Gedenke des Todes, Drachenritter von abgemeldet (Memento Mori - 3. Platz im Herbst-/Winterwettbewerb 2004) ================================================================================ 1. Teil ------- Bevor ihr das lest, noch ein paar kleine Anmerkungen. Ich hab die Originalnamen (soweit ich sie kenne) benutzt, außer den von Razu, weil da mag ich Razu lieber ^_^ Außerdem ist mir klar, dass Sheela eigentlich viel jünger ist, als sie in der Geschichte erscheint. Die Geschichte beginnt übrigens fünfzehn Jahre bevor Bastard!! anfängt, also, nicht wundern. Sämtliche Charaktere aus Bastard!! gehören Hagiwara Kazushi. Ko, Meriya und die Gestalt in schwarz sind meine eigenen Kreationen, gehören also mir! ^_^ Das Gedicht am Anfang ist aus der Neuauflage von Bastard!! Ansonsten, Kritik ist immer gerne gehört ^_^ Viel Spaß beim lesen! Eure Lea Kim Gedenke des Todes, Drachenritter 1. Teil Memento Mori Alas, baleful influence still remains. A long, long time ago, a great war was fought. An Evil Sorcerer from darkness with an army Of monstrous demon statues and horrid beasts Attempted to infringe upon four Kingdoms For a spell of forty-two months. The Uparitou War, it was called The dreary gloom hid the sky. No light was seen for one-third of each day. No skyglow at night. Then came a Dragon Kinght with sacred light. The one chosen by the sages, Given such power and vigor equal to a mighty Dragon'fs, Bravely stood before the Evil One. After battles for some days and nights The Sorcerer was severely defeated. Thus was made the gloom to disappear forever. And the sky was never to be disgraced again. Where has the Dragon Knight gone? Alas, he too was never to be seen again therefore. Sie beobachtete sie, die Menschen, wie sie lebten, wie sie handelten, wie sie sich selbst betrogen, sich selbst um ihr Glück brachten, wie sie ihr Leben einfach wegschmissen, als wäre es ein altes Kleidungsstück, das nicht mehr der derzeitigen Mode entsprach. Sie wussten nicht, welches Geschenk ihnen gegeben wurde, welche Möglichkeiten sie hatten, welche Chancen sie verpassten. Die Menschen waren blind gegenüber ihrer eigenen Umwelt und zu selbstverliebt, als dass sie es erkennen können. Sie konnte ihnen kein Mitleid entgegenbringen. Nicht diesen Lebewesen. Nicht ihnen. Warum sagten sie, sie wären glücklich und töteten sich dabei gegenseitig? Warum waren sie so verlogen? Warum machte es ihnen nichts aus? Sie wurde nicht schlau aus der Menschheit, sie waren so skrupellos und doch... Sie hatten Jahrtausende überlebt, obwohl sie sich jederzeit selbst auslöschten, meist aus nichtigen Gründen. Eigentlich dürfte es sie nicht mehr geben. Die Menschen waren so hartnäckig, so stur, so rücksichtslos. Sie waren so arrogant, so selbstgerecht und so hochmütig. Sie bildeten sich ein, sie wären die Krönung der Schöpfung, Gottes Ebenbild! Was für ein Irrglaube. Sie waren so blind, dass sie ihre eigenen Fehler schon längst nicht mehr wahrnahmen. Die Menschen waren nichts, nichts wert. Welch eine Ironie, dass sie von ihnen abhängig war. Er hörte die morgendlichen Geräusche, das leise Fußgetrappel der Diener, das Vogelgezwitscher von draußen, welches in den letzten Tagen immer weniger geworden war, der Windzug, der durch das geöffnete Fenster in das Zimmer hineinwehte und die Fensterläden klappern ließ. Er war müde, so müde. Er wollte nicht aufstehen, nicht schon wieder das tun, wozu er geboren war. Er hasste es. Er wollte es nicht, aber er musste. Er war es so müde. Schleichend stieg er aus seinem Bett, um sich seinem Training zu widmen. Sein Tag fing früh an, keiner der anderen stand bei Sonnenaufgang auf. Aber anscheinend war er heute diesmal doch nicht der Erste. Bevor er ganz aus dem Bett gekrochen war, wurde die Tür zu seinem Zimmer aufgeschlagen und ein kleiner, schwarzhaariger Wirbelwind stürmte hinein, genau auf ihn zu. Mit aller Wucht wurde er zurück auf sein Bett geschmissen und fest gedrückt, so dass er beinahe keine Luft mehr bekam. Die zierlichen Ärmchen seiner Schwester umklammerten ihn zitternd. Sie schluchzte erbarmungswürdig. Nur schwer konnte er sie beruhigen. "Es ist alles gut, weine nicht, ist ja gut, du brauchst nicht traurig zu sein, es ist alles in Ordnung", flüsterte er ihr leise ins Ohr. "Weine nicht, meine kleine Shee, alles wird gut." Und dabei musste er an seine eigene Bestimmung denken. Er hasste es, seine kleine Schwester belügen zu müssen. "Du ... ich ...du ... tot und ich ...", stammelte die kleine Sheera und konnte trotz allen guten Zuredens nicht völlig in ihrem Weinkrampf innehalten. "Du ... wirst sterben.", schniefte sie schließlich ganz leise, dass er es fast nicht hörte. Er wusste, dass er sterben würde, dafür war er geboren worden, aber es erschütterte ihn, dass seine kleine Schwester davon erfahren hatte. Er liebte sie und hatte von jeher versucht all das schreckliche Unheil von ihr fern zu halten. Wie hatte sie es erfahren? Woher wusste sie es? Seine kleine Shee, sie war noch so jung und musste soviel erleiden. Ihre gemeinsame Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Ihr Vater hatte sich so gut es ging um seine Tochter gekümmert, doch die Mutter hatte er nicht ersetzen können, zumal er sich noch um ein gesamtes Königreich kümmern musste. Auch er, ihr großer Bruder, hatte nicht als Ersatz gereicht, bei weitem nicht. Und nun der Krieg. Sheera hatte ein solches Schicksal nicht verdient, niemand hatte ein solches Schicksal verdient! Vorsichtig löste er seine Schwester aus der festen Umarmung und schaute ihr lächelnd ins rotgeweinte Gesicht. Mit einer Hand wischte er ihr die Tränen weg. "Ich werde nicht sterben, noch nicht." "Aber ich habe sie gesehen", begehrte Sheera auf. "Sie wird dich mir wegnehmen!" Er schüttelte den Kopf. "Keiner wird mich je dir wegnehmen, ich werde immer auf dich aufpassen, kleine Shee." "Doch, sie wird es tun, ich weiß es", erwiderte sie aufgebracht. Ihre Sorge um ihn hatte sich nun in Wut verwandelt. Ihre kleinen Fäustchen hämmerten an seine Brust, als würde sie dadurch das Unheil, das über ihm schwebte, austreiben können. Er hielt sie nicht davon ab. "Sie wird dich holen", heulte sie. Er drückte sie an sich, um sie abermals zu beruhigen, doch sie riss sich aus seinen Armen. Wütend und zornig schrie sie ihn an: "Ich hasse sie, sie darf dich nicht holen! Du gehörst ihr nicht!" Dann lief sie aus dem Raum, einen verdutzten und traurigen großen Bruder zurücklassend. Welch eine große Trauer hatte in ihren Augen gelegen. Nachdenklich und besorgt nahm er seinen alltäglichen Tagesrhythmus auf. Während des gesamten Vormittages sah er seine Schwester kein einziges Mal, obwohl er immer Ausschau nach ihr hielt. Es betrübte ihn, wie sie ihn verlassen hatte, so voller Anklage in ihren Augen, als ob es seine Schuld wäre. Nur, was war passiert, dass sie so aufgewühlt war? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, sosehr er sich auch bemühte, einen Grund für ihr Verhalten zu finden. Und wer war diese Person, von der Shee gesprochen hatte? Eine Frau aus seinem Umfeld oder vielleicht eine Feindin? Er kannte die Gefahr, die das Königreich bedrohte. Unter den Anführern der Gegner gab es nur ein weibliches Wesen, die Donnergöttin. War sie es, die ihn holen sollte? Nein, sie konnte es nicht sein, oder etwa doch? Wenn sie ihn in einem Kampf tötete, dann holte sie ihn in gewisser Weise. War es das, was seine kleine Shee ahnte? Dass er im Kampf gegen die Donnergöttin sterben würde? Die arme kleine Shee, sie war so mitgenommen von den Schlachten, die sich gehäuft hatten, seit der Herbst angefangen hatte. Der Krieg bedrückte das ganze Volk. Jeden Moment konnte wieder ein Angriff erfolgen. Die Menschen lebten in ständiger Angst vor erneuten Überfällen. Dass das nicht an seiner Schwester spurlos vorbei ging, war unausweichlich. Sie mussten diesen Krieg gewinnen, auch wenn es hoffnungslos erschien. Er musste ihn gewinnen, diesen sinnlosen, abscheulichen Krieg. Wie lange lebte er schon darin, in diesem Albtraum, der nicht enden wollte? Von dem er so müde war, so ausgelaugt. Es schien endlos her zu sein, dass die ersten Attacken sein Leben erschüttert und ihn herausgerissen hatten, hinein in eine Welt der Zerstörung und der Willkür. Der Feind war stark und übermächtig, wie sollte er ihn nur besiegen? Woher sollte er nur die Kraft nehmen? Mit einem kräftigen Schlag auf seine Schulter wurde er in die Gegenwart zurückgeholt. "Was grübelst du so vor dich hin, Prinz Razu", erklang eine dunkle, tiefe Stimme hinter ihm. Es konnte nur einer sein, denn kein anderer von seinen Freunden nannte ihn bei seinem Titel. Als er sich umdrehte, erblickte er den angehenden Hohepriester Geo, wie er erwartet hatte. "Shee ist böse auf mich." "Shee? Böse auf dich, ihren heißgeliebten Bruder?", fragte Geo ungläubig. "Das halte ich für ein Gerücht." Razu zuckte mit den Schultern und ging weiter, Geo folgte ihm. "Es ist aber so." "Jetzt erzähl doch keinen Quatsch, sie verehrt dich", entgegnete Geo bestimmt, alle Zweifel damit wegwischend. "Sie wird sich schon wieder beruhigen." Doch Razu war noch nicht davon überzeugt. "Sie kam heute morgen weinend in mein Zimmer, ich konnte sie kaum beruhigen." "Sie hat wohl schlecht geträumt", mutmaßte Geo. "Das ist nichts ungewöhnliches in dieser Zeit, der Krieg geht auch an ihr nicht spurlos vorbei." Das gleiche hatte Razu auch schon vermutet, aber der Zweifel und die Sorge nagten weiter an ihm. Sheera war eigentlich ein sehr fröhliches Mädchen, sie spielte gern, und auch Alpträume verarbeitete sie schnell. So einfach konnte es nicht sein. Es steckte mehr dahinter. Er hatte die Angst in diesem kleinen Körper gefühlt, die Angst um ihn, ihren großen Bruder, der sie ihr Leben lang beschützt hatte und für sie gesorgt hatte, die Angst, dass er sterben würde. Sie war echt gewesen, diese Angst, keine Illusion. "Vielleicht hast du Recht", lenkte er ein. "Aber..." "Aber du machst dir Sorgen", beendete Geo für ihn den Satz. Es war nicht das, was Razu sagen wollte, aber er beließ es dabei. Sollte Geo denken, dass Shee nur einen Alptraum hatte, die anderen hatten schon genug Sorgen, als dass sie sich auch noch darüber Gedanken machen mussten. Er würde es schon selber herausfinden, was mit seiner Schwester passiert war. "Für wann ist die nächste Versammlung angesetzt", fragte Razu, um endgültig das Thema wechseln zu können. "Hoffentlich nicht heute." "Hast du es noch nicht gehört?", fragte Geo überrascht. "Dein Vater hat eine Krisensitzung veranlasst. Wir sollen uns alle im großen Saal einfinden, es sind Boten heute früh gekommen. Ich dachte, du wüsstest das. Weshalb wären wir sonst in dieser Richtung unterwegs." Das stimmte, sie waren auf dem Weg zum großen Saal, der nur für hochoffizielle oder dringende Staatsangelegenheiten genutzt wurde. Die Situation war ernst, sonst hätte sein Vater nicht auf diese Weise gehandelt. Und auf einmal war er der Krieger, als der er geboren war. Seine Gedanken gehörten der bevorstehenden Schlacht, die kommen würde, mit Sicherheit. Jegliche eigenen Sorgen verbannte er aus seinem Kopf, die konnte er nicht gebrauchen. Im Kampf zählten Reflexe, wer zuviel nachdachte, starb. So lautete das ungeschriebene Gesetz. Und er konnte es sich nicht leisten, zu sterben, er musste dieses Königreich beschützen. Auch wenn er des Kämpfens müde war, so vergaß er doch nicht seinen Treueid, den er vor seinem Vater und vor dem gesamten Volk geschworen hatte. Er würde sein Reich verteidigen, bis der Tod ihn holen würde, er kannte seine Pflicht, er kannte sein Schicksal. Er vergrößerte seine Schritte, er wollte nichts verpassen. Krachend schlugen die Türflügel zum großen Saal an die Wand, als er sie mit aller Wucht aufstieß. Mit ernstem Gesicht trat er in den Raum hinein, Geo blieb leicht hinter ihm. Alle Anwesenden hatten sich umgedreht und schauten ihn nun verwundert, vereinzelnd auch zornig, an. Nur sein Vater blickte wohlwollend auf ihn, seinen einzigen Sohn und Thronfolger. Er spürte wieder die schwere Last, die mit seinem Schicksal verbunden war. Er sah die Minister tuscheln, ob sein arrogantes Verhalten, doch er ignorierte sie. Sie hatten eh nichts zu sagen, jedenfalls fast nichts. Und gegen ihn, den Prinzen hatten sie nichts in der Hand. "Mein Vater und König!" Razu verneigte sich leicht. Sein Vater nickte gutmütig. "Wie ich eben schon erwähnte, hat uns vor wenigen Stunden ein Bote erreicht, der eine wichtige Nachricht brachte", erklärte der König die Situation. "Anscheinend planen unsere Gegner uns in den nächsten Tagen in einzelne Schlachten zu verwickeln, um uns mürbe zu machen. Sie haben ein verstecktes Lager errichtet, um von dort agieren zu können. Mit einer großen Streitmacht werden wir wohl nicht rechnen müssen, jedoch ist es unabdingbar, dass wir auf der Hut bleiben. Deshalb wird eine kleine Gruppe von uns sie ausspionieren und gegebenenfalls verhindern, dass sie angreifen können. Auch wird ab jetzt die Bewachung der Stadt verdoppelt, ich möchte nicht, dass wir überrascht werden." Die Anwesenden nickten, sie hatten nichts an dem Plan auszusetzen. "Du, Razu", Razu blickte hoch zu seinem Vater, "wirst die Gruppe anführen." Razu zuckte leicht zusammen, widersprach jedoch nicht. Er musste gehorchen, aber ein gutes Gefühl hatte er dabei nicht. Normalerweise hätte er ohne Zögern den Auftrag angenommen, doch dieser Tag war nicht normal. War es nur die Sorge um Shee, weswegen er sich unbehaglich fühlte? Oder war es der angebliche Tod, der ihm vielleicht bevor stand, weshalb er den Befehl am liebsten verweigert hätte? Das war doch absurd! Er war ein Krieger, er war nie etwas anderes gewesen. Warum sollte er nun, gerade in dieser schwierigen Zeit, sich nicht mit jeder Faser seines Herzens für sein Land einsetzen wollen? War er einfach nur zu müde? Er war hin und hergerissen und wusste nicht, damit umzugehen. Zuviel war in der letzten Zeit passiert und sie alle litten daran, physisch wie psychisch. Voller dunkler, ungewöhnlicher Gedanken wartete er das Ende der Versammlung ab, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Sein Vater hatte den Auszug auf die nächste Nacht angesetzt. Ihre Feinde sollten nicht gleich bemerken, was sie vorhatten. Während er sich in Richtung Ausgang wandte, bemerkte er eine Bewegung im hinteren Teil des Saales. Einer der Vorhänge schwang leicht zur Seite, als hätte sich dahinter jemand versteckt oder versteckte sich noch immer. Er schritt darauf zu und zog den Vorhang beiseite. Auf dem kalten Steinfußboden kauerte seine kleine Schwester, die ihn verschreckt anblickte, ob seiner Entdeckung. Er sah, dass sie wieder geweint hatte. Hatte sie etwa die gesamte Sitzung mit angehört? Dann musste sie auch seinen Befehl mit bekommen haben. Kein Wunder, dass ihr Gesicht tränenverschmiert war. Ohne ein Wort hob er sie hoch, drückte sie fest an sich und streichelte ihr übers seidig weiche Haar. Er brauchte nichts zu sagen, denn es würde nicht helfen. Diesmal konnte er sie nicht belügen, um ihren Schmerz zu lindern, diesmal war er hilflos. Und auch dieses Gefühl hasste er. Er fürchtete die Nacht nicht, er hatte gelernt, sie zu nutzen und unter ihrem Mantel verdeckt seine Feinde zu besiegen. Schon unzählige Male hatte er eine solche Spionageaktion durchgeführt, doch an diesem Abend war die Nacht nicht seine Beschützerin, diesmal war sie der Feind, in deren Schatten sich die Schrecken des Krieges verbargen und der Seele. In dieser Nacht würde er den Tod treffen. Er hatte sich von Shee nicht verabschieden können. Er hatte sie überall gesucht, aber sie blieb unauffindbar. Sie hatte sich vor ihm versteckt, sonst hätte er sie gefunden, und dies bedrückte ihn sehr. Sie beide wussten, was ihm auf dieser Reise zustoßen würde, aber verhindern konnten sie es nicht. Vielleicht war es sogar besser so, redete er sich ein. Sie sollte ihn nicht traurig sehen und sie sollte nicht traurig sein. Sie war doch so ein fröhliches Mädchen. Innerlich verfluchte er sich und das, wofür er geboren war, die Pflicht, die ihn daran hinderte, ein normales Leben zu führen und für seine Schwester da zu sein. Sie waren nicht viele. Er hoffte, dass dieser Umstand ihnen half, unentdeckt zu bleiben. Das Lager sollte nordwestlich vom Schloss liegen, im Zentrum des großen Waldes, der die Gegend dort beherrschte. Dieser Wald wurde von den einfachen Leuten gemieden. Es rankten sich düstere Mythen und grausame Legenden um diesen Ort. Das meiste davon war reiner Aberglaube, aber in jeder Geschichte steckte ein Körnchen Wahrheit, wie er gelernt hatte. Sie sollten ihr Unternehmen nicht auf die leichte Schulter nehmen und er wusste, dass dies keiner von ihnen tat. Seine Gruppe bestand aus vier Personen, Nils John, Dana Meniketi, Geo Nort Sort und ihm selbst. Er hatte nur seine engsten Freunde, denen er jederzeit sein Leben anvertrauen würde, zu dieser Mission mitgenommen. Ihnen traute er, vertraute er. Sie waren nicht korrupt, sondern ehrlich und treu. Bessere konnte man in dieser Welt nicht finden. Doch leider waren sie nicht vollständig. Geos Frau, Shiri Tempest, fehlte. Sie machte die Runde komplett, mit ihr wären sie beinahe unbesiegbar gewesen. Er hatte mit diesen Leuten etliche Abenteuer erlebt, seit er laufen gelernt hatte. Er hatte mit ihnen gespielt, gekämpft, erobert, geweint, gesiegt. Er glaubte an sie und sie glaubten an ihn. Zusammen hatten sie sich immer stark gefühlt. Aber in diesem Augenblick fühlte er sich alles andere als stark. Er dankte Gott innerlich, dass er seine besten Freunde ausgewählt hatte, ihn zu begleiten, auch wenn Geo im Schloss eine Frau mit Kind hatte. In ihrer Nähe fühlte er sich ein bisschen sicherer. Und jedes Stück Sicherheit, das er bekommen konnte, war ihm bei dieser Tat nur recht. Es lag ein Schatten auf ihnen, und dieser Schatten raubte ihm die Sinne. Vor Stunden waren sie aufgebrochen und langsam näherten sie sich dem angeblichen Lager, doch bis jetzt blieb alles ruhig, sie hatten nichts Ungewöhnliches entdecken können. Die Geräusche der Nacht unterschieden sich nicht von denen anderer Nächten, hier und da schrie ein Kauz, die Bäume rauschten leicht im Wind, es war nicht ungewöhnlich. Es dürfte sich aber nicht so anhören, es war falsch. Ein Lager, auch ein kleineres, musste Spuren hinterlassen. Doch nirgends waren Anzeichen von Humanoiden zu erkennen. Keine neu getretenen Pfade, keine abgeknickten Zweige und Äste, und auch kein Leuchten eines Wachfeuers war in der Ferne zwischen den Bäumen zu sehen. Hatten sie gefälschte Informationen bekommen? Waren sie an der falschen Stelle? Hatte sich der Bote geirrt, der ihnen die Nachricht gebracht hatte? War er vielleicht sogar ein Spion gewesen? Razu konnte das nicht glauben. Die königlichen Kuriere waren treu und loyal, sie wurden sorgsam ausgewählt. Aber wenn sie einem Zauber erlagen...? Eine böse Ahnung beschlich ihn. Er gab das Zeichen zum Halten. Mit wenigen Handzeichen erklärte er der Truppe sein Misstrauen. Die anderen nickten, auch sie fühlten das Hinterhältige an diesem Ort, auch ihnen war klar, dass sie einer Täuschung erlagen. Wie konnten sie sich daraus befreien? Da sie zu keiner Lösung kamen und auch ihr Argwohn nicht bestätigt wurde, schlichen sie weiter. Immer die Befürchtung im Geiste, einem Angriff zum Opfer zu fallen. Sie mussten diese Mission erfolgreich meistern, ansonsten würde ihrem Volk ein schreckliches Schicksal bevorstehen. Und dies mussten sie unter allen Umständen verhindern. Razu war sich sicher, dass die anderen von seinem Vater den Befehl erhalten hatten, ihn mit ihrem eigenen Leben zu beschützen. Er war schließlich der Thronfolger, er musste überleben, damit das Volk weiter an die Hoffnung und Rettung ihres Landes glaubte. Er war unersetzbar. Wenn er sterben würde, nicht auszudenken was mit dem Land passieren würde. Er musste einfach siegreich sein, eine andere Alternative gab es nicht. Er konnte sich nicht hinlegen und ausruhen, seine verdammte Pflicht hinderte ihn daran. Und doch fühlte er seinen nahen Tod, die Erlösung von allem. Was dachte er da nur? Der Tod sollte ihn retten? Das war nicht die Lösung, nicht der Ausweg. Er musste stark sein, und für sein Land kämpfen, er durfte doch nicht einfach aufgeben und sich dem Tod freiwillig in die Arme werfen! Er hatte eine Aufgabe, die er erfüllen musste, er durfte seinen Vater und sein Volk nicht enttäuschen. Er musste doch wieder zu Shee zurück, er hatte es ihr versprochen. Er hatte ihr doch versprochen, noch nicht zu sterben. Warum sehnte er sich da nur nach dieser trügerischen Ruhe? Er hatte doch einen Eid geleistet. Seine Gedanken um diese düstere Frage ließen ihn nachlässig werden. Die Angst vor der dunklen Zukunft, die sich in seinem Kopf zusammen braute, verschleierte die Zeichen, die er im wachen Zustand sofort erkannt hätte. Seine Kumpanen vertrauten ihm, so entging auch ihnen die Falle, in die sie liefen. Von der einen Sekunde auf die nächste füllte sich das sonst tote Blätterdach über ihren Köpfen mit Leben. Seile wurden heruntergelassen, eine Salve Pfeile, der sie nur knapp entkamen, schoss auf sie zu und eine Meute von Angreifern, deren Schwerter und Säbel matt im fahlen Licht des Mondes, ihre Gesichter hingegen zerfurcht und unförmig, erschienen, stürmte ihnen entgegen. Ihnen blieb kein Ausweg, denn die Gegner hatten sie eingekreist. Der Prinz und seine Vasallen sahen sich einer zehnfachen Übermacht gegenüber, einer Übermacht, der sie nicht stand halten konnten, so verbissen sie sich auch wehren mochten. Doch noch gaben sie sich nicht besiegt. Razu sah aus den Augenwinkeln, wie sich Geo auf einen Zauberspruch konzentrierte, die anderen hatten ihre Waffen gezückt. Nur noch wenige Sekunden trennten sie von dem Kampf. Razus Gedanken jagten hin und her. Er musste einen Ausweg finden, und zwar schnell. Er war es sich und seinen Freunden schuldig, und vor allem Shee. Sie durften diesen Kampf nicht verlieren, auch wenn es ausweglos schien. Ihre Feinde wollten sie mit ihrer schieren Übermacht nieder strecken, hinter ihnen war der Wald wieder tot und leer. Wahrscheinlich hatten sie nur einfache Krieger erwartet, und nicht die besten Kämpfer des Landes. Sie mussten sich also nur mit diesen Gestalten messen. Ihre Lage war schwierig, aber nicht hoffnungslos. Bevor Razu jedoch weitere Überlegungen anstellen konnte, attackierte ihn der erste Angreifer. Razu duckte sich, wich somit dem Schlag aus, und setzte seinerseits nach. Er holte aus und schlug seinem Gegner mit der Breitseite des Schwertes den Schädel ein. Einer war erledigt, doch sogleich stürmten zwei weitere Angreifer auf ihn zu. Sie kämpften mit aller Kraft, ihre Mission stand auf dem Spiel, ihr Volk stand auf dem Spiel. Doch schon nach kurzer Zeit waren sie alle sehr angeschlagen. Dana kämpfte, wie Razu mit einem kurzen Seitenblick erkannte, nicht mehr mit ihrem Schwertarm, Nils bedeckten zahlreiche große und kleine Wunden und er selbst wurde immer weiter nach hinten gedrängt. Es kam der Zeitpunkt, da sie alle vier mit dem Rücken aneinander standen. Sie hatten die Zahl ihrer Angreifer verringert, doch noch immer war kein Gleichgewicht hergestellt worden. Nun stand es zwanzig gegen vier, und sie waren schon erschöpft, während ihre Gegner einigermaßen ausgeruht waren. Ihre Feinde hatten den Ring um sie gänzlich geschlossen und schlichen nun sabbernd und blutgierig um sie herum. Diese Gestalten waren schon lange keine Menschen mehr, denn sie waren von der bösen Magie verführt worden. Verderbtheit lebte in ihren Herzen, Hass in ihren Gedanken. Sie gierten nach Leben anderer. Einer gefürchteten kleinen Armee standen sie hier gegenüber. Und jetzt wurde Razu klar, warum es keine Nachhut gab, ihre Feinde brauchten sie nicht. Diese Unmenschen würden ihren Auftrag, seinen und den Tod seiner Freunde, gewissenhaft bis zum Ende ausführen. Bis zum welchen Ende auch immer. Er fürchtete, dass es sein Ende sein würde. Erwartete ihn nun dennoch der Tod? Sollte der Tod doch der einzige Weg sein aus diesem Alptraum? Er musste seinen Freunden vertrauen, musste einfach darauf bauen, dass sie es schaffen würde. Die Last war so schwer. Hintern ihren Gegnern gewahrte er eine andere Gestalt. Fast im Dunkeln verborgen stand sie zwischen den Bäumen, und es wahr ihm, als ob diese Gestalt nur ihn beobachten würde. Ein Gefühl von Ruhe überkam ihn, von stillem Schlafes, von der ewigen Stille. Die Gestalt rührte sich nicht, stand außerhalb der Wirklichkeit und blickte ihn doch an, direkt und unmittelbar. Dies musste der Tod sein, fuhr es ihm durch den Kopf, und plötzlich beruhigte sich seine Seele. Es war nicht mehr wichtig, ob er sterben würde. In diesem Moment vergaß er seine Feinde, sein Freunde, sein Land und seine Pflicht. Sein Schwert sank nach unten und dies gab den Gegnern das Zeichen zum Angriff. Er und seine Freunde wurden niedergemetzelt als hätten sie keine Verteidigung, doch Razu war es gleich. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich befreit und er gab sich diesem Gefühl hin. Er starb. Und doch war er nicht tot. Ein eigenartiges Gefühl durchflutete ihn. Er hörte jemanden schreien, jemand der ihm viel bedeutete, oder noch bedeuten möge. Er sah sich als Kind, als jungen Mann und alten Greis gleichzeitig. Er roch Regen und fühlte den herannahenden Sturm. Er schmeckte Härte, die ihn schmelzen ließ. Und die Bilder, Geräusche, Empfindungen wechselten, verwischten ineinander, arrangierten sich neu, gebaren andere Bilder, andere Geräusche, andere Empfindungen. All seine Sinne waren trunken und schwer von Klängen, Farben, Düften, erzählten ihm jeder eine eigene, grausige Geschichte, die er nicht verstand. Er versuchte, sich dagegen zu wehren. Sein Kopf barst von all den Eindrücken, die ständig in ihn eindrangen und versuchten, sein Selbst zu zerstören. Wenn dies tatsächlich der Tod war, so war er nicht gerecht. Nein, ich bin nicht gerecht. Ich bin das Ende. Das Ende? Wie sollte dies das Ende sein? Dies hier war die Hölle. Die Hölle ist ein Danach. Du bist Hier. Hier? Er wollte nicht hier sein, wollte weg, und sich wie ein kleines Kind verstecken. Er wollte diesem Irrsinn entfliehen, der ihn gepackt hatte und nicht mehr losließ. Die Bilder um ihn herum erschreckten ihn, und faszinierten gleichzeitig. Er sah eine Mutter ein totes Kind gebären, einen tanzenden Bären, lachende deformierte Kinder, einen Baum, der seine Blätter verlor, Menschen, die sich gegenseitig mit Schlamm bewarfen, einen einsamen Wanderer, dessen Schritte das herumliegende Laub aufwirbelten, die Sonne als rotglühenden, alles vernichtenden Ball, grelle Blitze, todbringende Wolken, und hinter all diesen Bildern stand die Gestalt, die er bei der Schlacht gesehen hatte, und beobachtete ihn. Er konnte ihr nicht entrinnen, konnte nicht entfliehen, denn es gab keinen anderen Ort, außer dem Hier. Er war gefangen, war wieder gefesselt und gebunden. Die Ruhe hatte ihn betrogen. "Dies ist kein Betrug." Und diesmal erkannte er, dass diese sinnliche feminine Stimme aus dem Munde der herrschenden Gestalt heraus floss und sich wie ein Leichentuch sanft auf ihn legte. Die Bilder verblassten und verschwanden gänzlich, als er sich auf die Gestalt konzentrierte. Sie trat auf ihn zu. Oder war er es, der sich ihr näherte? "Kein Betrug, ein Fehler", gestand die Gestalt. Nun konnte er sie genauer erkennen, so nah war sie inzwischen heran gekommen. Sie war weiblich, doch die Kapuze ihres langen, schwarzen Mantels verdeckte das Gesicht. Nur weiße, bleiche Haut blitzte darunter hervor. "Wer bist du?", fragte Razu schließlich. "Du weißt es", antwortete sie. Razu schwieg. Er wusste die Antwort, aber er war ein Mensch, und Menschen wehrten sich gegen das Offensichtliche. Und auch jetzt noch bekämpfte er die Wahrheit. Obwohl er es am eigenen Leib erfahren hatte. Er wollte es nicht wahr haben, dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. "Und was passiert jetzt?", fragte er weiter, auf Hoffnung sinnend diesem Abgrund entfliehen zu können. "Ich werde meinen Fehler korrigieren." "Welchen Fehler?" "Deinen Tod." Und die Wahrheit schlug ihm ins Gesicht. Er erwachte aus seiner Starre. Ihre Feinde hatten den Ring um sie nun gänzlich geschlossen und schlichen sabbernd und blutgierig um sie herum. Der endgültige Angriff stand ihm und seinen Kameraden kurz bevor. Er würde kämpfen, auch wenn er dabei sterben würde. Der Tod schreckte ihn nicht, er erwartete ihn beinahe. Und doch, er wusste, dass dies nicht sein Ende sein würde. Er hatte schließlich ein Versprechen abgegeben, und es war ihm, als hätte auch er ein Versprechen erhalten. Er konzentrierte sich, mobilisierte seine letzten Kräfte. Er spürte, wie seine Freunde es ihm nachmachten. Sie waren nicht am Ende, noch nicht, sie hatten schon schlimmeres erlebt und überlebt. Der Angriff kam schnell. Sämtliche Gegner stürzten sich auf einmal auf sie, doch gleichzeitig behinderten sie sich auch selber. So konnte Razu in der Menge kurz abtauchen, um ihre Feinde von hinten zu attackieren. Seine Taktik ging auf, gleich zwei Gegner setzte er mit einem Streich außer Gefecht, und einen weiteren mit dem nächsten Hieb. Ihre Gegner hatten sie glattweg unterschätzt, in ihnen schlummerte der Kampfgeist ihres gesamten Volkes, denn sie waren die obersten Ritter des Landes und die Stärke der Krone. Keiner hatte sie jemals besiegt und das würde so bleiben. Was waren da ein paar lächerliche Marionetten des bösen Magiers gegen ihre geballte Kampfkraft? Die Schlacht war zu Ende noch bevor er einen weiteren Gegner nur Strecke bringen konnte. Er sah auf, in das breit grinsende Gesicht seines besten Freundes. An dessen Stirn klaffte eine blutende Wunde, aber sonst schien es ihm gut zu gehen. "Wir haben's überlebt." "Mal wieder", lächelte Geo. "Ich hatte kurz das Gefühl, dass es das Ende wäre." Razu wandte sich den anderen beiden zu, die anscheinend mehr oder weniger wohlbehalten den Angriff überlebt hatten. Dana presste zwar ihren rechten Arm an sich, lächelte ihm jedoch zu, als sie Razus Blick auf sich spürte. "Diesmal war es knapp, Geo, richtig knapp." "Bis jetzt haben wir es immer geschafft." "Irgendwann nicht mehr." Die Euphorie, die Razu eben noch gespürt hatte, das Rauschen des Blutes in seinem Kopf, verflog und es überkam ihm die Gewissheit über einen zweifelhaften Sieg. Sie hatten gewonnen, aber welchen Preis hatten sie dafür bezahlt? Das dies eine Falle gewesen, und ihre Information gefälscht war, war unwiderlegbar. Doch wozu das alles? Hatte dies als Ablenkung dienen sollen? Wofür? Waren das Schloss und die Stadt in Gefahr? Sie mussten zurück, sofort. Er half seinen Freunden einige Wunden zu verbinden, Geo war ihnen dabei eine große Hilfe, denn seine Heilsprüche linderten die Schmerzen der gesamten Gruppe, danach gab Razu ihnen den Befehl zum Rückzug. Sie folgten ihm, auch sie hatten die Falle erkannt. Auf ihrem Weg zurück zur Stadt redeten sie kaum miteinander. Sie wussten, dass ihnen vielleicht ein schrecklicher Anblick bevorstehen würde. Eine düstere Stimmung herrschte zwischen ihnen. Sie hatten zwar den Angriff überlebt, auch wenn die Übermacht sie beinahe zur Strecke gebracht hätte, aber dennoch blieb die dunkle Vorahnung, das etwas nicht stimmte. Ihr Rückweg dauerte kürzer, so dass sie bald im Morgengrauen die Stadt erreichten. Sie war nicht verwüstet oder einem Angriff zum Opfer gefallen, ihnen allen fiel ein Stein vom Herzen. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich dann doch nicht bewahrheitet. In der Stadt war es seltsam ruhig, als ob sie den Atem anhalten würde. Sie begegneten keiner einzigen Seele. Dies war ungewöhnlich, selbst dafür, dass sie einen Umweg in Kauf nahmen, um keinen großen Rubel zu verursachen, und sich somit von den geschäftigen Plätzen fern hielten. Normalerweise sollten ihnen auch hier, in den ruhigen Gassen, Menschen begegnen. Doch die Stadt war ruhig, sie schlief noch, war wie ausgestorben. Auf ihrem Weg hoch zum Schloss geriet Razu abermals ins Grübeln. Seit dieser merkwürdigen Schlacht hatte er alle tristen Gedanken zur Seite geschoben und nur an ihre sichere Rückkehr gedacht. Nun überdachte er den vergangenen Kampf. Hätten sie anders reagieren können? Warum war ihm vorher nichts aufgefallen? Und vor allem, warum hatte er seine Vorahnung nicht ernst genommen? Die Spuren von vierzig Männern hätte er bemerken müssen. Stattdessen hatte er sich seinen dunklen Gedanken hingegeben, die ihn schließlich ausgeliefert hatten. Er hatte die Verantwortung getragen, er war schuld an ihrem Misslingen. Er durfte aber doch keine Fehler machen, nicht er. Die anderen vertrauten doch auf ihn. War die Müdigkeit schon so weit fortgeschritten, dass er seine Pflicht als Krieger und Beschützer des Landes nicht mehr erfüllen konnte? War der Krieg zu hart gewesen? Hatte er zu schnell erwachsen werden müssen? Er fand keine Antwort auf diese Fragen, und er zögerte auch, weiter nach einer Antwort zu suchen. Sie würde ihm nicht gefallen, denn sie würde sein Leben verändern, und davor hatte er Angst. Im Augenblick wusste er, was er zu tun hatte. Er wusste, wer er war, wo er stand und was seine Pflichten waren. Er war zwar in gewisser Weise gebunden, konnte sich aber innerhalb dieser Grenzen frei bewegen. Nicht viele Menschen teilten dieses doch eigentlich glückliche Schicksal mit ihm. Aus dieser Welt auszubrechen konnte er sich nicht vorstellen. Dazu hatte er weder den Mut, die Kraft, noch den dazugehörigen Willen. Im Schloss angekommen, erwartete sie die Nachricht von Shiris Tod. Er horchte der Stille in seinem Inneren, der Ruhe, die ihn ergriffen hatte und der Leere in seinem Kopf. Er glaubte eine ferne Stimme zu vernehmen, die ihn schon seit Tagen heimsuchte, doch er wusste, dass es nur Einbildung war, sein musste. Die Welt lag fern von ihm. Seine Versuche, sie zu erreichen, hatte er aufgegeben. Er sah keinen Sinn mehr darin. Nicht mal ein Tag war vergangen, seit sie Shiri beerdigt und verabschiedet hatten. Sie war, neben Geo, seine engste Vertraute gewesen, und nun war sie weg. Es tröstete ihn nicht, dass sie vielleicht nun an einem besseren Ort weilte, an dem kein Krieg herrschte, nicht im Land, noch in den Köpfen der Menschen, an dem es friedlich war. Der Preis, den die Mission gekostet hatte, war hart. Sie alle waren von der Nachricht geschockt gewesen, dass Shiri bei einem Mordanschlag auf den König ums Leben gekommen war. Ihre Feinde hatten es sich zu Nutze gemacht - deshalb die falschen Informationen über das angebliche Lager im Wald -, dass die besten Kämpfer nicht zugegen waren in dieser Nacht und somit den König nicht beschützen konnten. Und auch dafür war er verantwortlich. Seltsamerweise hatte Geo die Nachricht sehr gut verkraftet. Keine Miene hatte er verzogen, als er davon hörte. Er trauerte zwar über den Verlust seiner geliebten Frau, schien aber nicht daran zu verzweifeln. Schließlich musste er sich um seine kleine Tochter kümmern. Geo hatte immer wieder betont wie sehr Yoko ihrer Mutter doch ähnele. Razu hoffte, dass es ihm helfen würde, doch wenn er seinem besten Freund in die Augen schaute, erkannte er nur unendliches Leid darin. Und Schuld. Geo litt, die anderen sahen es nicht, aber Razu wusste es. Geo litt, als hätte er seinen Sinn zum Leben verloren und er gab sich die Schuld dafür. Razu konnte ihm das Leid nicht abnehmen, aber innerlich übernahm er für ihn wenigstens die Schuld. Geo hätte bei seiner Frau und seiner Tochter bleiben sollen, stattdessen hatte Razu ihn mitgenommen, in eine Falle. Dennoch, ändern konnte Razu nun auch nichts mehr, so sehr er es sich auch gewünscht hätte. Das Leben lief weiter, immer weiter, folgte dem Weg und scherte sich nicht um Zurückgebliebene. Das Ziel war fern, doch das Leben lief, immer weiter, weiter und weiter. Er wünschte sich, dass es einmal eine Pause machen würde. Er stand in den weiträumigen Gartenanlagen des Schlosses. Es war Nacht und der Mond schien bleich hinunter auf die Erde. Nicht oft war er hier, seit dem Tod seiner Mutter kein einziges Mal. Hier lag seine Kindheit, und an dessen Fehlen erinnert zu werden, hatte ihn immer geschmerzt. Damals verlief das Leben noch normal, war bunt, war fröhlich. Heute hatte sich das Bild geändert, die heile Kinderwelt, in der er gelebt hatte, gab es nicht mehr. Heute überschattete der Krieg das Land, kalt und gnadenlos. In einer solchen Welt aufzuwachsen, das konnten nur die Stärksten. Shee war Meisterin darin geworden. Seine kleine Shee. Sie hatte ihn mit großen traurigen Augen angeblickt, als er ihr von Shiris Tod erzählt hatte, doch geweint hatte sie nicht. Sie war in diesem Moment so erwachsen gewesen, wahrscheinlich mehr als er selber. Shee hatte nur genickt und sich zurückgezogen. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. Auch das er selbst lebend wieder nach Hause gekommen war, hatte sie nur beiläufig wahr genommen, so schien es ihm jedenfalls. War sie immer noch böse auf ihn? Oder war etwas während seiner Abwesenheit geschehen, wovon er wissen müsste? Was war in dieser Nacht wirklich passiert? Rief die Stimme ihn abermals? Musste wohl wieder nur Einbildung sein. Er glaubte, sie zu kennen, sie schon einmal gehört zu haben. An einem anderen Ort, der Welt so fern, wie er ihr im Moment war. Er glaubte, sich an eine Gestalt zu erinnern, eine Gestalt in schwarz, mit einer Stimme, die ... die er nun hörte. Es war keine Einbildung, er hörte die Stimme wirklich, und sie rief nach ihm, nur nach ihm. Doch sie war so fern, so weit weg, er konnte nicht feststellen, woher sie kam. Aber er musste. Er musste wissen, wer diese Gestalt war, denn sie schien die Lösung zu dem Rätsel zu sein, die Erklärung für all das Unerklärliche, der Ausweg hinaus. Er lauschte. Woher kam die Stimme? Wohin sollte er sich wenden? Wo war sie nur? Wo? Er suchte sie, lief durch den Garten, schaute da, schaute dort. Jeden Stein drehte er um, jeden Busch drückte er zur Seite, hinter jedem Baum konnte sie stehen, doch nirgends war ein Zeichen von ihr. Er durchforstete jeden Winkel, jedes kleine Versteck, an das er sich aus seiner Kindheit erinnern konnte. Wo war sie nur? Der Engel in schwarz. Wo konnte er sie nur finden? Er hastete weiter, trotz seiner Ausdauer als Krieger atmete er schwer, Seitenstiche plagten ihn, die Büsche und Bäume verschwammen um ihm herum. Er rannte, strauchelte, fing sich wieder, begann nach ihr zu schreien und schreckte damit ein Eichhörnchen auf, das hastig einen Baum emporkletterte, bog in den nächsten Abschnitt des Gartens ein, stoppte. Es war der letzte, hier musste sie sein. Auch hier machte er keine Pause, lief wieder weiter, überprüfte jede Ecke, jeden einzelnen Fleck, an dem sie sein konnte, selbst die unmöglichen. Er suchte sie, bis er schließlich erschöpft zu Boden sank. Er hatte sie nicht gefunden, nirgends, an keinem Ort. Sie blieb nur eine Stimme, eine Stimme, die ihn rief, ihn zu sich holen wollte. Aber warum offenbarte sie sich dann nicht? Ihre feine Stimme im Ohr wurde ihm klar, dass er abermals versagt hatte. Seine Suche war vergebens gewesen. Verzweiflung übermannte ihn. "Wie schwach ihr doch seid. Versagt schon bei der kleinsten Anstrengung." Razu schreckte hoch. Sie war es! Sie stand vor ihm, eingehüllt in ihren schwarzen Umhang, dessen Kapuze noch immer ihr Gesicht verbarg, und sah auf ihn herab. Schnell kam Razu auf die Beine, die nach diesem anstrengenden Lauf noch immer leicht zitterten. Er konnte es nicht glauben, sie stand tatsächlich vor ihm. Warum hatte sie sich nicht eher gezeigt? Warum hatte sie gewartet, bis seine Kräfte schwanden und er schon die Suche aufgegeben hatte? Sie musste ihn doch gehört haben, er hatte sie doch auch gehört. Sie schien auf eine Antwort zu warten, die Razu ihr jedoch nicht gab. Fassungslos über ihr plötzliches Erscheinen konnte er sie nur anstarren, diesen Engel in schwarz. Dann zog sie ihre Kapuze herunter und blickte ihn geradewegs an mit ihren dunklen, leuchtenden Augen. Glattes, flammendrotes Haar floss an ihrem blassen Gesicht herunter. "Dich gibt es wirklich", sagte Razu schließlich, fast flüsternd. "Warum hast du mich gesucht?", antwortete sie. Irgendwie klang es verächtlich. Ja, warum eigentlich? Er hatte ihre Stimme gehört, und dann? Er hatte sie einfach finden müssen, wiedersehen müssen. Wo hatte er sie nur das erste Mal getroffen? Er erwiderte wieder nichts, blieb stumm. Dass sie einfach nur da war, reichte ihm. Er hatte sie gesucht, weil er sie finden wollte, mehr nicht. Das war die Antwort, doch wenn er sie aussprechen würde, würde sie hohl und leer klingen. Deshalb blickte er sie nur an, seinen schwarzen Engel. "Ich kann nicht ewig hier stehen und warten", sagte sie mit einer Spur Ärger in der Stimme. "Warum nicht?" "Ich habe eine Pflicht zu erfüllen." Auch sie? War auch sie gebunden an eine Pflicht? Er konnte es kaum glauben. Das erste Mal seit Jahren fühlte er sich nicht mehr abseits, nicht mehr eingeengt, beengt von Schicksal und drangsaliert von Müdigkeit. Konnte er endlich hoffen? "Dann teilen wir das gleiche Schicksal." "Wohl kaum", entgegnete sie herablassend und starrte ihn weiterhin verächtlich fragend an. Doch er konnte in ihren Augen erkennen, wie wenig es sie interessierte. Sie war nicht freiwillig hier, spürte er. Diese verschlossene Mauer, die sie in den nur wenigen Sätzen zwischen ihnen aufgebaut hatte, enthielt keinen einzigen Riss, keinen Spalt, durch den er hätte kriechen können. Seine winzige Hoffnung, die ihn vielleicht noch gerettet hätte, schwand. Sie war nicht die Lösung, nicht die Antwort, sie war ihrer Stimme nicht gerecht. Hatte er sich täuschen lassen? War er so verzweifelt gewesen, dass er sich eingebildet hatte, sie könne ihm helfen? Wie närrisch von ihm. Er musste allein den Weg finden, wie er es gelernt, wie er es seither gelebt hatte. Keiner konnte ihm helfen, schon gar nicht eine Stimme, die ihn narrte und Versteckspiel mit ihm trieb, um sich dann als Sackgasse zu entpuppen. "Wer bist du, dass du dich anmaßt so mit einem Prinzen zu sprechen? Weißt du eigentlich, wer vor dir steht?", fragte er dann ärgerlich. Er war wütend, vor allem auf sich. "Warum rufst du nach mir und zeigst dich dann nicht?" Aufgebracht ruderte er dabei mit den Armen, als würde er gleich abheben wollen. In einer anderen Situation hätte er dies alles sicherlich ziemlich komisch gefunden. Sie schüttelte ihren Kopf und schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Ihr Blick, nun etwas resigniert, bannte ihn, als sie erneut in seine Augen schaute, durchdringend und ohne Wimpernschlag. "Du bist hartnäckiger, als ich gedacht habe", sagte sie, aus ihrem Mund klang es wie eine Beleidigung. "Auch ich bin manchmal nachlässig, es hätte nicht passieren dürfen. Was du gehört hast, war die Stimme des Todes." Des Todes? Aber er lebte doch noch, er atmete, sein Herz schlug, er lebte, er war doch nicht tot. Wer war sie nur? Woher kannte er sie? "Die Stimme des Todes? Weshalb...?" "Du warst in meinem Reich, deshalb kannst du sie jetzt hören. Es war ein Fehler, meinerseits." Es schien ihr nicht recht zu sein, darüber zu sprechen. "In ... deinem Reich?" Welchem Reich? "Du warst tot, Prinz Razu Ur", erklärte sie. War eine Spur Widerwille in ihrer Stimme? "Doch du bist der Erste, der aus meinem Reich wieder in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist. Du hast den Tod überlebt, Prinz." Razu schaute sie ungläubig an, als wolle er es nicht glauben, wo er es doch schon längst akzeptiert hatte. "Ich war tot?", fragte er gedämpft. Sie nickte. "Und habe überlebt?" Wieder nickte sie. "Ich habe den Tod überlebt?" Diesmal zeigte sie keine Reaktion. Er brauchte auch keine weitere Bestätigung, er wusste es ja, nur eingestanden hatte er es sich nicht. Er war gestorben, in der Schlacht, vor zwei Nächten. Er war im Hier gewesen, in ihrem Reich, im Reich des Todes. Und sie war der Gebieter, der Herrscher, sie war der Tod. Der Tod, der mit flammendem Haar das Leben beendete, mit einem einzigen Schnitt. Sie war dort gewesen, sie hatte es ihm erklärt, und er hatte es vergessen. "Ich bin hier, um dich vergessen zu lassen", sagte sie nach einer Weile. Vergessen? Die Wahrheit, die er gesucht hatte? Die Antwort darauf, dass er der Welt so fern war? Und wieder sich quälen mit den Fragen, kämpfen mit der unbekannten Müdigkeit, die ihn zu übermannen drohte, der verlockenden Ruhe? Nein, das wollte er nicht, er wollte nicht vergessen, und er wollte sie nicht vergessen. "Nein", sagte er bestimmt. "Nein?", echote sie irritiert. Verwirrung legte sich auf ihre Züge. "Ich habe deine Stimme, oder die des Todes, wie auch immer, schon vorher gehört." Er wehrte ab, als sie etwas erwidern wollte. "Ich habe schon einmal vergessen, ein weiteres Mal will ich es nicht. Ich möchte mich daran erinnern können, an den Tod und ... an dich." Tat es ihr leid? Freute sie sich? War es ihr egal? Razu konnte nicht erraten, wie sie seine Antwort aufgenommen hatte. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? "Nun, das ist deine Wahl, sei es so. Meine Arbeit ist damit getan." Halb wandte sie sich ab, zögerte, blieb dann stehen und blickte ihn weiter undurchschaubar an. Er selber wollte ihr nicht den Rücken zukehren, wollte ihren Anblick in sich einsaugen, als könne er ihn jederzeit wieder verlieren, wieder vergessen, obwohl er sie doch heute zum ersten Mal richtig sah. Dann drehte sie sich gänzlich um, ging ein paar Schritte und verschmolz lautlos mit der Dunkelheit. Der Schimmer ihrer roten Haare leuchtete noch sanft und kalt in seinen Augen, als sie schon längst verschwunden war. Seine Schritte führten ihn zum Schloss zurück, längs der erhabenden Eichen, die seinen Weg säumten. Mit seinen Füßen wirbelte er das herabgefallene Laub hoch, einzelne Blätter klebten an seinen Stiefeln. Und bei jedem Schritt knirschte der Kies unter ihm. Er hatte nicht den kürzesten Weg gewählt, so dass er nun durch einen Teil des Garten ging, der selbst im Sommer nicht oft benutzt wurde. Vor wenigen Minuten noch war er hier durchgerannt, gehetzt und betört von ihrer sinnlichen Stimme, nun hatte er Zeit in Ruhe hier entlang zu wandern, sorgsam den Fuß vor den anderen zu setzen und nachzudenken. Er musste sich über vieles Gedanken machen. Vor allem über sich selbst. Er konnte es kaum glauben, dass er noch vor wenigen Augenblicken dem Leben beinahe den Rücken gekehrt hatte, es verloren geglaubt hatte, für immer. Noch eben hatte die Müdigkeit ihn fast ganz durchdrungen, doch jetzt wusste er, was er tun musste. Noch immer spürte er die schwere Last auf seinen Schultern, und er wusste, dass er dieser Pflicht bis an sein Lebensende schuldig war, doch nun zollte er ihr nicht mehr die Bedeutung zu, wie er es vorher getan hatte, bevor er gestorben war. Der Tod hatte seine Sichtweise geändert. Sein Leben, seine Person hatte nie ihm allein gehört, er war ein Prinz und somit ein Teil des Volkes. Er hatte sein Lebtag funktionieren müssen, nach diesen ungeschriebenen Gesetzen und Regeln, die fast undurchschaubar waren. Etikette, Treue und Ehre hatten sein Leben bestimmt, nicht er. Nun, dies würde er ändern. Auch wenn es heißen sollte, dass er sein Volk und sein Land im Stich ließ. So schnell es möglich war, würde er aufbrechen, um sie zu suchen, seinen schwarzen Engel. Er musste sie wiedersehen, dies allein zählte im Moment. Der Krieg war unwichtig geworden, er war ihm eh nicht gewachsen. Trotz mitternächtlicher Zeit und kaltem Wind hockte auf den Stufen hoch zum Eingang eine kleine, schwarzhaarige Gestalt, die erwartungsvoll in seine Richtung blickte. Razu stoppte abrupt. Hatte Shee die ganze Zeit auf ihn gewartet? Warum war sie hier und nicht in ihrem Bett? Mit weit ausholenden Schritten eilte er auf sie zu, kniete sich nieder und nahm sie fest in die Arme. In seinen Überlegungen hatte er vergessen, dass er Shee alleine zurücklassen musste, wenn er auszog. Konnte er das überhaupt? Sie war doch seine Familie, er hatte doch nur sie. Konnte er seine kleine Schwester in den Wirren des Krieges alleine lassen, einfach ihrem ungewissen Schicksal überlassen? Hatte er nicht immer geschworen, sie zu beschützen? Wo war sein Schwur jetzt? Aber hatte er nicht auch geschworen, seinem Volke immer beizustehen? Eben gerade hatte er sich gegen diesen Eid entschieden, in der sicheren Hoffnung, dass es die richtige Entscheidung war, dabei floh er nur, aus Angst, nicht bestehen zu können. Was war er doch für ein Verräter! Sheera blieb stumm und Razu fühlte sich, als ob er ihr eine Erklärung schuldig wäre. Zögernd, fast widerwillig, fing er an zu sprechen. Erst stockend, dann immer schneller: "Shee, du ... ich. ... Es tut mir leid, Shee, aber ich werde gehen müssen. Ich muss einfach, verstehst du? Ich kann nicht mehr hier bleiben. Bitte versteh mich, Shee. Ich werde immer an dich denken, aber diese Reise muss ich machen." Es war eine schlechte Entschuldigung. Noch immer hielt er sie fest, Sheera hatte sich kein einziges Mal gerührt oder etwas gesagt, doch nun zog sie sich aus seiner Umarmung zurück. Mit traurigen Augen, die doch eigentlich fröhlich lachen sollten, schaute sie ihn an. Verletztheit und Verlust lag in ihrem Blick. Mit zitternden Fingern - wann hatten sie angefangen zu zittern? - strich er ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht. "Du hast sie gesehen, nicht wahr?", murmelte sie fragend. "Wen soll ich gesehen? Wen meinst du Shee?" "Die mit den flammenden Haaren und den kalten Augen." Woher wusste Shee von ihr? Hatte sie sie gesehen? War Shee ihm vielleicht heimlich gefolgt? Hatte sie womöglich ihr Gespräch mit angehört? Der Schrecken durchzog ihn wie ein eisiger Schwerthieb. Wenn Shee nun wusste, was passiert war? Er fühlte Panik in ihm aufsteigen. "Woher kennst du sie? Bist du mir gefolgt?", fragte er angstvoll aufgeregt. "Antworte!" Razu fing an, seine Schwester zu schütteln, so sehr hatte die Furcht von ihm Besitz genommen. Seine kräftigen Hände umgriffen ihre feinen Arme, rüttelten an ihr, bis sie zu wimmern anfing. Das leise Geräusch ließ ihn aus seiner Trance aufschrecken und er gewahrte, was er getan hatte. Die Trauer darüber überwältigte ihn. Noch einmal umarmte er sie, diesmal zarter, um nicht in die Gefahr zu geraten, sie zu erdrücken. Hatte er vielleicht auch sie nun verloren? Sie, seinen einzigen Halt? Ein dicker Kloß schloss ihm die Kehle zu, als er sich erneut entschuldigen wollte. Nur ein paar unverständliche Wortlaute brachte er hervor. Das Wimmer hatte aufgehört und er spürte, wie sich zwei kleine Arme sanft um seinen Hals legten. Eine leise Stimme flüsterte in sein Ohr. "Geh, wenn du gehen musst." Ein letztes Mal lauschte er dem Vogelgezwitscher im Morgengrauen, dem erwachenden Tag und dem Aufgang der Sonne. Ein letztes Mal stand er auf den Zinnen der Burg und blickte auf die unter ihm liegende Stadt hinunter. Vereinzelt sah er schon einige Menschen auf den Beinen, aber nur wenige, als ob sie ihm nicht verzeihen wollten, dass er heute ging. Der Anblick stimmte ihn traurig. Er wollte sich nur noch einmal verabschieden, von seinem Land, bevor er loszog, und ein letztes Mal den beginnenden Tag genießen. Er verließ nicht nur einfach das Schloss, er verließ auch seine Heimat, die einzige, die er hatte, die er jemals gehabt hatte, seine Familie, die er über alles liebte, seine Freunde, die ihm wichtiger waren als sein eigenes Leben, seine Vergangenheit, sein gesamtes Selbst. In diesem Land war er aufgewachsen, diesem Land und diesem Volk hatte er alles zu verdanken. Er hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde. Doch er bereute seine Entscheidung nicht mehr, zu viel hatte er darüber nachgegrübelt, ob sie richtig oder falsch war. Aber es gab kein Richtig und kein Falsch, es gab nur Ja oder Nein. Die Welt war nicht schwarzweiß, sie war auch nicht grau, sie war bunt, grellbunt. Manchmal tat es in den Augen weh. Er wusste nicht, ob er Erfolg haben würde oder wie lang seine Suche andauern mochte, noch ob er sie überhaupt überstand. Das Ziel lag irgendwo da draußen, und der Weg dahin war ungewiss. In diesen Zeiten des Krieges war das Reisen zu einem lebensgefährlichem Abenteuer geworden. Die Menschen hatten Angst, zu recht, und sie warteten ab, wie ihr weiteres Leben wohl verlaufen mochte, in ständiger Furcht, sie könnten es verlieren. Einsame Wanderer wurden zu gemiedenen Fremden, die lieber Jetzt als Gleich aus den Dörfern getrieben wurden, als ob die Tradition der Gastfreundschaft plötzlich verboten war. Razu verstand ihr Verhalten, und halbwegs billigte er es auch, aber noch heute würde er zu dieser Gruppe der Gemiedenen gehören und als eine weitere umherziehende Gestalt durch die Länder streifen. Er hatte nicht vor, seinen Vorteil aus seiner Geburt zu missbrauchen, es würde seiner Suche mehr schaden als nützen. Er hatte Angst, dass er sie dann nicht finden würde. So musste er notgedrungen die Rolle des Landstreichers einnehmen, wenn sie ihm auch missfiel. Seine Reise würde so oder so nicht leicht werden. Er wandte sich von der Stadt ab, sie half ihm auch nicht, seinen Abschied besser ertragen zu können. Vielmehr stieg das Gefühl der nie endenden Schuld wieder in ihm auf und schnürte ihm die Kehle zu. Er kam nicht weit, Geo hielt ihn auf. "Du wirst also tatsächlich gehen?", fragte er. Er ließ sich wirklich nichts anmerken, nichts von seiner Trauer oder seiner Wut. Wie schaffte er das? Es war Razu unerklärlich. Er nickte als Antwort. "Der König-" "Mein Vater hat mir seinen Segen gegeben", fiel ihm Razu ins Wort, wobei er sich wieder zur Stadt drehte. Geo trat an seine Seite und blickte wie er auf die Häuser hinunter. Razu überlegte, ob Geo etwas anderes sah als er oder ob es das gleiche war. Er kam zu dem Schluss, dass es unwichtig war. "Das meinte ich nicht", erwiderte Geo, seine Hände ruhten dabei auf der Brüstung, sie zitterten leicht. "Mein Entschluss steht fest", sagte Razu schließlich. Noch nie hatte er sich seinem besten Freund so fern gefühlt, dabei hatte er immer auf ihn bauen können. Wo waren nur die unbeschwerten Tage geblieben, an denen sie noch fröhlich gewesen waren, an denen die Welt ihnen gehört hatte? Sie schienen für immer verloren zu sein, vermisst und vergessen, abgeschoben, in die hinterste Ecke der Welt. Sie hatten lange nicht mehr zusammen gelacht. Der Krieg hatte alles verändert, der Krieg und der Tod. "Hier, nimm das." Geo reichte ihm einen unscheinbaren Ring, in dem eine kleine Perle eingebetet war. Razu zögerte erst, dann nahm er den Ring von der darbietenden Hand und streifte ihn über seinen rechten kleinen Finger, er passte perfekt. "Was...?" "Ein Rufzauber, falls du Hilfe brauchst", erklärte Geo. "Danke." Dann ging Geo. Kein Wort des Abschieds, kein Wort der Klage, als hätte er verstanden, wie wichtig diese Reise Razu war. Razu würde ihn vermissen, wahrscheinlich ihn am allermeisten. Seiner Abreise stand nun nichts mehr im Wege, er hatte sich schon gestern bei allen verabschiedet, so konnte er jetzt ohne die übliche Abschiedstrauer von dannen ziehen. Einen Augenblick noch stand er still, dem Wind leicht die Stirn bietend, und schaute zum unerreichbaren Horizont, der in der Ferne verschwamm. Dorthin würde er nun reisen. Es war die richtige Entscheidung. Er würde los ziehen, den Tod zu finden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)