Festival of Blood von nataschl91 ================================================================================ Kapitel 7: 7 ------------ Es war noch mitten in der Nacht, als Samantha durch ein lautes Geräusch aus dem Schlaf hochschreckte. Wie aus Reflex griff sie neben sich, doch die Stelle, an welcher Tommy jetzt eigentlich liegen sollte war leer. Erschrocken hielt sie in ihrer Bewegung inne, vielleicht war er nur schnell auf die Toilette gegangen? „Tommy?“, fragte sie in die Dunkelheit, bekam jedoch keine Antwort. Er könnte allerdings auch nach unten gegangen sein, er hatte vielleicht Durst bekommen. Samantha setzte sich auf die Kante des Bettes und ignorierte das süße Ziehen, das sich in ihrem ganzen Körper breit machte. Sie zog sich schnell eine Hose und ein Shirt über und ging auf nackten Füßen nach unten. Alles lag in völliger Dunkelheit vor ihr, wo war der hell leuchtende Mond, von dem alles so sehr geschwärmt hatten wenn man ihn mal brauchte? „Tommy?“, fragte sie erneut. Samantha horchte plötzlich auf, sie hatte tatsächlich etwas gehört. Von draußen. Es klang wie ein röchelndes Knurren. Ja, natürlich! Warum war sie denn nicht gleich darauf gekommen? Tommy behauptete ja, dass er ein Werwolf sei, und wo würde er sonst sein, wenn nicht draußen um den Vollmond leidenschaftlich anzuheulen? Sie öffnete genervt augenrollend die schwere Holztüre und ging gemächlich nach draußen bis in die Mitte des großen Platzes, welcher im Augenblick menschenleer war. Die junge Frau drehte sich einmal um die eigene Achse und versuchte irgendetwas in der Dunkelheit erkennen zu können. Sie blickte gen Himmel, wo sie die dicken Wolken bemerkte, welche sich gerade vor den Mond geschoben hatten. Und dann, als sie ihren Blick wieder auf ihre Umgebung gerichtet hatte konnte sie wie aus dem Nichts zwei bernsteinfarben Punkte zwischen zwei Häusern aufleuchten sehen. Samantha atmete erleichtert auf und ging ein paar Schritte auf Tommy zu. „Du bist mir ja einer...das nächste Mal, wenn du dich raus schleichst, warne mich wenigstens vor, damit ich mir keine Sorgen mehr machen muss!“, tadelte sie ihn gespielt. Als Antwort erhielt sie ein bedrohlich tiefes Knurren. Samantha blieb stehen und erwiderte den herausfordernd Blick ihres Gegenübers. „Ich verstehe ja, dass du immer noch deinen Freiraum behalten möchtest. Deswegen mache ich dir ja gar keinen Vorwurf.“ Jetzt bewegten sich Tommys Augen in der Dunkelheit, nur viel niedriger, eigentlich genau so, als würde er auf allen Vieren vor ihr kriechen. „Was machst du denn da unten? Steh endlich auf und komm wieder ins Bett…“, knörte Samantha gespielt und winkte ihn zu sich heran. Er kam auch näher, diesmal gab er ihr als Antwort eine Mischung aus bellen und gefährlichen Knurren. „Also eins muss ich dir lassen! Du verstehst was von method acting! Du bist echt überzeugt davon, ein Werwolf zu sein, richtig?“ Jetzt waren seine leuchtenden Augen direkt vor ihr, vielleicht trennten sie nur noch ein paar Meter. Tommy knurrte sie immer noch aus tiefster Kehle an, was ihr allerdings langsam auf die Nerven ging. „Okay, okay. Du hast mich überzeugt! Du bist ein Werwolf! Bist du jetzt endlich zufrieden?“ „SAMANTHA!!“, schrie Steve plötzlich panisch aus vollem Hals, „MACH, DASS DU DA WEGKOMMST!!“ Die junge Frau drehte sich erschrocken zu ihm um, beobachtete, wie einer der anderen Männer hastig Munition in sein Gewehr lud, nur um es wenige Sekunden später anzulegen. Was machten die jetzt nur für ein Drama? Es war doch schließlich Tommy! In diesem Moment verzog sich die Wolke, welche den Vollmond verdeckt gehalten hatte und tauchte alles in gleißend helles Licht. „Na endlich...aber jetzt, mein Freund kannst du dir was anhören!“ Mit diesen Worten drehte sich die junge Frau erneut zu Tommy um, nur dass das, was sie sah nicht wirklich Tommy war. Augenblicklich erstarrte sie zu einer Salzsäule, ihr Körper begann heftig zu zittern und ihr blieb ein dicker Kloß im Hals stecken. Sie ließ unkontrolliert Urin ab, ihre Augen weiteten sich bis aufs Maximum, während die Bestie sich vor ihr auf seine Hinterbeine stellte um sich so zu seiner vollen Größe aufrichten zu können. Aus seinem feucht glänzenden Maul drang sein Atem in Form von kleinen Dunstwölkchen, seine weißen spitzen Zähne konnten locker mit dem hellen Licht des Vollmondes mithalten. „SAMANTHA!!“, schrie Steve erneut. Genau in diesem Moment holte sie riesige Bestie vor ihr tief Luft und brüllte sie mit einem Laut an, welcher Samantha durch Mark und Bein ging, ihre Knie gaben nach und sie ließ sich wie einen nassen Sack Mehl zu Boden fallen. Die Bestie starrte sie mit ihren gelb leuchtenden Augen an, wartete anscheinend darauf, dass sie endlich losrannte und damit seine Jagd eröffnete. Ein lauter Knall ertönte und eine Einschussmulde erschien knapp neben der Bestie. Als diese knurrend auf den kleinen Krater reagierte fuhr es wie ein starker Stromschlag durch Samanthas Körper, sie sprang mit einem einzigen Satz auf ihre Beine und schrie aus vollem Hals, drehte sich um und rannte so schnell sie nur konnte los. Die Dorfbewohner, welche sich auf der Veranda des Wirtshauses versammelt hatten riefen ihr zu, dass sie noch schneller rennen sollte, Steve legte derweil ebenfalls sein Gewehr an und zielte. Durch die Bodenerschütterung um sie herum wusste Samantha, dass die Bestie ihr mittlerweile hinterher rannte. Ein zweiter Schuss ertönte. „GLEICH HAST DU ES GESCHAFFT! NUR NOCH EIN STÜCKCHEN!!“ „SCHIEßT BITTE NICHT AUF MICH!“, schrie die junge Frau panisch, sprang mit einem großen Satz die Treppe nach oben und schmiss sich auf den harten Holzboden des Wirtshauses. Ein dritter Schuss ertönte, gleich darauf ein schmerzverzerrtes Heulen. Die Männer schrien die Bestie an, dass sie endlich verschwinden sollte und dann schlugen sie die massive Tür hinter ihnen zu. Martha hatte eine dicke Wolldecke über Samantha geschmissen und hielt die junge Frau fest in ihren Armen, während diese immer noch stark zitterte. „Warum warst du da draußen?!“, fuhr Steve sie an, „du hättest sterben können!“ Samantha schmiss wütend die Decke zurück und funkelte ihn ebenso wütend an. Sie schlug mit der geballten Faust so feste sie nur konnte gegen das Holz der Theke. „WAS ZUR HEILIGEN SCHEIßE WAR DAS??“, schrie sie Steve und die anderen Männer an. Noch bevor einer von ihnen antworten konnte ertönte von draußen ein lautes langgezogenes Heulen, was allen augenblicklich tief in die Knochen fuhr. Martha legte ihre Arme jetzt nur noch fester um Samantha, welche hilflos in die bestürzten Männergesichter blickte. Eine Weile blieb es mucksmäuschenstill im Gasthaus, niemand traute sich etwas zu sagen. Erst nachdem Samantha den ersten Schrecken einigermaßen herunter geschluckt hatte richtete sie sich vorsichtig auf. „Also…“, raunte sie mit heißerer Stimmte, „wer von euch will mir erzählen, was hier eigentlich abgeht?“ ~*~ „Wir wissen nicht genau, wann es begann...aber die ersten datierten Aufzeichnungen weisen auf einen warmen Aprilabend von vor über 300 Jahren hin. Ein Mann, welcher sich beim wandern verirrt hatte, halb verhungert und am Ende seiner Kräfte wurde von einem der ortsansässigen Jäger gefunden und hier ins Dorf gebracht. Damals war es noch namenlos gewesen. Die Familie des Jägers pflegte den Mann, gab ihm Essen und Trinken, versorgte seine Wunden. Er fügte sich schnell in die Gemeinde ein, nahm sich sogar eine Frau und gründete seine eigene Familie. Niemand hinterfragte, warum er immer zum Vollmond zwei bis drei Nächte im tiefen Wald verschwand, er hatte sich ebenfalls als Jäger aufstellen lassen, da ist es völlig normal, dass jemand mal ein paar Tage weg ist. Auch heute noch. Irgendwann suchte eine Grippewelle das Dorf heim und bis auf diesen einen Mann erkrankten beinahe alle Bewohner schwer daran. Er gab sein bestes, seine Freunde und Familie gesund zu pflegen, doch dann stand der nächste Vollmond bevor. Er hatte also eine Entscheidung zu treffen. Sollte er bleiben und sich weiterhin um alle kümmern, oder sollte er wie jedes Mal für einige Tage Schutz im Wald suchen und dabei riskieren, dass alle gestorben waren, wenn er zurückkehrte. Er hatte seiner Frau die Treue bis in den Tot geschworen und so war er geblieben. Binnen einer einzigen Nacht wurde dieses Dorf beinahe völlig ausgelöscht. Diejenigen, die sich bis dahin gegen das Fieber behaupten konnten waren zerfleischt worden, und die, die wiederum den Angriff der Bestie überlebten hatten verwandelten sich ebenfalls zum nächsten Vollmond. So bekam das kleine Dorf hier seinen Namen Wolfsburrow.“ Steve nahm einen kräftigen Zug seines Biers, schluckte schwer und blickte besorgt in die Runde von Dorfbewohnern, welche immer noch in seinem Gasthaus verschanzt waren. „Das Dorf blühte erneut auf, die Bewohner betrieben Landwirtschaft, züchteten Tiere und versorgten sich abgeschnitten von der Außenwelt erfolgreich selber. Man war sich nicht gegenseitig böse, wenn der Nachbar in einer der Vollmondnächte dein eigenes Schaf oder Huhn riss...der Zusammenhalt war enorm. Die wenigen Bewohner, welche dem Angriff der Bestie entkommen waren und somit noch menschlicher Natur begannen damit, ihre Häuser mit Wolfswurz, heute bekannt als Eisenhut zu schmücken, da diese Bestien äußerst allergisch darauf reagierten. Sie hielten in Vollmondnächten gebührenden Abstand zu jenen, lebten also in Frieden und Harmonie Seite an Seite. Irgendwann kamen Geistliche nach Wolfsburrow und als sie erkannten, welche Gefahr von vielen der Bewohner ausging verfolgten sie jeden gnadenlos, der anderer Natur war, als die ihre. Rasant schrumpfte Wolfsburrows Einwohnerzahl erneut. Viele Jahrzehnte strichen ins Land und man vergaß allmählich, dass es diese Bestien irgendwann mal tatsächlich gegeben hat.“ „So entstand das Märchen von der Bestie mit den roten Augen…“, murmelte Martha müde, „viele der hier gerade Anwesenden wuchsen mit dieser Geschichte auf.“ „...dann kamen vor zirka 30 Jahren neue Fremde in unser Dorf. Zuerst waren wir unsicher, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten sollten. Schließlich war Wolfsburrow jedes Mal beinahe ausgerottet worden, wenn sich Fremde hierher verirrt hatten. Doch diese waren anders. Sie fragten nach einem kleinen Stück Land, welches sie uns für gutes Geld abkaufen wollten. Wir hatten zu dieser Zeit einige Häuser in der Dorfmitte leer stehen, doch sie wollten nicht zentral bleiben. Sie gingen den Hügel hinauf und ließen sich dort nieder. Ab und an kamen sie zu Besuch, handelten zuerst nur mit uns, fragten nach Baumaterialien und Setzlingen zum anpflanzen. Eines Abends blieben sie und feierten zusammen mit uns, wir wurden mit der Zeit sogar gute Freunde.“ „Henry, Earl und Louise?“, erkundigte sich Samantha, woraufhin Steve und Martha nickten. „Als Louise mit ihrem ersten Kind schwanger war ging ich regelmäßig zu der Ranch, um ihr Gesellschaft zu leisten. Henry und Earl waren schon immer viel unterwegs gewesen und ich wollte sie in diesem Zustand nicht zu lange alleine lassen. Das Haus war so still gewesen, dass ich schon dachte, sie hätten uns wieder verlassen, doch dann hörte ich aus dem Keller ein lautes Knurren und ging nachsehen. Als ich dann sah, was sie da unten für Kreaturen in Käfigen hielten rannte ich so schnell wie ich nur konnte zurück. Ich holte Steve und die anderen Männer, doch gegen diese Tiere brachten unsere normalen Kugeln nichts. Also warteten wir. Die Bestien waren schließlich in Käfigen eingesperrt worden, wir waren also in Sicherheit und konnten so auf die Rückkehr der Familie warten. Tagelang warteten wir, doch es kam niemand und irgendwann sah einer von uns erneut in den Keller, ob die Bestien bereits verendet waren.“ „Und ihr fandet die Familie wieder, welche sich in die Käfige gesperrt hatte.“ „Sie hatten große Angst davor, wie wir darauf reagieren würden, aber wir kannten die Märchen und Sagen um Wolfsburrow und hielten es für ein gutes Zeichen. Wir lebten in herzlicher Symbiose, Henry und Earl jagten in einer einzigen Nacht teilweise für das ganze Dorf, während Tyler und Tommy von uns beaufsichtigt wurden, während der Vollmond schien.“ „Aber...dann war Tommy bis dahin...noch gar kein Werwolf?“ „Das ist schwer zu sagen. Nachdem, was Louise uns darüber erzählt hat ist es bis zum 15. Lebensjahr fraglich, ob das Wolfsgen vererbt wird oder nicht. Natürlich waren ihre Jungs ein wenig wilder und rauflustiger, als unsere Kinder aber sie wurden nie gewalttätig und spielten mit den anderen. Wir wissen nicht genau, was in jener Nacht vor 20 Jahren genau schiefgelaufen ist.“ „Habt ihr Earl nie danach gefragt?“ „Wenn es nur so einfach wäre“, seufzte Steve traurig, „er hat immer nur erzählt, dass bei der letzten gemeinsamen Jagd etwas schreckliches passiert sei. Jedes Mal wenn wir ihn darüber ausfragen wollten ist er wütend geworden. Wir hatten, trotz dass er uns seine Familie mit uns sehr gut befreundet war einfach zu viel Angst vor ihm.“ „Aber...können sich Werwölfe nicht nur an Vollmond direkt verwandeln?“ „Die breite Masse hat drei Nächte.“ „Immer wenn ihr Mondscheinfest feiert…“ „Genau. Das muss etwas mit der Strahlung und irgendwelchen Wellen zu tun haben, welche in diesen Tagen vom Mond ausgehen. Die jungen und unerfahrenen schaffen die Verwandlung nur direkt zu Vollmond und selbst da auch nur sehr kurz. Je erfahrener sie mit der Zeit werden, umso mehr können sie es kontrollieren.“ „Ihr wollt mir also allen Ernstes weiß machen“, raunte Samantha ehrfürchtig stirnrunzelnd und blickte vorsichtig nach draußen, wo die Bestie immer noch ihre Runden über den Dorfplatz zog, „dass das da wirklich Tommy ist?“ „Ich habe dies hier auf deinem Nachttisch gefunden…“, murmelte Martha und reichte ihr etwas. Es war die silberne Gliederkette mit Anhänger, welche Tommy vor einigen Stunden noch getragen hatte. „Und ich dachte, dass das ein simples Schmuckstück sei…“, grübelte Samantha und beäugte den Anhänger genauer. Er war mit einem lilafarbenen Pulver gefüllt. „Getrockneter Eisenhut. Oder Wolfswurz. Wird es von einem Werwolf zur Zeit eingenommen, in der er sich eigentlich verwandeln könnte, dann reagiert sein Körper so stark darauf, dass die Verwandlung entweder unterbrochen oder für einige Stunden herausgezögert wird. Da allerdings hier das Pulver nicht angerührt wurde war es anscheinend bereits zu spät für ihn gewesen.“ „...nein…“, schüttelte die junge Frau den Kopf und blickte erneut nach draußen, wo sie einen großen Schatten umher schleichen sah, „er wollte, dass ich ihn so sehe.“ „Bist du dir da sicher?“ Samantha nickte wie in Trance: „Ich habe ihn und Earl nicht geglaubt. Mich sogar über sie lustig gemacht. Gestern Abend habe ich ihn damit aufgezogen, dass er mir ja ein Lied vorheulen könnte, wenn er sich verwandelt.“ „Oh, Kindchen…“, schmollte Martha und rieb ihr sanft über den Rücken, „es ist aber auch ein harter Brocken, den man da schlucken muss…“ „Und ihr habt gar keine Angst vor ihm? Immerhin ist er ein Werwolf!!“ „Doch, natürlich haben wir Angst...aber...aber es ist doch der kleine Tommy! Außerdem beschützt uns der Türkranz aus Eisenhut.“ Eine Weile saßen sie alle schweigend in dem Gasthaus, die Stimmung war beinahe schon erdrückend. Samantha kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum und grübelte. Scheiße noch mal, der Mann den sie zu lieben glaubte war ein fucking Werwolf! Ein blutrünstiges Monster! „Die Sonne geht langsam auf“, verkündete einer der Dorfbewohner, welcher die Gardinen ein Stück zur Seite geschoben hatte. „Dann ist es ja endlich vorbei“, seufzte Steve erleichtert, „was wirst du jetzt mit deinem Wissen als Nächstes tun?“ ~*~ Die Sonne war bereits als volle Scheibe am Horizont zu sehen, da hämmerte die junge Frau gegen die geschlossene Haustüre, Earl öffnete ihr und blickte sie mehr als verschlafen an. „Samantha…“, gähnte er genüsslich und kratzte sich den wilden Bart, „welche Ehre...ist aber ein bisschen früh, findest du nicht…?“ „Harte Nacht gehabt, wie?“, sagte sie mit ziemlich rauer Stimme. „Bitte?“, fragte der alte Mann jetzt aufmerksam nach. „Ich weiß es jetzt, Earl. Alles. Er hat mich angegriffen, heute Nacht. Wären Steve und die anderen Dorfbewohner nicht gewesen, wer weiß, was er mit mir gemacht hätte!“ Spätestens jetzt war Earl hellwach, seine dunklen Augen funkelten: „Hattest du das Lederarmband denn nicht um?“ „Was hat das denn jetzt damit zu tun? Hast du mir nicht zugehört, alter Mann? Dein Neffe hat mich in Form eines Werwolfes…!“ „Ich habe dich schon verstanden. Hattest du es nun um, oder nicht?“ Samantha stutzte, hob ihren Arm, an welchem das Armband befestigt worden war und zeigte es Earl. „Ich habe es nicht mehr abgenommen, seit Tommy es mir erneut umgebunden hat…“ Der alte Mann atmete erleichtert auf, was die junge Frau nur noch mehr verwirrte. „Dann hat er dich nicht angegriffen.“ „ER IST AUF MICH ZUGERANNT!“ „Bist du in diesem Moment vor ihm weggelaufen?“ „WELCHER NORMALE MENSCH WÜRDE DAS DENN NICHT?!“ Tommys Onkel hob schmunzelnd beide Schultern, während Samantha entnervt stöhnte und sich auf dem Farmgelände umsah. „Er…“, murmelte der alte Mann dann aber plötzlich verlegen und kratzte sich am Hinterkopf, „er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.“ „Natürlich nicht! Er war ja bei mir.“ „Ich meine danach. Nach dem vermeintlichen ‚Angriff‘…“ Er hatte sein letztes Wort mit Anführungszeichen gestikuliert betont. „Möchtest du mir bitte erklären, wie du trotz deines Wissens darüber, dass dein Neffe mich in Gestalt eines VERDAMMTEN WERWOLFES angegriffen hat immer noch so ruhig bleiben kannst!?“ Earl grinste komischerweise verschmitzt: „Ich werde zwar langsam alt und gebrechlich, verfüge aber dennoch über ein sehr sensibles Gehör, meine Liebe. Dein Pulsschlag ist dermaßen hoch, dass du einen Herzinfarkt erleiden würdest, wenn ich mich jetzt mit dir zusammen aufrege. Ich weiß was du heute Nacht gesehen hast, er hat mir nämlich von seinem Plan erzählt, bevor er zu dir gegangen ist.“ „Oh, Scheiße!“, rief die junge Frau ehrfürchtig und sprang die Veranda mit einem Satz wieder runter, „du bist ja auch so einer!“ „Nun ja...ich bin wie gesagt nicht mehr der jüngste und eine Verwandlung verlangt meinem Körper mittlerweile sehr viel ab, aber ich verfüge immer noch über die ausgeprägten Sinne.“ „Du kannst mir also sagen, wo er sich gerade aufhält?“, erkundigte sie sich und verschränkte ihre Arme vor der Brust, „ich habe nämlich ein Hühnchen mit deinem Neffen zu rupfen!“ „Meine liebe Samantha, es wäre im Augenblick der allerschlechteste Zeitpunkt mit ihm zu reden...aber wenn du möchtest“, erwiderte Earl und machte eine einladende Geste in sein Haus hinein, „dann bin ich jetzt bereit dir all deine Fragen zu beantworten.“ Sie blickte ihn skeptisch an: „Alle Fragen?“ „Alle Fragen“, nickte er zustimmend, „nun, da du es mit eigenen Augen gesehen hast…“ Stille. Samantha rang innerlich heftig mit sich selber, ihm zu folgen. Sie könnte auf der einen Seite brav hier stehen bleiben und warten, irgendwann würde Tommy schon nach Hause zurück kehren... Earl verlagerte derweilen sein Gewicht von einem Bein auf das andere, wartete jedoch geduldig auf ihre Entscheidung. „Wenn du mich beißen würdest…“, begann sie plötzlich und blickte ein bisschen beschämt zu Boden. „Und warum sollte ich dich beißen wollen?“ „Ich weiß es nicht. Rieche ich denn nicht appetitlich genug für dich?“ „Du willst nicht mit mir alleine im Haus sein, richtig?“ „Tut mir leid“, antwortete sie hastig, „nicht böse gemeint.“ Er zuckte gleichgültig mit seinen Schultern, murmelte etwas von „ihrer Entscheidung“ und schlenderte gemütlich in die Küche. Sie konnte hören, wie etwas klapperte, ein Wasserhahn auf und wieder zugedreht wurde und kurz darauf roch es verführerisch nach Kaffee. Samantha hatte noch nicht gefrühstückt, wie denn auch, ihr saß der Schrecken der letzten Nacht immer noch dermaßen tief in den Knochen und irgendwo in ihr flüsterte eine leise Stimme immer und immer wieder, dass sie allmählich verrückt wurde. Earl grinste ihr über seine Schulter aus zu, als sie tatsächlich hinter ihm in der Küche auftauchte, er hatte sich mittlerweile seine Latzhose übergezogen und deckte den Tisch für ein ausgiebiges Frühstück. „Wir werden ein sehr langes Gespräch führen, und ich kann deinen Magen vor lauter Hunger knurren hören.“ „Danke...und...Earl...wegen dem Beißen…“ Er winkte ab, grinste sie noch breiter an und erwiderte ziemlich locker: „Wenn ich du gewesen wäre, dann hätte ich wahrscheinlich genauso reagiert.“ Samantha setzte sich und begann damit ihre Hände nervös durchzukneten. „Bereit, wenn du es bist“, verkündete Earl, nachdem er erst ihr und dann sich einen Kaffee eingeschenkt und sich ebenfalls gesetzt hatte. „Wie lange...wird er denn...noch unterwegs sein?“ „Er wird nicht kommen, solange du hier bist. Wir konnten dich jedes Mal riechen, noch bevor du über die Brücke von Wolfsburrow gelaufen warst.“ „Ach...so…“, murmelte sie und roch an sich selber. „Hast du dich tatsächlich nie gewundert, warum ich jedes Mal wie drapiert im Schaukelstuhl saß, wenn du uns besucht hast?“ „Nein. Tatsächlich dachte ich, was für ein fauler und versoffener Kerl du doch bist.“ Earl lachte heißer auf. „Du wirst Tommy aber nicht noch einmal erschießen, wenn er wieder nach Hause kommt, oder?!“ „Ich dachte in diesem Moment nur daran, dass wenn ich ihn umbringe, dann könnte ich dir damit immer noch das Leben retten…“ „WAS?! Aber wieso? Wieso hätte Tommy sterben müssen?“ „Wird man von einem Werwolf gebissen und überlebt dies, so verwandelt man sich zum nächsten Vollmond ebenfalls in einen. Um den Fluch wieder aufzuheben muss der Werwolf, der dich gebissen hat sterben. Oder du tötest denjenigen, der ihn verwandelt hat. So oder so, einer muss sterben.“ „Also müsste ich, um Tommy vom Fluch zu befreien dich töten?“ „Nein. Er wurde nicht gebissen. Tommy kam so auf die Welt und mit der Pubertät brach das Wolfsgen durch.“ „Aber wie könnte ich ihn denn von dem Fluch befreien?“ „Wer sagt denn, dass wir es als Fluch sehen?“ Samantha seufzte schwerfällig und blickte in ihren Kaffee hinein, so als würde er ihr bessere Antworten liefern. „Brauchst du einen Schnaps in deinen Kaffee?“, erkundigte sich Earl breit grinsend. „N...nein...alles gut. Ich muss nur meine Gedanken kurz neu ordnen…“ „Das kannst du machen, wenn wir hier fertig sind. Es werden noch sehr viele Informationen auf dich zukommen.“ „Okay...dann...bevor du anfängst...hätte ich bereits eine Frage!“, bemerkte Samantha mit neuem Mut und straffte ihre Schultern, „das Tier mit den roten Augen. Ist es einer von euch?“ „Nein.“ „Aber es existiert, richtig?“ „Richtig.“ „ICH WUSSTE ES!“, rief Samantha triumphierend aus und klatschte in die Hände, „oh, warte nur Steve...wenn ich dich später in die Finger kriege!“ „Er hat nur versucht dich zu beschützen. Das ganze Dorf hat das.“ „Indem, dass er sich über mich lächerlich gemacht hat?“ „Er hat nur versucht dich davon abzulenken, weiter nachzuforschen. Auf andere Gedanken zu kommen. Wir alle wissen nicht, wer oder was dieses Wesen genau ist, welche Gefahr tatsächlich von ihm ausgeht.“ „Könnt ihr es mit euren ‚ausgeprägten Sinnen‘ denn nicht wittern?“ „Wir haben es oft genug gejagt, als Mensch und als Wolf...aber jedes Mal wenn wir kurz davor waren es zu fangen verschwand es.“ „Es verschwand..? Einfach so.“ „Als hätte es nie gelebt. Die Spur, unsere Witterung war augenblicklich weg.“ Earl hob entschuldigend beide Hände in die Luft. „Aber du hast es schon einmal gesehen?“ „Ich habe es mehrmals am Waldrand rennen sehen und sogar gegen es gekämpft…“ „Aber es ist kein Wolf…“ „Nein...nein...ehr...ein sehr großer Hund...mit langem zotteligen schwarzen Fell...dadurch leicht mit einem Wolf zu verwechseln. „Was ist vor 20 Jahren hier genau passiert?“ Der alte Mann seufzte schwer und blickte sich plötzlich in der Küche um, als könnte er seine verstorbene Familie immer noch sehen. „Es...es begann alles kurz nach Tommys Geburt. Die Schafe, welche wir züchteten dienten nicht nur dem Gewinn von Wolle, sondern waren auch als Fleischlieferant für uns gedacht. In Wolfsgestalt erhöht sich nämlich unser Kalorienbedarf um ein Vielfaches, und als Louise damals das erste Mal trächtig, oh verzeih mir, ich meine natürlich schwanger war mussten wir noch zusätzlich jagen gehen. Wir hatten bereits Bedenken, dass wir den Hirsch- und Wildschweinbestand des Waldes erheblich minimiert hätten, dann kam meinem Bruder auf die glorreiche Idee mit den Schafen. Zu dieser Zeit versuchten wir ja noch so unauffällig wie nur möglich zu sein, wir gingen sehr selten ins Dorf runter, um nach Baumaterialien oder ähnlichem zu fragen. Henry und ich konnten sehr vieles alleine bauen, doch als die Dorfbewohner durch einen dummen Versprecher erfuhren, dass wir die Ranch erweitern wollten und gleichzeitig auch noch Nachwuchs erwarteten bekamen wir die freiwilligen Helfer beinahe nicht mehr los. Am Anfang waren sie äußerst nützlich, wir wurden mit den beiden Scheunen um einiges schneller fertig, als gedacht, wir hatten sogar noch Überfluss an Ressourcen und Zeit, um den Speicher auszubauen. Aber dann kam der Vollmond immer näher. Und die Dorfbewohner wollten immer noch nicht gehen. Wir hatten sehr große Angst, dass wir auffliegen würden, also verschanzten wir uns bereits drei Tage vor und nach Vollmond unten im Keller. Wir hörten sie klopfen, wie sie unsere Namen riefen, doch wir verhielten uns mucksmäuschenstill, zumindest soweit das als Werwolf möglich ist...wir wollten ja niemanden verletzen. Der Vollmond war beinahe vorüber und kurz bevor wir wieder ‚auftauchen‘ wollten fanden sie uns im Keller. Zu unserer Überraschung nahmen sie unsere ‚wahre Identität‘ sehr gut auf, nur die Wenigsten hatten tatsächlich Angst vor uns.“ „Gibt es außer euch beiden denn noch andere Werwölfe in der Umgebung?“ „Nein. Tommy und ich sind die letzten unserer Art. Zumindest konnten wir in den letzten 20 Jahren keine neue Witterung aufnehmen, und unser Revier ist riesig.“ Earl nahm einen Schluck Kaffee und biss in seine großzügig belegte Brotscheibe, erkundigte sich kurz nach Samanthas Befinden und fuhr fort. „Tommy kam an einem Freitag den 13. zur Welt. Für uns Werwölfe ist das der heiligste Feiertage überhaupt.“ „Gestern Abend war Freitag der 13.!“, schreckte Samantha von ihrem Stuhl auf, Earl nickte nur zustimmend. Erst jetzt wurde ihr bewusst, um wie vieles wichtiger der gestrige Abend für Tommy gewesen sein musste. „Einige Tage nach seiner Geburt hatten wir...wie nennst du es noch mal…? Ach ja, das Tier mit den roten Augen. Wir hatten es kurz nach Tommys Geburt das erste Mal gewittert, dachten uns allerdings nicht wirklich etwas dabei. Es roch nicht nach einem von uns, aber auch nicht nach einer ernsthaften Bedrohung. Zu diesem Zeitpunkt vernachlässigten wir unsere Deckung enorm, die Dorfbewohner wussten ja bereits über uns Bescheid und so viele neue Leute kamen nicht wirklich nach Wolfsburrow. Außer Hunter…“ Samantha fuhr erneut durch einen Schreck hoch. Wieso war sie all die Zeit so dumm, so blind gewesen? Hunters Familie war vor 20 Jahren durch ein wildes Tier abgeschlachtet worden, genau zur selben Zeit waren Tommys Eltern ums Leben gekommen! Alles ergab plötzlich Sinn! „Ihr habt seine Familie…“, flüsterte sie und blickte Earl aus dem Augenwinkel heraus wütend an. „Es war...ein Unfall“, entschuldigte er sich beschämt. „Unfall? Wie kann das Abschlachten einer ganzen Familie als Unfall abgetan werden?!“ Earl erwiderte ihren wütenden Blick ziemlich gelassen, nahm einen weiteren Schluck Kaffee und schenkte sich danach neu ein. Er ließ Samantha einen Moment lang brodeln, sie sprang von ihrem Stuhl auf und stampfte um den Tisch herum. „Ihr habt seine Familie ermordet!“, rief die junge Frau aufgebracht und schlug mit der flachen Hand auf die Küchenzeile. „...ich sagte ja bereits, dass es ein Unfall war…“, hielt Earl an seiner Aussage fest und deutete auf den Stuhl, von welchem Samantha eben noch aufgesprungen war, „und wenn du dich nicht gleich wieder beruhigst, dann passiert heute auch noch einer.“ Samantha schnaufte heftig, ihr Brustkorb bebte förmlich, allerdings bemerkte sie ein gewisses Aufblitzen in Earls Augen, welches sie von Tommy bereits nur zu gut kannte. Sie ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder, warf ihrem Gegenüber trotzdem weiterhin böse Blicke zu. „Wenn sie noch klein sind, dann ist ein Welpe, so nennen wir junge Werwölfe, so anstrengend wie 5 Menschenkinder, denen man vorher Zucker gegeben hat. Louise war, auch wenn sie in der Rolle als Mutter völlig aufging sehr erschöpft und wir Werwölfe lieben es, durch den Wald zu rennen. Einfach nur laufen. Du kennst es sicher auch, wenn dir der Schädel brummt und du einen ausgiebigen Spaziergang machst. Tommy war zu diesem Zeitpunkt gerade mal wenige Monate alt gewesen. Seine Eltern rannten in den Wald, während ich die Kinder hütete. Henry und Louise sollten sich einmal ordentlich die Beine vertreten, Zeit zu zweit verbringen und auch genießen. Es Dämmerte bereits, als ich einen kreischenden Schrei und mehrere Schüsse aus dem Wald heraus vernahm. Ich sperrte die Kinder in die Käfige im Keller und machte mich bereit…Das war der letzte Tag gewesen, an welchem ich meinen Bruder und meine Schwägerin lebend gesehen habe.“ Earl brach mitten im Satz ab, Tränen stiegen plötzlich in seine Augen und er schlug sich eine Hand davor, damit Samantha das Elend nicht sehen musste. War diese eben noch wütend auf ihn und seine Familie gewesen, so empfand sie jetzt tiefes Mitleid. Sie beugte sich über den Tisch und griff seine freie Hand, hielt sie fest in ihrer. „Hunter hat sie…“ „Ich weiß, dass ich ihn für das, was er getan hat eigentlich hassen müsste. Er hat mir meine Familie, mein Rudel genommen, Tommys Eltern…ich weiß nicht genau, was passiert ist, doch ich nehme an, dass sie aus versehen ihren Weg gekreuzt haben. Und einem Werwolf trifft man wie du bereits gemerkt hast nicht alle Tage...“ „Aber ich dachte, dass sie von einem wilden Tier getötet wurden...Martha erzählte, dass überall Blut und Kampfspuren zu sehen waren…“ „In dieser Nacht…“, murmelte Earl und machte eine kurze Pause, „kam dein Tier mit den roten Augen zum ersten Mal direkt zum Wohnhaus. Hatte es vorher lediglich nur ein paar Schafe gerissen, so wollte es diesmal eine größere Beute. Ich tat alles in meiner Macht stehende, um meine beiden Neffen zu beschützen. Doch dieses Tier…was es auch immer sein mag, es kämpft um zu töten, und es hat definitiv Freude daran. Es verwundete mich zuerst, sein Biss fügte meinem Wolfskörper dermaßen tiefe Wunden zu, dass meine Heilung ewig dauern würde. Tyler...er hatte es irgendwie geschafft aus dem Käfig zu entkommen...er rannte auf uns zu, die Schrotflinte seines Vaters in den Händen haltend. Ich musste also machtlos zusehen, wie mein kleiner Neffe, ein kleines Kind zu Tode gebissen wurde. Er hatte nie den Hauch einer Chance gehabt. Ich frage mich heute noch, warum es mich am Leben gelassen hat...“ „Es...es...tut mir...so leid...Earl!“, schluchzte Samantha nun auch, „ich kann mir gar nicht vorstellen…“ „Nein. Das sollst du auch nicht. Ich habe Tommy als einzigen meiner Familie retten können, habe ihn aufgezogen, wie mein eigenes Kind und versucht einen guten Mann aus ihm zu machen. Alles, was er dir auch immer angetan hat ist auf mich zurückzuführen. Mir muss es also leid tun.“ „Du hast dein Bestes gegeben. Und miserabel ist er als Mensch ja auch wieder nicht…“ „Ich hatte ihm davon abgeraten, sich dir in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Er wollte es aber unbedingt“, Earl hob entschuldigend seine schlaffen Schultern, „ich weiß nicht, ob ich dir so ganz zustimmen kann, wenn ich daran denke, was alles hätte schiefgehen können.“ „Nun ja...ich habe ihn allerdings auch böse damit aufgezogen…euch beide.“ „Das hätte Tommy jedoch nicht beeinflussen dürfen. Er ist das neue Alphatier des Rudels.“ Samantha legte den Kopf schief und dachte daran, wie seine gelb leuchtenden Augen sie aus der Dunkelheit heraus angestarrt hatten, wie er sich dann vor ihr aufgebaut und sie angebrüllt hatte. Sie hielt die silberne Gliederkette hoch und zeigte sie dem alten Mann. Earl blickte nüchtern zu ihr, dann auf das Schmuckstück und nickte anerkennend. „Die hat er übrigens vergessen...ich wollte sie ihm wieder zurück geben.“ „Hast du eine Ahnung, für was diese Kette gedacht ist?“ „Martha meinte, dass der Anhänger mit getrocknetem Eisenhut gefüllt sei und eine Transformation zurückhalten sollte.“ „Die Kette ist aus reinem Silber. Tödlich für Werwölfe, wir reagieren äußerst allergisch darauf. Zusammen mit dem getrockneten Eisenhut eine todsichere Mischung. Sie gehörte seiner Mutter. Sie trug sie jedes Mal, wenn sie zur Transformationszeit unter Menschen gehen wollte. Je stärker der Wolf in ihr durchkam, umso kräftiger brannte sich die Kette in ihr Fleisch, der Eisenhut war nur dafür gedacht, als allerletzte Notlösung zu agieren.“ „Er ist giftig für euch, nicht wahr?“ „In so geringen Dosen, wie sie im Anhänger vorhanden ist stoppt sie eine Transformation für wenige Stunden, sehr schmerzhaft, ist aber nicht tödlich. Je höher die Dosis, umso gefährlicher wird es allerdings.“ „Ich erinnere mich daran, dass du mit in Eisenhut gewälzten Kugeln auf Tommy geschossen hast.“ Earl nickte zustimmend und hielt die Kette seiner Schwägerin in seinen Händen. „Deswegen schmücken die Dorfbewohner ihre Häuser auch damit. Sollten wir es aus irgendeinem Grund nicht schaffen, uns in den Keller zu sperren oder die Transformation zu stoppen sind sie trotzdem sicher.“ „...und ihr habt es mir die ganze Zeit über gesagt…“, murmelte Samantha und blickte auf den Boden ihrer mittlerweile leeren Kaffeetasse, „ich war so dumm!“ „Es wäre doch zu einfach gewesen“, grinste Earl traurig, „gibt es sonst noch etwas, dass du wissen möchtest?“ „Dieses Lederarmband…“, murmelte Samantha und legte besagten Arm auf den Tisch, „Tommy scheint sehr viel daran zu liegen, dass ich es trage...warum?“ „Hast du denn eine Ahnung?“, fragte der alte Mann anstatt zu antworten. „Zuerst dachte ich, dass darin ein GPS Tracker eingenäht sei, damit er mich überall und jederzeit finden könnte. So wie ein perverser Stalker.“ Earl lachte heiter auf, schüttelte ungläubig seinen Kopf und rieb sich den Bauch. „...aber...es scheint für ihn eine viel größere Bedeutung zu haben, richtig?“ „Richtig.“ „Ich kann anhand der Stickereien und Holzperlen nur leider kein aussagekräftiges Muster erkennen.“ „Das wirst du auch nicht, weil es kein bestimmtes Muster gibt. Die Stickereien und Perlen sind völlig belanglos angeordnet.“ „Also sagst du mir jetzt, was das ist?“ „Wir haben keinen speziellen Begriff oder Namen dafür. Es wird in unserem Clan vom Vater an den Sohn weitergereicht, damit dieser es seiner Partnerin als Treueschwur schenken kann.“ Samantha riss ihre braunen Augen weit auf. Bitte was hatte dieser alte Kauz gerade zu ihr gesagt? Partnerin? „A...a...aber…“, stammelte sie vor sich her, blickte zwischen Earl und dem Lederarmband verwirrt hin und her. Der alte Mann grinste breit über sein ganzes Gesicht, seine flachen Hände ruhten auf seinem voluminösen Bauch: „Tommy hat dich damit als seine Partnerin ausgewählt.“ „Aber! Das erste Mal, als er es mir umgebunden hat konnten wir uns doch überhaupt nicht leiden!“ „Sagt wer?“ „ICH!“ „Wir mochten dich beide von Anfang an. Tommy war nur etwas...er hat eine komische Art jemanden das gleich zu Beginn zu zeigen.“ „Allerdings!“, brummte Samantha, betrachtete noch eine Weile ihr Armband und grübelte ein bisschen vor sich her, gab dann allerdings schwer seufzend auf und ließ sich nach hinten in die Stuhllehne fallen. „So wie du gerade aussiehst trau ich mich ja gar nicht zu gratulieren“, kicherte Earl. „Gratulieren? Werde ich denn gar nicht gefragt, ob ich überhaupt die Frau eines Werwolfes sein möchte?“ „Wenn du ernsthaft gegen diese Bindung gewesen wärst, dann hättest du sicher seinen Avancen letzte Nacht nicht nachgegeben, oder?“ „BITTE WAS?“ „Ich kann es riechen, Samantha. Du riechst nicht mehr nach dir alleine.“ Oh mein Gott!, schrie ihre innere Stimme laut auf und rannte sich Haare raufend im Kreis, während das Gesicht der jungen Frau wortwörtlich entgleiste. Samanthas Wangen liefen sofort knallrot an und sie schlug die Hände panisch davor, während ihr Gegenüber in schallendes Gelächter ausbrach. „Oh...so ein Schlingel aber auch“, kicherte Earl und schenkte sich beiden Kaffee nach, „da kommt er ganz nach seinem Vater!“ „Muss ich jetzt auch ein Werwolf werden?“, fragte sie ängstlich. „Nur, wenn du es auch wirklich willst. Tommys Mutter lebte jahrelang als Mensch in unserem Rudel, bis sie eine von uns werden wollte. Auch sie hatte große Angst davor.“ „Und wenn ich niemals eine von euch werden will?“ „Dann bleibst du für den Rest deines Lebens ein Mensch.“ „Warum höre ich ein großes ‚aber‘ in deiner Stimme mitschwingen?“ „Aber ich möchte dich daran erinnern, dass wir Werwölfe im Gegensatz zu euch Menschen eine sehr lange Lebenserwartung haben. Wir heilen von Selbst unsere Wunden und werden beinahe nie krank.“ „Wirst du mir verraten, wie alt du bist?“ Earl grinste sie schief an: „Ich werde im Winter dreiundneunzig Jahre alt.“ Samantha starrte ihn unglaubwürdig an. Man konnte Tommys Onkel schon ansehen, dass er in die Jahre gekommen war, allerdings sah er nicht älter wie Anfang sechzig aus! „Geborene Werwölfe sind mit Anfang zwanzig voll ausgewachsen und altern danach nur noch sehr langsam.“ „Welche Krankheiten könnt ihr eigentlich bekommen?“, erkundigte sich Samantha, „so viel kann es da ja eigentlich nicht geben…“ „Du hattest eine davon erst selber genannt.“ „Natürlich. Tollwut. Wie stelle ich mir einen tollwütigen Werwolf vor?“ Earl verschluckte sich beinahe an einem Schluck Kaffee und hustete heftig, während die junge Frau entschuldigend grinste. „Wenn wir in unserer Wolfsgestalt sind, dann behalten im Normalfall lediglich nur die Alphatiere und sehr erfahrene die volle Kontrolle über ihr Handeln. Tollwut würde dies allerdings außer Kraft setzen. Wir sind dann völlig außer Kontrolle und greifen auch unsere eigene Art an.“ „Solange ich ein Mensch bin, wird Tommy für mich also immer eine Gefahr darstellen...“ „Nein. Du bist seine Partnerin. Sein Weibchen. Das Lederarmband dient durch Tommys Geruch, welcher nun an dir haftet als Schutzbarriere. Solange du es trägst, versteht sich.“ „Du willst mir also weiß machen, dass er mich als Werwolf nicht angreifen würde, und das nur wegen dieses kleinen schlichten Dings? Und das soll ich dir glauben?“ Earl machte eine entschuldigende Geste: „Das, meine Liebe wirst du wohl auf eigene Faust herausfinden müssen...bei seinen Eltern hatte es auf jeden Fall funktioniert.“ Er schenkte sich beiden erneut Kaffee nach. „Warum...warum hasst Tommy Wilma so sehr?“, fragte Samantha und nippte an ihrem Getränk. „Dieser Hass beruht auf Gegenseitigkeit, glaub mir. Ich weiß nicht warum, aber die beiden konnten sich von Anfang an nicht riechen…und als sie dann auch noch so großes Interesse an dir gezeigt hat wurde er zunehmend eifersüchtig.“ „Könnte es daran liegen, dass sie eine Wicca ist?“ „Ich habe kein Problem mit ihr. Allerdings sehe ich sie auch recht selten, da ich nicht mehr so oft ins Dorf gehe…“ „Meinst du, ich könnte diesen jahrelangen Streit schlichten?“ „Ich empfehle dir, dass du dich da raushältst. Leben und leben lassen…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)