die Augen. Mir wurde ganz warm, mein Herz erfüllte sich mit Stolz, ja, ich hatte meine Entscheidung gefällt... Ich würde kämpfen. "Was haben die Dich gefragt?" fragte mich Hannah, als die Zellentüre hinter mir abgeschlossen wurde. Ich zuckte aber bloß mit den Schultern, "Alles mögliche... Eben wie ich zum Regime stehe und so weiter."-"Und? Was hast Du geantwortet, Kleine?" "Na was schon... Ich hab ihnen erzählt wie es ist. Sonst nichts." Sagte ich, während ich in meinem Rucksack nach einem Nachthemd suchte. " 'SONST NICHTS'?! Sag, spinnst Du etwa?! Ist Dir klar was die alles mit Dir machen können?" schrie mich Hannah plötzlich vollkommen unerwartet an. "Ich weiß nicht..."murmelte ich. "Einsperren können die Dich, Zuchthaus, Arbeitslager, wer weiß, wenn es ganz schlimm kommt vielleicht sogar Todesstrafe!! Mädchen! Was hast Du Dir bloß dabei gedacht?!" unterbrach Hannah mich heftigst. Ich reagierte nicht. Ganz ruhig begann ich mein Kleid auszuziehen und mich für die Nacht fertig zu machen. Hannah seufzte. Schließlich stand sie auf, machte das Licht aus und legte sich in ihr Bett. "Schlaf gut, Kleine... Und träum von den Russen, ja?" Als ich am nächsten Morgen in meinem harten, knarrigen Eisenbett aufwachte schien die strahlende Septembersonne durch das winzige Fensterchen über meinem Bett. Im ersten Moment wusste ich gar nicht wo ich war, doch als mein verwirrt umherirrender Blick auf Hannah fiel, erinnerte ich mich sofort wieder an alles. "'Morgen Kleine... Hier, das Frühstück ist da." Sie zeigte auf einen kleinen, etwas angerosteten Blechteller, der neben meinem Bett stand. "Iss schnell, die sagen, in einer halben Stunde geht Dein Verhör weiter." Ich rieb mir verschlafen die Augen und nahm einen Bissen Brot in den Mund. "Das schmeckt ja widerlich... Was soll das für Brot sein...?" Hannah lachte. "Tja, das gute Brot ist für die braven Deutschen. Wir Asozialen bekommen den Dreck!" Ich stieg aus meinem Bett und verspürte sofort einen stechenden Schmerz im Rücken. "Autsch..."stöhnte ich mit Schmerz verzogenem Gesicht. Wieder lachte meine Zellen-Genossin hell auf. "Die Gestapo-Betten hinterlassen ihre Spuren, was? Den Schmerz kenn ich noch von meinen ersten Nächten hier... Man gewöhnt sich aber an alles, auch an das hier!" "In so einem schrecklichen Bett habe ich noch nie geschlafen... Das ist doch unmenschlich. "Ich hatte wirklich noch keine Ahnung was unmenschlich war... Wirklich nicht. "Ich sag's ja: Dem Adel das Beste, dem Pöbel die Reste! Aber jetzt los, los! Die können bald hier sein, um Dich zu holen!" meinte Hannah nervös. Ich nahm mein Kleid vom kleinen, abgenutzten Holzstuhl, über den ich meine Sachen am Vorabend gehängt hatte und schlüpfte schnell hinein. Ich zog meine Kniestrümpfe an und band mir eilig meine Halbschuhe zu. "Soll ich Dir Deine Haare flechten...?"fragte Hannah, die mich die ganze Zeit beobachtet hatte, fürsorglich. "Gerne." Ich reichte Hannah eine Haarbürste und ein samtenes Haarband. Sie begann sofort damit meine Haare zu einem ordentlichen Zopf zu flechten. "Steht Dir gut." Meinte Hannah lächelnd und gab mir meine Bürste zurück. "Danke" murmelte ich, während ich begann, mir hastig das Gesicht mit etwas Wasser zu waschen. Ich war gerade fertig als jemand grob an der Zellentüre klopfte. Die Türe wurde von außen aufgerissen und ein Gestapomann trat herein. "Fräulein Peters, antreten zum Verhör." "Bis später Kleine, hoffentlich geht alles gut." Flüsterte mir Hannah zum Abschied zu. "Ganz bestimmt..."antwortete ich leise und trat in den Gang hinaus. Wieder saßen wir uns gegenüber. Ich und Gunner. Gunner und ich. Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Es war wie ein Kampf. Ein Krieg. Ein Kampf zwischen den Generationen. Tod? Leben? Gefangenschaft? Freiheit? Ich konnte mir beim besten Willen nicht mehr vorstellen, wie ich am Vortag auf die Idee kommen konnte, dass er auch nur den geringsten Zweifel am Wort seines Führers hatte. "Guten Morgen, Fräulein Peters. Wie war die Nacht?" "Stickig, hart, unbequem und grauenvoll. Genau wie das Regime. "Antwortete ich frech. Wieder blitzten Gunner's Augen voller Wut. Ja, mein Kampf hatte begonnen. "Ich kann in Ihren Akten lesen, dass Sie kein Mitglied des Bund deutscher Mädel sind, wieso?" "Weil ich nicht bereit bin, mich mit diesem mörderischen Regime zu arrangieren!" "Ich denke, unser Gespräch wird sich heute nicht besonders lange hinziehen... Ich habe mich übrigens informiert. Es soll in Preußen freie Plätze geben..." "Bitte was?" fragte ich verwirrte. Ich verstand tatsächlich kein Wort von dem, was Gunner von sich gab. "Sie werden schon noch verstehen, was ich meine... Gut, kommen wir langsam zu einem Schluss. Glauben Sie an unseren Führer Adolf Hitler?" "Nein!!" antwortete ich laut. "Glauben Sie an das Deutsche Reich?!" "Nein!!!" "Sind Sie bereit, Ihre politische Gesinnung aufzugeben?" "Welche Gesinnung?! Nur weil ich nicht bereit bin, einem Psychopaten zu folgen, soll ich gleich Kommunistin oder ein Sozi sein? Das ist idiotisch!!" "Denken Sie an meine Worte, Fräulein: Ihr Kopf wird rollen!!!" schrie mir Gunner mit eisig kalter Stimme ins Gesicht. In meinem Innern zuckte ich erschrocken zusammen, nach außen blieb ich hart und kontrolliert, so wie ich es mir versprochen hatte. "Was... Was ist mit meiner Familie? Werden sie in Sippenhaft genommen?" "Das bezweifle ich... Ihre Brüder sind immerhin Mitglied der HJ und Ihre Mutter ist auch niemals negativ aufgefallen." Erleichtert atmete ich auf. "Na, erleichtert?" fragte Gunner, nun ausnahmsweise in einem recht humanen Ton. "Ja, tatsächlich." Ich lächelte. Ich weiß nicht warum, aber ich lächelte. Das letzte Lächeln der Kämpferin. Der Abschied von der Kindheit und Vergangenheit. Das Versprechen, niemals aufzugeben. Wieder zurück in der Zelle wurde ich zu meiner Ãœberraschung dieses mal nicht von Hannah empfangen. Sie war nicht da. Spurlos verschwunden. Ich setzte mich auf mein Bett, auf dem auch mein, nein, Miriams Rucksack stand. Ich griff in die Außentasche und zog ein Foto heraus. Ich hatte es nicht hinein gegeben, es musste wohl schon seit einiger Zeit in diesem Rucksack sein. Auf dem Bild waren zwei Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt, zu sehen. Die eine etwas kleiner, dunkleres Haar, dunkle Augen, sehr blasse Haut, recht dünn. Die andere etwas größer, helles Haar, eher hellere Augen, schlank. Die beiden lagen sich gegenseitig in den Armen, lächelnd. Ich drehte das Foto um. Und, tatsächlich, auf der Hinterseite war mit rabenschwarzer Tinte geschrieben: "Für immer zusammen, niemals getrennt: Anastasia und Miriam. April 1943" Ich küsste das Foto, ich drückte es an die Stelle, an der ich mein Herz vermutete, schloss die Augen und weinte. Es waren Tränen, die längst fällig waren. Ich hatte sie verloren, mein Wertvollstes, mein Teuerstes, meine Miriam. Sie würde nie, nie wieder zu mir zurückkehren. Heute weiß ich es sicher, doch schon damals spürte ich die Leere in meinem Herzen. Ruckartig ging die Zellentür auf und herein trat Hannah. Ihr Kopf war gesenkt, so dass ihr kastanienbraunes Haar in ihr Gesicht fielen. Die Türe wurde hinter ihr zugeknallt und als sie aufblickte, konnte ich auf ihrer linken Wange den blutroten Abdruck einer Hand sehen. "Was ist passiert?" rief ich erschrocken und sprang auf. "Ich habe mich geweigert, denen Auskunft über meine Schwester zu geben..." "Und deswegen schlagen die Dich...?" "Merk Dir eines, Anastasia: Die Nazis wären bereit mich, und auch Dich, einfach jeden für ihre Ziele zu töten. Sie gehen über Leichen..." Das verschlug mir die Sprache. Ich weiß, heute kann man sich das nicht mehr vorstellen, aber ich wusste wirklich so gut wie nichts über die brutale Vorgehensweise der Nazis. Erst jetzt lüftete sich langsam der Vorhang des Grauens, ich konnte nur ahnen, was mit uns, denen die anders dachten, passieren würde. "Wie war Dein Verhör...?"fragte Hannah vorsichtig, während sie versuchte, ihre Wange mit etwas Wasser zu kühlen. "Ich glaube, das war das letzte mal, dass mich der Gunner verhört hat. Jedenfalls hat er so etwas in der Art gesagt... Ich weiß nicht, Hannah, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass heute noch etwas passieren wird." "Was denn?" "Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht..." Die Sonne zog über den Himmel und warf ihr goldenes Licht in unsere Zelle. Wir saßen da, still, ganz still, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Mein Herz schlug von Minute zu Minute heftiger, ja, es lag etwas in der Luft. Ich glaube, auch Hannah konnte es spüren, jedenfalls sah sie mich immer wieder voller Mitleid an. Es war ungefähr 16 Uhr als sich ganz unerwartet wieder die Türe öffnete. Wieder stand da der Gestapomann vom Vormittag vor uns. "Peters, auf geht's! Mitkommen!" Erschrocken stolperte ich auf den Gang hinaus, nicht ohne Hannah noch einen verzweifelten Blick zu zuwerfen. "Na, da haben's aber ganz schön was ausgefressen. "Meinte der Gestapomann spöttisch und führte mich noch einmal zu Gunner ins Büro. "Tja, meine Dame. Ich habe Sie gewarnt." empfing mich dieser. "Ich habe Sie gewarnt, aber Sie wollten ja nicht hören. Bitte schön!" Gunner streckte mir ein weißes Blatt Papier entgegen, auf dem, fein säuberlich etwa folgender Text getippt war: "Peters Anastasia Sophia hat die mit dem Urteil vom 12. September 1944 verhängte Strafe (mindestens 8 Monate Haft) am 12. September angetreten und am - verbüßt. Die Genannte ist an das K.Lg. Ravensbrück überstellt worden." Ich wankte erschrocken zurück. In meinem Kopf drehte sich alles, ich konnte nichts mehr fühlen und an nichts mehr denken, mein Herz raste. Wie konnte das bloß passieren? "Zurück in die Zelle! Sie haben 20 Minuten Zeit, dann geht's ab zum Bahnhof. Ach ja, eines merken Sie sich gleich: Das Urteil ist unwiderruflich!" meinte Gunner gelangweilt. Wie kann ein Mensch, ein erwachsener Mann, bloß so grausam zu einer so jungen Frau, ja, beinahe noch zu einem Kind, sein? Ich habe nie wieder etwas von Herrn Gunner gehört. Angeblich wurde er nach dem Krieg von den Sowjets eingesperrt, aber sicher weiß ich das nicht. Zurück in der Zelle hielt Hannah verzweifelt meinen gerichtlichen Bescheid in der Hand und las ihn immer und immer wieder durch. "Was soll das heißen "Urteil vom 12. September 1944"?! Es gab doch gar keine Gerichtsverhandlung, oder etwa doch? Und warum steht da kein Entlassungstermin?!" Während Hannah verzweifelt schimpfte, saß ich auf meinem Bett, den Kopf in die Hände gestützt und weinte bittere Tränen. "Ana, Du darfst niemals aufgeben, hörst Du? Es gibt immer Hoffnung! Auch jetzt! Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir frei! Gib, nie, niemals auf, verstanden?" Hannah saß jetzt neben mir und legte ihren Arm um meine Schulter. "Ja, ich weiß, ich muss stark sein..."antwortete ich tapfer und versuchte mich wieder etwas zu fassen. "Gut... Hast Du alles eingepackt?" "Ja, klar. Die Gestapo kann jeden Moment kommen." Wir standen beide auf, ich nahm meinen Rucksack auf den Rücken, blickte noch einmal in den Spiegel und atmete tief durch. "Gut, Anastasia..."Hannah blickte mir tief in die Augen, ihr Blick zeugte von Stolz, Freundschaft und Hoffnung. "Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder... Nach dem Krieg. In Wien." "Ja, mach's gut." Antwortete ich mit beschlagener Stimme und umarmte Hannah herzlich. Bei einer Freundschaft kommt es nicht auf die Dauer, sondern auf die Intensität an. Ich kannte Hannah nicht einmal 2 Tage, aber doch war die Beziehung zwischen uns beiden eine der besten Freundschaften, die ich je hatte. Ja, wir verstanden uns. Sie ist eine von den wenigen Leuten, denen ich von Herzen danken möchte, denn ohne ihren Beistand hätte ich dies alles nie verkraftet. Wo sind wir? ------------ ::Kapitel 2:: Als die Zellentüre von zwei Gestapomännern aufgerissen wurde, war ich absolut gefasst. Ich hatte mir selbst versprochen zu kämpfen und dieses Versprechen würde ich einhalten! "Anastasia Peters? Mitkommen, bitte sehr!!" rief einer der Männer, als gäbe es nicht wichtigeres auf Erden, als mich von hier wegzubringen. Der Andere packte mich am rechten Arm, zog mich blitzschnell hinaus auf den Gang und schlug die Türe hinter mir zu. Ich hatte nicht einmal Zeit Hannah noch ein letztes Mal anzusehen, bevor mir kühle, silberne Handschellen angelegt wurden. "Wehe Ihnen! Spielen Sie bloß nicht die Heldin! Folgen Sie ganz ruhig." "Schon klar..."murrte ich launisch. Diese Männer führten sich hier tatsächlich auf wie Gott persönlich. Wieder wurde ich den kahlen, feuchten Kellergang entlang geführt und wieder starrte ich auf den Boden: Grauer Granit... Immer noch. Nichts hatte sich hier im Gefängnis geändert, nichts in Wien, aber alles in mir. Der Kampf hatte begonnen, der unendliche Kampf. Draußen war das Wetter wunderbar. Es war ein berauschend schöner September-Nachmittag, die Sonne strahlte wie eh und je, ein warmer Wind fegte über den Asphalt und wirbelte ein paar einzelne Blätter eines nahen Ahornbaumes durch die Luft. "Na, jetzt haben Sie's aber geschafft, Fräulein. Jetzt sitzen Sie endgültig in der Scheiße" meinte einer der beiden übermütig. "Ja... Ist eigentlich schade um Dich. So ein schönes Gesicht!!" fügte der andere scherzend hinzu. Beide lachten, ich war ganz still. Erst jetzt fiel mein Blick auf ein schwarzes Auto, das am Straßenrand parkte. Geheime Staatspolizei... Einer der beiden Männern lies mich los und stieg vorne, bei der Fahrertür, ein. Der andere stieß mich hastig auf die Hinterbank und setzte sich neben mich." "Wohin geht's?" fragte ich in meinem breitesten Wiener Dialekt. "Ins Lager... Schön arbeiten." Hatte ich es doch gewusst... "Dachau?" "Keineswegs." "Wo sind die Mosers?" "Im Osten, alle im Osten." antwortete nun der fahrende Gestapo-Mann lachend. Wir fuhren eine ganze Weile quer durch Wien. Vorbei an zerbombten Wohngegenden, grünen Parkanlagen und dem wirren Stadtleben. Die Räder ratterten unter mir, die Hitze staute sich merklich im Auto. Mir wurde übel... Ich schloss die Augen und dachte nach. Wohin würden die mich bringen? Neben mir scherzten die Männer, lachten, blickten wieder zu mir herüber und waren wieder still. Plötzlich blieb das Auto ruckartig stehen, die Männer rissen die Türen auf und zerrten mich wieder hinaus in die Sonne. Ich stolperte beinahe über meine eigenen Füße, blickte dann aber auf und tatsächlich: Wir befanden uns am Wiener Hauptbahnhof. "Wo ist der Transport...?" fragte der eine den anderen. "Gleis 8, soviel ich weiß." "Auf geht's Mädel!" rief einer und zog mich mit sich. Ja, der Hauptbahnhof... Überall standen SS-Männer, Zivilisten und Soldaten herum. Das tägliche Stimmengewirr lag über dem großen Gebäude, das seinen dunklen Schatten auf die Straßen warf. Hastig liefen wir über den Bahnhof, die Gestapo-Männer hatten es anscheinend sehr eilig. Immer wieder kam ich, durch das grobe Ziehen der Männer, ins stolpern. Immer weiter liefen wir. Vorbei an Güter- und Passagierzügen, bis wir plötzlich vor einem nicht besonders langen, braunen, schmutzigen Zug der Reichsbahn stehen blieben. Trauben von Menschen warteten vor den Eingängen der Bahn. Viele von ihnen waren Juden, Juden mit ihren gelben Sternen. Sehr viele Männer waren dabei, aber auch Frauen und einzelne Kinder drängten sich in die Waggons. Da standen die SS-Männer und stießen eine Person nach der anderen in den Güterzug. "Na los..." murrte einer der Männer, die mich begleitet hatten, während der andere meine Handschellen öffnete. Schließlich schubsten sie mich zu den anderen. Dann gingen sie weg. Sie gingen einfach, ohne noch ein Wort zu sagen. Sie waren einfach plötzlich nicht mehr da. Und so stand ich dort. Vollkommen allein. Umringt von hundert fremden Menschen. Wieder fassten mich fremde, kalte Hände und zerrten mich in den Zug. Doch diesmal wehrte ich mich kein bisschen. Was hätte ich auch tun sollen? Die Männer waren sowieso zu stark für mich. Als alle im Zug waren, wurden die Türen ruckartig verschlossen, und es war dunkel. Heiß, stickig und dunkel. Durch das mit Stacheldraht abgesicherte kleine Fensterchen drang weder viel Luft noch Sonnenlicht in den Waggon. Die Menschen um mich herum zerdrückten mich fast, und es verschlimmerte sich noch, als der Zug dann endlich abfuhr. Alle Leute keuchten nach Luft, ich hatte das Gefühl, dass ich und alle um mich herum bald in Ohnmacht fallen würden. Mir wurde immer schwindliger und ich sah alles verschwommen, doch in Ohnmacht fiel ich nicht, dafür wurde mir wieder speiübel. Ratternd für der Zug weiter, immer weiter und weiter. Alles um mich herum zitterte über den rostigen Gleisen, die sich quer durch das deutsche Reich zogen. Irgendwo in einem staubigen Winkel des Waggons konnte ich ein kleines Kind weinen hören. Ansonsten war alles still, bis plötzlich eine junge Frau neben mir keuchend fragte: "Wo... wo bringen die uns hin...?"niemand antwortete. Keiner von uns wusste es in diesen Stunden, doch wir alle ahnten, dass es für uns kein guter Platz sein würde. "In Deutschland sind wir auf jeden Fall noch... Es ist alles komplett zerbombt da draußen..."antwortete endlich ein älterer Herr, der vor dem kleinen Fensterchen stand. Plötzlich konnte ich ein Schluchzen hören, dass sich bald in ein leises Weinen verwandelte. Es kam von einer dunkelhaarigen Frau, die keinen Stern trug. Sie redete mit leichtem Akzent: "Ich... Ich habe gehört, es soll schreckliche Lager geben... Die Leute sollen angeblich gezwungen werden, sehr hart zu arbeiten, und es soll dort schlimme Krankheiten und viele Tote geben...""Das kann nicht sein! Das würde die nicht tun!" rief jemand dazwischen. "Ich glaube, die würden noch ganz andere Dinge tun.." murmelte ich leise vor mich hin. "Von wo wollen Sie das wissen?" fragte die eine junge Dame schüchtern. "Ich hörte es von jemandem, der jemanden kennt, der dort war." meinte die Dunkelhaarige knapp. "Nein... ! Das - Das kann ich, nein, das will ich nicht glauben..."sagte wieder jemand. "Ich hab auch nicht gesagt, dass ich es glaube, ich habe nur gesagt, dass ich es gehört habe." erklärte die dunkelhaarige Frau. "Lassen wir das! Es nützt eh nichts!! Aber wir sollten nun unbedingt versuchen uns etwas zu organisieren!" rief ein Mann mittleren Alters der in der Mitte das Waggons stand. "Also... Weiß jemand, wie lange die Fahrt dauern wird...?" "2 oder 3 Tage. Das ich habe ich am Bahnhof von einem SS-Mann erfahren." Diese Antwort kam von einem jungen, sehr hübschen Jungen, der vielleicht ein paar Jahre älter war als ich. Er saß zu meiner rechten. "Oh mein Gott..."flüsterte die Dunkelhaarige. "Gut... Ich schlage vor, wir funktionieren eine der Ecken des Waggons zu einer Toilette um." Meinte der Mann vorsichtig. "In diesen zwei Winkeln befinden sich Mütter und Kinder, in dem da ältere Leute... Ich schlage also vor, wir verwenden diesen da." Er wies auf den Winkel rechts neben der Waggontüre. Widerwillig rückte eine Gruppe Männer, welche sich in dem Winkel befand, weiter in die Mitte des Waggons. "Wir... Wir haben einen Suppetopf dabei, den man als Toilette benützen könnte." rief eine etwas dickliche, rothaarige Frau. "Ausgezeichnet! Würden Sie ihn bitte herüber reichen? Vielen Dank!" Die Sonne warf ihr rötliches Abendlicht in den Waggon, der ratternd immer weiter fuhr. Hin und wieder riefen ein paar Männer Ortsnamen auf, die sie durch das kleine Fenster erhaschen konnten oder jemand stieg eilig über uns, die wir Großteils auf dem schmutzigen Boden saßen, hinweg um unsere "Toilette" zu benutzen. "Darf ich fragen warum Du hier bist?" fragte der hübsche Junge neben mir höflich. "Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht so genau... Die Nazis sind wohl mit meiner Weltanschauung unzufrieden." "Das kenne ich... Ich bin Sozialist. Mein Name ist übrigens Stephan." Antwortete er lächelnd. "Ich heiße Anastasia. Wie alt bist du den? Ich bin 16 ½..." "Ich bin 18 Jahre alt. Hast du Familie?" "Aber ja. Ich habe zwei Brüder und meine Mutter. Sie sind alle in Wien... Ich konnte mich nicht einmal von ihnen verabschieden." "So ging es mir auch. Gehst du das erste Mal ins Lager?" fragte er sehr vorsichtig. "Natürlich. Du etwa nicht?" Er schüttelte abwesend den Kopf. "Nein, ich war bereits einen Monat in Dachau. Ich weiß nicht warum, aber dann haben mich die Deutschen da raus geholt und nach St. Pölten gebracht. Dort wurde ich nochmals verhört und jetzt... Jetzt fahr ich mit euch ins Nirgendwo." "Und? Wie war's in Dachau? Im Lager mein ich." "Das willst Du nicht wissen, glaub es mir... Ich kann nur für uns alle hier hoffen, dass das Lager, in das wir fahren, besser ist als Dachau. Wenn ich Dir einen Tipp geben darf: Wenn ich Du wäre, würde ich mir die langen Haare gleich hier im Zug ein ganzes Stück kürzer schneiden. Sonst läufst Du in Gefahr, dass man Dir im Lager die Haare komplett abschneidet. Wegen der Läuse, verstehst Du?" Ich antwortete nicht. "Soll ich sie Dir abschneiden, Anastasia? Vielleicht hat jemand eine Schere dabei..." Ich nickte still. "Aber nicht zu kurz, hörst Du?" "Entschuldigen Sie bitte, haben Sie zufällig eine Schere dabei?" fragte Stephan die dunkelhaarige Frau. "Leider nein." "Stephan, ich hab eine!" rief einer der Männer am Fenster zu uns herüber. Er begann seinen Rucksack zu durchsuchen und zog schließlich tatsächlich eine kleine, spitze, silberne Schere heraus. "Vielen Dank, Jakob." meinte Stephan und kletterte durch den Waggon, um die Schere in Empfang zu nehmen. Ich schloss die Augen. Meine geliebten Haare... Sie waren mir immer das Wichtigste meines Äußeren gewesen. Nie hatte ich mir von Mutter mehr als die Spitzen schneiden lassen. Ganz kurz öffnete ich die Augen, ich konnte sehen wie mein blondes Haar zack, zack in dicken Strähnen auf den dreckigen Holzboden fiel. Schnell schloss ich meine Augen wieder. Im Waggon war es ganz still, selbst die paar Kinder die mit uns reisten hatten aufgehört zu weinen. Zack, zack konnte ich die Schere schneiden hören bis Stephan sein Werk schließlich beendete. "Ich bin fertig. Du kannst die Augen wieder aufmachen." Ich fühlte vorsichtig nach meinen Haaren. "Schulterlang.... Wie sieht's aus?" fragte ich die dunkle Frau neben mir. "Sehr hübsch... Mein Name ist im übrigen Nitra. Ich bin eine Roma." "Was ist mit Ihrer Familie?" fragte ich zögernd. "Ich weiß es nicht... Ich wurde alleine verhaftet, als ich versuchte etwas zu essen aufzutreiben." "Wenn Sie wollen, kann ich Ihr Haar auch abschneiden..."meinte Stephan. "Nein, nein. Schon gut, Junge. Ich sehe, Sie machen das sehr fein, aber meine Haare behalte ich." Langsam brach die Dunkelheit an und wir fuhren immer noch weiter und weiter ohne Ende in Sicht. "Ich schlage vor, wir fertigen eine Liste mit den Namen aller Personen in diesem Abteil an!" rief nun wieder der Mann in der Mitte des Waggons. "Hat jemand Stift und Papier?" "Ja, hier!" die Antwort kam von einem sehr unscheinbaren Mann Mitte dreißig. "Gut... Fangen wir also an. Ich denke, wir gehen von links nach rechts." Und so rief einer nach dem anderen seinen Namen auf. "Zitter Erich, aus Wien" "Zitter Hans Paul, auch aus Wien" "Sachansky Rudolf, St. Pölten" "Templer Rebekka, Wien" "Lutzig Frieda, aus Passau" Und so weiter, und so weiter. Schließlich war Nitra an der Reihe. "Stojka Nitra, Staatenlos, bis zu letzt aber heimatlich in Wien" Als nächstes war ich an der Reihe. "Peters Anastasia Sophia, Wien" "Hotz Stephan, aus Berlin." Gerade als der letzte Lichtstrahl den Waggon verließ war auch der letzte Name von Leon Hirt, dem Mann in der Mitte der Waggons, notiert worden. "Im Waggon befinden sich 34 Männer, 21 Frauen und 6 Kinder." "61 Personen..."murmelte Stephan leise. "Kein Wunder, dass es so eng ist." Antwortete ich ihm und legte meinen Kopf auf seine Schulter. "Ich darf doch?" "Klar. Kein Problem." Ich drückte Miriams Rucksack fest an mich und schloss die Augen. Das gleichmäßige Rattern des Zuges wog mich sanft in einen seligen Schlaf. Ruckartig blieb der Zug stehen und riss mich aus dem Schlaf. Erschrocken begann eines der Kinder bitter zu weinen. "Was ist los...?" fragte die dickliche, rothaarige Herta Brunner. Ein paar Männer standen immer noch, oder schon wieder, am Fenster und versuchten etwas in der Dunkelheit zu erkennen. "Ich glaube... Wir sind in Prag." sagte Jakob. "Wo bringen die uns bloß hin...?" "Mir ganz egal. Hauptsache nicht nach Polen!" antwortete Jakob. "Wieso? Ich glaub Miriam ist in Polen..." "Wer ist Miriam?" fragte Stephan etwas überrascht. "Meine Freundin!" "Ist sie Jüdin?" "Ja, wieso?" Stephan sagte nichts mehr. Still starrte er vor sich hin in die Dunkelheit. "Was ist denn jetzt?! Was ist in Polen?!" rief ich mit belegter Stimme. Keine Antwort. Stille. "Komisch... Scheint so, als würden wir nicht mehr weiterfahren." Sagte einer der Männer am Fenster. "Woher kennst Du eigentlich diesen Jakob?" fragte ich Stephan. Ich wollte ihn etwas ablenken. "Wir waren zusammen in Dachau und St. Pölten. Ich glaube, die Nazis vermuten, dass wir in der gleichen Bewegung tätig waren." "Und? Seid Ihr das nicht?" Stephan schüttelte den Kopf. Ich spürte, dass ich langsam aber sicher auf die Toilette musste. Eigentlich hatte ich vorgehabt, es mir während der Zugfahrt zu verkneifen, aber das stelle sich bald als unmöglich heraus. So fasste ich mir schließlich ein Herz und begann über die Leute hinweg zu steigen. Zum Glück war der Suppentopf fast leer. Die Männer, welche aus der Ecke abrücken mussten, hatten den Topfinhalt in den letzten Stunden immer wieder zum Fenster hinausgeleert. Eine wohl sehr grässliche Arbeit. Ich schämte mich zwar etwas, aber schließlich zog ich doch den Rock nach oben, die Unterhose nach unten und kauerte mich über den Topf. "Ich finde, wir haben das mit dem Topf gut getroffen." meinte Stephan, als ich wieder an meinem Platz zurückkam. "Stell dir vor, wir hätten kein Gefäß aufgetrieben!" "Ja, Gott sei Dank war Frau Brunner so kooperativ." "Ach es ist schrecklich... Wie soll man denn hier nur schlafen?" Das war Nitra. "Sie haben ja gar keinen Koffer oder Rucksack dabei." bemerkte ich mitleidig. "Ja. Die Deutschen haben mich, wie schon gesagt, bei der Suche nach Essen überrascht. Ich konnte nichts mitnehmen." "Wollen Sie ihren Kopf vielleicht auf meinen Rucksack legen?" "Ach nein, Anastasia, den brauchst du doch selbst." "Unsinn, ich habe doch Stephans Schulter." "Ja, wirklich. Das ist kein Problem, nehmen Sie ruhig Anastasias Angebot an." So reichte ich Nitra Miriams Rucksack und sie nahm ihn dankbar in Empfang. "Ihr wärt so ein liebes Pärchen..."murmelte diese vor sich hin. "Oh nein. Ich habe schon eine Freundin!" flüstere ich. "Miriam?" "Genau." Und was ist mit Ihnen, Stephan? Haben Sie Interesse?" fragte Nitra kichernd. Stephan blickte mich grinsend an und sagte schließlich "Der Tag ist noch jung, Nitra." Er blinzelte mit seinen schönen, grünen Augen. Ich konnte sehen, dass es ein Scherz war. ~ Fortsetzung folg ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)