Eren von tears-girl (Geheimnisse der Turanos) ================================================================================ Kapitel 63: Überdosis und Blutverlust ------------------------------------- „Eren!“ Sofort stürzt Dr. Ryu zu dem Jungen, stellt den Koffer ab und legt zwei Finger an dessen Halsschlagader.   „Wow“, haucht Jack genauso geschockt. „Das ist also Eren? So sieht er gar nicht so gefährlich aus. Ich muss schon sagen, dieses Mittel von dir, das hat ziemlich beängstigende Nebenwirkungen.“ Als die Frau darauf nicht reagiert, geht er neben ihr in die Hocke. Er kennt den Jungen nicht, trotzdem macht er sich Sorgen, obwohl er sie beide vor nicht einmal einer Minute töten wollte. „Lebt er noch?“   Erst quälend schweigsame Sekunden später atmet die Ärztin erleichtert auf. „Ja, er lebt noch. Aber sein Puls ist ziemlich schwach. So viel von dem Serum hat er noch nie injiziert bekommen, schon eine Dosis hat ihn für mehrere Stunden außer Gefecht gesetzt. Ich will mir gar nicht ausmalen, was Drei für Schmerzen verursachen. Außerdem verliert er noch immer Blut. Wir müssen schnell was unternehmen!“   Ohne die übernatürlichen Kräfte platzen die Wunden alle wieder auf. Diesmal tritt rotes Blut hervor, das sehr schnell seinen Pyjama tränkt und mehrere kleine Lachen um ihm herum bildet.   „Sollen wir ihn in ein Krankenhaus bringen?“, schlägt Jack vor und steigt bereits über Eren hinweg, um ihn für diesen Fall hochheben zu können.   Entschieden schüttelt sie den Kopf und zieht ihren Koffer heran. „Da würden sie zu viele Fragen stellen und womöglich Turano informieren. Wir bringen ihn zu uns nach Hause. Da hab ich auch alles, was ich brauche. Aber zuerst … Dreh ihn auf die rechte Seite.“   Gehorsam legt Jack die Waffe weg und dreht den Jungen so, dass Dr. Ryu an seine linke Halsseite kann. Sie hat inzwischen etwas Desinfektionsmittel auf ein Papiertuch gesprüht und auch ein Skalpell vorbereitet. Fragend hebt Jack eine Augenbraue als sie mit den Fingern zwischen seinem Ohr und den Halswirbeln etwas abzumessen scheint.   „Ich will ihm den Chip entfernen“, antwortet sie auf seine unausgesprochene Frage.   Die Frau reinigt die Stelle, als sie fündig geworden ist, ehe sie einen gezielten Schnitt nach dem nächsten setzt, um so Haut und Muskeln nach und nach zu durchtrennen bis sie auf den Chip stößt. Kurz darauf entfernt sie auch schon mit einer Klemme ein kleines ovales Gerät aus Erens Körper.   „Turano schreckt echt vor nichts mehr zurück, was? Jetzt chippt er sogar schon seine Experimente“, kommentiert Jack zähneknirschend.   „Ja, seit damals sind die Sicherheitsvorkehrungen drastisch verstärkt worden.“ Dr. Ryu packt eilig ihren Koffer zusammen, steht auf, wirft den Chip zu Boden und tritt ein paar Mal drauf, bis nur noch unbrauchbare Splitter übrig sind. „Kannst du ihn nehmen? Wir müssen hier schleunigst weg.“   „Klar.“ Jack schiebt vorsichtig seine Arme unter den Jungen, wohl bedacht darauf keine der Stich- oder Schusswunden zu berühren. Mit einer Hand unter dessen Kniekehlen und der anderen bei den Schulterblättern hebt er den Zwölfjährigen vom dreckigen, blutigen Gassenboden auf und folgt zügig der Frau, die schon zum Auto vorgegangen ist. Dabei hängt Eren wie eine leblose Stoffpuppe in seinen Armen.   Die Frau hat bereits die hintere Tür geöffnet, als er beim Auto ankommt und sich auf die Rückbank gesetzt. Als Jack ihr den Jungen reicht, rutscht sie mit diesem auf die andere Seite, sodass der Mann die Tür schließen kann und sie Erens Kopf am Schoß liegen hat. Während ihr Freund zur Fahrertür hastet, klappt sie erneut ihren Arztkoffer auf. Sie will keine Minute vergeuden, in der sie sich schon um Erens Verletzungen kümmern kann. Er sieht nämlich gar nicht gut aus. Ohne der Schmerzresistenz des Dämons oder den Heilkräften des Engels erleidet er die Schmerzen der Schuss- und Stichwunden wie ein gewöhnlicher Junge. Die Wirkungen des Serums nicht zu vergessen. Die Chance, dass ein gewöhnlicher Junge diese Verletzungen übersteht, sind nicht …   Nein! Entschieden schüttelt Dr. Ryu den Kopf. Sie wird jetzt nicht anfangen über Fakten und Tatsachen nachzudenken. Sie wird Eren nicht aufgeben! Wie gut, dass er kein gewöhnlicher Junge ist. Er wird das schaffen!   Entschlossen das zu beweisen zieht sie eine Schere aus dem Koffer, die sie vorerst neben sich ablegt. Behutsam hebt sie Erens Kopf leicht an und setzt sich seitlich hin, um besser arbeiten zu können. Mit der Schere schneidet sie das T-Shirt vom Ausschnitt bis zum Saum auf, wodurch ein blutroter Oberkörper zum Vorschein kommt, der sich unregelmäßig und kaum merklich hebt und senkt. Dieser Anblick schnürt ihr die Kehle zu. Es ist schlimmer als sie dachte. Wie oft haben diese Idioten mit scharfen Waffen auf ihn geschossen? War Turano und Ajax wirklich egal, ob Eren dabei draufgehen könnte? Haben die überhaupt auch nur eine Sekunde über die Folgen nachgedacht?! Oder haben sie einfach gehofft, dass sie ihn schon wieder zusammenflicken wird? So wie immer?   Mit einem Kopfschütteln verdrängt sie die ablenkenden Fragen. Dafür ist keine Zeit. Stattdessen zieht sie eine Packung Kompressen, Mullbinden und Pflaster hervor. Hier im Auto ist es zu eng, um den Patienten richtig behandeln zu können, außerdem fehlt ihr das meiste Equipment, deshalb muss es fürs erste reichen die Blutungen zu stoppen. Hoffentlich.   Während die Frau auf dem Rücksitz versucht den Jungen am Leben zu erhalten, fährt Jack rücksichtslos über alle roten Ampeln und überholt rasant die wenigen Autos, die um diese Zeit unterwegs sind. Immer wieder wirft er besorgte Blicke in den Rückspiegel. Der angestrengte Gesichtsausdruck in Kombination mit den Schweißperlen auf Dr. Ryus Stirn und den Tränen auf ihren Wangen verleiten ihn dazu, seine sonst so vorschriftsmäßige Fahrweise komplett über Board zu werfen.   Als er an einer weitere Kreuzung viel zu scharf abbiegt - Dr. Ryu wird dabei gegen die Autotür in ihrem Rücken gedrückt - bemerkt diese: „Ich weiß, wir müssen schnell nach Hause, aber fahr bitte trotzdem etwas vorsichtiger. Wir können nicht gebrauchen, jetzt von der Polizei aufgehalten zu werden.“   „Tschuldigung“, stimmt der Mann ihr zu und bremst runter auf nur noch 70km/h Innerorts. „Wie sieht´s aus? Wird er´s überleben?“   „Ganz ehrlich? Ich kann es noch nicht sagen. Ich muss mir Zuhause erst die Wunden genauer ansehen und welche Schäden das Serum in seinen Eingeweiden angerichtet hat“, gesteht sie ehrlich mit belegter Stimme.   Sie zwingt sich professionell zu bleiben und das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken, während sie eine Wunde nach der nächsten notdürftig verbindet. Nebenbei prüft sie ständig, ob noch Atmung und Herzschlag aktiv sind. Obwohl der Zwölfjährige ganz klar ohnmächtig ist, ist sein Gesicht immer wieder für einen kurzen Moment schmerzverzerrt. Wie gern hätte sie irgendwelche Schmerzmittel im Notfallkoffer. Sie spielt auch kurz mit dem Gedanken einfach ihre Kräfte zu benutzen. Wenn sie mit ihnen andere dazu bringen kann einzuschlafen, vielleicht kann sie auch fremde Gehirne davon überzeugen keine Schmerzen zu haben? Aber da sie das noch nie probiert hat und Eren eh schon in einem lebensbedrohlichen Zustand ist, beschließt sie ihn nicht als Testobjekt zu missbrauchen. Außerdem hat sie Angst, dass wenn die Schmerzen plötzlich verschwinden, die Ohnmacht nachlässt und er aufwacht. Und gleich wieder die Kontrolle verliert.   Sollte sie vielleicht die Erinnerungen an das Gespräch zwischen Turano und Ajax löschen? Aber wie erklärt sie dann, dass Eren plötzlich bei ihr wohnt und nicht nach Hause darf? Nein, es haben genug Leute an seinem Gedächtnis herumgespielt. Er soll die Erinnerungen behalten. Sie wird ihm alles erklären, falls er wieder gesund wird … nein, wenn er wieder gesund wird. Dieses „falls“ ist viel zu pessimistisch.   Als Jack das Auto nach einer gefühlt ewig langen Fahrt endlich in der Garage abstellt, hat Dr. Ryu die sichtbaren Wunden auf Erens Oberkörper soweit mit Kompressen und Pflastern behandelt, dass er aus diesen vorerst kein Blut mehr verliert. Allerdings sind diese schon komplett vollgesogen und die Verletzungen am Rest seines Körper noch immer unbehandelt, weshalb die Rückbank einem Schlachthaus gleicht.   Sobald der Mann das Garagentor geschlossen hat, öffnet er die hintere Tür und hilft ihr den Jungen vorsichtig aus dem Auto zu heben. Den Koffer lässt sie einfach im Wagen liegen und öffnet stattdessen die Tür die ins Haus führt. Genauer gesagt, in die Küche, wo sie das Licht anknipst.   Die Küche besitzt eine kleine Kücheninsel auf der lediglich eine Schale mit Obst steht. Kühlschrank, Herd, Geschirrspüler und Arbeitsfläche inklusive weiterer Küchengeräte sind in einer U-Form um die Insel herum angelegt. Zielstrebig steuert die Frau auf eine Schublade zu, die sie aufreißt, um sich eine Ladung Geschirrtücher daraus zu schnappen.   „Bring ihn runter in den Keller. Ich hol nur noch schnell ein paar ...“, beginnt die Frau, stockt jedoch, als sie eine Bewegung im Augenwinkel wahrnimmt und ein Blondschopf die Küche betritt. Sie bemüht sich darum möglichst normal zu klingen, was ihr nicht ganz gelingen will. „Max? Solltest du nicht schlafen, Schatz?“   Max trägt einen roten Pyjama mit kleinen Skateboards auf der Hose, hat die Augen nur einen minimalen Spalt geöffnet und reibt sich verschlafen über diese. „Mom? Was machst du hier? Und wo ist D...“   Der Blonde erstarrt als sein Blick auf den Mann oder eher den Jungen in dessen Armen fällt, als die Beiden die Küche betreten. Auf Eren, das aufgeschnittene T-Shirt, die provisorischen Verbände und das Blut. So viel Blut.   „I-Ist das Eren? Was ist passiert? I-Ist er …?“ Er wagt es nicht das T-Wort auszusprechen. Von einer Sekunde auf die andere ist er hellwach, blass und sieht irritiert zwischen den Dreien hin und her. Er ist sich noch nicht ganz sicher, ob er träumt oder wach ist.   „Ich bring ihn schon mal runter“, teilt Jack mit, durchquert schnell die Küche und verschwindet im Flur, wo er die Tür zum Keller öffnet.   „Mom?“ Max sieht sie mit ängstlich zusammengezogenen Augenbrauen an. „Was ist los?“   „Ich erklär dir morgen alles, jetzt hab ich keine Zeit dafür. Geh ins Bett, Schatz“, versucht sie den Jungen mit einem möglichst beruhigenden Lächeln zu überreden. Ihre eigene Sorge spiegelt sich dennoch deutlich in ihren Augen wieder.   „Mom, was ist los?“, wiederholt der Blonde, der sich nicht so leicht abschütteln lässt.   Eigentlich hatte die Frau nicht vor Max zu erzählen, dass Eren im Keller liegt. Sie hat nicht damit gerechnet, dass er um diese Uhrzeit überhaupt wach wäre. Noch dazu an einem Tag, an dem er in wenigen Stunden zur Schule muss. Sie hat aber jetzt keine Zeit für Erklärungen, weshalb sie sich von ihm abwendet, die Packung Küchenrollen aus dem Schrank holt und mit diesen und den Geschirrtüchern in den Armen zur Kellertür läuft. Max dicht auf den Fersen.   „Geh ins Bett, Max. Ich meins ernst“, betont sie diesmal autoritärer.   Davon lässt sich Max auch nicht überzeugen, stattdessen folgt er ihr die Stufen hinunter. „Ich kann jetzt unmöglich schlafen, wenn ich weiß, dass Eren halb tot bei uns im Keller liegt!“   Ergeben seufzt sie. Sie weiß nur zu gut, wie stur ihr Sohn sein kann. Egal was sie jetzt sagen würde, er hat sich in den Kopf gesetzt mitzukommen und das wird er auch tun. Da sind weitere Diskussionen reine Zeitverschwendung. Zeit, von der sie ohnehin nicht viel hat.   „Also gut“, gibt sie schließlich nach. „Aber versuch nicht im Weg rumzustehen, ja?“   „Verstanden!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)