Fürst der Finsternis von aprileagle (Zweiter Platz Herbst-Winter-FF Wettbewerb 2003) ================================================================================ Kapitel 5: Lilie - 5: Schmerzen ------------------------------- Kapitel 5: Schmerzen "Was machen wir mit dem Brief, den uns Faust gegeben hat?" "Wir werden mit Ren darüber reden, sobald es ihm besser geht." "Nicht, dass er dann alles falsch versteht." "Das wird er schon nicht, er ist doch klug." "Wie du meinst..." Asakura Yoh blickte seine Verlobte lange an, bevor er das besagte Schriftstück zusammen faltete und in die äußerste Ecke seiner Schreibtischschublade legte. *** Ren war schon lange wach, bevor er das gedämpfte Klopfen an der Tür hörte, das Asakura Yoh jeden Morgen wecken sollte, damit er pünktlich oder zumindest gerade noch rechtzeitig zur Schule kam. Wie jeden Morgen versuchte der junge Japaner die Tatsache zu ignorieren, dass die Nacht wirklich vorbei war, er wirklich aufstehen musste. Noch zehn Minuten, dann wird sie persönlich herein kommen und ihn an seinen Ohren heraus ziehen. Ren kannte den asakuraischen Tagesablauf mittlerweile sehr gut, die morgendliche Routine sogar minutiös, schließlich war er vor vier Wochen nach Japan zurückgekehrt. Zu Beginn hatte Yoh zu Hause bleiben müssen, weil Faust nicht mit der Wundheilung seiner Hände zufrieden gewesen war. Nach einer Woche des Nichtstun hatte Yoh dann die Nase voll gehabt und darauf bestanden, dass er zumindest für die langweiligen Stunden, in denen er sowieso nie großartig Mitschriften machte, in die Schule und somit wieder raus an die frische Luft kam. Seitdem lief er mit zwei dicken Verbänden an seinen Händen herum, war kaum in der Lage, etwas zu halten geschweigedenn auch nur ein Wort in der Schule zu schreiben, aber er war eben nicht aufzuhalten. Nein, Asakura Yoh konnte nicht in einem muffigen Zimmer gehalten werden, er musste raus, und wenn er sich mitten in der Nacht hinaus schlich, um auf dem Dach die Sterne anzuschauen. Erneut klopfte es an der Tür, dabei waren gerade einmal fünf Minuten vergangen. Heute schien es Anna wohl besonders eilig zu haben. Ren musste ein wenig lächeln, als sich Yoh sein Kissen über den Kopf zog und etwas Unverständliches murmelte. Er, Tao Ren, war da anders. Obwohl auch ihn manchmal das Bedürfnis überkam, einfach so auf den Friedhof oder in den Park zu gehen, so war er insgeheim über jede weitere Woche froh, in der Faust ihn erst zu strenger Bettruhe und schließlich zu ruhigen Tage, ja keinem Stress und ja keinen schnellen Bewegungen verordnete. Denn er wollte jetzt nicht von fremden Menschen umgeben sein, wollte nicht, dass ihn dreißig Augenpaare neuer Mitschüler neugierig beäugten und dumme Fragen stellten, die er nicht beantworten wollte und nicht beantworten konnte. Nicht jetzt, vielleicht aber auch niemals. Die erste Woche wichen weder Anna und Yoh noch Faust weit von seiner Seite, denn der Zauberspruch hatte ganze Arbeit geleistet. Es hatte wirklich nicht viel gefehlt und er wäre an der tiefen Wunde, die Faust so fachmännisch vernähte, dass außer einer dünnen Linie keine weiteren Narben zurückbleiben würden, verblutet. Manta hatte sich erst gewundert, ob sie Ren nicht in ein richtiges Krankenhaus schaffen sollten, aber Faust wollte davon nichts hören. Er war schließlich ein ausgezeichneter Arzt und konnte seinem Patienten die Pflege ankommen lassen, die er auch in einem Krankenhaus erhalten hätte. Hinzu kam Fausts unerschütterlicher Glaube, dass ein Patient nur wirklich zu Hause gesund werden würde, wo er Ruhe, Vertrautheit und liebe Menschen um sich herum vorfand. Also blieben Faust und Eliza die ersten sieben Tage beinahe ununterbrochen an Rens Krankenstatt, der kaum etwas davon bemerkte. Von den Medikamenten, die er erhielt, und dem hohen Blutverlust war er ständig wie benebelt, schlief unregelmäßig und hatte meist nicht einmal mehr die Kraft, seine Augen zu öffnen. Dennoch hatte er gewusst, dass Faust da war, wann er immer er zu sich kam. Genauso wie er die Stimmen der anderen in dem Gewirr aus Fragen heraus hörte. Eine Woche später entschied Faust, dass Ren jetzt über dem Berg war und jetzt einfach nur noch Ruhe, viel Ruhe benötigte, um zu gesunden. Er rechnete mit Rens völliger Genesung zu Weihnachten. Seitdem kam der Doktor nur noch einmal pro Tag, um sich die heilende Wunde prüfend anzuschauen, und besuchte in der Zwischenzeit andere Patienten in ganz Japan, meist Schamanen, die er während des Shaman Fights in Amerika kennen gelernt hatte. Yoh und Anna luden ihn zwar ein, in dieser Zeit bei ihnen zu bleiben, aber er lehnte nur dankend ab und fragte leicht scherzend, ob die Einladung trotzdem für den Festtagsbraten stand, zu Weihnachten. Weihnachten... Ren verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf und starrte hinauf zu der Decke an einen Fleck, den er mittlerweile auswendig kannte, auch wenn es in dem Raum noch viel zu dunkel war, um ihn wirklich sehen zu können. Er wollte nicht an Weihnachten denken, denn er hatte überhaupt keine Lust auf dieses dumme Fest. Zwar luden Anna und Yoh kräftig alle Freunde ein, sogar Lyserg und Chocolove hatten zugesagt, dennoch wusste Ren, dass er sich ungemein fehl am Platz vorkommen würde. Erst recht mit seiner miesen Laune, mit der er den feiernden Gästen den ganzen Spaß hundertprozentig verderben würde. Die Tür wurde leise aufgeschoben und Ren schloss sofort seine Augen, als Anna in den Raum schlich. Es war der freie Raum auf der oberen Etage, den Yoh ihm zugeteilt, und sich sofort mit darin eingenistet hatte, vermutlich, um bei ihm zu sein, sollte doch einmal ein Notfall eintreten, er nachts nicht aufs Klo kommen oder seine Wunde wieder aufplatzen. "Yoh! Steh auf! Es ist schon zehn Minuten vor sieben Uhr." Flüsterte das Mädchen und nahm ihrem müde grummelnden Verlobten einfach das Kopfkissen weg, wie jeden Morgen. Ren lag ganz still und hörte einfach nur ihren geflüsterten Worten zu. Natürlich wollten sie ihn nicht wecken, aber er war schon immer lange wach, bevor Frühaufsteherin Anna aus ihren Federn kroch. Zehn Minuten vor sieben. Sieben Uhr müssen sie das Haus verlassen, sonst wird es richtig eng. Obwohl Ren die beiden meist noch weit nach sieben im Haus herumpoltern hörte. Anna könnte schon längst verschwunden sein, aber sie wartete auf ihren Verlobten, jeden Morgen wieder. "Dein Frühstück wird kalt, Yoh, steh endlich auf!" Ihre Stimme war noch immer gedämpft, aber an Yohs unterdrücktem Kichern wusste Ren, dass das Mädchen ihre gemeinste Waffe gegen einen müden Jungen anwandte: Sie krabbelte ihn aus, eine Methode, die immer funktionierte. Das hatte der junge Chinese mittlerweile gelernt. "Ist ja schon gut, Anna. Du hast ja gewonnen." Lacken raschelten, dann folgte ein herzhaftes Gähnen und das Geräusch von einem sich materialisierenden Geist. Amidamaru hatte eigentlich die Aufgabe, Yoh jeden morgen zu wecken, aber da er den jungen Japaner nicht auskitzeln konnte, hatte Anna diese Aufgabe übernommen. Dafür würde der Geist Yoh gleich daran erinnern, wo er am letzten Abend seine Kleidung verstreut hatte. >Deine Hosen liegen im Flur und du hast gestern auf dein Hemd gekleckert, nimm dir lieber ein neues.< hörte Ren nur wenige Sekunden darauf Amidamarus leise Stimme. Jeder nahm Rücksicht auf den jungen Chinesen, der sich schlafend stellte und diese morgendlichen Momente am meisten genoss. Ja, am Morgen war es immer am friedlichsten, auch wenn Anna wohl anderer Meinung gewesen wäre, als Yoh nach seinen Socken griff und scheppernd zu Boden fiel. Danach war für einen Moment absolute Stille und Ren ahnte, dass drei Augenpaare ängstlich in seine Richtung starrten, also gab er sich besonders viel Mühe, sich nicht all zu auffällig zu verhalten. "Baka! Jetzt nimm deinen Krempel und zieh dich unten um!" schimpfte Anna leise. "Und beeil dich!" "Hai..." Behutsame Schritte über den knarrenden Boden, vorsichtig wurde die Tür vorgeschoben, dann polterte Yoh laut die Treppe hinunter. Ren schüttelte seinen Kopf und öffnete seine Augen wieder. Das Lächeln auf seinem Gesicht tat weh, aber wenn sich Yoh wie ein Elefant im Porzellanladen aufführte, konnte er nicht anders, als ein klein wenig zu grinsen. "Baka!" zischte Annas Stimme durch das ganze Haus, danach war es wieder ruhig. Ren entspannte sich ein wenig und starrte in die Dunkelheit. Heute war der erste Dezember, was bedeutete, dass die Sonne erst in einer Stunde aufgehen würde. So lange würde er noch liegen bleiben und sich dann erst Gedanken machen, was er an einem solchen Tag überhaupt machen sollte. Irgendetwas, das ihn vom Grübeln abhielt, das einfach seine Gedanken und seinen Körper beschäftigte. Irgendetwas. Er war sogar schon so verzweifelt gewesen und wollte Annas Strickzeug aus ihrem Zimmer klauen, entschied sich dann aber doch dagegen und bastelte dafür den ganzen Tag an einem Drachen, den er kurz bevor die beiden Japaner aus der Schule zurückkamen, wieder zerstörte und in den Müll warf. "Baka!" Was Yoh jetzt auch wieder getan hatte, ob er nun seinen Tee verschüttet, sich auf sein frischgewaschenes Hemd gekleckert oder einfach nur seine Schuhe am letzten Abend nicht geputzt hatte, Anna fand immer etwas, um ihn herum zu kommandieren. Ren hatte früher immer geglaubt, sie würde Yoh nur schikanieren und der junge Japaner würde sich aus purer Angst ihr gegenüber nicht widersetzen, aber je mehr Zeit er in dem Asakura Haushalt zubrachte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass Yoh nicht all seine Missgeschicke aus Ungeschicktheit tat, sondern viele auch provozierte, so als habe er Spaß daran, dass Anna ihn so gefährlich anfunkelte. Genauso wie Ren das Mädchen nun mit anderen Augen sah. Gewiss, sie hatte eine seltsame Art von Humor, den er wohl erst in drei Jahrzehnten verstehen würde, aber sie war gar nicht der Despot, für den er sie immer gehalten hatte. Zwar nahm sie die Mahlzeiten und die Hausordnung sehr ernst, aber wenn es um ihren Verlobten und dessen Freunde ging, machte sie keinen Kompromiss. Wenn es hart auf hart kam, dann ging ihr Yoh über alles. So hatte sie auch keine Fragen gestellt, als Yoh und Horo Horo wieder zurück kamen, mit einem schwer verletzten Ren und einem besorgt dreinschauenden Faust im Schlepptau. Statt dessen war sie ohne zu Murren den Anordnungen des Doktors gefolgt und hatte sich ebenfalls um Ren gekümmert. Der junge Chinese konnte sich kaum an etwas erinnern, das in der ersten Woche nach seiner Rückkehr geschah, alles lag hinter einem dichten Nebel aus Schmerzen, Benommenheit und einschläfernden Spritzen. Aber er erinnerte sich noch ganz klar daran, dass er erwachte und Anna an seinem Futon saß. Sie hatte mit einem feuchten Tuch sein Gesicht vorsichtig gesäubert, was Ren seltsam vorkam. Erst später wurde ihm bewusst, dass sich zu seiner schweren Verletzung wohl auch noch Fieber eingestellt hatte. Sanft hatte sie ihn angelächelt und >Willkommen zu Hause, Ren.< geflüstert, bevor seine Welt wieder in Dunkelheit versank. Yoh-kun muss ihr alles erzählt haben. Denn Anna fragte nicht einmal nach, was genau in China vorgefallen war. Sie kümmerte sich ohne zu murren um den verletzten Freund, nahm ihn ohne zu zögern in ihr Haus auf, stellte aber keine verletzenden Fragen, für die Ren sowieso noch nicht bereit gewesen wäre. Weder über seine Wunde, noch über den Kampf, und besonders nicht über den Verbleib seiner Schwester. Jun... Ren holte tief Luft, als sich wieder dieser unangenehme Kloß in seinem Hals bildete und dachte krampfhaft an etwas anderes: An die Fernsehshows, die heute laufen würden, an das Bild, das er von dem Baum vor dem Haus malen wollte, an Faust, der ihn hoffentlich für eine weitere Woche krank schreiben würde. Er dachte an so ziemlich alles, das nichts mit China und erst recht nichts mit seiner Schwester zu tun hatte! "WOW! Es hat ja geschneit!" Ertönte da plötzlich Yohs aufgeregter Schrei, als die Eingangstür geöffnet wurde. Ren runzelte leicht seine Stirn, dann richtete er sich auf. Sofort fuhr Schmerz durch seinen Oberkörper und er legte seine rechte Hand besänftigend auf seinen Bauch, konnte den dicken Verband darunter spüren. Reiß dich zusammen! Er biss sich auf die Zähne und kroch auf seinen Knien hinüber zum Fenster, wo er die Vorhänge ein wenig zur Seite schob, um hinaus spähen zu können, heimlich natürlich. Faust sagte immer, dass Schlaf die beste Medizin sei und somit wurden er - und zu seinem Leidwesen auch Yoh - schon immer gegen neun Uhr ins Bett geschickt und Ren sollte möglichst ausschlafen. Was natürlich Yoh nicht davon abhielt, bis noch kurz vor Mitternacht mit ihm zu quatschen, Stunden, die Ren ebenfalls sehr genoss. Tatsächlich, es schneit. Der junge Chinese blickte hinaus in den stetigen Flockenfall und verdrängte den Gedanken, dass es in seiner Heimat seit bereits einem Monat schneite. Hier in Japan kam der Winter etwas später, umso mehr schien sich Yoh darüber zu freuen. Wie ein Welpe, der das erste Mal Schnee sah, rannte er durch das weiße Element und warf laut lachend den Pulver nach oben, um ihn auf sich herunter rieseln zu lassen. Ren konnte Annas Gesichtsausdruck nicht sehen, als sie zu ihrem Verlobten hinüber stiefelte, ihm den Schal umband und seine dicke Mütze aufsetzte und ihm schließlich seine Schultasche in die Hand drückte. Aber er ahnte, dass sie lächelte. Die zwei sind schon seltsam... Das muss gerade ich sagen! Ren sah ihnen nach, bis sie aus dem Tor hinaus gegangen und aus dem Schein der Straßenlampen verschwunden waren. Dann ließ er sich zurück auf seinen Futon fallen und wusste, dass nun die schlimmsten Stunden des Tages begannen. *** "Welche Sendung willst du schauen, Bason?" Ren saß auf weichen Kissen im Fernsehzimmer und starrte auf den flimmernden Bildschirm, so rasch schaltete er durch die einzelnen Programme. Vor ihm auf dem Tisch lag eine angefangene Zeichnung eines Baumes und auf dem Papier kullerten zwei Tabletten vor sich hin. Ungeduldig blickte der junge Chinese auf die Uhr, nur, um zu sehen, dass es noch immer zwanzig Minuten bis zehn Uhr waren, erst dann dürfte er laut Faust die nächste Medizin nehmen. Wie immer hatten seine Schmerzen jedoch eher eingesetzt und Ren überlegte schon, ob er wieder den Kühlbeutel aus dem Gefrierfach holen sollte. Aber auf der einen Seite wollte er Anna nicht beunruhigen, die immer bemerkte, wenn er in dem besagten Fach gewühlt hatte, und auf der anderen Seite kam sich Ren unglaublich dämlich vor, wenn er sich einen rosafarbenen Beutel in der Form eines Ferkels an den Bauch hielt, auch wenn ihn außer seinem Geist niemand sehen konnte. >Nun ja... diese Sendung über diese Geister...< gab Bason nach einigen Minuten des Schweigens schließlich zu und setzte sich neben seinen Herrn auf die Kissen, wobei er sie nicht wirklich berührte, sondern einige Zentimeter über den weichen Stoff schweben blieb. "Du meinst die Geschichte über die zwei Geister, die im Tokyo Tower Hotel leben, dort durch Wände gehen und die Gäste erschrecken?" Ren kramte nach der Fernsehzeitung unter dem Tisch und verkniff sich ein schwaches Lächeln, als er Bason förmlich erröten fühlte. Ja, es war eine kitschige Kindersendung, aber Ren schaltete ohne zu zögern auf das entsprechende Programm, als er den Vermerk in der Zeitschrift fand. Er schuldete dem chinesischen Krieger eine ganze Menge, allem voran für Basons unglaubliche Loyalität. Ren verbannte ihn in seine Totentafel, verstieß den Geist damit offiziell aus seinem Leben, und dennoch erhielt er kein einziges Wort des Zorns von dem Krieger, als Anna den Bann aufhob und er endlich wieder frei kam. Ren hatte böse Worte oder zumindest ein beleidigtes Schmollen seines Geistes erwartet, aber nichts von all dem traf ein. Dafür war der Geist unglaublich freundlich und sehr besorgt um seinen verletzten Herrn. Auch änderte sich sein Verhalten nicht, als Rens Wunden langsam zu heilen und er durch das Haus zu wandern begann. Ren brauchte eine ganze Weile, um zu verstehen, dass Bason ihm schon längst verziehen hatte. Da der junge Chinese wusste, dass er noch viel länger brauchen würde, um sich bei ihm richtig entschuldigen und sich zugleich bei ihm bedanken zu können, nahm er einfach mehr Rücksicht auf seinen Geist, und wenn diese daraus bestand, ihn das Fernsehprogramm auswählen zu lassen. >Genau, das ist die Serie!< freute sich der chinesische Geist, der seinen Herrn besser als jeder andere verstand, ausgenommen seiner toten Schwester. Er hatte die stumme Entschuldigung schon längst akzeptiert. Ren betrachtete den Vorspann leicht gelangweilt, bevor er wieder zu dem Bleistift griff und weiter an seiner Zeichnung arbeitete. Diese Tätigkeit ließ seine Schmerzen wenigstens ein wenig in den Hintergrund treten, so wie die Pein in seinem Herzen, die ihn jeden Tag zu überwältigen drohte und die er jeden Tag aufs Neue bezwang. Die Vormittagsstunden waren immer die schlimmsten, dennoch wollte er nicht mit Yoh und Anna in die Schule gehen. Er wusste, dass es dort nur noch schrecklicher gewesen wäre. Hier hatte er das Gefühl, seinen Erinnerungen entkommen zu können, indem er ziellos durch das Haus und den Garten wanderte, dort wäre er praktisch an eine Schulbank gefesselt, müsste umringt von neugierig starrenden Schülern still sitzen. Bei dieser Vorstellung schüttelte es ihn leicht und er hoffte insgeheim, dass Faust ihn nie wieder gesund schreiben würde. >Ich versteh nur nicht, warum sie drei Mal anklopfen müssen, um durch Wände gehen zu können.< wunderte sich Bason laut und streckte seine rechte Hand ohne zu zögern durch die Wand neben sich. Als sein Herr nicht antwortete, drehte er sich zu ihm um und seufzte leise. Wie immer hatte Ren versucht, den Baum vor dem Haus zu zeichnen. Und wie immer hatte statt dessen den Palast in seiner Heimat mit typisch chinesischen Bäumen drum herum gezeichnet. Und wie immer blinzelte der junge Chinese verstört, bevor er begriff, was er da produziert hatte, um das Papier entschieden zu zerreißen. Sein Blick wirkte gehetzt und gerade, als Bason etwas sagen wollte, klingelte das Telefon. Was? Kurz wechselten sie verwunderte Blicke, denn um diese Zeit rief sonst niemand in dem Asakura-Haushalt an. Yohs Großeltern wussten, dass ihr Enkel und seine Verlobte in der Schule waren und Manta büffelte selbst über seinen Büchern. Lyserg? Chocolove? Nein, dafür war es noch zu zeitig in Amerika und bereits wieder zu spät in England. Blieben eigentlich nur Faust und Horo Horo übrig, wobei Faust ihn heute Abend besuchen kam, da rief er nicht extra vorher an. Also konnte es ja nur der junge Ainu sein. Um diese Zeit? Hat er da nicht noch Schule? Obwohl Ren sich noch immer nicht rührte, hörte das Telefon nicht auf zu klingeln. Wer immer anrief, schien zu wissen, dass jemand zu Hause war, oder aber derjenige war ein notorischer Kämpfer, der nie aufgab, selbst wenn die Leitung von der Telefongesellschaft getrennt wurde. Denn das Klingeln hörte nach exakt zwanzig Klingeltönen auf, nur, um sich exakt fünfzehn Sekunden später wieder zu melden. Ren kannte diese Prozedur aus drei Wochen Ruhe, in denen er wieder ansprechbar, seine Schmerzen erträglich gewesen waren. Horo Horo hatte nach Hause zurück kehren müssen, als seine Herbstferien vorüber waren, dafür nervte er nun ständig mit Telefongesprächen, die am Anfang nur kurz und, wie Ren es vorkam, sehr nervös und gezwungen gewesen waren. Mit der Zeit änderte sich jedoch die Atmosphäre und manchmal fühlte sich Ren ertappt, wenn er auf die Uhr schaute und erkannte, dass sie über zwei Stunden telefoniert hatten. Normalerweise rief Horo Horo jedoch erst nachmittags, meist zwischen zwei und drei Uhr an, wenn er gerade aus der Schule kam. Kurz vor zehn am morgen war sehr ungewöhnlich. Und wenn es doch jemand anderes ist? Was ist, wenn Yoh-kun und Anna-san etwas zugestoßen ist? Plötzlich zitterte Rens Hand, als er zum schnurlosen Telefon griff und den grünen Knopf drückte. Dann hielt er sich das Gerät an das rechte Ohr und schloss seine Augen, sich auf das Schlimmste vorbereitend. "Bei Asakura, guten Tag?" *Du solltest dir mal diesen förmlichen Ton abgewöhnen. Da kommt man sich ja wie auf den Behörden vor. Hi, Ren-kun.* Horo Horos fröhliche Stimme war unverkennbar und der junge Chinese stieß den Atem aus, von dem er noch nicht einmal bemerkt hatte, dass er ihn anhielt. "Sag mal, spinnst du? Um diese Zeit anzurufen! Ich dachte schon, es wär' was Ernstes passiert!" zischte Ren verstimmt ins Telefon und bereute seinen Ausbruch sofort, als er die erschrockene Stille am anderen Ende der Leitung hörte. Mist! Dabei freute er sich doch heimlich immer sehr über Horo Horos Anrufe, die ihm nicht nur durch einen langen Nachmittag halfen, sondern ihm auch zeigten, dass der junge Ainu ihm wirklich verziehen hatte. *Sorry, daran hab ich nicht gedacht.* "Stimmt, Denken gehört nicht zu deinen Stärken." *Als ob du darin besser wärst.* Ren konnte förmlich das freche Grinsen am anderen Ende der Leitung sehen und war erleichtert darüber. "Warum rufst du an, Schneemann?" Es war ein Spitzname, den Ren einführte, um den jungen Ainu zu ärgern, aber Horo Horo schien sich daran überhaupt nicht zu stören. Wahrscheinlich, weil er so gut passte, was seine nächsten Worte bestätigten. *Ich hab heute im Wetterbericht gesehen, dass es in Tokio schneit.* "Ja, Yoh-kun hat sich bereits hier vorm Haus im Schnee gewälzt." Erzählte Ren und Bason schwebte näher an den Fernseher heran, als er den Ton ein wenig hinunter drehte. Eigentlich hätte er ja aufstehen und in ein anderes Zimmer gehen sollen, damit der Geist in Ruhe seine Lieblingssendung anschauen konnte, aber er wusste, dass diese Bewegung zu sehr geschmerzt hätte und er wollte Horo Horo nicht beunruhigen, indem er mitten im Gespräch gequält aufstöhnte. Also blieb er einfach sitzen und beobachtete Bason für einen Moment schweigend, der förmlich an der Mattscheibe hing, stumm die Geister anfeuerte, damit sie in ihrer Mission Erfolg hatten und weitere Menschen erschreckten. *Cool! Erster Schnee ist super!* "Den hattet ihr doch schon vor zwei Wochen. Ich kann mich noch ganz genau an deine detaillierte Beschreibung erinnern. Wieso rufst du an?" Rens Stimme war grob, aber Horo Horo ließ sich davon schon lange nicht mehr beeindrucken. Entweder hatte er gelernt, den jungen Chinesen so hinzunehmen wie er war, oder aber es war ihm am Telefon einfacher zu reagieren, wo kein direkter Blickkontakt zwischen ihnen bestand. Denn Rens mürrische Stimme zu hören, das war die eine Sache, jedoch in seine blitzenden Augen zu schauen eine ganz andere. *Verrat ich mich so leicht?* "Es ist zehn Uhr, du müsstest eigentlich in der Schule sein, also gibt's wohl einen Grund, hier anzurufen." *Ach, den gibt's immer. Dich.* "Masochist!" erwiderte Ren und errötete, als er das leise Kichern am anderen Ende des Telefons hörte. Das war Horo Horos zweiter Spitzname geworden, den Ren immer dann benutzte, wenn der junge Ainu zu freundlich zu ihm wurde, oder aber ihm ein unerwartetes Kompliment machte, wie jetzt eben. *Zehn Uhr sagtest du? Hast du schon deine Medizin genommen?* Sorge schwang nun in Horo Horos Stimme und Ren verzog seinen Mund zu einem Strich, als erneuter Schmerz durch seinen Bauch jagte. "Nein, noch nicht." *Dann nimm sie jetzt!* Ren hätte nie gedacht, dass Horo Horo so bestimmend klingen könnte, besonders nicht ihm gegenüber. "Ach, das hat..." *Ich rede nicht weiter, bis du sie nicht geschluckt hast.* "Ja, Mama." Horo Horos >Bäh!< hallte durch den Telefonhörer und Ren musste lächeln, wenn auch etwas schmerzverzerrt, als er sich vorlehnte und die Pillen in seine freie Hand nahm. Entschieden schloss er seine Augen und schluckte sie mit einer gekonnten Bewegung hinunter, um anschließend noch etwas kalten Tee nachzuspülen. "Ok, genommen. Bist du jetzt zufrieden?" *Ja, haste brav gemacht.* "Reiz mich nicht, ich warne dich!" Horo Horos schallendes Gelächter besänftigte Rens Wut, bevor sie sich richtig entfalten konnte. Erschöpft lehnte er sich zurück in die Kissen und gähnte unterdrückt. Er hatte die halbe Nacht nicht geschlafen, so wie immer, und wie jedes Mal, wenn Horo Horo ihn anrief, kehrte die Müdigkeit, auf die er in der Dunkelheit immer vergeblich wartete, mit Pauken und Trompeten zurück. *Nee, ich ruf an, weil ich erstens deine liebliche Stimme hören wollte...* "Reiß dich zusammen!" *... und zweitens, weil mein Lehrer krank geworden ist. Schwere Grippe hat der Doktor diagnostiziert...* "Typisch Dorf! Da du nur diesen einen Lehrer hast, gibt's jetzt niemanden mehr, der unterrichten kann, und deswegen bist du jetzt schon zu Hause." *Genau!* Ren konnte Horo Horos strahlendes Gesicht förmlich vor sich sehen. *Sie haben uns gesagt, dass er bis Weihnachten nicht mehr zurück kommt und sie in den drei Wochen wohl auch keinen Ersatz mehr finden werden.* "Also hat du jetzt bis Weihnachten schulfrei." *Exakt!* Etwas im Hintergrund schepperte und Ren ahnte, dass Horo Horo vor Freude quer durch sein Zimmer hüpfte. Das würde ihm ähnlich sehen. Kannst du da herkommen? Ren wusste nicht, wo dieser Gedanke her kam, aber er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, bevor er ihn laut aussprechen konnte. Warum Horo Horo auch immer wirklich jeden Tag anrief, ob Yoh ihn darum gebeten hatte oder ob ihn seine Schwester nötigte, den Kontakt zu seinen Freunden aufrecht zu erhalten, Ren wollte den jungen Ainu nicht in die Ecke drängen mit einer Bitte, die selbst in seinen Ohren zu unverschämt klang. Es reichte doch schon, wenn Anna und Yoh ihn so besorgt ansahen, wenn er über einen doofen Witz Mantas einfach nicht lachen konnte, sich am liebsten in sein Zimmer zurück zog und dort stundenlang die Wand anstarrte. Da brauchte er nicht noch einen kleinen Schneemann, der ihn mit seiner ungezwungenen Art sicherlich nach nur einer Stunde in den Wahnsinn treiben würde. Dennoch wäre es schön... "Und was hast du da in deiner geschenkten Freizeit vor? Schneeskulpturen bauen?" *Hai!* Ren legte sich seine freie Hand auf den schmerzenden Bauch und versuchte, das Gefühl der Enttäuschung zu unterdrücken. Natürlich würde Horo Horo im hohen Norden bei seiner Schwester bleiben und den ganzen Tag im Schnee tollen, was hatte er denn anderes erwartet? *Das kann ich jetzt doch Perfekterweise auch in Tokio, wo ihr nun auch endlich den ersten Schnee bekommen habt.* Der junge Chinese riss seine Augen auf und starrte ungläubig auf den Telefonhörer in seinen Händen. Hatte er gerade richtig gehört? Wollte Horo Horo wirklich zu ihnen kommen? Freiwillig? Genau wissend, dass er den halben Tag allein mit der Killermaschine, wie er den Erben der Tao Dynastie einst genannt hatte, verbringen müsste, während Yoh in der Schule hinter seinen Büchern schwitzte? Der muss echt ein Masochist sein! Oder aber ein Freund... Erneut bildete sich der Kloß in Rens Hals und er musste heftig schlucken, damit seine Stimme nicht all zu rau klang. "Aber hier in Tokio haben wir nur eine ganz dünne Schneedecke." *Als ob ich da nicht Abhilfe schaffen könnte.* lachte Horo Horo und Ren hörte im Hintergrund das Geräusch von laufendem Wasser, vermutlich machte sich der junge Ainu gerade einen warmen Tee. Hoch im Norden Japans war es sehr viel kälter als in Tokio. *Ich will nur Yoh-kun und Anna-san fragen, ob es ihnen recht ist, bevor ich einfach so bei ihnen auftauche.* "Ach, das sind sie schon von mir gewöhnt." Erwiderte Ren, bevor er sich hatte stoppen können. *Ich hab aber bessere Manieren als du.* "Sicher. Das hab ich beim letzten Essen mit dir gesehen." *Die Ketchupflasche war nicht richtig verschlossen gewesen.* "Ist wohl deine Spezialität, das rote Zeug immer über den gesamten Tisch zu verteilen, was?" *Baka!* "Idiot!" *Eingebildeter Schnösel!* "Ungeschickter Tölpel!" Ren genoss diese kleinen Sticheleien zwischen ihnen. Sie waren nicht ernst gemeint und sie beide wussten das. *Wie geht's dir, Ren? Was macht die Wunde?* "Gut." Obwohl der junge Chinese ahnte, dass sich Horo Horo wirkliche Sorgen machte, gab er ihm nur die übliche Standardantwort. Immerhin konnte er ihm ja doch nicht helfen, wenn die Medizin einige Zeit brauchte, um zu wirken, so wie jetzt. Der einzige, der wohl richtig über seinen Genesungszustand bescheid wusste, war Faust. Von allen anderen wollte er kein Mitleid, nicht noch mehr Mitleid! Sie schauten ihn schon oft genug so seltsam an, dass er am liebsten aufspringen und davonrennen wollte, dann aber von seinem noch immer sehr geschwächten Körper gestoppt und gezwungen wurde, ihre Blicke zu ignorieren und so zu tun, als sei nichts geschehen. Nichts geschehen... Das versuchte er schon seit Wochen sich selbst einzureden, denn nur so war der Schmerz in seinem Bauch und der in seinem Herzen erträglich. "Faust ist ein wahrer Wunderheiler." Horo Horos Schweigen klang skeptisch in Rens Ohren, aber er ignorierte es. Dafür breitete sich langsam ein fröhliches Gefühl in ihm aus, das er seit Wochen so nicht mehr gespürt hatte, bei dem Gedanken, dass Horo Horo bald hier her kommen würde, obwohl er das niemals zugegeben hätte. "Bekommt deine Schwester da auch frei?" lenkte Ren das Gespräch in eine andere Richtung und Horo Horo sprang darauf an, ob nun bewusst oder unbewusst. *Nein, ihrer Lehrerin geht's noch ganz gut, aber die kann leider meine Klasse nicht übernehmen, weil sie erstens nicht so viele Schüler unterrichten möchte und es zweitens sehr uneffektiv findet, mehrere Klassenstufen auf einmal zu belehren.* Horo Horos >leider< klang überhaupt nicht traurig. Vielleicht war er ein wenig betrübt, dass seine Schwester weiterhin zur Schule gehen musste, aber er war mit Sicherheit glücklich, dass man keinen Ersatz für seinen kranken Lehrer fand und er somit verlängerte Weihnachtsferien erhielt. Um drei Wochen verlängert! *Im Wetterbericht hab ich gehört, dass es weiterhin so kalt bleiben soll. Weißt du, ob Yoh-kun einen Schlitten hat? Ansonsten kann ich einen von mir mitbringen.* "Sicherlich kann dir Yoh-kun weiterhelfen, du kennst doch seinen Dachboden. Schlepp nicht all zu viel mit dir durch die Gegend." *Ach, das schleppt doch die Bahn.* lachte Horo Horo freimütig und begann, Ren von seinem letzten Bahnabenteuer zu erzählen, wo seine Schwester extra einen Kuchen gebacken hatte und er sein Abteil mit zwei lebendigen Kindern hatte teilen müssen, die beinahe auf den schönen Kuchen gesprungen und diesen ruiniert hätten. Ren hörte ihm schweigend zu und gähnte erneut. Seine Augenlider wurden schwerer und schwerer, während Horo Horos Stimme immer ferner in seinen Ohren klang. Ohne es weiter zu bemerken, fiel er langsam zur Seite um und blieb auf dem Kissenberg liegen, dankbar, dass die Medizin Fausts endlich zu wirken begann. Das Telefon purzelte aus seiner Hand, aber er bekam dies gar nicht mehr mit, der Schlaf hatte ihn bereits übermannt. *... und so konnte ich den leckeren Kirschkuchen gerade so noch retten, Ren-kun. Anna-san fand ihn köstlich. Apropos Anna-san. Hast du eine Ahnung, wie lang die beiden heute Schule haben, Ren-kun? Damit ich sie noch einmal anrufen kann. Ren-kun?* Stille. *Ren-kun? Bist du noch dran?* Erneute Stille. *Ren?* Bason drehte sich von seiner Lieblingssendung fort und schwebte hinüber zu seinem Herrn. Ein sanfter Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als er Ren so sah, wie er sich ein weiches Kissen vor seinen sicherlich noch immer schmerzenden Bauch hielt und im Schlaf endlich entspannt aussah, nicht so gehetzt, wie er immer wirkte, wenn er glaubte, allein zu sein. >Master Horo?< Der Krieger schwebte hinüber zum Telefonhörer, konnte diesen leider nicht empor heben. *Hallo, Bason. Ist er wieder eingeschlafen?* >Ja.< *Na toll, bin ich wirklich so eine Schlaftablette?* Horo Horo schien nach einem Zettel zu kramen, es raschelte leise. *Dann lass ihn schlafen, Bason, und richte bitte Yoh-kun aus, dass ich gegen sieben noch einmal anrufen werde.* >Das werde ich machen, Master Horo.< Bevor Bason noch ein weiteres Wort hätte sagen können, wurde die Verbindung gekappt und neben Rens gleichmäßigen Atemzügen war nur noch ein leises Piepen im Raum zu hören. Der chinesische Krieger nahm neben seinem Herrn in der Luft Platz, um über ihn zu wachen und, wenn nötig, schlechte Träume zu vertreiben. *** "Ich fass es nicht! Da hast du extra einen ärztlichen Attest und dieser Idiot schleift dich trotzdem mit raus auf den Sportplatz, bei dem Wetter!" Ren hatte Anna selten so toben gesehen wie heute. Ihre Augen funkelten zornig, während sie die Möhre vor sich in kleine Stückchen hackte. Mit Sicherheit sah sie jedoch nicht das arme Gemüse vor sich, sondern Yohs Sportlehrer, der ihrer Meinung nach eine >überdimensional große Meise< hatte. Anstelle Yoh einfach im warmen Klassenzimmer sitzen und seine Hausaufgaben machen zu lassen, hatte er ihn gezwungen, mit auf den Sportplatz zu kommen, wo er, obwohl heftiges Schneetreiben die Sicht versperrte, mit dem Rest der Klasse Fußball beziehungsweise den Schiedsrichter spielte. Yoh, dem Faust eingeschärft hatte, ja keinen Sport zu tun, solange seine Hände nicht völlig verheilt waren, blieb die ganze Zeit über im Schnee stehen und war beinahe blau gefroren, als Anna ihn abholte. Ren ahnte, dass der Sportlehrer die schönste Schimpftirade seines Lebens erhalten hatte. "Aber, Anna..." "Nein, Yoh! Es ist mir schnurzpiepegal, ob jemand aus deiner Klasse den Basketball zerstört hat und es niemand zugeben will, deshalb schleift man nicht alle Schüler raus in dieses Sauwetter. Besonders nicht die Schüler, die krank geschrieben sind! Dass du unschuldig bist, das sieht doch jeder! Mit deinen Händen hättest du gar nix kaputt machen können!" Gewitterwolken schienen förmlich von Annas Kopf aufzusteigen und sie hackte mit einer entschiedenen Geste das Brett unter der Möhre durch. "Er hatte den Basketball von seinem eigenen Gehalt gekauft, um uns eine Freude zu machen. Er war einfach enttäuscht." Versuchte Yoh, seine Verlobte zu beruhigen. Sein ständiges Niesen besänftigte Anna jedoch in keinster Weise. "Na und? Er ist erwachsen, er ist ein Lehrer! Er sollte es besser wissen!" Anna warf die Möhre in den Topf und drehte das Gas auf. Dann seufzte sie tief und wandte sich zu Yoh um, der unter einer dicken Decke am Tisch saß und sichtlich zitterte. "Das Wasser müsste jetzt warm genug sein, Yoh. Geh in die Wanne, ich ruf dich, sobald das Abendbrot fertig ist. Sonst holst du dir noch den Tod." Der junge Japaner nickte und erhob sich schwerfällig. Ren sah ihm nach, wie er Richtung Badezimmer verschwand und beneidete ihn ein klein wenig. Ja, ihm tat leid, was Yoh in der Sportstunde durchlitten hatte, aber er beneidete ihn dahin gehend, dass er ein warmes Bad nehmen konnte. Da Rens Wunde nicht so optimal heilte, wie Faust das eigentlich wollte, hatte der Arzt die Fäden noch immer nicht gezogen und solange Ren noch wie eine gefüllte Weihnachtsgans herum lief, durfte sein Bauch nicht mit Wasser oder gar mit Seife in Berührung kommen. In den letzten Tagen versuchte er bereits, sich wenigstens ein bisschen zu säubern, aber so richtig mochte ihm das nicht gelingen und er hatte das Gefühl, dass er mit Sicherheit stank, obwohl weder Anna noch Yoh sich etwas anmerken ließen. Nein, er war gewaschen worden, sogar gründlich, und das mehr als einmal. Zwar konnte er sich nicht daran erinnern, aber sein Körper wies keinerlei Blutspuren auf. Vielleicht lag sein letztes Bad gar nicht so lange zurück, aber er kam sich einfach schmutzig vor, getraute sich jedoch nicht, Yoh oder Anna um Hilfe zu fragen. Die beiden hatten während der letzten Wochen wahrlich genug für ihn getan, da mussten sie ihm nicht auch noch den Rücken schrubben! Nun, gestern hatte er es ja immerhin geschafft, sich die Haare zu waschen, dann würde er es innerhalb der nächsten Tage in Angriff nehmen, sich auch seinen restlichen Körper zu säubern, ohne dabei vor Schmerz aufzuschreien oder gar seine Nähte zu berühren. "Yoh wird bei dem an keinem Sportunterricht mehr teilnehmen, dafür sorge ich!" Anna schüttete den Reis in einen anderen Topf und rührte wild das Gemüse um. Ja, wenn es um Yoh ging, dann konnte sie fuchsteufelswild sein. Dann wollte Ren ihr nicht im Weg oder gar in ihrer Schusslinie stehen. Es klopfte leise an der Papiertür und der junge Chinese wusste sofort, dass es nur Faust sein konnte. Manta befand sich noch in der Abendschule und sonst besaß niemand anderes einen Schlüssel. Schwerfällig erhob er sich, versuchte, den Schmerz in seinem Körper zu unterdrücken. Er wusste, dass Anna sich umgedreht hatte und ihn beobachtete, und er wollte ihr keinen weiteren Grund zur Beunruhigung geben. "Wie geht's Euch heute, Tao-san?" fragte Faust freundlich lächelnd und begleitete ihn hinauf zu dem Zimmer, das nun das seine sein sollte, das sich aber noch immer seltsam fremd anfühlte. So, als gehörte er nicht hier her. Eliza ging hinter dem jungen Chinesen und dieser wusste, dass sie da sein würde, sollte er plötzlich das Gleichgewicht verlieren und nach hinten fallen. Das war ihm in der ersten Woche, da er das Bett für ein paar Stunden verlassen durfte, geschehen und seitdem waren sie alle mehr als aufmerksam, wenn er die Stufen hinauf kletterte. "Gut..." Ren zögerte, erinnerte sich dann aber daran, dass Faust sein Arzt war, zudem ein ausgezeichneter, der ihn niemals in irgendeiner Weise verspottet hätte. "Es hat weh getan." Gab er schließlich zu, während er das Zimmer betrat. Automatisch öffnete er das Hemd und setzte sich auf seinen Futon. Es war schon zur Routine geworden, auch Fausts geschickte Finger, die routiniert den Verband lockerten und schließlich entfernten. Ren hatte zu Beginn einen fremden Schlafanzug getragen, vermutlich Yohs, und Anna hatte ihm einen dunklen Trainingsanzug hingelegt, sobald er aufstehen durfte. Eigentlich hatte er ja seine eigenen Sachen. Jemand, vermutlich Yoh oder Horo Horo, hatten seine Reisetasche gepackt, bevor sie zurück nach Japan flogen. Ren konnte sich kaum an den Heimflug erinnern, alles lag in einem dichten Nebel aus schmerzstillenden Drogen, aber er erkannte seine Reisetasche wohl, als er wieder komplett zu sich kam, nur, um sie in die äußerste Ecke des Wandschrankes zu stopfen und nicht mehr heraus zu holen. Entweder verstand Anna ihn oder sie hielt seine normale Kleidung für seine Verletzungen ungeeignet und gab ihm deshalb diesen Trainingsanzug, den sie bestimmt extra für ihn gekauft hatte, denn Yoh besaß keine solch dunkle Kleidung. "Ich hab mir gestern die Haare gewaschen." Gab Ren zu, obwohl er niemals sagen würde, dass er das mitten in der Nacht getan hatte, als ihn einfach kein Schlaf ereilen wollte. Fausts in Falten gezogene Stirn reichte ihm auch so. "Dabei hab ich mich wohl ein wenig ungeschickt bewegt. Seitdem zieht es ein wenig." Ren legte sich auf seinen Futon, als Faust den Druck auf seinen Bauch verstärkte. Die Wunde war nun freigelegt, aber der junge Chinese wollte nicht auf die hässlichen Nähte schauen, auf das Blut, das noch immer ab und an aus diesen quoll, wenn er sich falsch bewegte und damit in das heilende Fleisch riss. "Es ist nicht weiter schlimm." Faust kramte kurz in seiner Tasche herum und Ren legte sich den rechten Arm über die Augen, als er den Geruch von Desinfektionsmittel in seiner Nase hatte. Vorsichtig wurde die Stelle, die am meisten schmerzte, abgewischt und Ren wusste, was nun folgte. Er biss seine Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen, als Faust ihm ein Wundmittel oder so was in der Richtung spritzte. Am Anfang hatte Ren noch nachgefragt, aber da er Fausts Antworten sowieso nicht verstand und er mit Medizin kaum etwas anfangen konnte, erduldete er einfach nur stumm die tägliche Prozedur und nahm brav seine Tabletten. Er wusste, das Faust ein ausgezeichneter Arzt war und dass er ihm vertrauen konnte, ansonsten wäre er vor vier Wochen mit Sicherheit gestorben. "Ich würde jedoch solche Aktionen wie Haarewaschen, Klimmzüge und das Reparieren des Daches in den nächsten Wochen doch anderen Leuten überlassen." Ren öffnete seine Augen nicht, aber er wusste, dass der Arzt nun wieder amüsiert lächelte. Eine gehörige Portion Humor musste man vermutlich auch haben, wenn man Doktor war und dazu noch einen Patienten zu versorgen hatten wie Tao Ren, der selten ein Wort sagte, besonders nicht während der Behandlung. "Wirken die Pillen?" Erneut raschelte etwas und nun roch Ren den mittlerweile vertrauten Kräuterduft, wusste, dass die Prozedur gleich vorbei sein würde. Ohne seine Augen zu öffnen, richtete er sich auf, bis er saß, und ließ den Arzt all die Stellen eincremen, wo der Verband lag, seit nunmehr vier Wochen. Geduldig hob er seine Arme und fühlte, wie Eliza die Leinen mit professioneller Sanftheit wieder um seinen Bauch band. "Ja, Doktor." "Das ist gut." Gut? Schön wär's... Ren verkniff sich jedoch eine entsprechende Antwort und blieb einfach sitzen, als sich Faust nach getaner Arbeit wieder erhob. Auch sagte er nichts, als der Arzt sein Zimmer verließ und sicherlich hinunter zu Anna ging, um sich für das kommende Abendbrot mit einzuladen. Leckere Düfte zogen bereits von unten herauf, aber Ren hatte keinen wirklichen Hunger. Dennoch würde er hinunter gehen, wenn er gerufen werden würde, einfach, um bei seinen Freunden zu sein, die ein normales Leben lebten, das es für ihn wohl nie wieder so geben würde: Im Rahmen einer Familie. Einer Familie. Jun... Ren schluckte hart und zuckte leicht zusammen, als er hörte, wie die Papiertür zu seinem Zimmer leise aufgeschoben wurde. Er hob seinen Kopf und wollte gerade sagen, dass er gleich herunter kommen würde, als er Anna sah, die herein kam. Sie trug eine Schüssel mit Wasser in der einen und mehreren Handtüchern in der anderen Hand. Jegliches Wort erstarb auf seinen Lippen, als sich das Mädchen neben ihn auf die Dielen kniete und eines der Handtücher in das Wasser der Schüssel tauchte. "Faust hat mir von deiner abenteuerlichen Haarwaschaktion erzählt." Sagte sie in ihrer typisch monotonen Stimme und hob das Handtuch zu seinem Gesicht. Ren fuhr, sichtlich verwirrt, zurück, aber sie ließ ihn nicht entkommen und wusch mit behutsamer Beharrlichkeit erst sein Gesicht, dann seinen Hals und schließlich seine Brust bis zum Ansatz des Verbandes. "Sag das nächste Mal einfach bescheid, wenn dir nach Wasser zumute ist, ok? Ich kann ja nicht immer an alles denken." Sie wandte sich seinem Rücken zu und er senkte dankbar seinen Kopf, denn ihm schoss schon wieder diese unangenehme Röte ins Gesicht. "Manchmal frage ich mich echt, wer das größere Kleinkind von euch beiden ist: Yoh oder du." Anna wrang das Handtuch aus, aber ihre Berührungen waren vorsichtig, besonders in der Nähe seines Verbandes. Ihre Bewegungen widersprachen ihrer gereizten Stimme vollkommen. "Er steht fast zwei Stunden im Schnee und lässt sich zu einem Eiszapfen einfrieren, während du allein versuchst, dir die Haare zu waschen, obwohl du den Eimer mit dem Wasser noch nicht einmal heben darfst! Was wäre gewesen, wenn die Nähte wieder aufgeplatzt wären?" Anna seufzte und legte das Handtuch beiseite, um den Bund seiner Trainingshose zu ergreifen und sie ihm mit einem entschiedenen Ruck erst über seine Knie und dann über seine Füße zu ziehen. Ren zuckte heftig zusammen, als er danach greifen und seine plötzliche Blöße bedecken wollte, ihm aber seine Wunde einen Strich durch die Rechnung machte und grausamer Schmerz ihn lähmte. Sein Gesicht schien in Flammen zu stehen und er wünschte sich nichts sehnlicher, als unsichtbar, nicht so verflucht hilflos zu sein. Verdammt! Er konnte ja nicht einmal mehr ein Mädchen davon abhalten, ihn einfach so zu überrumpeln! Ein Glück nur, dass Bason mit Amidamaru über Yoh im Bad wachte, sonst wäre Ren diese ganze Situation noch peinlicher gewesen, als sie ihm jetzt schon war. "Stell dich nicht so an!" murrte Anna unwirsch und ergriff wieder das Handtuch, um seine Füße zu säubern. "Oder kommst du vielleicht bis da hinunter?" Nein, das tat er nicht, und das wussten sie auch beide, denn Faust hatte ihm nicht nur das Heben von schweren Gegenständen strengstens untersagt, sondern auch das Bücken. Deshalb standen nun zwei vollkommen ausgetretene Pantoffel neben seinem Futon, in die er einfach nur herinzuschlüpfen brauchte. Wenn er Strümpfe tragen wollte, dann musste er jemanden um Hilfe bitten. Oh, wie er diese Hilflosigkeit, diese Abhängigkeit von anderen verabscheute! Diese Schwäche! "Aber..." "Das braucht dir nicht unangenehm zu sein." Anna wusch seine Zehen und Ren kämpfte mit einem Mal mit dem Lachen. Verdammt, er war doch so kitzelig an den Füßen! "Was glaubst du wohl, wer dich gewaschen hat, als du hier halb tot rumgelegen hast?" Ren wurde noch röter. "Das hättest du jetzt nicht sagen brauchen." Murmelte er, hob aber ergeben den zweiten Fuß, als sie danach verlangte. Anna grinste nur überlegen. Wenn Ren begann, sich so zu zieren, dann konnte das nur bedeuten, dass er genas. Und das war gut, sehr gut. Denn noch einmal wollte sie nicht an seinem Krankenbett sitzen und Yohs besorgten Gesichtsausdruck sehen, während Faust immer stärkere Medizin ausprobierte, da keine der Spritzen richtig anschlagen wollte. Zwei ganze Tage und zwei ganze Nächte hatten sie um Rens Leben gekämpft - und gewonnen. Sicherlich wusste der junge Chinese gar nicht, wie gefährlich seine Wunde wirklich gewesen war. Aber Anna würde mit ihm ein anderes Mal darüber reden, wenn es ihm wieder gut genug ging, dass er sich der Vergangenheit stellen, mit seinen Freunden offen über den Kampf und den Tod seiner Schwester reden konnte. Erst wenn seine körperlichen Wunden verheilt waren, konnte er sich seinen seelischen widmen, seine Schwester betrauern. Auch dann würde er seine Freunde brauchen. Auch dann würden sie für ihn da sein. *** Das Piepen von Mantas Computer begrüßte sie, als sie etwa fünf Minuten später das Wohnzimmer betraten. Ren war sich nicht ganz sicher, ob die verräterische Röte auf seinem Gesicht je wieder verschwinden würde, aber dafür fühlte er sich das erste Mal seit drei Wochen wieder sauber, das war die peinliche Aktion dann wohl wert gewesen. Eliza hatte sich um Annas Essen gekümmert und nun standen dampfende Schüsseln auf dem Tisch. Yoh, ebenfalls frisch gebadet und in eine weiche Decke gehüllt, hielt einen dampfenden Becher in seinen Händen und grinste fröhlich vor sich hin. "Horo-kun hat gerade angerufen." Verkündete er glücklich, als Anna und Ren ebenfalls an dem Tisch Platz nahmen und sie sich alle einen guten Appetit wünschten. "Sein Lehrer ist krank geworden und er würde gerne schon etwas eher in seine Weihnachtsferien bei uns starten." Etwas eher war untertrieben, aber die Worte schienen genau zu Yohs Grinsen zu passen. Anna verharrte kurz, die Stäbchen mit Sojabohnen in der Luft haltend. "Das trifft sich gut, da kann er ja den Schnee auf den Wegen wegschaufeln. Darin dürfte er doch Fachmann sein, oder?" Yohs Grinsen verschwand nicht bei ihrer berechnenden Antwort, sondern schien noch eine Spur breiter zu werden. "So was in der Art hab ich ihm auch schon gesagt. Er meinte, das wäre ok, wenn er unseren Schlitten benutzen dürfte." "Solange ihr euch nicht die Beine brecht." Damit schien das Thema für Anna beendet zu sein und sie langte nach der Soße, um sie über ihren Reis zu schütten. Ren nahm sich ebenfalls ein wenig Reis, obwohl er genau wusste, dass er mindestens eine Stunde daran sitzen und die Hälfte dann doch wegschütten würde. Zwar wirkte Fausts Spritze, aber er hatte einfach keinen Appetit und durch die Schmerzen in seinem Bauch auch keinen Hunger. "Horo-kun wird dann übermorgen kommen." Yoh trank vorsichtig von seinem heißen Tee und kuschelte sich noch tiefer in seine Decke. "Ach ja, und ich soll dir von ihm ausrichten, Ren, dass du immer deine Medizin nehmen und fein aufessen sollst." Manta verschluckte sich an seinem Essen bei diesen frechen Worten, aber Ren reagierte überhaupt nicht. Vor einem Monat noch hätte er den jungen Ainu für diese Worte gehasst, nun aber starrte der junge Chinese in seinen Reis und freute sich insgeheim, dass Horo Horo kam, obwohl er sich selbst nicht so richtig erklären konnte wieso. *** Ren erwachte sofort aus seinem leichten Schlummer, in den er nach Mitternacht gefallen war, als ein wichtiges Geräusch im Raum fehlte: das gleichmäßige Atem Yohs. Panikartig fuhr er in die Höhe und zuckte heftig zusammen, als der Schmerz durch seinen Bauch fuhr. Er führte seine rechte Hand zum Verband unter seinem Schlafanzug und stöhnte gequält auf. Dann blickte er hinüber zu dem Futon, um festzustellen, dass dieser leer war. Genauso, wie er bemerkte, dass das Fenster geöffnet war, kalte Luft und einige Schneeflocken in das Zimmer wehten. In seinem Zustand! Ren schlüpfte in seine ausgetretenen Pantoffeln, dann band er sich behelfsmäßig seine Zudecke um die Schultern, bevor auf das Fensterbrett trat und sich auf das Dach zog. Seine Wunde pulsierte mit jedem Herzschlag schmerzlich, aber er ignorierte sie mit zusammen gebissenen Zähnen, während er sich aufrichtete und über das Dach schritt. Der gefrorene Schnee knirschte unter seinen Hausschuhen, sein Atem hing als kleine Wölkchen vor seinem Mund. Eng wickelte er die Decke um seinen Körper und freute sich über die eisige Kälte, die seinen Schmerz ein wenig dämpfte. Im fahlen Licht des zunehmenden Mondes konnte er die Gestalt Yohs erkennen, die auf dem Dachgiebel hockte und hinauf zum Sternenmeer schaute, das sich über ihnen am schwarzen Nachthimmel erstreckte. "Du solltest mit deiner Erkältung nicht hier draußen sitzen." Sagte Ren leise, als er sich neben den jungen Japaner in den Schnee ließ. Yoh trug wenigstens seine Jacke, aber Ren konnte an seinem Zittern sehen, dass auch er fror. "Und du solltest keine Klimmzüge machen." Lächelte Yoh, ohne seinen Blick von all den Sternen abzuwenden. "Dann sind wir also quitt." "Schaut so aus." Yoh blies sich heißen Atem in die sicherlich gefrorenen Finger und zeigte hinauf zum Sternenhimmel. "Es ist kurz nach Neumond und die beste Zeit, hier herauf zu kommen, ich konnte einfach nicht widerstehen." "Anna-san wird toben, wenn sie davon erfährt." "Womit sie wohl Recht hätte." Yoh zuckte seine Schultern und seine rechte Hand, die bis zum ersten Fingergelenk mit weißen Leinen verbunden war, fuhr kurz in die Tasche seiner Jacke. Als er sie wieder hervor zog, hielt er ein kleines Gerät in seinen Händen, das Ren gut genug kannte, hatte er während des Shaman Fights ein ähnliches Gerät besessen, das ihm nicht nur die nächsten Kämpfe, sondern auch seine eigene Stärke angezeigt hatte. Er selbst hatte den Kommunikator nach dem letzten Kampf weggeworfen, denn es würde nie wieder einen Shaman Fight geben, Yoh jedoch schien den seinen aufbewahrt zu haben. "Fühlst du dich wohl hier, Ren?" Yohs Frage traf ihn wie aus heiterem Himmel. Ren drehte seinen Kopf, wusste jedoch nicht, was er antworten sollte. Ob er sich hier wohl fühlte? Er wusste es einfach nicht, wusste nicht, ob er sich überhaupt jemals wieder wohl fühlen würde ohne seine Schwester an seiner Seite. "Nun ja, solange Anna-san mich nicht wäscht." Versuchte er deshalb zu scherzen, bevor der Kloß in seinem Hals wieder zu dick wurde, um ihn erfolgreich herunter zu würgen. "Sie hat mir von deiner Haarwaschaktion erzählt, glücklich schien sie nicht gerade drüber zu sein." Yoh grinste nun wieder und konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen, als Ren leicht errötete, was nicht nur an der eisigen Kälte der Winternacht lag. "Du hast ihren Mutterinstinkt geweckt, Ren, jetzt wird sie wie eine Glucke über dich wachen, bis du wieder ganz gesund bist." "Aber mir geht's doch gut!" protestierte Ren, den dieser Gedanke ganz und gar nicht behagte, obwohl er ihm seltsamerweise doch gefiel. "Sie brauch da wirklich nicht... ich mein..." Ren ließ ergeben seinen Kopf hängen. "... das war furchtbar peinlich... ich bin doch kein Baby mehr..." "Nein, aber krank." Yoh erhob sich und klopfte sich den Schnee von der Jacke. "Aber wenn's dir lieber ist, kann ich dich ja das nächste Mal versorgen." Ren verzog nur seinen Mund und hob fragend eine Augenbraue. "So, wie du mir meine Haare schon einmal abgetrocknet hast? Nein, danke." Er versuchte, ebenfalls aufzustehen, aber ein plötzlicher Schmerz in seinem Körper ließ ihn wie gelähmt auf dem Fürst sitzen bleiben. Leise stöhnte er auf und griff sich erneut an den Bauch, schloss gequält seine Augen. Nicht hier vor Yoh-kun! Tief holte er Luft und schlug Yohs Hand beiseite, als dieser stützend nach seinem Arm greifen wollte. "Nicht nötig..." japste der junge Chinese und biss seine Zähne aufeinander. "... ist gleich wieder vorbei." Er spürte, wie sich Yoh wieder neben ihn zurück in den festgetretenen Schnee setzte und vorsichtig seinen linken Arm um Rens Schultern schlang, ohne, dass dieser sich großartig hätte wehren können. "Bitte nimm unsere Hilfe an, Ren. Wir sorgen uns um dich." Sagte Yoh leise und überlegte fieberhaft, wie er den jungen Chinesen wieder von dem Dach und zurück auf seinen weichen Futon, unter warme Decken bringen sollte. Er selbst fühlte sich schwindelig und mit einem Mal fand er seine Idee, hier auf das Dach zu klettern und nach einem Alptraum die Sterne zu betrachten, gar nicht mehr so toll. Eigentlich hätte er doch wissen müssen, dass Ren, wenn er aufwachte, ihm folgen würde! Ich hab doch schon viel zu viel von euch angenommen, ich kann nicht noch mehr erwarten. Auch ahnte Ren, dass sie ihm nicht wirklich helfen konnten. Weder Faust noch Manta noch Yoh noch Anna konnten die Leere aus seinem Herzen verscheuchen, die sich dort seit dem Tod seiner Schwester beharrlich eingenistet hatte. Jun... Erneut dieser Kloß, den er durch beharrliches Schlucken unterdrücken konnte. Statt dessen konzentrierte er sich auf den Schmerz seines Körpers, das war besser, dann dachte er nicht nach, dann führten ihn seine Gedanken nicht in diese gefährliche Sackgasse! Dennoch nickte er und ließ zu, dass Yoh sanft seine Schultern drückte. *** "Anna-san?" Ren wusste genau, dass es erst vier Uhr morgens war, schließlich hatte er das regelmäßige Läuten der Uhr im Wohnzimmer in der Stille der Nacht gehört. Schlafen konnte er in der Dunkelheit schon lange nicht mehr, also hörte er auf allerlei Geräusche. Eines davon war Yohs Atem gewesen, der immer unregelmäßiger, immer röchelnder geworden war, bis Ren es nicht mehr ausgehalten hatte und nachschauen ging. Keine drei Sekunden später stand er vor Annas Tür und klopfte leise, aber beharrlich an. "Anna-san?" Der junge Chinese verzog geblendet seine Augen zu Schlitzen, als die Tür aufgeschoben wurde und ihn unerwartetes Licht traf. "Hast du Schmerzen?" fragte das Mädchen sofort, schimpfte gar nicht, mitten in der Nacht geweckt worden zu sein, wie Ren das erst erwartet hatte. Der junge Chinese schüttelte nur seinen Kopf, die Pillen, die er kurz vor dem Zubettgehen genommen hatte, wirkten endlich, würden ihn relativ schmerzfrei durch die restliche Nacht bringen. "Kannst du dir mal Yoh-kun anschauen, Anna-san? Ich glaube, er hat Fieber." Annas Gesichtsausdruck wechselte von Besorgnis zu Panik und Ärger. Ren schluckte und trat zur Seite, als sie aus ihrem Zimmer gerauscht kam. Er wollte jetzt ganz bestimmt nicht in der Haut des Sportlehrers stecken, dem das Mädchen mit Sicherheit die Schuld in die Schuhe schob. Yoh tat gut daran, ihr den nächtlichen Ausflug auf das verschneite Dach zu verheimlichen. "Yoh?" Sie knipste das Licht an und ging neben dem jungen Japaner auf die Knie. Yoh öffnete seine glasigen Augen einen Spalt breit und sah sie müde an, lächelte erschöpft. Seine braunen Haare waren verschwitzt, sein Gesicht gerötet. "Du glühst, Yoh." Anna legte ihre Hand auf seine Stirn und blickte ihn besorgt an. Ren, der gegen den Türrahmen lehnte und Zeuge dieser Szene wurde, fühlte sich an ein Gespräch erinnert, dass er einst mit Yoh geführt hatte, als sie sich durch eine unendliche Wüste kämpften, das sagenumworbene Patch Village, das Dorf der Schamanen Kämpfe suchten. >Yoh-kun, liebst du eigentlich Anna-san?< >Ich bin mit ihr verlobt.< >Aber die Verlobung haben doch eure Eltern arrangiert, oder?< >Hai. Dennoch liegt es an uns, dieses Versprechen einzulösen.< Direkt hatte Asakura Yoh ihm nicht geantwortet, aber je länger Ren zu Gast in diesem Haus war, desto deutlicher konnte er die tiefen Gefühle spüren, die Yoh und Anna füreinander hegten. Zwar war dies auf den ersten Blick nicht ersichtlich, besonders nicht, wenn Anna ihrem Verlobten wieder zehn Kilo und mehr für sein Training gab oder ihn herum kommandierte, dass er gefälligst einkaufen gehen oder das Essen machen sollte. Aber in Momenten wie diesen wusste Ren, dass sie ihren Verlobten mit ihrem Leben beschützt hätte und es Yoh genauso ging. Vielleicht existierte noch nicht so etwas wie romantische Liebe zwischen den beiden, schließlich waren sie erst dreizehn Jahre alt, aber Ren war sich sicher, dass diese im Laufe der Jahre entstehen würde. Ein wenig beneidete er die beiden, denn er wusste, dass ihn niemand jemals so anblicken würde, wie Anna ihren Yoh gerade ansah. Wer war schon so dämlich und würde sich in einen zynischen, arroganten Erben einer chinesischen Dynastie verlieben, der in seiner Kindheit mehr als nur einen Menschen ohne mit der Wimper zu zucken getötet hatte, der nicht zu Unrecht den Titel >Fürst der Finsternis< trug? Niemand... "Ich bring diesen Idioten um!" flüsterte Anna und tastete nach dem Erste-Hilfe-Kasten, der seit vier Wochen neben Rens Bett stand. Heraus nahm sie ein Fieberthermometer und steckte es Yoh in den Mund, bevor dieser reagieren konnte. "Ich bring diesen Idioten um!" wiederholte sie gereizt, als das Thermometer nach einer Minute laut zu piepsen begann und tatsächlich 39,7 anzeigte, hohes Fieber. Amidamaru materialisierte sich aus seiner Totentafel, blickte erst einen Moment verwirrt herum, bevor er den Ernst der Lage verstand und ebenso wütend dreinschaute wie Anna. Auch er würde den dummen Sportlehrer am liebsten aufgeknöpft am höchsten Baum ihres Grundstückes baumeln sehen! >Yoh-dono...< "Soll ich Faust anrufen?" bot sich Ren an, der langsam zu seinem Futon zurück ging und sich hinsetzen wollte. Anna schüttelte jedoch ihren Kopf und sprang auf ihre Beine. "Nein, ich kenn da ein paar gute Hausmittelchen, die haben bei ihm schon immer gewirkt." Sagte sie und bewies damit, dass sie Yoh schon länger kannte, nicht erst das eine Jahr, in dem sie hier in Tokio zusammen lebten. "Aber ich denke, es ist besser, wenn du in Yohs Zimmer umziehst. Ich will nicht, dass du dich ansteckst." Denn sie war sehr froh gewesen, als Rens Fieber, das die 42 Grad und damit die kritische Marke beinahe überschritten hatte, endlich zu sinken begann. Sie wollte ihn nicht noch einmal so nahe an der Schwelle des Todes sehen, besonders nicht jetzt, da er sich langsam aber sicher von seinen schweren Verletzungen erholte. Ren wollte erst protestieren, aber ein Blick in ihr besorgtes Gesicht ließ ihn verstummen. Also ergab er sich in sein Schicksal und trottete hinüber in das leere Zimmer, das ihm noch fremder als sein eigenes vorkam. Anna brachte ihm seinen Futon und seine Decken und wünschte ihm eine gute Nacht, bevor sie wieder zu ihrem Yoh ging, von dessen Seite sie die ganze Nacht nicht mehr wich. Eine lange Nacht, in der Ren erneut wach lag. *** Siebenundneunzig. Ren lag auf seinem Futon und zählte die Unebenheiten im Holz der Decke. Einhundertundzwei. Sein ganzer Körper war angespannt, aber das lag nicht an seiner Wunde. Faust hatte sie sich vor wenigen Stunden noch einmal angesehen, als er vorbei kam und fiebersenkende Mittel für Yoh mitbrachte. Er schien mit seiner Arbeit ganz zufrieden zu sein und die übliche Spritze nahm ihm fast alle Schmerzen. Eigentlich hätte er schlafen sollen, die Müdigkeit brannte in seinen Augen, vernebelte seine Gedanken. Dazu kam, dass er sein übliches Mittagsnickerchen nicht getan hatte. Zwar hatte Horo Horo wie jeden Tag angerufen, hatte sein Gespräch jedoch kurz gehalten und die ganze Zeit fast nur mit Anna gesprochen, die ihm bestätigte, dass er ruhig kommen konnte, auch wenn Yoh mit einer faustdicken Erkältung im Bett lag. Immerhin brauchte sie jetzt erst recht jemanden, der Schnee schaufelte. Einhundertdreiundzwanzig. Dennoch fand Ren einfach keinen Schlaf, egal, wie oft er sich auch vorsichtig von einer Seite auf die andere drehte, mal die Wand, mal die Decke anstarrte, mal den Schnee beobachtete, der vor dem Fenster im Licht der fernen Straßenlaterne umhertanzte. Bei solchem Wetter hat mir Jun immer vom Weihnachtsmann erzählt, als ich noch ganz klein war. Jun... Erneut zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen und er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, konnte aber seinen eigenen Gedanken nicht entkommen. Von dem Weihnachtsmann, der nur zu guten Kindern kommt... ... und auch zu jemandem wie mir. Er biss hart auf die Unterlippe, bis er einen metallischen Geschmack im Mund spürte und rang zitternd nach Luft. Nein, er würde nicht aufgeben, er würde nicht nachgeben! Weinen brachte ihm nichts und außerdem wäre es so, als würde er sich damit ihren Tod eingestehen und das würde er niemals! Nein, er würde ihren Tod niemals akzeptieren. Niemals!!! >Ren-chan...< Ren riss seine Augen weit auf, als er ihre leise Stimme zu hören glaubte, die sich leise von ihm verabschiedete, und richtete sich im nächsten Moment schwungvoll auf, den dumpfen Schmerz in seinem Bauch ignorierend. Aber wie erwartet war das Zimmer leer, da war kein Geist, keine liebevolle Schwester, die kam, um ihn zu besuchen. Um ihn mit sich zu nehmen, wie er sich das so sehr wünschte. Ein Wunsch, der niemals in Erfüllung gehen würde, und den er niemals Yoh oder Anna erzählen könnte, da sie ihn nicht verstanden hätten. Sie haben mich so aufopfernd gepflegt, da kann ich ihnen nicht sagen, dass ich lieber im Palast geblieben wäre, bei ihr... Ren schluckte hart und bedeckte seine brennenden Augen mit seinen eisigen Händen. Nein, selbst wenn er es vor seiner Ohnmacht noch hätte äußern können, Yoh hätte ihn niemals seinem Schicksal, hätte ihn niemals in dem Ballsaal zurück gelassen. Diese Stille! Ren bebte am ganzen Körper, als er panikartig in dem kleinen Raum umherschaute, aber nur einen Tisch und mehrere Kissen ausmachen konnte. Und ein kleines Regal, das mit Schulbüchern und allerlei Mangas vollgestopft war. Ja, das war eindeutig Yohs Zimmer, und dennoch kam es Ren so fremd, so unwirklich vor. So einsam! Der junge Chinese drückte die Totentafel seines Geistes fest gegen seine Brust, aber er wusste, dass nicht einmal Bason ihn wirklich Trost spenden konnte. Schließlich war auch er tot... Tot. Totenstille. So wie die Stille, die in dem Zimmer seiner Schwester geherrscht hatte kurz nach ihrem Tod. Da war kein Atem mehr gewesen, kein lustiges Lachen, kein fröhliches Kichern. Nichts, nur unendliche Stille, die Ren so sehr geängstigt hatte wie noch nie zuvor etwas in seinem Leben. Er, der Tao Erbe, hatte keine Angst, vor nichts und niemanden. Aber diese Stille hatte jeden Alptraum, jedes Gewitter, jede Furcht bei weitem übertroffen, hatte ihm fast den Verstand geraubt. Jun... Ren kam schwankend auf seine Füße und schleppte sich, seinen Körper mit einer Hand an der Wand abstützend, hinaus in den Gang. Die Papiertür zu Yohs Zimmer stand einen Spalt breit offen, gedämpftes Licht schien in den dunklen Flur. Aber es war genug Licht, um Rens rasendes Herz wieder ein wenig zu beruhigen. So leise wie möglich ließ er sich auf den Teppich gegenüber der Tür nieder und holte zitternd Luft. Ja, das hier war schon viel besser! Er konnte Annas Stimme hören, die leise irgendein Volkslied, vielleicht sogar ein Kinderlied sang. Ren verstand weder den Text noch kannte er die Melodie, war er mit chinesischem Liedgut aufgewachsen, aber der Gesang wirkte besänftigend auf seinen noch immer heftig zitternden Körper. Nicht mehr allein. Keine Totenstille! Automatisch faltete er seine Hände vor seinem leicht schmerzenden Bauch, nachdem er die Totentafel auf den Boden gestellt hatte. Bason materialisierte sich aus ihr und blickte ihn mit großen Augen an, aber Ren schüttelte nur seinen Kopf und befahl ihm stumm, nichts zu sagen. Also setzte sich der Geist neben seinen Herrn und wartete. Worauf auch immer, das lag nicht an ihm zu fragen. Menschen atmen. Niemand ist hier gestorben. Ren lehnte seinen Kopf gegen die Wand hinter sich und konzentrierte sich nur auf Annas Stimme und Yohs leicht geröchelten Atem. Sein Fieber war während des Tages so weit gefallen, dass er sogar etwas Hühnerbrühe zu sich nehmen und Anna von ihrem Amoklauf auf den Sportlehrer abhalten konnte, aber in den Abendstunden stieg das Fieber wie von Faust erwartet wieder an und Anna wich seitdem nicht von Yohs Seite. Manta hatte sich um das Essen und um den Aufwasch gekümmert und war nur widerstrebend gegen zehn nach Hause gegangen. Schließlich musste er als einziger am nächsten Tag in die Schule, war er nicht wie Ren und Yoh krank geschrieben und wie Anna zur Krankenpflege eingeteilt. Alle sind hier am Leben! Allmählich lullte die sanfte Stimme Annas Rens Gedanken ein und sein übermüdeter Körper forderte seinen Tribut. Vor zwei Stunden hätte er noch dagegen angekämpft, denn er wollte in keinem weiteren Alptraum gefangen sein, nun aber gab er auf, ließ sich in einen hoffentlich traumlosen Schlaf hinab ziehen. Er schlief bereits tief und fest, als Bason sich von seinem Platz fortbewegte und zu Anna und Yoh in den Raum hinein glitt. Das Mädchen verstand sofort. Mit müden Bewegungen, aber einem noch immer sehr wachen Gesichtsausdruck trat sie hinaus auf den Gang, um Ren behutsam in eine warme Decke zu hüllen und ihm weiche Kissen unter den Körper zu schieben, als er einfach zur Seite umkippte. Sie ahnte, warum er hier auf dem Gang gesessen hatte und dass es mehr als nur ein paar Tropfen und einen kühlenden Umschlag brauchte, um seine Wunden zu heilen. *** >Ren-chan...< Ren kannte diese Stimme sehr gut, hatte sie sein ganzes Leben lang gehört. Diese Stimme gehörte zu seiner Schwester, den einzigen Menschen in seiner Familie, der in ihm einen Jungen, nicht nur einen Erben gesehen, der ihn aufrichtig geliebt hatte. >Ren-chan...< Der junge Chinese fuhr herum in der Dunkelheit, konnte jedoch niemanden sehen. Keine liebevoll lächelnde Jun stand neben ihn, um ihn in ihre Arme zu ziehen. Früher hatte er sich unglaublich dafür geschämt, wenn sie wieder einen von ihren >Knuddelanfällen< bekam, heute hätte er sonst etwas für eine sanfte Umarmung gegeben. >Es tut mir leid, Ren-chan, aber ich muss dich verlassen.< NEIN! Ren drehte sich mehrmals um seine eigene Achse und lief schließlich blindlings in die Dunkelheit hinein. Es war ihm egal, ob das dumm aussah oder sogar sinnlos war, er wollte zu seiner Schwester. Nein, er würde sie nicht gehen lassen! Nicht noch einmal. Nie wieder! Jun! Warte auf mich! Er glaubte vor sich so etwas wie einen Schatten erkennen zu können und griff ohne zu zögern danach, erwischte weichen Samt, vermutlich der Saum eines Umhanges. Mit Geld hatte seine Familie nie gespart, besonders, wenn es darum ging, den Nachwuchs entsprechend adelig einzukleiden. Jun! Nimm mich mit! Die Gestalt blieb stehen und drehte sich langsam zu ihm um. Die warme Stimme war mit einem Mal verklungen und Ren fror es fürchterlich. Seine Wunde brannte und er schluckte, als er in das Gesicht seiner Schwester schaute. Tote Augen starrten ihn ausdruckslos an und die Hand, die nach ihm griff, war eiskalt, so ohne Leben. Jun? Tränen traten in seine Augen, aber sie antwortete ihm nicht, sondern zog ihn für einen Moment an sich, um ihn schließlich mit aller Gewalt von sich zu stoßen. Verdattert blieb er sitzen, als sie ihm den Rücken zuwandte, von ihm ging, bis sie die Finsternis vollkommen verschluckt hatte. Nein, Jun! Ren streckte seinen rechte Arm nach ihr aus, wissend, dass er sie nicht berühren, nicht zurück halten konnte. "Jun..." "Ren-kun?" Diese Stimme war ganz anders. Aus weiter Ferne hörte Ren lautes Poltern und spürte, wie er an die Oberfläche des Bewusstseins zurück getrieben wurde. Müde öffnete er seine Augen und runzelte seine Stirn, als er direkt in eisblaue schaute. "Oh, entschuldige, ich wusste nicht, dass du auch schläfst." Horo Horo fuhr sich ein wenig beschämt durch die blauen Haare, bevor er sich zu Rens Füßen auf eines der vielen Kissen nieder ließ. Der junge Chinese blickte ihn verständnislos an und sah sich dann in dem Fernsehzimmer um, als sähe er es das erste Mal. Bason saß wie immer nahe am Fernseher und sah sich seine Lieblingsserie an. Leise Charaktere schrieen entsetzt und der Krieger lächelte selig vor sich hin, vermutlich hatten die Geister im Tower Tokyo Hotel gerade ihr heutiges Ziel erreicht und die Gäste ordentlich erschreckt. Ich bin eingeschlafen? Ren ließ seinen Kopf zurück auf das weiche Kissen sinken und holte tief Luft. Also war das nur ein Alptraum gewesen? Hat mich Jun gar nicht wieder verlassen? Wie oft hatte ich diesen Alptraum jetzt schon? Lohnt es sich überhaupt noch zu schlafen, wenn ich mich danach derart gerädert fühle? "Wie spät ist es?" fragte er den jungen Ainu, dessen Wangen und Nase leicht gerötet waren. Sicherlich war es sehr kalt draußen, seit Tagen schneite es ununterbrochen und obwohl Faust es ihm strengstens verboten hatte, würde Ren gerne mal wieder an die frische Luft gehen, auch wenn ein Sturz für seine Wunde gefährlich werden konnte, frisch gefallenen Schnee hin oder her. "Gegen fünf Uhr nachmittags." Horo Horo grinste ihn an und schälte sich langsam aus seiner Winterkleidung. Vermutlich hatte Anna es gut gemeint und alle Räume ordentlich geheizt, so dass der junge Ainu bald zu schwitzen begann. Erst entledigte er sich seines Schales, dann seiner Handschuhe und schließlich seiner dicken Jacke. Alles warf er achtlos auf den Fußboden neben sich. Fünf Uhr? Ren drehte leicht seinen Kopf und blickte zum Fenster hinaus. Tatsächlich, draußen war es bereits stockfinster. Hatte er wirklich den ganzen Nachmittag verschlafen? "Anna-san und Yoh-kun sind beide oben eingeschlafen und du hast schnarchend hier gelegen, ich kam mir für einen Moment wie im Krankenhaus vor." Horo Horo lächelte verlegen. "Und jetzt hab ich nicht einmal Blumen mit." "Mag ich eh nicht." "Wären ja auch für Anna-san und Yoh-kun gewesen." "Und ich krieg nichts?" "Ich hab hier noch alte Butterbrote von der Fahrt." "Igitt!" "Du bist ein sehr schwieriger Patient." "Das sagt Faust auch immer." Falls sich Horo Horo Gedanken gemacht hatte, ob Ren nur freundlich zu ihm über das Telefon gewesen war und ihn sofort wieder anfallen und würgen würde, wenn sie sich gegenüber stehen beziehungsweise gegenüber sitzen würden, so war jeder Zweifel von ihm gewichen, als der junge Chinese auf seine Sticheleien einging. "Heute ist Mittwoch, oder?" Ren versuchte, sich aufzurichten und zog ein Gesicht, als er zwei Anläufe brauchte und Horo Horo ihm schließlich zur Hilfe eilte. Sanft ergriff er seinen rechten Arm und stützte ihn, bis er sicher saß. "Hai." "Gut, dann sollte Manta-kun bald kommen. Er ist im Moment für die Krankenhausküche zuständig." "Hab ich ein Glück. Ich dachte schon, du kochst." Nun wurde sein Grinsen schelmisch, denn er wusste genau, dass der junge Chinese ganz gut kochen konnte. "Darf ich nicht, Verbot von Faust." Erwiderte Ren ungerührt. Eines Tages, das schwor er sich, würde er ein so leckeres Mahl zubereiten, dass der junge Ainu winselnd zu seinen Füßen lag und um ein Schälchen betteln würde. Vor noch fünf Wochen hätte Ren diesen Gedanken als befriedigend gegenüber einem seiner ärgsten Feinde empfunden, heute zauberte die Vorstellung ein müdes, aber amüsiertes Lächeln auf seine Lippen. Ja, mittlerweile schätzte er sie beide für verrückt genug ein, um aus dieser Mahlzeit den Witz des Jahrtausends zu machen. "Wie schade." Horo Horo lehnte sich leicht vor, er schien sich in Rens Gegenwart nicht mehr zu fürchten. "Wie geht's dir, Ren-kun?" Auch nannte er den Tao Erben nicht mehr Killermaschine oder andere böse Namen. "Gut." Es war seine Standardantwort, die jeder außer Faust erhielt. "Genauso wie Yoh-kun. Faust war heute schon mal mittags da und meinte, dass Yoh-kuns Erkältung langsam abklingen würde und er es zum Abendbrot mal mit fester Nahrung versuchen sollte." Erklärte Ren, der seine eigene Untersuchung vor wenigen Stunden wie immer stumm über sich hatte ergehen lassen, um danach den Arzt über den jungen Japaner auszufragen. "Hast du irgendwelche Verletzungen, Horo-kun? Ich mein, du sollst dich doch schließlich hier in die Gemeinschaft gut einfügen: Yoh-kun ist erkältet, Anna-san völlig übermüdet, Manta-kun hat sich gestern das heiße Teewasser über seine linke Hand geschüttet und meine Wenigkeit läuft rum wie eine gefüllte Weihnachtsgans." Horo Horo blickte ihn für einen Augenblick verwirrt an, bevor er bei dem Vergleich leise kichern musste. "Schnatterst du da auch?" neckte er, riss sich aber zusammen, als er Rens durchbohrenden Blick auf sich ruhen spürte. "Also bin ich hier nicht im Krankenhaus, sondern im Altersheim." Stellte er sachlich fest, nickte dann aber und zog sich das Stirnband vom Kopf. Es offenbarte eine Beule, die sich schon violett verfärbt hatte. "Wie hast du denn das geschafft, Schneemann?" Ren hatte im Scherz gefragt, weil sich in letzter Zeit jeder in seiner Umgebung verletzte, hatte aber nicht erwartet, dass Horo Horo sich wirklich so gut in ihre Gemeinschaft eingliedern würde. "Ach, ist beim Packen passiert." Horo Horo errötete leicht und erhob sich schließlich, um seine prall gefüllte Reisetasche und sein Snowboard auf seinen Rücken zu wuchten. "Pirika-chan meint auch immer, dass ich meine Schlittschuhe nicht zu meinen Hemden legen soll. Na ja, und als ich mir zwei Hemden von ganz oben holen wollte, sind mir die Dinger auf den Kopf gefallen." Horo Horo zuckte mit seinen Achseln. "Pirika-chan hat ja Recht, ich sollte ein wenig mehr Ordnung in meinem Chaos halten, aber ich kann das nicht." Kurz sah er zu Bason hinüber, der noch immer an der Mattscheibe hing, als würde sein Leben davon abhängen, dann wandte er sich wieder Ren zu, der langsam, ganz langsam aufstand, sich dabei so unauffällig wie möglich auf dem Tisch abstützte. Er mochte zwar gesagt haben, dass es seiner schweren Verletzung >gut< ging, seine Körpersprache sagte jedoch etwas anderes aus. "Wo kann ich meine Sachen hinschaffen?" "In Yoh-kuns Zimmer, denk ich mal. Da wurde ich auch ausquartiert wegen der angeblichen Ansteckungsgefahr. Dabei hat er nur eine Erkältung!" "Hältst du's denn mit mir in einem Zimmer aus, Ren-kun?" "Wenn du im Schlaf wieder quatschst, schmeiß ich Yoh-kuns Mangas nach dir." "Yoh-kun hat Mangas? Cool!" Horo Horo sprang förmlich die Treppe hinauf in der freudigen Erwartung auf neue Mangas. Seine Schwester wollte nie, dass er sein bisschen Geld für solchen >Schund<, wie sie es bezeichnete, ausgab, also musste er sich immer bei seinen Freunden durchlesen, wenn diese die Objekte seiner Lesebegierde besaßen. Auf dem Absatz drehte sich der junge Ainu um und sah, wie Ren langsam eine Stufe nach der anderen erklomm, sich dabei unbewusst mit der linken Hand den Bauch hielt, während seine rechte das Geländer umklammerte. Bason hatte seinen Platz vor dem Fernseher verlassen und schwebte mit konzentriertem Gesichtsausdruck hinter seinem Herrn. So sieht also >gut< aus. Horo Horo hob skeptisch eine Augenbraue und eilte schließlich dem jungen Chinesen entgegen, um vorsichtig seinen linken Arm zu ergreifen und ihn zu stützen. Ren murmelte etwas Unverständliches, vermutlich einige chinesische Wörter, nahm aber die Hilfe an. Vermutlich hatte Faust ihn dazu ermahnt, dass seine Gesundheit wichtiger als sein Stolz war. Oder aber er war schon mehrfach auf der Treppe gestrauchelt und fühlte sich trotz seines offensichtlichen Unbehagens wohler, wenn jemand in seiner Nähe war. "Wolltest du nicht schon gegen Mittag hier sein, Schneemann? Jetzt ist's Abend." Es war eindeutig ein Ablenkungsmanöver und Horo Horo ging darauf ein. "Hai." Er grinste schief, ließ den jungen Chinesen nicht los, als sie das obere Geschoss erreicht hatten. Langsam geleitete er ihn zu Yohs Zimmer, konnte das Licht sehen, das aus dem nächsten Raum drang. Dort schliefen Anna und Yoh tief und fest. Horo Horo war richtig froh gewesen, dass er sie nicht weckte, als er auf der Suche nach irgendjemanden das halbe Haus durchforstete. "Aber ich hab den falschen Zug genommen." Ren setzte sich langsam auf seinen Futon und deutete auf den anderen, der ihm gegenüber vor dem Mangaregal stand. Anna hatte sich darum gekümmert, während Faust nach Yoh sah. Entweder kannte sie Horo Horos Vorlieben für diese kleinen Heftchen oder es war purer Zufall. Wie auch immer, Ren war froh darüber, dass Anna den jungen Ainu hier mit einquartiert hatte, obwohl in Yohs Zimmer durch all seine Sachen nicht mehr viel Platz war. Es bedeutete, dass der junge Chinese nicht mehr allein schlafen müsste, in eisiger Stille, die ihn immer zu verschlingen, zu ersticken drohte. Auch wenn Ren es nie zugegeben hätte, in den kommenden Nächten würde er sich über Horo Horos verträumtes Geplapper richtig freuen. "Und ich hab zwei Stunden gebraucht, um meinen Fehler zu bemerken und in den richtigen Zug umzusteigen." Ren lächelte müde und lehnte sich zurück, um Horo Horo zu beobachten, der die allerwichtigsten Sachen aus seiner Reisetasche kramte. "Irgendwie verwundert mich das gar nicht." *** "Das ist ein richtig guter Krimi!" Manta, der den Film schon auswendig zu kennen schien, blickte kurz von seinem Computer auf und sprach einige Sätze mit. Er saß zusammen mit Horo Horo und Ren im Fernsehzimmer, eine große Schale mit Fischchips stand neben ihm auf dem Tisch. >Gibt es da auch Geister?< "Nein, aber mehrere Leichen. Und eine, nun ja, eine halbe Untote. Ist auf jeden Fall ein Klassiker." Ein Klassiker, den Ren nicht kannte, wie er so viele Filme nicht kannte, die seine Freunde schon so oft gesehen hatten. Sicherlich war dieser Krimi für Yoh, dessen Fieber zwar immer noch vorhanden, aber dafür gesunken war, ebenfalls kein unbekannter Film, genauso wenig wie für Anna, die gerade ein warmes Bad nahm. Sie hatte sich sichtlich über Horo Horos Ankunft gefreut, als sie ihre und Yohs Portion vom Abendbrotstisch mit nach oben nahm. Sogleich hatte sie ihm auch seine Aufgaben bezüglich Schneeschippen erteilt, die Horo Horo grinsend angenommen hatte. Wenn er im Schnee herumtollen konnte, bedeutete das für ihn keine wirkliche Arbeit, sondern vielmehr ein großes Vergnügen. >Halbe Untote?< Bason sah sehr zweifelnd drein, aber dann setzte er sich neben den kleinen Japaner und sah interessiert in den Fernseher. Die Uhr schlug acht und automatisch griff Ren nach der kleinen Schachtel, die er immer bei sich trug, denn sie beinhaltete seine Medizin. Die Pillen waren in seinen Augen viel zu groß, obwohl sie noch winzig anmuteten im Vergleich zu den Tabletten, die Yoh mit seinem entzündeten Hals nun einnehmen musste, und sie schmeckten fürchterlich bitter, wenn er sie nicht schnell genug hinunter schluckte. Aber sie linderten seine Schmerzen zu einem erträglichen Maß und irgendeine von diesen Pillen sollte auch weiteres Fieber von ihm fern halten. Also, runter damit! Er kniff beide Augen zusammen und würgte die Pillen mit einer entschiedenen Bewegung hinunter. Dann griff er rasch zu seinem Glas mit kaltem Tee, um wenigstens ein wenig guten Geschmack hinterher zu spülen. Jun hat auch immer gesagt, dass Medizin, die helfen soll, nicht schmecken kann. Nur, um ein wenig Zucker auf den Löffel zu tun. Jun... Ren holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf den Film, der nicht nur langweilig, sondern ihm auch völlig egal war. Aber alles war besser, als seinen trüben Gedanken nachzuhängen. Alles. "Wo ist eigentlich der Schneeschieber?" fragte Horo Horo, der den inneren Kampf des jungen Chinesen gesehen hatte, jedoch nicht wusste, was er zu ihm sagen sollte, über den Vorfall im Ballsaal, dessen Zeuge er vor über vier Wochen gewesen war, über den Tod Tao Juns und über Rens Trauer, die er sicherlich spürte, die der junge Chinese aber niemand anderen zeigen wollte. "Im Schuppen." Kam sofort Mantas Antwort, die darauf schließen ließ, dass er vermutlich im letzten Winter Annas Opfer gewesen war. "Es reicht aber, wenn du erst irgendwann am Vormittag anfängst, hier kommen sowieso selten Passanten vorbei, die hinfallen könnten." "Ok." Wir haben nie Schnee geschippt. Da wir nie großartig Besuch bekamen, hielten wir dies für nicht nötig. Jun hat den Schnee geliebt, ist immer darin herumgetollt und hat mich mit Schneebällen beworfen, um mich zu einer Schneeballschlacht zu animieren und aus mir doch noch einen ganz gewöhnlichen kleinen Jungen zu machen. Ren fuhr fröstelnd zusammen und hielt die kalte Tasse in seinen Händen fester. Nein, er wollte nicht an seine Schwester denken, wollte nicht daran erinnert werden, dass er diesen Winter ihr fröhliches Lachen nicht hören würde. Diesen Winter nicht und keinem folgenden je wieder. "Ren-kun?" Eine weiche Decke wurde um seine Schultern gelegt und als Ren von dem trüben Getränk aufsah, blickte er direkt in Horo Horos besorgte Miene. Der junge Ainu hielt die Enden der Decke fest in seinen Händen und Ren fühlte sich für einen Moment wie in einer Falle, aus der er nicht entkommen konnte. Jedoch nur für einen Moment. "Hast du Schmerzen?" Ren, der seiner Stimme nicht recht vertraute, schüttelte nur seinem Kopf und lehnte sich zurück, als Horo Horo ihn zögernd los ließ. Er wollte nicht, dass sich die anderen wegen ihm Sorgen machten, sie hatten schon genug für ihn getan. Mehr als genug... Sich um seine Wunden zu kümmern, das war eine Sache, aber seine Gedanken konnte nur er bezwingen, da konnten ihn die anderen auch nicht helfen, das war ganz allein seine Angelegenheit! "Wenn dir etwas weh tut, weck mich einfach, ok?" sagte er nach einer Weile des Schweigens, in dem der Film durch Werbung unterbrochen wurde und Manta leise Befehle in seinen Computer eingab, sich eingehend mit seinen Hausaufgaben beschäftigte, die er in den letzten Wochen immer im Asakura Haushalt getan hatte, eigentlich nur noch zum Schlafen nach Hause zurück kehrte. "Als ob ich ne Chance gegen deine Reisbällchenträume hätte." Es war wieder einer ihrer trockenen Witze gewesen, aber dieses Mal lächelte der junge Ainu nicht, sondern sah Ren nur besorgt an. *** Am nächsten Morgen kehrte fast so etwas wie Normalität zurück in den Asakura Alltag. Noch vor Sonnenaufgang standen die ersten Personen auf. Anna würde heute in die Schule gehen und sich wenigstens nach dem Stand der Dinge und, was Ren eher vermutete, nach dem Verstand des Sportlehrers erkundigen. Yoh ging es mittlerweile so gut, dass sie ihn für ein paar Stunden allein lassen konnte, immerhin war das Fieber gesunken und sein Atem ging weniger röchelnd, seit gestern Abend schlief er tief und fest, ohne jegliche Störung. Ren hielt seine Augen geschlossen, als auch Horo Horo sich aus seinen Decken schälte und herzhaft gähnte. Sicherlich wollte er Anna nicht enttäuschen und alle Wege frei geschippt haben, bevor sie wieder zurück kam. Sicherlich hoffte er auf frische Brötchen bei ihrer Rückkehr. Horo Horos Reisetasche raschelte leise, als sich der junge Ainu rasch anzog und keine zwei Minuten später auf leisen Sohlen das Zimmer verließ. Vielleicht lag es daran, dass er in einem Dorf lebte, wo man im Hochsommer früh um vier aufstehen musste, um die Ernte einzuholen. Vielleicht war er einfach ein Frühaufsteher. Mit Sicherheit brauchte er weitaus weniger Zeit, um wach zu werden als Yoh. Hoffentlich kriegt das Anna-san nie mit, sonst erfährt Yoh-kun nach seiner Genesung, was richtig frühes Aufstehen bedeutet. Ren blieb still auf seinem Futon liegen und hörte erst das mittlerweile bekannte Scheppern des Portals, dann erfüllte ein monotones Kratzen den Hof. Ren biss seine Zähne aufeinander, als seine Wunde bei der ersten Bewegung ebenfalls erwachte, und kroch auf allen Vieren zum Fenster hinüber. Er schob den Vorhang zur Seite und konnte Horo Horo sehen, der inmitten leichten Schneetreibens in dem weißen Element stand und fröhlich lächelnd die große Schaufel schwang, als würde sie gar nichts wiegen. Dick war er in seine Winterkleidung gehüllt und nur sein gerötetes Gesicht lugte unter dem Schal, dem Kragen seiner Jacke und einer hellen Mütze hervor. Frische Luft... Ren verspürte den Drang, einfach hinaus in die weiße Landschaft zu gehen, nicht zum ersten Mal, seitdem Faust ihn praktisch in diesen vier Wänden eingesperrt hatte, damit seine Wunde völlig verheilen konnte. Heute aber spürte er ihn so stark wie noch nie. Also kroch er zurück zu seinem Futon und zog sich in einer wie immer schmerzhaften, langatmigen Prozedur seinen Trainingsanzug an. An Socken war nicht zu denken, aber wenigstens konnte er in seine ausgetretenen Pantoffeln schlüpfen. Vorsichtig, um Yoh nicht zu wecken, schlich er über den Flur und ganz langsam die Treppe hinunter. Bason, der die Abwesenheit seines Herrn bemerkt hatte, flog aufmerksam hinter ihm her. Zwar konnte er ihn nicht halten, sollte er fallen, aber er konnte rasche Hilfe holen. >Eine Jacke wäre angebracht, Master Ren.< "Aber ich hab doch keine, Bason." Flüsterte Ren zurück, als sie sich der Eingangstür näherten. Die Luft wurde merklich kühler, frischer. Der junge Chinese atmete tief ein, blieb dann vor der Garderobe stehen. Hier hingen einige Jacke, aber keine von denen gehörte ihm. >Nimm einfach eine von denen, das wird bei der Menge schon nicht auffallen.< Ren zögerte, schlüpfte dann aber in eine besonders weich ausschauende. Sie war dunkelbraun und er ahnte, dass sie Yoh gehörte. In den Taschen fand er sogar einen Schal, den er sich um den Hals wickelte. Dann wagte er sich hinaus in den nächtlichen Hof. Der Sonnenaufgang war noch mindestens eine volle Stunde entfernt, der Himmel mit dicken Wolken bedeckt. Schneeflocken wirbelten schwerelos um ihn herum, setzten sich in seinem rabenschwarzen Haar fest, wo sie im fahlen Licht der Straßenlaterne wie winzige Diamanten glitzerten. Frische Luft! Ren bemerkte die eisige Kälte nicht einmal, die ihm entgegen schlug. Er hörte nur das leise Knistern von frisch gefallenem Schnee unter seinen Pantoffeln, spürte nur die kleinen Flocken, die sich auf sein Gesicht legten, dort augenblicklich schmolzen, roch nur den typischen Geruch einer kalten Winternacht. Genauso hat es auch immer zu Hause gerochen. In einem Zuhause, das er nicht mehr hatte, das wohl für immer der Vergangenheit angehören würde. Ren streckte seine rechte Hand aus und fuhr über das Geländer der Terrasse, das unter einer dicken Schneeschicht begraben lag. Die weiße Masse fühlte sich so seltsam vertraut an zwischen seinen Fingern. Langsam knetete er einen perfekten Schneeball, den er nachdenklich betrachtete. Jun hat mit mir immer die verrücktesten Schneeballschlachten veranstaltet, wenn mein Vater gerade auf Reisen war, sie mich ungehindert als ihren kleinen Bruder behandeln konnte. Auch wenn ich das nie gemocht habe. Nie öffentlich. Jun... Ren schluckte hart und hielt den Schneeball zwischen seinen nun kalten Händen, als wolle er diesen beschützen. Leichter Wind fuhr durch seine Haare und er hob seinen Kopf, um zum schwarzen Himmel hinauf zu schauen, um die Flocken bei ihrem bizarren Tanz zu beobachten. Es ist so friedlich hier. Der junge Chinese schloss seine Augen und versuchte sich vorzustellen, dass er wieder klein war, dass er inmitten eines Flockenwirbels auf der Wiese vor dem Palast stand, ihn wieder die bekannten Berge seiner Heimat umgaben. Gleich würde Jun kommen und mit ihm einen Schneemann bauen, oder eben einen Schneegeist, je nachdem, was der kleine Junge, der sich äußerlich zwar sträubte, innerlich jedoch ganz aufgeregt war, wollte. >Lass uns im Schnee tollen, Ren-chan. Das wird dir sicherlich Spaß machen.< Jun... "Ren-kun?" Der junge Chinese öffnete seine Augen, aber anstelle seiner geliebten Schwester stand Horo Horo vor ihm. Er hielt die Schneeschippe, die mit einer feinen Schneedecke überzogen war, fest in seinen Händen und blickte den Freund überrascht an. "Ich hab dich gar nicht rauskommen gesehen. Bist du schon lange hier draußen?" Ein schuldiger Ausdruck schlich sich auf das Gesicht des jungen Ainu, als er die Schaufel achtlos in den Schnee fallen ließ, wo sie mindestens fünfzig Zentimeter eindrang. "Ich hab dich doch nicht etwa geweckt, oder?" "Nein." Ren schüttelte seinen Kopf. "Ich brauchte einfach nur ein wenig frische Luft." Gab er leise zu und runzelte seine Stirn, als Horo Horo auf ihn zutrat und den Reißverschluss seiner Jacke vorsichtig schloss, dabei immer bedacht, ja nicht den verwundeten Bauch seines Gegenübers zu berühren. Die Jacke war noch offen gewesen? Ren hatte das gar nicht bemerkt. "Das sind immer die schönsten Minuten eines jeden Tages." Sagte Horo Horo leise, während er an dem Kragen von der braunen Jacke nestelte. Er trug seine dicken Handschuhe, die Knöpfe schienen einfach zu klein und zu schlüpfrig zu sein. Ren bewegte sich nicht, schien geduldig darauf zu warten, dass er sein Werk beendete oder aber aufgab. Der junge Chinese hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und blickte hinauf zum verschneiten Winterhimmel. Kleine Wölkchen tanzten vor seinem Mund und Horo Horo war sich nicht sicher, ob Ren ihm überhaupt zu hörte. Dennoch redete er weiter, während es ihm endlich gelang, den Knopf und damit auch das letzte Schlupfloch in Rens Jacke zu schließen. "So kurz vor Sonnenaufgang ist es am ruhigsten, der Schnee liegt unberührt auf der Erde und man hat das Gefühl, mit der Natur allein zu sein." Allein zu sein... Ren holte zitternd Luft und wusste, dass er irgendetwas tun musste, ansonsten würde er seine Beherrschung verlieren und das wollte er nicht. Nicht vor Horo Horo, nicht vor seinen Freunden, die sich so schon genügend Sorgen um ihn machten. Mehr Sorgen als er als Erbe und als zukünftiger Fürst der Finsternis überhaupt verdiente! "Ich finde einfach, dass dies eine perfekte Zeit ist, um kleine Schneemänner hinterhältig zu überfallen." Sagte er statt dessen und bevor Horo Horo reagieren konnte, hatte er ihn gepackt und ihn den Schneeball in den Nacken geschoben. Der junge Ainu kreischte auf und versuchte, sich von der eisigen Klaue zu befreien, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Aus jahrelanger Erfahrung wusste er jedoch, dass dies sinnlos war. Also sollte er sich eher auf seine Rache konzentrieren. Er brauchte sich nicht zu bücken oder nach dem Geländer zu greifen, ein Schneeball formte sich von ganz allein in seiner Hand und Kororo flog von seiner Schulter lieber auf das Dach des Hauses, um dem Treiben aus sicherer Entfernung zuzuschauen. Ren hatte natürlich sofort die Flucht ergriffen, als er das gefährliche Funkeln in Horo Horos blauen Augen sah, aber er kam nicht weit. Natürlich kam er nicht weit, denn seit über vier Wochen war ihm jegliche körperliche Betätigung verboten gewesen, sein Körper war sehr geschwächt. Auch meldete sich sein Bauch lautstark, als er durch den knietiefen Schnee watete. Dennoch wollte er sich diesen Spaß nicht entgehen lassen, als Horo Horo wild schnaufend auf ihn zu lief, den Schneeball hoch über seinem Kopf haltend, ein schelmisches Grinsen auf seinem Gesicht. Ren wusste ganz genau, dass er dran war, dass er auch überhaupt keine Chance gegen den jungen Ainu hatte, aber es störte ihn überhaupt nicht. Vor noch fünf Wochen hätte er wohl ohne zu zögern seine Sense gezogen und Horo Horo in seine Schranken gewiesen, heute musste er lächeln, als ihn der Schneeball an der linken Schulter traf und keine drei Sekunden später ein stolpernder Horo Horo nach seinem rechten Arm griff und ihn mit sich in den tiefen Schnee zog. "Das wirst du mir büßen! Einfach so hinterhältig mich einzuseifen!" schnappte der junge Ainu nach Luft, als er aus dem Schneefeld wieder auftauchte und sich entschieden auf Rens Knie setzte, um dem jungen Chinesen ja keine Möglichkeit zur Flucht zu geben. "Da sorge ich mich liebevoll um dich und du dankst es mir so!" "Liebevoll sorgen? Übertreib's nicht! Schließlich hast du nur meine Jacke zugeknöpft, und das ziemlich ungeschickt, muss ich mal erwähnen! Diese Jacke besitzt nur zwei Knöpfe und du hast es geschafft, dich drei Mal zu verknöpfen." Horo Horo errötete, bevor seine Hände vorschnellten. "Undankbares Pack." Kicherte er, aber er seifte Ren nicht ein, wie das dieser erwartet hatte. Statt dessen fuhren seine Hände an Rens Seiten und im nächsten Moment schüttelte sich der junge Chinese vor Lachen, obwohl ein heftiger Schmerz durch seinen Bauch zog. Aber das war ihm egal, so vollkommen egal. Das Lachen tat verdammt gut, löste ein wenig den Kloß in seinem Hals, die tiefe Trauer, die ihn von Zeit zu Zeit zu übermannen drohte. "Wah! Horo! Lass das!" kicherte er hilflos und griff in den Schnee um sich, um ihn auf den jungen Ainu zu werfen, den das in keinster Weise beeindruckte. "Ich mag vielleicht ungeschickt sein, aber ich bin noch immer Meister im Auskrabbeln." Grinste Horo Horo und genoss es, die strampelnde Gestalt unter sich zu spüren. Vor fünf Wochen hätte er sich vielleicht noch sehr stark gefühlt, dass er es tatsächlich schaffte, den mächtigen Erben, den zweitstärksten Schamanen in ihrem Team, zu überwältigen und zu bezwingen, heute erfreute er sich einfach an Rens leisem Lachen und seinem leicht geröteten Gesicht. Gestern war Horo Horo mächtig erschrocken, als er Ren so auf dem Kissenberg hatte liegen gesehen, mit totembleichem Gesicht und müden Augen. Dünn war der junge Chinese geworden, der auch sonst nicht viel gewogen hatte. Nun wirkte er richtig abgemagert, was mit Sicherheit an den letzten Wochen lag, da er noch nicht so viel essen konnte, obwohl Anna mit Sicherheit die leckersten Mahlzeiten zubereitet hatte. Horo Horo war zu dem schlafenden Chinesen hingetreten, der im Schlaf sehr gequält gewirkt und chinesische Worte vor sich hingemurmelt hatte, etwas, das Horo Horo in all den Monaten, da sie zusammen durch Amerika gewandert und sich so manches Zimmer geteilt hatten, noch nie erlebte. Da hatte sich der junge Ainu geschworen, den Freund aufzupäppeln, egal, wie. Und wenn das alles mit einer Schneeballschlacht begann, so sollte es ihm recht sein. "Hör auf!" Ja, vor nicht einmal fünf Wochen hätte Horo Horo diese Überlegenheit genossen, aber in der letzten Zeit war viel geschehen. Heute lag ihm Tao Rens Wohlergehen am Herzen, genauso wie das Wohlergehen der anderen Freunde. "Hör auf!" Ren schnappte nach Luft und seine Hände gaben das Schneeschaufeln um sich herum auf. Statt dessen griffen sie nach Horo Horos Handgelenken und der junge Ainu hielt für einen Moment inne. "Entschuldigst du dich für deinen hinterhältigen Angriff?" "Wenn du weniger träumen, dafür aber mehr aufpassen würdest, hättest du den Angriff... wah! Horo!" "Entschuldigst du dich?" "Waffenstillstand!" japste Ren und Horo Horo wusste, dass dies die höchste Entschuldigung war, die er von der dunklen Gestalt unter sich momentan erhalten würde. Also grinste er und konnte sich nicht zurückhalten, über gerötete Wangen zu tätscheln. "Brav." Neckte er, bevor er sich erhob und zurück zur Schaufel gehen wollte. Er hatte jedoch nicht mit Rens erneutem Angriff gerechnet. "Brav? Ich bin nicht brav!" zischte der junge Chinese gespielt gekränkt und schoss gleich drei Schneebälle hintereinander auf Horo Horo ab, der dem Ansturm stand hielt und zurück feuerte. Sie beide rutschten auf dem Schnee aus und fielen erneut zu Boden. Dieses Mal hatte Ren jedoch weniger Glück. Er landete zwar auf Horo Horo, zugleich aber auch direkt auf seinem Bauch. Schmerz durchfuhr seinen Körper und lähmte ihn. Leise stöhnte er auf und schnappte nach Luft, während er bewegungslos auf dem jungen Ainu liegen blieb, einfach nur darauf wartete, dass die Pein ein wenig nach ließ. "Ren-kun?" Horo Horo, der sofort den Wandel in dem Freund bemerkt hatte, ließ die Schneebälle achtlos fallen, die er bereits zur Abwehr erschaffen hatte, und fasste unter Rens Kinn, um in dessen schmerzverzerrtes Gesicht zu sehen. "Ren? Alles ok?" fragte er besorgt, als sich Ren auf seine Ellenbogen und seine Knie stützte und in dieser Haltung stumm verharrte. "Ren?" "Es geht.... gleich wieder." Der junge Chinese schnappte nach Luft, zitterte sichtbar. Verdammt, er hatte hier draußen sein, herumtollen, sich für ein paar Minuten keine Gedanken mehr machen wollen! Er hatte nicht beabsichtigt, Horo Horo mit einer unbedachten Bewegung so sehr zu verschrecken. Ich bin eben doch noch nicht völlig gesund. Hart biss er auf seine Unterlippe und hasste sich selbst für seine Hilflosigkeit. Er hatte nicht gewollt, dass Horo Horo ihn so sah, ganz und gar nicht! Ren wollte nicht, dass ihn alle wie ein rohes Ei behandelten, ihm diese bescheuerten mitleidigen Blicke zuwarfen! Verdammt! Sein Magen zog sich zu einer Faust zusammen und er spürte, wie sein ganzer Körper zu zittern begann. Seine Sicht verschwamm und für einen Augenblick glaubte er, hier im Schnee auf Horo Horo zusammen zu brechen. Aber er kämpfte hart dagegen an und versuchte sogar, sich auf seine Knie aufzurichten, den Schmerz einfach zu ignorieren. >Master Ren?< "Ren?" Sofort waren da zwei Augenpaare, die ihn besorgt musterten und starke Hände griffen nach seinen Schultern, um ihn zu stützen. "Gleich vorbei..." brachte er hervor und presste eine Hand vor seinen schmerzenden Bauch. "Ich bin das mittlerweile gewöhnt. Das ist immer so, wenn ich meine Tage habe." "Witzbold!" Beide grinsten sich an, auch wenn Ren sehr geschwächt und Horo Horo sehr besorgt wirkte. Dann griff der junge Ainu dem jungen Chinesen vorsichtig unter die Arme und half ihm langsam auf die Beine. "Am besten, ich bring dich rein, das Schneeschippen kann warten, Anna-san wird nicht vor Mittag wieder da sein." "Meinst du, du schaffst das überhaupt?" Ren setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen, blickte sich kurz in dem verschneiten Hof um. Noch immer fielen die Flocken unzählig vom Himmel, vergrößerten die weiße Decke noch. "Na klar, man nennt mich nicht umsonst den Superman des Winters." "Logisch." "Diesen zynischen Unterton habe ich jetzt nicht gehört." "Vielleicht solltest du mal zum Ohrenarzt gehen." "Baka." "Idiot." Horo Horo schüttelte leicht seinen Kopf, als er die Tür aufstieß und Ren es gerade so bis zu dem Stuhl schaffte, der direkt unter der Garderobe stand und normalerweise Anna zum Schuheanziehen diente. Seine Beine zitterten und er hätte nicht gewusst, ob er es noch bis ins Wohnzimmer geschafft hätte, besonders nicht ohne Horo Horos Hilfe. Der junge Ainu machte aber keine Anstalten, zu seinem Schnee zurück zu kehren. Statt dessen schloss er die Tür und kniete sich vor Ren, um ihn aus der Jacke und seinen Stiefeln zu helfen. Desto größer war seine Überraschung, als sich die festen Winterstiefel als ausgetretene Pantoffeln entpuppten. "Diese Latschen trägst du im Schnee? Ohne Socken? Wo sind deine Stiefel?" fragte der junge Ainu entsetzt und berührte Rens eiskalte Füße, die schon bläulich angelaufen waren. Dann sah er, dass der junge Chinese keine Handschuhe trug, sein Körper vermutlich nicht nur vor Erschöpfung so stark zitterte. "Keine Ahnung, ich käme eh nicht rein, Bückverbot." Murmelte Ren und ließ sich aus der Jacke helfen. "Dann sag einen Ton, Schuhe zubinden kann ich nämlich zufälligerweise noch." "Echt?" Horo Horo richtete sich auf und versuchte, so entschlossen zu funkeln wie möglich, denn er ahnte schon, welche Gegenwehr ihn erwartete. "Du bist völlig durchgefroren, ich steck dich jetzt in die Badewanne." "Nein." Erfolgte auch prompt die erwartete Antwort. "Ich darf in kein Wasser, ich hab Badeverbot. Auf die Nähte darf keine Seife oder so was kommen." "Ach, wusste gar nicht, dass deine Füße auch verwundet waren." Konterte der junge Ainu, der bei dem Wort >Nähte< sichtlich zusammen gezuckt war. "Und jetzt komm mit." Entschieden ergriff er wieder Rens Arm. Der junge Chinese seufzte laut, ergab sich dann aber in sein Schicksal, da er wusste, dass Widerworte wenig Sinn gehabt hätten. *** "Die ganze Badewanne krieg ich jetzt eh nicht mit warmen Wasser voll." Horo Horo huschte quer durch den Raum und stellte erleichtert fest, dass der Ofen bereits heizte. Vermutlich wollte Anna ein warmes Bad nehmen, wenn sie mittags von der Schule wieder zurück kehrte oder wollte Yoh in ein heilendes Kräuterbad stecken. Für viel warmes Wasser würde das Feuer zwar noch nicht ausreichen, aber für Horo Horos Zwecke genügte es vollkommen. "Überanstreng dich nicht." Murmelte Ren, als der junge Ainu einen kleinen Zuber über die Platten schleifte und direkt vor dem Schemel platzierte, auf dem der junge Chinese nun saß und noch immer zitterte. "Das sagt der Richtige." Horo Horo zerrte drei Eimer mit dampfendem Wasser heran und kippte diese unter sichtlicher Kraftanstrengung in den Zuber, um anschließend an diversen Plasteflaschen zu riechen und das Öl hinzu zu geben, das in seiner Nase am besten roch. Ren beobachtete ihn schweigend und verkniff sich den Kommentar, dass diese Eimer doch gar nicht schwer waren, denn im Moment konnte er sie mit seiner Verletzung überhaupt nicht heben. "Ok, heiß genug." Horo Horo schälte sich aus seiner Winterjacke, denn der Ofen heizte dem verhältnismäßig kleinen Raum ganz schön ein. "Und jetzt runter mit der Hose." "Ganz schön plumpe Anmache, wenn du mich fragst." Sagte Ren ungerührt und freute sich insgeheim, als der junge Ainu ärgerlich errötete. "Soll ich erst Anna holen?" gab Horo Horo leicht säuerlich zurück und konnte ein Kichern nicht zurück halten, als er Rens empörten Gesichtsausdruck sah. "Hat sie dir das etwa auch auf die Nase gebunden?" "Was gebunden? Ich dachte einfach, dass sie das beste Druckmittel hier in diesem Haushalt sei." Horo Horo beugte sich leicht vor und blickte direkt in Rens Gesicht, als sich dieser fortdrehen wollte. "Was soll sie mir auf die Nase gebunden haben?" "Ach, nichts!" Der junge Ainu hob zweifelnd eine Augenbraue, ließ es dann aber auf sich beruhen, als Ren sich schließlich schwerfällig von dem Schemel erhob und sich aus seiner Trainingshose helfen ließ. Der Stoff war klamm und kalt und eine Gänsehaut überzog Rens Körper, als er seine Beine bis zu den Knien in das heiße Wasser tauchte und spürte, wie ein wenig Wärme zurück in seine gefrorenen Glieder floss. Er schloss seine Augen und gab stumm zu, dass der junge Ainu eine gute Idee gehabt hatte. "Fußbäder gehören bei uns zum Alltag, besonders jetzt im Winter." Erzählte Horo Horo, während er nach ein paar großen Handtüchern suchte. Eines von ihnen legte er auf den Ofen und ging dann zurück zu Ren, der stumm da saß, aussah, als würde er gleich einschlafen. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Horo Horos Schlaf war immer sehr unruhig, wenn er sich in einer ihm fremden Umgebung befand, und Yohs Zimmer war ihm nicht so bekannt wie der andere Raum, in dem er sonst immer übernachtete, wenn er Anna und Yoh in Tokio besuchte. Mehrmals wachte er auf und obwohl sich Ren ganz ruhig verhalten hatte, wusste der junge Ainu instinktiv, dass dieser nicht schlief. Er muss todmüde sein. Dennoch wusste Horo Horo, dass er keine Antwort erhielt, sollte er den jungen Chinesen fragen, ob seine Wunde ihn wach gehalten hatte. Also ließ er es und machte sich statt dessen daran, Ren aus seinem Oberteil zu helfen, das ebenfalls feucht vom Schnee war, sicherlich von all den Schneebällen, die Horo Horo ihm während des zweiten Angriffes als Rache in den Nacken geschoben hatte. Zum Glück wies der Trainingsanzug hier einen Reisverschluss auf und keine Knöpfe, ruckzuck hatte er ihn ausgezogen. Obwohl Ren nicht weiter darauf reagierte, dieses Mal wohl keine Witze gerissen hätte. Horo Horo legte beides neben den Ofen und ergriff das nun wunderbar warme Handtuch. Kurz verharrte er hinter dem jungen Chinesen, blickte nachdenklich auf den Verband auf der bleichen Haut, bevor er das Handtuch behutsam um Rens Oberkörper schlang, diesen einfach sanft fest hielt, sich auf Widerstand einstellte, der jedoch ausblieb. Der junge Chinese schien die Wärme, die ihn mit einem Mal umgab, zu genießen, lehnte sich vertrauensvoll gegen Horo Horo, ohne seine Augen auch nur einen Spalt breit zu öffnen. "Schmerzt es sehr?" fragte der junge Ainu und legte seine rechte Hand vorsichtig auf die Stelle des Handtuches, unter der er den Verband vermutete. Noch zu deutlich waren die Erinnerungen in seinem Kopf, wie Yoh der schwarzen Gestalt den Umhang fort riss und damit ein klaffendes Loch in Rens Oberkörper entblößte. Ganz genau sah Horo Horo den bleichen Jungen vor sich auf der Barre liegen, die Faust organisierte, um ihn so schnell wie möglich nach Japan auszufliegen und dort aufopferungsvoll zu versorgen. Horo Horo drückte Ren unbewusst an sich, als er an all die langen Stunden dachte, in denen der Arzt sehr besorgt drein geschaut hatte, weil die Nähte immer wieder aufplatzten, das Fieber bis zur Grenze des Möglichen stieg und keine Medizin stark genug zu sein schien, um Ren vor dem drohenden Tod zu bewahren. Horo Horo hatte weder Anna noch Yoh jemals davor so außer sich vor Sorge gesehen, und er wollte sie nie mehr so aufgelöst sehen. Genauso wenig, wie er noch einmal Ren so leblos auf dem Futon liegen sehen wollte, mit einem Tropf im Arm und einem ständig blutigen Verband um seinen Oberkörper. Ja, es war gar nicht so lange her gewesen, da hätte er dem jungen Chinesen sofort den Tod gewünscht, wäre sich sicher gewesen, dass die Welt ohne diese Killermaschine ein besserer Ort wäre. Aber er änderte seine Meinung langsam während der scheuen Bemühungen des Jungen, nett zu ihm und zu seiner Umwelt zu sein. Der Kampf im Palast öffnete ihn schließlich die Augen. Ren hätte ihn in dem Verließ verrotten, hätte ihn mehrmals so leicht töten können, aber er hatte es nicht getan. Alles, was Ren an jenem Abend falsch machte, tat er nur, um seine Schwester zu retten. Horo Horo würde vielleicht nie begreifen, wie jemand eine Leiche zum Leben erwecken konnte, aber er verstand Rens Beweggründe. Für seine Pirika-chan hätte er wohl Ähnliches getan... Horo Horo blieb, bis Faust ihnen versicherte, dass Ren lange für seine Genesung brauchen, dass er aber überleben würde. Erleichtert fuhr der junge Ainu in sein Dorf zurück, um dort wieder in seine Schule zu gehen, nicht aber, ohne sich weiterhin Gedanken zu machen. Täglich rief er an und war nicht nur über Ren, sondern auch über sich selbst erstaunt, wie gut sie am Telefon miteinander zurecht kamen. Früher hatte Horo Horo Rens trockenen Humor noch als verletzend empfunden, heute musste er laut darüber lachen. "Es hat sich schon wieder beruhigt." Antwortete ihm der junge Chinese schließlich und Horo Horo brauchte einen Augenblick, um in die Gegenwart zurück zu kehren. "Beim nächsten Mal pack ich dich in dicke Kleidung ein und dann gibt es keine Schneeballschlacht." "Zumindest solltest du mich nicht angreifen, wenn mir ganz zufällig ein Schneeball aus der Hand gleitet." "So ganz zufällig." "Natürlich." Horo Horo senkte seinen Blick und sah direkt in Rens entspanntes Gesicht. Der Hauch eines Lächelns lag auf seinen Lippen und seine sonst so bleichen Wangen waren von der Hitze des Wassers leicht gerötet. Mit einem Mal verstand der junge Ainu nicht, wie er sich vor diesem Jungen einst so sehr hatte fürchten können. Todesangst hab ich vor ihm gehabt... Ren schien ähnlichen Gedanken nachgehangen zu haben, obwohl sich Horo Horo sicher war, dass der Junge sich auf der Schwelle zwischen Wachsein und Schlafen befand. "Warum bist du so freundlich, Horo-kun? Ich könnte doch genauso gut versuchen, dich zu erwürgen." Wenn Horo Horo nicht selbst noch vor über einem Monat mit einem Halstuch herumgelaufen wäre, um die Würgemale von Rens Fingern zu verdecken, hätte er diese Frage als grotesk erachtet. Wie konnte jemand vom Erwürgen reden, wenn er sich so vertrauensvoll an ihn kuschelte, in diesem Moment der Wehrlosere von ihnen beiden war? "Tja, ich bin eben freundlich in meiner unendlichen Güte." Grinste der junge Ainu und griff nach Rens linker Hand, um die noch immer sehr kalten Finger warm zu rubbeln. "Außerdem solltest du nie vergessen, dass ich Krabbelweltmeister und hoffnungsloser Masochist bin." "Idiot." Antwortete Ren sehr schläfrig und Horo Horo entschied, dass das Schneeschippen warten konnte. Es schneite noch, Anna würde gar keinen Unterschied bemerken, wenn er jetzt ans Werk ging und bis zum Mittag alles wieder verschneit wäre. Auch wirkte Ren, als bräuchte er seinen Schlaf dringender als irgend so ein dummer Weg vom Schnee befreit werden müsste. Also blieb Horo Horo hinter dem jungen Chinesen stehen und hielt ihn vorsichtig fest, damit dieser nicht zur Seite kippte und sich weh tat. "Guten Morgen." Die Tür ging auf und Yoh schwankte fröhlich grinsend in den Raum. Er trug seinen Bademantel und tapste noch sichtlich mitgenommen zu ihnen hinüber. "Anna ist noch nicht wieder da, oder?" Horo Horo schüttelte seinen Kopf und deutete Yoh, leiser zu sein. "Er schläft?" Das Grinsen verschwand von dem verschwitzten Gesicht des jungen Japaners. "Er scheint nachts keine Ruhe zu finden, aber immer wenn ich ihn danach frage, weicht er mir aus." Yoh lehnte sich vor und strich einige schwarze Strähnen aus einem entspannten Gesicht. Ren reagierte in keinster Weise, er schien tatsächlich bereits im Traumland zu sein. "Wie geht's dir?" Horo Horo beobachtete, wie Yoh hinüber zum Ofen ging und sich einen Eimer mit warmen Wasser füllte. Amidamaru löste sich von seiner Seite und leistete Bason und Kororo Gesellschaft, die auf dem Rand der großen Badewanne saßen und aufmerksam ihre Meister anschauten. "Eigentlich schon wieder ganz gut." Yoh schlüpfte aus seinem Schlafanzug und begann, sich mit einem weichen Schwamm zu waschen. "Aber Anna macht immer gleich einen Riesenaufstand, wenn ich mal ein bisschen Fieber habe. Bestimmt würde sie einen Schreikrampf kriegen, wenn sie wüsste, dass ich die ganzen Treppen heruntergestiegen bin und mich hier gerade wasche." Nun grinste er wieder und zuckte ein wenig hilflos seine Schultern. "Ich hoffe, dass sie Yamada-sensei nicht all zu sehr ausschimpft, sonst kann ich bei dem nie wieder Sport machen." "Ich glaube, das ist auch Anna-sans Ziel." "Vermutlich." Yoh kippte sich einen zweiten Eimer über den Kopf und seufzte glücklich auf. "Das tut gut! Die ganze Zeit durfte ich den Futon nicht verlassen, auch wenn ich mich schon stark genug fühlte. Ist nervig." "Dafür kam ich mir vor wie in einem Krankenhaus." Erwiderte Horo Horo und seine blauen Augen funkelten schelmisch. "Nur alte Leute, die sich langsam oder gar nicht bewegten." "Tja, Horo-kun, so ist das eben, wenn man fast vierzehn ist. Du kommst auch noch in das Alter, wirst ja sehen." Beide grinsten sich an und Horo Horo konzentrierte sich jetzt auf Rens andere Hand, die sich aber schon wesentlich wärmer anfühlte. Das nächste Mal würde er besser auf den jungen Chinesen aufpassen, wenn sie draußen im Schnee tollten, das schwor er sich. "Horo-kun?" "Hai?" Yoh zögerte, bevor er nach einer der Plasteflaschen griff und sich damit entschieden einseifte. "Ich bin froh, dass ihr zwei euch so gut versteht." "Ich auch." Gab Horo Horo zu und konnte nicht verhindern, dass ihm eine unangenehme Röte ins Gesicht schoss. "Ich auch." *** "Gefrummelt ist kein Wort!" Manta blickte streng von seinem Computer auf, dem das Programm gerade >Keine Einträge für Ihre Eingabe< verkündete. Zweifelnd blickte er zwischen dem Spielbrett und einem breit grinsenden Yoh hin und her. "Na klar ist gefrummelt ein Wort!" strahlte dieser und wollte bereits die Punkte für sich kassieren, als er Rens durchbohrenden Blick auf sich ruhen spürte. "Was bitte ist gefrummelt?" fragte dieser in einer monotonen Stimme, aber seine rechte Augenbraue zuckte gefährlich, immerhin ging es hier um seine Führung, die er aufgeben müsste, wenn Yoh dieses Wort erfolgreich für sich beanspruchte. "Die Vergangenheitsform von frummeln." "Bitte?" "Na ja, frummeln ist eben, wenn man herumfrummelt. Ist doch logisch, oder?" Horo Horo blickte von einem fröhlich grinsenden Yoh zu einem sehr ernst dreinschauenden Ren hin und her und konnte sich schließlich ein Kichern nicht verkneifen. "Wenn er gefrummelt anerkannt bekommt, dann will ich mein >Mischack< auch in Punkten erhalten." "Sagt mal, könnt ihr kein anständiges Japanisch?" fuhr Ren ihn an, dessen Muttersprache zwar Chinesisch war, der Japanisch nicht so perfekt beherrschte wie Manta, Horo Horo oder Yoh, der sich aber sicher war, von diesen Wörtern noch nie etwas in seinem Leben gehört zu haben. "Offensichtlich nicht." Seufzte Manta und gab Yoh seine Steine wieder zurück. Sie alle saßen um den Tisch im Wohnzimmer, Ren und Yoh in eine dicke Decke gewickelt, und spielten Scrabbles, ein Brettspiel, das man mit mehr als nur zwei Personen spielen konnte. Manta hatte es heute Nachmittag mitgebracht und nun spielten sie schon seit über einer Stunde, während Anna das Abendbrot vorbereitete. "Ach, ihr zwei besitzt einfach keine Phantasie." Warf Horo Horo ein und griff nach seinem Glas mit heißem Tee. "Sorry, aber bei gefrummelt hört leider mein Vorstellungsvermögen auf." "Nicht so schlimm, schon verziehen." Manta ignorierte die zwei Streithähne und sortierte seine Steine auf dem Brett, bis sie ein richtiges japanisches Wort ergaben. "Okonomiyaki?" Yoh zählte Mantas Punktezahl und wusste, dass er verloren hatte, was ihm natürlich in keinster Weise die Laune verdarb, schließlich spielte er dieses Spiel, um es mit seinen Freunden zu spielen, nicht, um zu gewinnen. "Hast du Hunger, Manta?" "Fürchterlichen, Yoh-kun, die Köchin in der Schulkantine ist doch krank, und ich bin früh immer zu müde, um mir ein Bento zuzubereiten." "Dann mach dir doch einfach eines hier, bevor du nach Hause gehst." "Da denk ich nie dran." Ren legte seine letzten Steine und blickte kurz zur Manta und dann auf seinen Punktestand. Schließlich seufzte er ergeben und lehnte sich in die weichen Kissen zurück. "Hast du wirklich fünfundsiebzig Punkte?" fragte er und nippte vorsichtig an seinem heißen Tee. Anna wollte wirklich auf Nummer sicher gehen, dass sich keiner von ihnen noch einmal unterkühlte und damit erkältete. "Hai." "Meinen Glückwunsch, Manta-kun, ich hab vierundsiebzig." "Arigatou." Manta sah richtig glücklich aus, als er seinen Computer zu klappte und aufstand, um Anna in der Küche zu helfen. Das Kochen war ihr Metier, wenn sie sich einmal dazu aufgerafft hatte, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie deswegen das ganze Geschirr durch das Haus trug. Yoh wollte ihm folgen, entschied sich dann aber dagegen, Anna hätte sicherlich nur mit ihm geschimpft. "Du hättest gewonnen, wenn du anstelle >Eistea< >Striptease< hingelegt hättest, wie ich es dir empfohlen hatte." Sagte Horo Horo, während er zusammen mit Yoh den Tisch abräumte. "Solche Wörter lege ich nicht, außerdem war der >Eistea< auch ein seltsamer Mischmasch aus verschiedenen Sprachen." "Was aber bei unserem Scrabbles erlaubt ist." "Wenn du meinst." "Ach, du bist doch nur beleidigt, weil du verloren hast." "Wenn du meinst." "Alter Griesgram." "Idiot." Yoh verfolgte ihrem Wortwechsel lächelnd und stopfte die Spielschachtel unter den Tisch. Bevor er etwas sagen konnte, wurde die Tür wieder aufgeschoben und Manta und Anna brachten das Abendessen herein. "Ist Faust eigentlich noch nicht da?" fragte das Mädchen, als sie sich auf ein Kissen setzte und ihre Schüssel mit Reis und Gemüse füllte. "Nein. Er hat vorhin angerufen und gemeint, dass es etwas später kommt, weil er einen Notfall hat." Erklärte Manta, der sich im Moment ein wenig wie der private Telefondienst von Kyoyama Anna hielt, seinen kurzfristigen Groll jedoch sofort vergaß, als er ihr unvergleichlich gutes Essen kostete. "Gut, dann lassen wir ihm etwas übrig. Guten Appetit." "Guten Appetit." Die nächsten Minuten war das Wohnzimmer erfüllt von gefräßiger Stille. Alle klapperten mit ihren Stäbchen und erst als die Mägen ein wenig besänftigt waren, entwickelten sich wieder Gespräche am Tisch. Sie drehten sich dabei meist um die Schule, welch schwere Tests vor Manta lagen und auf welche Art und Weise Anna dem verrückten Sportlehrer heute die Leviten gelesen hatte. "... wenn's nach mir ginge, würde ich den Volltrottel sofort kündigen, aber..." Ren hörte nur halbherzig zu. Er hatte vor einer halben Stunde seine Tabletten genommen und verspürte eigentlich schon Hunger, nur wie immer blieb der Appetit aus. Lustlos blickte er auf seine Schüssel herab und schob sich einige Reiskörner in den Mund, auf denen er kaute, als hätte er ein zähes Schnitzel zwischen seinen Zähnen. Anna-san gibt sich immer solch große Mühe. Der junge Chinese seufzte leise, während Yoh vergeblich versuchte, seine Verlobte davon zu überzeugen, dass auch Sportlehrer einmal Fehler machen durften, schließlich waren sie auch nur Menschen. Alles duftet auch so lecker. Aber sobald er auch nur eine Stäbchenladung davon gegessen hatte, schmeckte es fad, irgendwie einheitlich, und sein Bauch schmerzte, obwohl sein Magen beharrlich knurrte, nach mehr verlangte. Vor drei Wochen, als Faust ihm das erste Mal feste Nahrung erlaubte, hatte er wie sonst auch immer gegessen, mit großem Hunger, den Appetit ganz einfach ignorierend. Das Ergebnis war gewesen, dass sein Magen, der die Tage davor überhaupt nichts mehr bekommen hatte, es nicht vertragen hatte und Ren sich übergeben musste. Das wollte er kein zweites Mal riskieren. Zudem, warum sollte er überhaupt essen, wenn es ihm ja doch nicht schmeckte? Er schob sich noch ein paar Reiskörner in den Mund und stellte die Schüssel wieder zurück auf den Tisch, legte seine Stäbchen darüber, um zu signalisieren, dass er sein Abendbrot beendet hatte. Da er dafür genauso lange gebraucht hatte wie Yoh für drei volle Schüsseln, fiel es nie weiter auf, worüber Ren froh war, denn er wollte Anna in ihrer guten Kochkunst nicht beleidigen. Heute jedoch bemerkte es Horo Horo, der sich nur halbherzig an Annas Beinahe-Wutausbruch beteiligte, den jungen Chinesen aufmerksam beobachtete. Ihm war der radikale Gewichtsverlust Rens aufgefallen und nun kannte er auch den Grund. Gerade wollte er etwas sagen, als er Rens warnenden Blick sah. Nun gut, dann würde er ihn eben später nerven, entkommen würde ihm der junge Chinese sowieso nicht. "Ich bin trotzdem der Meinung, dass er wissen sollte, was er tut. Schließlich ist er ein Lehrer! Er hat diesen Beruf studiert! Wenn er dafür zu doof ist, soll er's bleiben lassen!" brauste Anna erneut auf und Ren und Horo Horo vergaßen das Thema um Rens noch halb gefüllte Schüssel Reis, als sie beide den armen Sportlehrer bemitleideten. Was Anna dem Mann heute auch immer an den Kopf geworfen hatte, sie hofften, dass er deswegen nicht seinen Beruf an den Nagel hing und nach Amerika auswanderte, um dort LKW-Fahrer zu werden, damit er möglichst weit von Anna entfernt war und sich im Notfall möglichst rasch von ihr entfernen konnte. *** Es war nach zehn Uhr, als jemand leise an ihrer Tür klopfte. Horo Horo blickte von dem Manga auf, den er gerade mit seinen Augen verschlang, während Ren weiterhin unbeweglich auf seinem Futon lag, ausdruckslos die Decke anstarrte. Der junge Ainu hatte erst versucht, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, am besten über den genialen Manga, den er gerade las, aber Rens monotone Antworten zeigten ihm, dass der junge Chinese lieber allein sein wollte, also ließ er ihm diesen Wunsch, immerhin hatte er hier ein ganzes Regal voll wunderschöner Bilderheftchen, die ihm Gesellschaft leisten konnten. "Herein?" rief er, als Ren nichts sagte, und war ein wenig erstaunt, als Faust in das Zimmer trat. Der Arzt wirkte müde, vermutlich war der Notfall wirklich schwierig gewesen. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, bei seinen besten Patienten noch einmal vorbei zu schauen. Horo Horo hatte tiefen Respekt vor dem Doktor. Eliza hielt den Arztkoffer in ihren Händen, nickte Horo Horo grüßend zu, was dieser automatisch erwiderte. Faust schien ihn gar nicht bemerkt zu haben, denn er ließ sich ohne großartige Begrüßung neben Rens Futon nieder. "Wie geht es Euch heute, Tao-san?" fragte er und obwohl Horo Horo wusste, dass er wieder in seinen Manga sehen sollte, starrte er Ren an, als dieser sein Oberteil auszog und sich bereitwillig von Faust den Verband abnehmen ließ. "Gut." Antwortete der junge Chinese in seinem üblich monotonen Ton. Oh mein Gott... Horo Horo wurde mit einem Mal übel, als er die vielen Nähte sah, die sich quer über Rens abgemagerten Bauch zogen. An einigen Stellen schien die Wunde gut zu verheilen, an anderen Stellen war das Fleisch wund und der junge Ainu konnte einige Blutspritzer auf dem Verband erkennen. Das nennt er >gutMaster Horo Horo?< Er fuhr herum, als er Bason durch die halb geöffnete Tür schweben sah. Der Geist verbreitete wenigstens ein bisschen Licht, zumindest genug, dass Horo Horo den besorgten Ausdruck auf dem Gesicht des chinesischen Kriegers sehen konnte. "Bason?" fragte er alarmiert und war sofort auf seinen Beinen, um dem Geist zu folgen. "Was ist passiert?" >Master Ren ist unten im Bad, es geht ihm nicht gut.< Warum hat er mich dann nicht geweckt? Dieser Idiot! Horo Horo sagte jedoch nichts, sondern nickte nur, lief rasch hinter Bason durch das stockfinstre Haus. Ein anderer Junge hätte sich jetzt vor Geistern gefürchtet, der junge Ainu aber war dankbar für Basons Anwesenheit, so sah er wenigstens den Schatten der Stufen, fiel dadurch nicht die Treppe hinunter, weil er sich wieder nicht hatte merken können, wie viele Schritte er nach unten brauchte. Energisch schob er die Tür auf und konnte im fahlen Licht Basons auch schon die Gestalt erkennen, die über einem Zuber kniete, sich bei dem Krach, den Horo Horo verursachte, nicht rührte, nicht weiter reagierte. "Ren-kun?" Der junge Ainu eilte zu ihm hinüber, sah, dass sich Ren mit einer Hand seinen Bauch hielt, sich mit der anderen vom Boden abstützte. Er zitterte erbärmlich. "Ren?" "Verschwinde." Murmelte die tiefe Stimme gepresst und würgte. "Mir geht's gut." "Sieht man." Horo Horo ging neben dem Freund auf die Knie. Nein, er würde sich nicht abschütteln lassen, egal, wie sehr Ren ihn auch beschimpfte. Dem jungen Chinesen ging es überhaupt nicht gut, was immer er sich selbst auch einzureden versuchte. Da würde er ihn bestimmt nicht hier im Badezimmer hocken lassen. "Du bist so putzmunter, dass du morgen ein ganzes Schloss aus Schnee bauen wirst, was?" Der junge Ainu berührte Rens Schulter und spürte, dass der zitternde Körper des Jungen ganz kalt war. Wie lange hockt er schon hier? Verdammt! "Was ist los? Und ich will keine Ausflüchten hören!" "Nutz deine Stellung nicht aus, Schneemann. Irgendwann werd ich wieder gesund sein." Es sollte vielleicht eine Drohung sein, aber Horo Horo missachtete sie einfach, Rens Gesundheit ging vor. "Dann werd gefälligst wieder gesund! Also, was ist los?!" Ren hob seinen Kopf und Horo Horo konnte in Basons Licht sehen, dass gelbe Augen schreckgeweitet und feucht waren. "Mir ist schlecht!" fuhr ihn der junge Chinese an, aber er hatte nicht die Kraft, wirklich mit Horo Horo zu streiten. "Das ist nur deine Schuld! Du und dein blöder Pudding!" "Ach, du würdest wohl lieber verhungern?" "Besser, als die halbe Nacht Bauchschmerzen zu haben." "Die hast du doch auch so." "Nein, da wirkt Fausts Medizin." "Ach, und warum schläfst du nachts nie?" Ren blinzelte ertappt, dann senkte er wieder seinen Kopf über den Zuber und würgte. Aber wie die letzte Stunde auch brachte er einfach nichts aus seinem schmerzenden Körper heraus. "Verschwinde." Murmelte er wieder und schloss seine Augen. Warum konnte der Idiot ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Warum konnten ihn denn nicht alle in Ruhe lassen? War das denn so viel verlangt? "Lenk nicht ab!" Wahrscheinlich... Horo Horo sah sich kurz in dem Badezimmer um, bevor er über die Fliesen lief und sich ein kleines Handtuch nahm, das er sich über die Schulter warf. Dann ging er entschieden zurück zu Ren, der noch immer zitternd vor dem Zuber kniete. "Du frierst, also ab ins Bett mit dir." Sagte er bestimmt und griff unter Rens Arm, um diesen zu sich empor zu ziehen. Ren schlug seine Hand jedoch fort und gelbe Augen starrten ihn hasserfüllt, aber auch unendlich müde an. "Lass mich in Frieden, oder du wirst's später bereuen." Horo Horo beugte sich zu dem Erben der mächtigsten Dynastie Chinas hinunter, bis sich ihre Nasen beinahe berührten. "Mir ist piepegal, was später einmal sein wird, Tao-san. Ich lebe im Hier und Jetzt und da gehörst du ins Bett, bevor du dir auch noch eine kräftige Erkältung einfängst." Horo Horo verzog seine Augen zu Schlitzen und packte Rens Hand entschlossen. Er würde ihn nicht durch das Haus zerren, denn er wollte jegliche zusätzliche Schmerzen vermeiden, aber er würde ihn hier nicht zurück lassen. "Du kannst mich nicht einschüchtern, während du hier wie ein Häufchen Elend auf dem Fußboden liegst." Machte er seinen Standpunkt deutlich. "Ich werd auf meinen Futon brechen, denn mir ist immer noch schlecht!" "Das haben wir doch schon geklärt, oder? Dann mach ich ihn eben wieder sauber!" Ren seufzte tief und ließ sich schließlich auf seine Beine ziehen. Im Stehen zitterte er sogar noch stärker und Horo Horo griff sofort behutsam unter seine Schultern, da er befürchtete, dass der junge Chinese umkippte. "Du bist ein Sturrkopf, Schneemann." "Danke für das Kompliment, gleichfalls." Ren biss daraufhin seine Zähne zusammen und zog es vor zu schweigen, während Horo Horo ihm in Basons Licht zurück in Yohs Zimmer half. Der junge Japaner schlief noch immer in dem Extrazimmer, denn noch hielt Anna die Anstreckungsgefahr für zu hoch, oder aber sie hatte einfach keine Lust, die Futons wieder durchs Haus zu schleppen. Der Schnee prasselte weiterhin gegen die Fensterscheiben, als sie endlich das Zimmer erreichten. Ren konnte kaum noch stehen, so sehr zitterte er. Erschöpft ließ er sich auf seinen Futon sinken und griff nach Basons Totentafel. Nein, er würde nicht mit seinem Geist schimpfen, der doch nur seine Pflicht getan und Hilfe geholt hatte, nachdem Ren auf seine Fragen nicht mehr reagierte. Aber er wollte nicht länger in Horo Horos entschlossenes Gesicht blicken. Also zwang er den chinesischen Krieger in die Totentafel, womit auch das letzte Licht im Haus erlosch. Ich hasse diesen Schnee. Ren legte sich vorsichtig auf die Decke, wusste, dass er nicht in der Lage war, sich in diese zu wickeln. Sein Bauch schmerzte fürchterlich und ihn graute es vor der Nacht, die noch vor ihm lag. Eine schier unendliche Nacht. Kann dieser dumme Sturm nicht aufhören? Er mochte einen Schneesturm genauso wenig wie ein Gewitter, hatte sich in so mancher Winternacht in das Zimmer seiner Schwester gestohlen, unter ihrer Decke nicht nur Wärme, sondern auch Geborgenheit gefunden. Das werde ich nie mehr machen. Jun wird nie mehr für mich da sein... Er schnappte nach Luft, aber noch immer löste sich der Knoten in seinem Bauch nicht auf. Also drehte er sich langsam auf die Seite, ergab sich in sein Schicksal. Ren zuckte heftig zusammen, als er plötzlich etwas Kaltes spürte, das behutsam gegen seinen Oberkörper gedrückt wurde. Abwehrend griff er danach und erkannte, dass es dabei um ein Handtuch handelte, das um Eis geschlagen war. Der junge Chinese kannte nur einen Schamanen, der in der Lage war, Schnee und Eis zu erzeugen. "Na prima." Knurrte er, ließ dann das Handtuch dennoch nahe seines Bauches liegen. Es kühlte angenehm, linderte seine Schmerzen ein wenig. "Jetzt darf ich hier erfrieren." "Wenn du dich nicht zudeckst, ist das ja auch kein Wunder." Etwas raschelte in der Dunkelheit und im nächsten Moment fühlte Ren, wie ein weicher Stoff über seinen Körper geworfen wurde. Dabei lag er noch immer auf seiner eigenen Decke. "Du solltest dein Bettzeug nicht so freigiebig hergeben, Idiot." "Selbst Idiot." Horo Horo schien in der Dunkelheit nach etwas zu suchen und Ren befand sich bereits in der Versuchung, Bason doch wieder zu rufen, um den Raum wenigstens ein bisschen zu erhellen, ließ es dann aber. Schließlich hatte sich Horo Horo selbst in diese Situation hinein manövriert, es konnte ihm doch egal sein, wenn dieser einfach so seine Decke hergab, oder? Seltsamerweise war dies nicht der Fall. Bevor sich Ren jedoch weitere Gedanken machen konnte, fühlte er plötzlich, wie die Decke gelüftet wurde und im nächsten Moment Horo Horo neben ihm lag. "Was soll das werden?" fragte Ren genervt und nur sein schmerzender Bauch hielt ihn davon ab, sich umzudrehen und den jungen Ainu von seinem Futon zu stoßen. "Na, wonach sieht's denn aus, Schlaumeier? Wegen dir erkälte ich mich nicht." Antwortete Horo Horo und schüttelte sein Kopfkissen zurecht. "Außerdem ist es kurz nach zwei Uhr nachts, da werde ich Anna-san bestimmt nicht wecken und nach einer Decke fragen." "Dann nimm diese und verzieh dich." "Weißt du was? Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, dann halt doch einfach deine Klappe!" Horo Horo klopfte die Decke um sich herum fest, bevor er all seinen Mut zusammen nahm und sich gegen den kalten Körper neben sich lehnte. Wie erwartet schnappte Ren nach Luft, fuhr aber nicht herum, um ihn zu schlagen, wie er das wohl vor noch fünf Wochen getan hätte. "Wie lange hast da unten wirklich gesessen, Ren-kun? Du bist ja eisig!" "Das ist mein Charakter, und jetzt lass mich in Ruhe!" zischte Ren, der sich jedoch nicht gegen die angenehme Wärme an seinem Rücken wehrte. Die ganze Nacht hatte er schon unter seiner Decke mächtig gefroren und hatte sich schließlich in der Hoffnung in das Badezimmer geschlichen, dass der Ofen vielleicht noch heizte. Natürlich war ihm furchtbar schlecht gewesen und er wollte Yohs Zimmer nicht mit seinem Abendbrot verunstalten, aber er hatte auch auf ein wenig Wärme gehofft, die ihm im Badezimmer jedoch verwehrt blieb, Anna hatte den Ofen gelöscht, nachdem Manta und Yoh ihr Bad beendet hatten. "Ich geh erst wieder, wenn du nicht mehr so zitterst, und jetzt versuch zu schlafen." Gähnte Horo Horo, der selbst sehr müde war. "Ich zittere nicht!" "Also hab ich Wahnvorstellungen." "Könnte durchaus möglich sein." "Egal, ich bin eh zu faul, mich noch einmal zu erheben." Horo Horo legte seinen Kopf zwischen Rens Schulterblätter und schloss seine müden Augen. "Bist du dir bewusst, dass ich über dich herfallen und dich erwürgen könnte?" Rens Stimme klang ganz fern in Horo Horos Ohren. So seltsam leise. "Ich bin mir bewusst, dass ich ein Masochist bin." Erklärte er und drehte sich ein wenig auf dem Futon, um nach dem Handtuch zu tasten. Das erste Eis schmolz bereits, also konzentrierte er sich und festigte es wieder. "Idiot." Antwortete Ren und versteifte sich, als er Horo Horos Hand spürte, die neues Eis schuf und anschließend die Decke über dem kühlenden Handtuch behutsam wieder fest klopfte. "Ich könnte dich für diese Aktion umbringen, sobald ich wieder gesund bin." "Mit dem Risiko werd ich leben können." Grinste Horo Horo und runzelte seine Stirn, als er merkte, dass etwas fehlte. Ein plüschiges Etwas, an dessen Existenz er vor zwei Monaten noch nicht einmal geglaubt hätte. "Wo ist eigentlich dein Teddy, Ren?" fragte er schläfrig und gähnte erneut. Für einen Augenblick herrschte Totenstille in dem Zimmer. Woher weiß er das? Ren holte bebend Luft, als es ihn siedendheiß durchfuhr. Wo ist der Teddy eigentlich? Er hatte seine Reisetasche einfach so in den Wandschrank gestopft, ohne in diese zu schauen, aber niemand wusste von dem alten Kuscheltier, bestimmt hatte Yoh es nicht mit eingepackt. Jun hat mir diesen Teddy geschenkt, als ich noch ganz klein war. Jun... Meine geliebte Jun... "Das braucht dir nicht peinlich zu sein, ich hab auch so was." Murmelte Horo Horo, der die Stille missinterpretierte. "Einen Schneemann?" Ren presste fest seine brennenden Augen zusammen, kämpfte erneut erfolgreich gegen die Trauer an, die in ihm empor stieg, ihn zu überwältigen drohte. Sein Hals schmerzte fürchterlich und am liebsten hätte er sich jede einzelne Naht aus dem Bauch gerissen. Wenigstens verging die Übelkeit ein wenig und das erste Mal seit zwei Tagen fror er nicht mehr. "Hellseher." Horo Horo kicherte müde und kuschelte sich nun völlig an Rens Rücken. "Versuch zu schlafen, Ren." Schlafen? Der junge Chinese seufzte leise. Was brachte ihm schon der Schlaf? Doch nichts anderes, als Alpträume, in denen er seiner Schwester hinter her rannte, sie aber nie erreichen konnte, sie in jeder Nacht aufs Neue verlor. Nein, Schlaf nützte ihm nichts, wenn er sich am nächsten Morgen noch fertiger fühlte! "Wenn etwas ist, weck mich einfach, ok?" Horo Horos Stimme klang bereits verschlafen und es dauerte keine Minute, bis sich der Körper des jungen Ainu völlig entspannte, sein Atem tief und gleichmäßig ging. Ren beneidete ihn ein wenig, denn er wusste, dass er auch diese Nacht durchwachen würde. Aber wenigstens würde er nicht länger frieren müssen. Der junge Chinese schloss seine Augen und ballte seine Fäuste über dem kühlenden Handtuch. Wenigstens würde er sich in den nächsten Stunden nicht all zu allein fühlen. *** Normalerweise wäre Horo Horo am Morgen eines Nikolaustages sofort aus seinen Federn gesprungen und zur Tür geflitzt, um zu sehen, was da Schönes in seinen Stiefeln steckte. Heute aber blieb er ruhig liegen, hörte den Geräuschen von Anna zu, die in der Küche stand und das Frühstück zubereitete, und hoffte, dass das Mädchen dafür noch mindestens eine Stunde bräuchte. Denn Horo Horo hatte sich auf den Rücken liegend vorgefunden, als er vor etwa einer halben Stunde zu sich kam, müde in das Licht der aufgehenden Sonne blinzelte und sich freute, dass der Schneesturm vorbei war. Neben ihm lag Ren, der wohl irgendwann in der Nacht das Handtuch von sich geschoben und sich zu dem jungen Ainu umgedreht hatte. So gut es seine Wunde eben erlaubte, hatte sich der junge Chinese zusammen gerollt und seinen Kopf auf Horo Horos Oberkörper gebettet, als sei dieser sein persönliches Kopfkissen. Der junge Ainu hatte erst überlegt, ob er ihn wecken sollte, entschied sich aber dagegen, blieb ganz still liegen. Es war schon selten genug, dass Ren Schlaf fand, auch schienen ihn im Moment keine Schmerzen zu quälen. Er muss völlig erschöpft gewesen sein. Horo Horo konnte nicht widerstehen und hob vorsichtig seine linke Hand, um durch pechschwarze Haare zu streicheln. Ein friedlicher Ausdruck lag auf Rens Gesicht, den der junge Ainu viel lieber sah, als die unterdrückte Trauer, die gehetzte Angst, die er manchmal in gelben Augen sah, wenn sich Ren unbeobachtete fühlte. Es ist mir egal, ob du mich anschreist oder mich anfällst, nur werd wieder gesund. Obwohl Horo Horo wusste, dass Rens Genesung mehr bedeutete, als einfach nur das Verheilen seiner Wunde. *** Es war laut im Flur, als sich alle in ihre Stiefel und in ihre Jacken kämpften, dabei wild durcheinander redeten, sich auf den Ausflug freuten. Yoh hatte Anna so lange bekniet, bis sie schließlich nachgab und er seinen Schlitten vom Dachboden holen durfte. Schlittschuhe hingen über Mantas Schulter und sein Computer stand verwaist im Wohnzimmer. Heute würde er ihn nicht mitnehmen. "Kannst du das bitte halten?" Horo Horo gab dem kleinen Japaner seine eigenen Schlittschuhe und drehte sich zu Anna um, die gerade ihr Kopftuch richtete. "Danke, Anna-san." grinste der junge Ainu und deutete stolz auf den neuen Schal, den er heute früh in seinen Stiefeln gefunden hatte. Er war dunkelblau. Jeder von ihnen hatte eine andere Farbe erhalten, so dass sie ihre Schals nicht verwechselten: Yoh ein helles braun und Manta weiß. Der Stoff war nicht nur warm, sondern auch selbst gemacht. Horo Horo fühlte sich richtig geehrt. "Gern geschehen." Anna lächelte zurück und dankte ihm im Gegenzug für die Schokolade. Er winkte nur verlegen ab und bückte sich, um Rens Stiefel hervor zu kramen. Der junge Chinese saß auf den Stufen der Treppe und wartete geduldig. "... der kleine Hügel wird schon reichen..." "... wenigstens hat es zu schneien aufgehört..." Redeten Yoh und Manta wild durcheinander, während Horo Horo in den rechten Stiefel griff - und ebenfalls einen Schal zu Tage beförderte. Dieser war schwarz. Anna-san hat sich wirklich furchtbare Mühe gegeben! "Hier, der Nikolaus ist auch zu dir gekommen." Spöttelte er und drückte Ren den Schal in die Hand. Er hatte sich bereits gebückt, um dem jungen Chinesen beim Zubinden der Stiefel zu helfen, so konnte er nicht sehen, wie Ren den Stoff hinter sich warf, als handle es sich dabei um eine äußerst giftige Schlange. Ich will so was nicht! Ren schluckte und hob seinen zweiten Fuß. Dass er nicht um den Spaziergang mit dieser verrückten Rasselbande herum kam, das musste er wohl oder übel einsehen, aber er nahm keine Geschenke an. Nicht an einem Feiertag! Nicht am Nikolaustag! Jun hat mich sonst immer beschenkt... Er holte tief Luft und erhob sich langsam. Seine Wunde schmerzte heute nicht all zu stark und sein Körper fühlte sich das erste Mal seit Wochen erholt, ihm hatte der Schlaf sichtlich gut getan. Dennoch wollte es Ren nicht übertreiben und bewegte sich vorsichtig in Richtung Tür, die bereits offen stand. Er konnte Yoh und Manta im Schnee stehen sehen, beide wirkten sehr aufgeregt und sehr glücklich. "... mindestens drei Schneemänner sollten wir bauen und..." "... ich kann rückwärts fahren, echt! Zeig ich dir heute..." "Ren?" Er blieb stehen, als er Annas Stimme neben sich hörte. Fragend blickte er auf und biss seine Zähne aufeinander. Bestimmt hatte sie den Schal für ihn gestrickt, er sollte ihr dafür danken. Aber ihm kamen keine Worte über die Lippen. Stumm sah er sie an und sie zog die Stirn in Falten. "Hier, damit du dich nicht erkältest." Sie bückte sich kurz und bevor er hatte reagieren können, hatte sie den Schal um seinen Hals gewickelt, lächelte ihn aufmunternd an. Nein. Bitte nicht! Ren starrte stumm zurück, wollte seine Hände heben und den Stoff fort reißen, aber er konnte es nicht. Wie gelähmt stand er da, fühlte den Kloß, der in seinem Hals anwuchs. Übelkeit stieg in ihm empor und eine plötzliche Kälte ließ ihn zittern. Jun hat mir auch immer im Winter einen Schal gestrickt, da ich die alten nie finden konnte. Den vom letzten Jahr hab ich wohl auch verloren. Ren erinnerte sich noch ganz genau an den letzten Nikolaus. Damals hatte er noch unter dem Einfluss seines Vaters gestanden und sie angeschrieen, dass er so etwas hässliches nicht tragen würde, denn es bestand weder aus Samt noch aus Seide, war einem zukünftigen Fürsten nicht würdig. Sie aber hatte ihn nur angelacht und den Schal einfach um seinen Hals gewickelt. >Dieser fürstliche Schal passt doch ausgezeichnet zu deinem fürstlichen Hals, Ren-chan.< Fröhlich hatte sie seine geröteten Wangen getätschelt und ihm einen schönen Nikolaus gewünscht. Ich hab sie so schlecht behandelt, und sie war so lieb zu mir. Ich hatte nie auch nur ein Geschenk für sie... Ren schluckte, spürte aber, dass er dieses Mal den Kampf nicht gewinnen konnte. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er die Spange mit dem Drachen noch immer in der kleinen, rosafarbenen Tasche hatte, dass er niemals mehr die Gelegenheit erhalten würde, sie seiner Schwester zu geben. Nie wieder würde er das sanfte Lächeln auf ihrem Gesicht sehen. Nie wieder würde er ihre bedingungslose Liebe spüren, die sie einem so missratenen Bruder immer entgegen gebracht hatte, ohne zu zögern. Nie wieder... Ren hörte nicht, wie die Gespräche um ihn verstummten, noch fühlte er die Tränen, die in seinen Augen brannten, im nächsten Moment ungehindert über seine Wangen rannen. Nie wieder werde ich bei ihr sein können... Dabei hatte er doch gerade erst begonnen, sie fair, sie wie seine ältere Schwester zu behandeln, sich die Fehler seiner Vergangenheit einzugestehen. Warum war ihnen nicht mehr Zeit vergönnt gewesen? Verdammt! Warum bin ich nicht eher nett zu ihr gewesen? Dreizehn lange Jahre hab ich verschwendet. Einfach so verschwendet... Mehr und mehr Tränen liefen über sein Gesicht, benässten den Schal, der noch immer um seinen Hals lag. Ren bemerkte dies nicht, sonst hätte er sich maßlos geschämt, hätte versucht, die Tränen fortzuwischen oder anderweitig zu verbergen. So aber stand er nur da, seine gelben Augen starrten ausdruckslos ins Nichts, während er lautlos weinte. Wieso musste sie nur von mir gehen? Warum konnte ich sie nicht begleiten? Nicht einmal richtig verabschiedet hab ich mich... "Geht schon mal vor, wir kommen dann nach." Anna blickte hinüber zu Yoh, der genauso geschockt wie die anderen Jungen wirkte. Dann nickte der junge Japaner und zupfte erst an Mantas, dann an Horo Horos Jackenärmel. Selbst Bason, der lieber bei seinem Herrn geblieben wäre, sah ein, dass er nur gestört hätte, und ging mit ihnen. Leise zogen sie die Tür hinter sich ins Schloss, ließen Anna mit einem apathisch wirkenden Ren allein. Nie wieder werd ich bei ihr sein können. "Ren?" Wie hab ich nur all die Jahre so gemein zu ihr sein können? "Ren?" Warum bin ich nicht eher zu Sinnen gekommen ? Warum??? "Ren?" Annas sanfte Stimme drang nur langsam durch den Nebel aus trüben Gedanken, der ihn umgab. Er blinzelte und blickte direkt in ihr Gesicht, spürte die Hände, die sie auf seine feuchten Wangen gelegt hatte, um besser in seine Augen sehen zu können. "Ren?" Er schluckte hart, konnte aber ein Schluchzen nicht unterdrücken. "Ich war all die Jahre so gemein zu ihr, hab ihr so viel Hass entgegen gebracht..." flüsterte er tonlos, spürte erst jetzt die Tränen, die auf keine Gegenwehr trafen. Er hatte einfach nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen. Wozu auch? Er hatte doch schon alles verloren, was machte da das bisschen Stolz noch aus... "Du hast sie nicht gehasst, Ren." Erwiderte Anna sanft, die sofort wusste, dass der junge Chinese von seiner verstorbenen Schwester sprach. "Du hast sie geliebt, auch wenn du es ihr nicht so offen gezeigt hast. Du hast sie geliebt, Ren, und sie hat das auch gewusst." Was? Sie soll das gewusst haben? Aber ich hab sie angespuckt, angeschrieen und getreten. All die Jahre, in denen sie auf mich aufpassen musste! >Ren-chan, du hast deinen Schal vergessen.< >Ich trag dieses blöde Teil nicht!< >Musst du aber, sonst wirst du krank.< >Du hast mir gar nichts zu sagen!< >Doch, denn ich bin deine große Schwester.< >Pah!< >So, schon fertig. Und jetzt lauf raus, mein kleiner Fratz, und hab Spaß.< Mein kleiner Fratz. So hat sie mich immer genannt. So wird sie mich nie mehr nennen... Rens Beine versagten ihren Dienst und schluchzend sank er auf seine Knie. Anna war sofort bei ihm und dankbar lehnte er sich gegen ihre Schulter, ließ das erste Mal seit fünf langen Wochen seiner Trauer freien Lauf. Anna sagte nichts, denn sie wusste, dass sinnlose Phrasen wie >Es wird schon alles gut werden.< absolut nichts brachten. Als ihre Eltern starben, hatte sie Yohs Verwandtschaft dafür verabscheut und ihren jungen Verlobten umso mehr gemocht, als er sie einfach in den Arm nahm und fest hielt. Dasselbe tat sie jetzt mit Ren, der leise weinte und dabei heftig zitterte. Stumm hielt sie ihn fest, signalisierte ihm schweigend, dass sie da war, egal, was auch passierte. Sie würde zu ihm stehen, genauso wie Yoh und die anderen. Es dauerte eine Weile, bis sich der junge Chinese halbwegs beruhigte. Langsam rückte er wieder von ihr ab. Mit gesenktem Kopf setzte er sich auf die unterste Stufe und suchte nach einem Taschentuch. Offensichtlich war ihm sein Gefühlsausbruch nun peinlich. "Hier." Anna hielt ihm das ihrige hin und wartete geduldig ab. "Danke." Ren wischte sich die Tränen vom Gesicht und putzte sich anschließend die Nase. Das Taschentuch ballte er in seiner Faust und seufzte leise. "Es tut mir leid." Sagte er nach einer weiteren langen Zeit der Stille. "Ich wollte euch nicht euren Ausflug verderben." "Glaubst du, das schaffst du bei Yoh?" "Nein, nicht wirklich..." Ren knetete das feuchte Tuch in seinen Händen und starrte auf seine Stiefel, als wären sie das Interessanteste auf dieser Welt. "Jun hat mir jedes Jahr einen Schal gestrickt, ich hab wohl ein wenig überreagiert." Ren seufzte und wollte aufstehen, aber Anna ergriff sein linkes Handgelenk und hielt ihn zurück. Überrascht blickte er auf, sah direkt in ihre funkelnden Augen. "Fühlst du hier wohl, Ren?" Es war dieselbe Frage, die ihm auch Yoh auf dem Dach gestellt hatte, aber Ren war sich sicher, dass das Mädchen nichts von dem nächtlichen Ausflug ihres Verlobten wusste, ansonsten hätte sich Yoh ein Donnerwetter sondergleichen anhören dürfen. "Was..." "Es war der letzte Wunsch deiner Schwester, dass du mit Yoh nach Japan kommst und hier bei uns wohnst. Wir haben dich zurück nach Tokio geholt, ohne dich überhaupt nach deiner Meinung zu fragen." Sie sah ihn ernst an, so ernst, dass Ren ihrem Blick auswich. Statt dessen starrte er auf das Taschentuch in seinen Händen. Meine Meinung? Was zählt schon meine Meinung, sie können die Vergangenheit ja doch nicht ändern... Ein Schauer lief über seinen Rücken, als er an den Palast zurück dachte, der ihm schon leer vorgekommen war, nachdem er seinen Vater vertrieben hatte. Da hatte Juns Lachen noch die viel zu langen und viel zu dunklen Gänge gefüllt, jetzt wäre der Ort ein Geisterschloss, eine große, eisige Gruft. Zurückkehren? Nein, unmöglich. "Jun..." Seine Stimme versagte und verstohlen wischte er eine weitere Träne fort. "Jun hat wie immer Recht gehabt. Ich kann und will nicht zurück nach China, nicht jetzt. Es wäre so... furchtbar still dort ohne.. Jun..." Ren brauchte einige Momente, um seine erneut aufwallende Trauer unter Kontrolle zu bringen. Anna saß ruhig neben ihm, gab ihm all die Zeit der Welt. "Trotzdem will ich... eure Gastfreundschaft nicht überstrapazieren..." Er legte unbewusst die Hand mit dem Taschentuch auf seinen Bauch, der nun wieder leicht schmerzte. "Ihr habt wegen mir schon genug Ärger gehabt..." "Quatsch mit Soße würde dir Yoh jetzt antworten." Anna lehnte sich vor und umhüllte seine eisigen Finger mit ihrer warmen Hand. "Und ich muss ihm zustimmen, Ren. Wir hätten dich auch ohne Juns Bitte hier aufgenommen. Hast du das denn während der letzten Monate nicht bemerkt, Ren? Du bist mehr als nur ein guter Freund, du bist ein Teil dieser Familie geworden." Anna drückte die eiskalten Finger sanft. "Ich weiß, es ist eine sehr kleine und manchmal ganz schön verrückte Familie, aber du gehörst zu uns, Ren." Eine ganze Weile saß sie schweigend neben dem jungen Chinesen und fuhr schließlich fort, als er ihr nicht antwortete. "Seit ich Yoh kenne, und das ist schon eine ganze Weile, Ren, wollte er immer einen Bruder haben, den ihm seine Eltern aber nicht geben konnten. Seine Mutter wäre bei seiner Geburt beinahe gestorben und so wollten sie nichts riskieren. Er wusste damals nichts von Hao und als er dich das erste Mal traf, da entschied er, dass er dich zum Bruder haben wollte." Als Yoh-kun mich das erste Mal traf... "Da wollte ich ihn mit meiner Sense in zwei Teile schneiden." "Das hat ihn in keinster Weise abgeschreckt. Du kennst Yoh ja." Anna lächelte, als Ren einfach nur nickte. "Horo-kun und Manta-kun sind seine besten Freunde, aber dich wollte er als seinen Bruder haben. Deshalb hat er sich dir zu Beginn auch immer in den Weg gestellt, hat mit dir in China gegen deinen Vater gekämpft und all die Monate immer an dich geglaubt, wenn andere zweifelten. Yoh redet nie darüber, aber es hat ihm furchtbar weh getan, als er von Hao erfuhr und im gleichen Atemzug verstehen musste, dass sein eigener Zwillingsbruder sich gegen ihn richtete. Yoh wollte Hao nie verletzen, musste sich aber am Schluss dann doch für die anderen Schamanen entscheiden." "Der Kommunikator..." "Hai, Yoh konnte ihn einfach nicht wegwerfen, denn er beinhaltet Haos letzte Nachricht." Annas Mund verzog sich zu einem Strich. "Dieser Bastard hat das extra geschrieben, um Yoh ein schlechtes Gewissen zu machen! Dem war doch nichts und niemand heilig! Selbst wenn er auf allen Vieren angekrochen gekommen wäre, ich hätte ihn nicht hier haben wollen, auf gar keinen Fall! Der hatte doch Spaß am Töten!" "Das hatte ich auch einmal..." "Aber du hast dich geändert, Ren." Annas Gesichtsausdruck wurde wieder etwas sanfter. "Du hast dich bemüht und Yoh nie enttäuscht, auch wenn es mal einen Rückschlag gab. Du willst kein Fürst der Finsternis sein, Ren, das unterscheidet dich von diesem Bastard!" Ren blickte auf die Hand vor sich und ließ seine Schultern hängen. "Ich war schon Jun gegenüber ein schrecklicher Bruder." "Das glaube ich nicht, Ren. Sie hat dich geliebt, also kannst du nicht so schrecklich gewesen sein." Anna blickte nun wieder ernst drein. "Meine Eltern starben, als ich sieben Jahre alt war, Ren. Ich weiß, dass niemand den geliebten Menschen ersetzen kann, den man verloren hat. Wir wollen deine Schwester nicht ersetzen, und wir erwarten auch nicht, dass du ihren Tod einfach so überwindest, ich weiß selbst, dass das mitunter Jahre dauern kann, bis der Schmerz verstummt." Anna schloss für einen Moment ihre Augen, denn die Erinnerung an ihre toten Eltern taten ihr noch heute weh. "Aber wir möchten für dich da sein, Ren. Yoh als dein Bruder und ich dann als die böse Schwägerin." Nun musste sie grinsen und war froh, als der verzweifelte Ausdruck auf Rens bleichem Gesicht verschwand. Ich? Yohs Bruder? Eine neue Chance auf eine liebevolle Familie? "Das klingt verlockend." Gab Ren zu und wischte eine weitere Träne von seiner Wange. "Gibt's an der ganzen Sache auch einen Harken?" "Du hast mich durchschaut." Anna drückte noch einmal sanft die nun warme Hand, bevor sie aufstand und Richtung Badezimmer ging, um Ren ein feuchtes Tuch zu reichen, mit dem er sein Gesicht säubern konnte. Die anderen machten sich bestimmt schon Sorgen, wo sie so lange blieben. "Sobald du wieder ganz bei Kräften bist, musst du Schnee schippen." Ren lächelte sie nur stumm an. Stumm und dankbar. *** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)