Entschlossenheit von KiraNear ================================================================================ Kapitel 2: Entschlossenheit - Teil 2 ------------------------------------ Während sie den Hauptgang entlangliefen, wurde in Yuris Gedanken eine Frage immer dominanter, immer lauter. Sie hatte bereits die ganze Zeit über an ihrem Hinterkopf gekratzt, doch erst jetzt meldete sie sich deutlich zu Wort. Nachdenklich blieb Yuri stehen und blickte Natsuki hinterher. „Jedenfalls, was ich damit sagen möchte: Die beiden werden so stolz auf dich sein! Aber auch neidisch, weil du meine Expertenmeinung für die Beratung hattest. Das hat nicht jeder, die meisten müssen sich auf ihre eigene, bescheidene Meinung verlassen.“ Stolz schwoll ihre Brust an, bis Natsuki bemerkte, dass Yuri nicht länger neben ihr herging. Verwirrt drehte sie sich um und sah ihre Begleitung an. „Yuri, alles in Ordnung mit dir? Du bist auf einmal still… also stiller als sonst. War es dir doch zu teuer? Bereust du es? Glaub mir, das Gefühl haben viele, aber es vergeht wieder.“ Dieses Mal schüttelte Yuri so deutlich sie konnte mit dem Kopf. Die zwei vorderen Strähnen flogen von einer Schulter zur anderen, bis sie sich wieder beruhigte. „Nein, ich… es ist nur… ich habe nachgedacht. Mir ist etwas aufgefallen. Genauer gesagt ist es eine Sache, die ich mich frage, seit wir das Geschäft betreten haben“, stammelte Yuri vor sich hin, auf der Suche nach den richtigen Worten. „Was willst du denn wissen? So schlimm kann die Frage nicht sein.“ Weiterhin verwirrt, aber mit einer offenen Körperhaltung kam Natsuki ihr entgegen, bis sie neben Yuri stehen blieb. „Du kannst mich alles fragen, was du möchtest, also absolut alles!“ Yuri schien mit den Worten zu kämpfen, ihre Hände verkrampften sich um die Henkel ihrer Einkaufstüte und ein weiteres Mal fiel es ihr schwer, Augenkontakt zu halten. Es dauerte mehrere Minuten und tiefe Atemzüge, bis sie den Mut zum Sprechen zurückerlangt hatte. „Ich habe mich nur gefragt, woher du diesen Laden hier kennst. Ich meine, er liegt doch etwas abseits, man findet ihn eher, wenn man ihn bereits kennt. Soweit ich weiß, hast du kein Problem mit deinem Orientierungssinn, du kannst dich also nicht in der Vergangenheit verlaufen haben. Allerdings passt der Laden nicht zu dem, was du in deiner Freizeit trägst, zumindest, wenn ich nach den Fotos gehe, die du uns neulich im Club gezeigt hast.“ Yuri wusste nicht, ob sie mit ihrer Neugierde nicht doch zu weit gegangen war. Ihre Zweifel wurden größer, als sie Natsukis Gesichtsausdruck sah. Hatte sich wenige Sekunden zuvor noch breites Grinsen dort befunden, war es nun einem Anflug von Entsetzen gewichen. Natsuki biss sich unsicher auf die Unterlippe und verschränkte die Arme stärker. Ihre Hände krallten sich in ihre Oberarme, als müsste sie auf irgendeine Art einen sicheren Halt finden. „Na ja, ich kenne den Laden halt, na und? Es gibt eben Dinge, die ich kenne und von denen du erst noch hören musst. Das ist normal! Und wenn du es unbedingt wissen möchtest, ich habe von dem Laden neulich in einem Prospekt gelesen. Mehr steckt da nicht dahinter.“ Yuri konnte an jedem ihrer Worte heraushören, dass Natsuki sie anlog. Dazu redete die Jüngere deutlich zu schnell und ihr Tonfall war viel zu hoch. Enttäuscht begann Yuri zu seufzen. „Natsuki, es tut mir leid, wenn ich dir jemals den Eindruck vermittelt habe, dass du dich mir gegenüber verstecken musst. Zwar mögen unsere Vorlieben und Ansichten verschieden sein, wenn es um Literatur geht. Allerdings kannst du mir gegenüber bei jedem Thema offen sein.“ Mit wenigen Schritten ging Yuri auf Natsuki zu und sah ihr freundlich in die Augen. „Vorhin meintest du selbst, dass du es dumm findest, wenn sich jemand für seine Interessen verstecken muss. Dass man den Mut haben sollte, für seine Interessen einzustehen, solange man niemandem damit schadet.“ Yuri holte tief Luft, das Herz schlug ihr aufgeregt in der Brust. Ihr war bewusst, dass sie jetzt nicht aufgeben durfte. Sie wollte sich für die Hilfe, die Natsuki ihr zuvor geboten hatte, mehr als revanchieren. „Das waren deine Worte. Daher sag mir bitte, was ich ändern muss, damit du das Gefühl hast, dich mir öffnen zu können. Wir sind nicht die besten Freunde, das stimmt, aber wir sind im gleichen Club und verstehen uns einigermaßen gut.“ Natsukis Augen funkelten für ein paar Sekunden, bevor sie sich grob mit dem Ärmel übers Gesicht wischte. Yuri konnte sie sogar kurz schniefen hören, kommentierte es jedoch nicht. Mit einem schnellen Griff in die Tasche holte sie ein weiteres Taschentuch hervor, und wenige Sekunden später hatte Natsuki sich wieder beruhigen können. „Du hast recht. Ich kann nicht Wein predigen und Wasser trinken. Oder wie auch immer das Sprichwort nochmal ging“, sagte Natsuki, während Yuri das Bedürfnis unterdrückte, die Jüngere zu korrigieren. „Es ist nur… sehr schwer, ununterbrochen für seine Interessen angefeindet zu werden. Es ist ein täglicher Kampf und ich bin dessen müde geworden. Ich bin es gewohnt, mich ständig für meine Vorlieben rechtfertigen zu müssen. So sehr, dass ich es automatisch mache.“ Kraftlos ließ Natsuki ihre Arme hängen und sah Yuri ohne jegliche Energie an. Vorsichtig führte diese Natsuki zu einer Sitzbank, auf welcher sich beide niederließen.   „Im Grunde stimmt das, was ich gesagt hatte: Ich habe den Laden in einem Prospekt entdeckt. Eine Maid hatte ihn in Akihabara verteilt, als ich mich dort nach Anime Figuren umgesehen hatte“, begann Natsuki zu erzählen. „Daraufhin habe ich mir den Laden recht bald angesehen und, was soll ich sagen, es waren eine Menge schöner Kleider dabei. Nicht nur das, sondern auch Accessoires, Hüte, Handschuhe – wenn man sich in irgendeiner Weise für die Lolita Szene interessiert, dann wird man hier preisgünstig fündig. Ich war schon öfters hier und habe mir die Sachen angesehen.“ Yuri nickte verständnisvoll, dann legte sie ihre Hände in den Schoß. Die Plastiktüte hatte sie neben sich auf die Bank gelegt. „Ich verstehe, deshalb also wusstest du, wo sich welche Sachen in dem Laden befinden, während ich mich erst orientieren musste. Anfangs hatte ich mir nichts dabei gedacht, aber dass du stets so schnell fündig geworden bist, kam mir dann doch verdächtig vor.“ Sie betrachtete Natsuki von der Haarspitze bis zu ihren Schuhsohlen, bevor sie ihren nächsten Gedanken aussprach. „Gibt es einen bestimmten Stil, der dir gefallen würde oder hast du dich dort eher oberflächlich umgesehen?“ Natsuki sah sie fragend an, während Yuris Blick eher neugieriger Natur war. Natsuki schien das zu erkennen und rückte auf der Bank in eine andere Sitzposition. „Das wird dich vermutlich überraschen, aber ich interessiere mich schon länger für den Sweet Lolita Stil. Es gibt noch andere Stile, die ebenfalls schön aussehen. Sweet Lolita gefällt mir von allen am besten.“ Noch einmal scannte Yuris Blick den Körper den Jüngeren, dieses Mal versuchte sie sich Natsuki in einem derartigem Outfit vorzustellen. „Ich kann mir denken, was du jetzt sagen möchtest – sag nicht, ich würde süß darin aussehen.“ Natsuki hatte wieder die Arme verschränkt und sah sie mehr als unzufrieden aus. „Aber nein, das hatte ich nicht sagen wollen“, entgegnete Yuri. „Du hast es gedacht, das reicht schon aus!“ Verlegen stammelte Yuri herum, sie hatte tatsächlich einen derartigen Gedanken für einen kurzen Augenblick in ihrem Kopf gehabt, ihn aber nie aussprechen wollen. „Ich habe mir nur versucht vorzustellen, wie du in einem derartigen Outfit aussehen würdest. Mit den schönen, hellen Farben und niedlichen Motiven. Bestimmt würde es dir gut stehen.“ Erleichtert beobachtete Yuri, wie Natsuki wieder zu lächeln begann. Offenbar hatte sie doch die richtigen Worte erwischt. „Danke, ja, das denke ich auch. Ich habe mich auch hin und wieder umgesehen, und sogar das eine oder andere Teil ausprobiert, so dass ich nun eine genaue Vorstellung davon habe, wie das perfekte Outfit aussehen könnte.“ Offensichtlich hatte Natsuki wieder zu ihrem fröhlichen, selbstbewussten Ich zurückgefunden; ihre düsteren Gedanken wegschieben können. Yuri freute sich aufrichtig für sie dafür. „Hättest du was dagegen, wenn du mir das Outfit zeigen würdest? Jetzt hast du mich doch neugierig gemacht und ich würde auch gerne außerhalb meines Kopfkinos wissen, wie ein solches Kleid bei dir aussieht.“ Mit der Frage hatte Natsuki offenbar nicht gerechnet, halb offenem Mund starrte sie Yuri an. Diese begann zu kichern. „Wenn du deinen Mund nicht bald zumachst, fliegt eine kleine Fliege hinein und das willst du doch nicht.“ Noch immer überrascht verschloss Natsuki ihren Mund. „Was? Stimmt das?“, fragte sie durch ihre zusammengepressten Zähne hindurch. Yuri schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nur eine seltsame Redensart. Du kannst ganz normal reden, das wird dir nicht passieren. Außerdem meinte ich das vollkommen ernst, sonst hätte ich es dir ja nicht angeboten. Hätte ich es nur aus falscher Höflichkeit herausgetan, hätte niemand was davon. Das wäre dir ganz und gar nicht recht gewesen. Ich werde dich auch nicht verurteilen, wenn das deine Befürchtung sein sollte“, sagte Yuri und konnte sehen, wie es in Natsukis Kopf zu arbeiten begann. Ihre nachdenkliche Miene sprach eine mehr als deutliche Sprache. „In Ordnung. Ich kann es dir gerne zeigen. Aber nur, wenn du mich dafür nicht auslachst!“, sagte Natsuki und wartete auf irgendeine Reaktion. „Natürlich nicht, das käme mir gar nicht erst in den Sinn.“ „Gut“, sagte Natsuki zufrieden. „Und wehe, du nennst mich einmal süß, dann werde ich die ganze Aktion abblasen und dann musst du dich mit deinem Kopfkino zufriedengeben.“ „Ich werde es im Hinterkopf behalten.“   Kaum hatte Natsuki sie noch einmal eindringlich angestarrt, führte sie ihre Clubfreundin zurück in das Geschäft, führte sie an mehreren Kleiderständern vorbei zu einem anderen Teil des Ladens, den sie zuvor großzügig umgangen hatten. „Wahnsinn, was für ein Kontrast!“ Begeistert drehte sich Yuri auf der Stelle um und nahm so viele Eindrücke wie möglich in sich auf. „Mir würden diese hellen Farben vermutlich nicht stehen, aber ich sehe so viele schöne Kleider. Das ist ganz anders als das, was wir uns bisher angesehen haben. Dennoch kann ich verstehen, wenn sich jemand zu dieser Art von Stil hingezogen fühlt.“ Natsuki grinste nun von einem Ohr zum anderen. „Danke schön! Solche Worte hört man leider viel zu selten. Die meisten Leute finden es eher seltsam und können es einfach nicht nachvollziehen… egal, ich suche jetzt die Sachen zusammen.“ Yuri konnte heraushören, dass Natsuki sich ihren Problemen lieber nicht stellen wollte. Jedoch es war nicht in ihrer Sache, sich da tiefer einzumischen als nötig. Zumal Natsuki sich über derartige Dinge bereits in der Vergangenheit öfters beschwert hatte. Yuri würde sie lieber dahingehend unterstützen, dass sie sich das Outfit der Jüngeren ansah und es dann aufrichtig bewerten würde. So beobachtete Yuri, wie Natsuki verschiedene Gegenstände mit sich trug und aufgeregt durch das Geschäft lief, immer mit einem speziellen Ziel vor Augen. Es dauerte nicht lange, bis sie alles zusammen hatte.  Eine Hand hatte Natsuki dabei zur Faust geballt, doch fürs Erste verkniff Yuri sich ihre Neugier. „Gut, sie hatten noch alles da, das ist super“, sagte Natsuki und Yuri bekam das Gefühl, als würde sie diese Kombination heute nicht zum ersten Mal anziehen. Dann erinnerte sich an das, was Natsuki ihr über ihre bisherigen Ladenbesuche erzählt hatte. Über die vielen anprobierten Kleider und Kombinationen. „Wartest du hier? Ich würde mich nur mal schnell in der gleichen Kabine umziehen, in der du vorhin warst,… kannst du noch bitte auf meine Tasche aufpassen?“ „Natürlich kann ich das, gib sie mir“, antwortete Yuri freundlich. Natsuki reichte ihr die kleine Tasche, bevor sie sich mit ihren Fundstücken auf dem Weg zur Umkleide machte. Yuri sah sich derweil die restlichen Kleider an, die sich in ihrer Nähe befanden und konnte nicht anders, als all die bunten Farben und Muster zu bewundern. Für Yuri hatte sich eine vollkommen neue Welt eröffnet und sie musste zugeben, dass diese Welt ihr gefiel. Was wohl Monika und Sayori zu dem Outfit sagen würden? Auf ihre Reaktionen war Yuri besonders gespannt, auch wenn sie sie gleichzeitig ein wenig fürchtete. Sie wusste, die beiden würden sie niemals auslachen oder gar verurteilen, dennoch wollte das ungute Gefühl in ihrem Magen nicht weichen.   Erst, als sie sah, dass sich Natsuki ihr wieder näherte, konnte Yuri ihre unruhigen Gedanken für einen Moment zur Seite schieben. Was sie zu sehen bekam, verschlug Yuri den Atem. „Wow, Natsuki, ich … ich bin sprachlos!“, sagte Yuri um Worte und Fassung ringend. Zwar hatte sie ein wenig erkennen können, was Natsuki zusammengesammelt hatte. Die Sachen an ihrem kleinen Körper zu sehen, war dagegen etwas vollkommen anderes. Natsukis Gesicht lief roter an als eine überreife Tomate und sie blickte beschämt zur Seite. „Wehe, du sagst das Wort mit S, dann werde ich zwei Wochen lang nicht mehr mit dir reden! Und wehe, du lachst mich aus, dann werde ich drei Wochen daraus machen!“ Yuri dagegen schloss die Distanz, die zwischen den beiden im Raum stand und sah Natsuki von allen Seiten an. Sie konnte nicht anders, als das Mädchen für die Wahl ihres Outfits zu bewundern. „Absolut nicht, Natsuki, das würde mir nicht im Traum einfallen. Versprochen“, schob Yuri eilig hinterher. Natsuki sah sie von der Seite an, vermutlich voller Zweifel und Unsicherheiten. Zumindest strahlte ihre ganze Körperhaltung diese Gefühle aus, Yuris Meinung nach. „Nein, nein, ich bin nur beeindruckt, wie talentiert du in Sachen Mode bist. Allein das Kleid ist ein Traum! Es ist so anders als meins, aber es passt super zu deiner hellen Persönlichkeit und deinen Haaren. Außerdem finde ich die Schleifen sehr… schön“, besserte Yuri sich in allerletzter Sekunde selbst aus. Natsukis Körperhaltung entspannte sich bis zu einem gewissen Grad. Auch hatte ihr Gesicht wieder eine normale Farbe angenommen. „Außerdem passt dieses Kopfband sehr gut dazu, zum einen, weil es wie das Kleid pastellfarben ist. Zum anderen hat es die gleiche Art von Spitzen. Man sieht, du hast dir bei der Auswahl sehr viele Gedanken gemacht.“ Yuri konnte erkennen, dass Natsuki diese Worte wie Öl heruntergehen musste, was sie erfreute. Sie hatte es nicht nötig zu lügen. Immerhin hatte die Wahrheit eine viel deutlichere Wirkung als jede unaufrichtige Schmeichelei. „Ich dachte, das Talent hättest du bereits bei der Zusammenstellung deines Outfits erkannt“, sagte Natsuki, doch Yuri konnte an ihrem Tonfall erkennen, dass die Jüngere das nicht ganz so ernst meinte. „Dennoch, danke dir für deine Worte.“ Das Rot kehrte in ihr Gesicht zurück. „Nein, ernsthaft, vielen Dank. Es ist selten, dass mir jemand dafür ein Kompliment macht.“ Yuri erwiderte nichts, konnte sie sich viel zu gut vorstellen, was in dem Kopf der Jüngern vor sich gehen würde. Zumal es ihr selbst genauso schwerfiel, Komplimente anzunehmen. Sie abzulehnen und sich, wie auch allen anderen einzureden, dass man sie nicht verdient hatte, war oftmals viel einfacher. Man erklärte eine Lüge zur Wahrheit und verschloss sich den realen Tatsachen. Wodurch es einem noch schwerer fiel, positive Worte als diese aufnehmen zu können, ohne sie in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Yuri dagegen wollte sich nicht auf diesen Teufelskreis einlassen. Stattdessen setzte sie ihre neugierige Erkundungen fort. Sie achtete auf Details, die ihr bisher noch nicht aufgefallen waren. „Das sehe ich erst jetzt“, sagte Yuri, um die Aufmerksamkeit wieder auf Natsuki zurückzuschieben. „Die Schuhe haben zwei unterschiedliche Farben, wie auch die zwei Schleifen darauf. Ich muss zugeben, mit ihren hellen Farben sind sie eine außergewöhnlich schöne Ergänzung. Sie runden das Outfit ab, hell, bunt, aber nicht zu übertrieben. Von Anfang bis Ende ist es eine angenehme Harmonie der Farben, angetrieben durch den Wunsch, Einheitlichkeit zu vermitteln. Es zeigt auch die Zweiseitigkeit der Menschheit und dass eine menschliche Seele niemals nur eine Farbpalette haben kann, sondern mindestens zwei. Das ist eine schöne Botschaft, finde ich.“ Natsuki starrte sie wieder mit offenem Mund an, was Yuri mehr als verlegen machte. Sie hatte sich ihre Gedanken von der Seele geredet, ohne es rechtzeitig zu realisieren. Sie hatte Natsukis Outfit wie eines ihrer Gedichte analysiert. Sofort begann Yuri damit, nervös zurückzurudern. „Natürlich kann es auch sein, dass du dir der Zusammenstellung nichts Besonderes gedacht hattest. Dass du einfach nur Teile kombiniert hast, die dir gut gefallen haben und die rein zufällig zusammengepasst hatten.“ Yuri stotterte, die gesamte Situation, die Richtung, in die das Gespräch zu verlaufen schien, war ihr unangenehm. Sie wünschte sich, der Erdboden würde sie verschlingen. „Ignoriere bitte, was ich gesagt habe. Ich habe nur letztens ein Buch mit dem Titel Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde gelesen. In der Handlung wird unter anderem die Ambivalenz des Menschen behandelt und wie er, wie auch seine Umwelt damit umgehen. Vermutlich geistert mir deshalb dieser Gedanke im Hinterkopf… es tut mir leid, das war nicht meine Absicht.“ Nachdenklich sah Natsuki sie an, und Yuri begann sich zu fragen, wie falsch ihre Worte wohl gewesen sein mussten. Sie bangte und bat in ihrem tiefstem Inneren darum, dass die Jüngere etwas erwidern würde. Doch diese sah Yuri nur nachdenklich an, mehrere Minuten lang.   Dann begann sie zu nicken, als wäre sie zu einem besonderen Schluss gekommen. Yuri wusste nicht, ob ihr das Nicken gefallen sollte oder nicht. „Ich kann verstehen, was du damit meinst, und ja, mit dieser Interpretationsweise könnte ich leben Mach dir also keine Gedanken, du hast nur ausgesprochen, was dir durch den Kopf schwirrte. Lieber bist du so offen und ehrlich zu mir, als wenn du mir eiskalt ins Gesicht lügst. Oder dass mir du etwas verheimlichst, das wäre genauso schlimm.“ Yuris Gesicht hellte sich auf und sie war froh, dass Natsuki ihr den kleinen Ausbruch nicht übel zu nehmen schien. Diese blickte Yuri wieder direkt in die Augen. „Da hast du es auch verdient, dass ich dir die Wahrheit sage. Wie gesagt, ich hatte keinen tieferen Hintergedanken, meine Motive sind dieses Mal viel simpler.“ Mit diesen Worten schritt Natsuki zu ihrer Tasche, holte ihr Handy heraus und begann, darauf nervös herumzutippen. Wenige Sekunden hielt sie den Bildschirm in Yuris Richtung. Sie konnte darauf das Bild einer gezeichneten Person erkennen. „Das hier ist eine meiner Lieblingscharaktere aus dem Manga Parfait Girls, du weißt schon, den Manga, den ich öfters im Club lese“, sagte Natsuki und Yuri schüttelte stumm mit dem Kopf. „Jedenfalls haben sie in einem der Bände einen Cosplay Wettbewerb und sie trägt in dem Wettbewerb auch ein Sweet Lolita Outfit, genau mit den beiden Farben Rosa und Blau. Das hat mich inspiriert und als ich von dem Laden erfahren hatte, habe ich mich auch so schnell wie möglich hier umgesehen.“ Natsuki schickte ihr Handy in den Standby-Modus und schob es wieder zurück in die Tasche. „Damit du mich nicht falsch verstehst, das soll kein Cosplay werden oder was in der Richtung. Es soll vielmehr mein eigener Stil werden, aber mit ihr als Inspiration. Macht das für dich Sinn?“ „Natürlich macht das für mich Sinn, Natsuki“, sagte Yuri und legte ihre Hände auf die Brust. „Viele Menschen lassen sich durch etwas inspirieren, durch was, spielt am Ende keine Rolle. Wenn eine Sache oder Person dafür sorgt, dass andere Menschen kreativ werden, dann ist das eine positive Eigenschaft. Das ist nichts, für das man sich schämen müsste.“ Sie lächelte Natsuki mit dem wärmsten und freundlichsten Lächeln an, das sie zustande brachte. „Vielen Dank, dass du so offen mit mir warst, das schätze ich sehr. Und es freut mich, dass du dich dir mir so weit öffnen kannst. Das ist schön.“ Dann fiel ihr Blick auf Natsukis Haare und erst jetzt bemerkte sie die zwei kleinen Haarspangen in deren Stirnsträhne. „Oh, dass die beiden mir erst jetzt auffallen … sind das zwei kleine Häschen?“, wollte Yuri neugierig von ihr wissen. Eifrig schüttelte Natsuki ihren Kopf. „Ganz genau! Eins in Blau, eins in Rosa, damit sind sie eine perfekte Ergänzung zu den anderen Dingen. Auf die beiden bin ich besonders stolz“, sagte sie mit leicht geschwellter Brust. „Das kannst du auch sein.“ Yuri bekämpfte das Bedürfnis, diese beiden Hasen mit ihren Fingerspitzen zu berühren und versuchte sich, mit dem Ansehen dieser zu begnügen. Dann fiel ihr ein Detail auf, etwas, was ihr merkwürdig vorkam. „Natsuki, wenn du mir das nicht beantworten möchtest, kann ich das verstehen. Dennoch gibt es an der gesamten Outift eine Frage, die sich mir geradezu aufdrängt.“ Nichtsahnend und locker sah Natsuki sie an. Ob sie etwas ahnte? Yuri konnte es nicht sagen. „Hau raus, was möchtest du denn wissen?“ „Nun, ich muss erst meine Gedanken sortieren“, sagte Yuri und atmete mehrere Male tief ein und aus. „Es ist mir aufgefallen, dass du die einzelnen Bestandteile deines Outfits sehr schnell zusammengesammelt hattest. Auch warst du sehr schnell, was das Umziehen anging. Zwar war mein Outfit nicht so kompliziert, dennoch war ich langsamer als du. Es wirkt fast so, als wärst du geübt darin. Du meintest zwar, dass du hier drin öfters etwas anprobiert hast, dennoch ist es sehr auffällig. Als würdest du diese gesamte Kombination nicht zum erstem Mal tragen“, sagte Yuri mit sanfter Stimme. Trotzdem reichte es aus, damit Natsuki sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und sie biss sich zitternd auf die Unterlippe. „Nun, ich würde nur einfach gerne wissen: Warum kaufst du dir das Outfit nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so viel teurer als das meinige ist und ich bin mir sicher, dass du keine Problem damit hättest, es vor den anderen zu tragen. Mir hast du es auch sofort zeigen wollen.“ Yuri stockte, als sie sah, wie blass Natsuki geworden war. Auch war diese wieder den Tränen nahe. „Tut mir leid, ich wollte damit keine eventuellen Wunden aufreißen, das war unsensibel von mir. Vergiss bitte, dass ich dich das gefragt habe. Es kam mir nur merkwürdig vor, ich meine, das Outfit scheint dir sehr viel zu bedeuten…“ „Nein, es ist schon in Ordnung“, unterbrach Natsuki sie mit einer derartig unsicheren Stimme, dass Yuri sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Doch sie wusste nicht, ob es der Jüngeren recht gewesen wäre und unterdrückte das Verlangen. „Bevor du mir wieder meine eigene Lektion reindrückst, ich denke, ich sollte lieber gleich reinen Tisch machen. Es stimmt, ich habe das Outfit mehrere Male probiert, als ich hier war. Auch habe ich mehrere Fotos gemacht, alle auf einem geheimen USB-Stick versteckt, wo er sie niemals finden kann.“ Yuri wunderte sich, wen Natsuki damit gemeint haben könnte, jedoch nicht allzu lange. Im Grunde konnte sie sich die Antwort bereits denken. „Es ist wegen deinem Vater, nicht wahr? Du hattest bereits wegen deinen Mangas eine Andeutung darauf gemacht, dass er wohl streng ist und deine Interessen nicht gutheißt.“ Natsuki nickte wieder und blinzelte so heftig sie konnte die Flüssigkeit aus ihren Augen. „Mein Vater findet es alles andere als gut, dass ich mir Mangas kaufe, besonders meine Lieblingsreihen. Zwar verbietet er es mir nicht, aber er würde es trotzdem gerne sehen, wenn ich mich für andere Dinge begeistern würde. Dinge, die er auch mag und die er gutheißen kann. Doch was er mag, ist nun mal für ältere Männer und nichts für junge Frauen.“ Natsuki schürzte die Lippen und stemmte wie gewohnt die Hände in die Hüfte. Ein Anblick der Yuri für einen kurzen Augenblick an Sayori erinnerte, nur mit Wut anstatt Schamgefühl. „Vater möchte, dass ich mein Geld vernünftig ausgebe, was auch immer das bedeuten soll. Dabei bin ich bereits achtzehn Jahre alt! Mein Vater sollte mir da nicht mehr so viel reinreden können. Allerdings kann ich nicht verhindern, dass er das letzte Wort hat. Ich bin schon froh, dass er mir die Lüge glaubt, dass ich die Mangas entsorgt hätte. Dass ich sie in der Schule aufbewahren darf, dafür bin ich Monika mehr als dankbar.“ Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. Yuri konnte sich ihr sehr deutlich im Gesicht ablesen, dass das Thema sie bereits eine längere Zeit über verfolgte und quälte. „Außerdem, seit die Regierung das Gesetz letztes Jahr geändert hat, gelten wir bereits als volljährig. Was aber meinen Vater nicht davon abhält, mich ständig für mein Verhalten zu kontrollieren und verurteilen. Das geht mir so auf die Nerven! Ich würde mir gerne dieses Outfit kaufen, und es tragen, das kannst du mir glauben! Aber wenn mein Vater mich damit erwischen würde … ich möchte es mir gar nicht ausmalen!“ Zerknirscht biss sich Natsuki noch heftiger auf die Unterlippe und blickte zum Boden. Sie versuchte stark zu bleiben, doch ihre leicht bebenden Schultern verrieten sie. Yuri verspürte Mitleid mit ihr, wie Natsuki hatte auch sie mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen. Sie wünschte sich von Herzen, sie könnte Natsuki in ihrer Situation aushelfen. Doch wie sollte Yuri das anstellen? Mit Natsukis Vater zu reden, war keine Option. Das war höchstens eine Lösung, für die jemand wie Monika besser geeignet war, vielleicht sogar Sayori.   Schließlich kam Yuri eine Idee, und sie ging sie mehrere Male durch. Dann formulierte sie in ihren Gedanken Worte, die sie nur noch auszusprechen brauchte. „Das hört sich vielleicht merkwürdig an, aber es gibt eine Möglichkeit, wie dein Vater nichts von deinen Plänen mitbekommen kann“, begann Yuri vorsichtig ihre Idee auf den Tisch zu bringen. Neugierig, aber auch misstrauisch sah Natsuki sie an. „So? Und wie hattest du dir das gedacht?“ Yuri sah Natsuki direkt in die Augen. „Was ich nur noch wissen müsste: Kannst du dir das Outfit leisten oder würde dein Vater es bemerken, wenn eine gewisse Summe auf deinem Konto fehlt? Unabhängig davon, wie klein diese Summe ist?“ Natsuki schüttelte mit dem Kopf. „Nein, mein Vater führt zum Glück kein Buch über mein Geld, das wäre ja noch schöner. Zumindest so viel Eigenverantwortung spricht er mir zu, das ist ein kleiner Trost. Also nein, es würde ihm nicht auffallen. Zumal ich schon länger immer mal wieder ein wenig Geld zur Seite gelegt habe. Und ich habe so manche Wette in der Schule gewonnen, das hat mir auch geholfen.“ Yuri beschloss, nicht näher auf die Geschichte mit den Wetten einzugehen und konzentrierte sich lieber weiter auf ihre Idee. „Gut, das heißt, dein Vater würde also nichts davon mitbekommen. Dann kannst du dir das Kleid problemlos kaufen und woanders aufbewahren. An einem Ort, an welchem du jederzeit draufzugreifen kannst, ohne, dass er es je zu Gesicht bekommen wird.“ Langsam schien es in Natsukis Kopf klick zu machen, sie schien zu verstehen, worauf Yuri die ganze Zeit hinauswollte. „Ah, verstehe! Wenn ich mein Outfit wie meine Mangas an einem anderen Ort als zu Hause aufbewahre, dann bekommt Vater nichts mit und kann mir keinen Stress machen. Ziemlich geniale Idee… wäre da nur nicht das Problem, dass ich nicht weiß, wohin damit.“ Ein tiefer Seufzer entfuhr ihren Lippen. „Ich hatte mir zwar auch überlegt, ob ich die Sachen nicht auch wie meine Mangas in der Schule aufbewahren soll, aber wer weiß, wer das dann alles zu sehen bekommt? Oder vielleicht sogar aus dem Schrank stiehlt? Den Gedanken könnte ich nicht ertragen.“ Vorsichtig verringerte Yuri den Abstand zwischen ihnen, indem sie langsam auf Natsuki zuging. Danach legte sie der Jüngeren eine Hand auf die Schulter. „Um ehrlich zu sein, ich hatte die Idee mit den Mangas im Sinn, den Schrank allerdings nicht. Nein, ich denke nicht, dass das der richtige Ort dafür ist.“ Verwundert blickte Natsuki zu ihr hoch. „Oh, an welchen Ort hattest du dann gedacht?“, fragte sie und Yuri konnte die Ahnungslosigkeit aus ihrer Stimme deutlich heraushören. Die nächsten Worte auszusprechen, kostete Yuri den größten Mut, den sie an diesem Tag zusammenkratzen konnte. „Nun, ich würde dir den Vorschlag machen, dass du dein Outfit bei mir aufbewahren könntest. Meine Eltern haben nichts gegen meine Interessen und wenn ich zwei neue Kleider im Schrank hätte… nun, es würde ihnen auffallen, aber sie würden mir zum Glück keine unangenehme Fragen stellen. Sie respektieren meinen Wunsch nach Privatsphäre sehr…“, sagte Yuri, bevor sie wieder auf ihr eigentliches Anliegen zurückkam. „Dann könntest du das Outfit jederzeit haben und anziehen, wann auch immer du möchtest. Wenn es dir recht ist, gebe ich auch meinen Eltern Bescheid, damit du es dir auch dann holen kannst, sollte ich mal nicht anzutreffen sein. Wenn du ihnen sagst, dass du aus dem Literaturclub bist, wird ihnen das als Information genügen. Ich könnte dir dann auch im Anschluss anbieten, dass wir dein Outfit bei uns mit reinigen, meine Mutter müsste sich mit sowas auskennen … oh!“ So schnell hatte Yuri gar nicht schauen können, da hatte Natsuki sie in eine intensive Umarmung genommen. Mit den Fingern krallte sich die Jüngere in Yuris Rücken, als müsste sie sich unbedingt festhalten, um auf den Beinen bleiben zu können. Wenn sie genau horchte, glaubte Yuri sogar ein leichtes Schniefen zu hören. Allein um auf Natsukis Gefühle Rücksicht zu nehmen, sprach sie es nicht an. Stattdessen erwiderte sie die Umarmung und strich der Jüngeren vorsichtig mit der Hand über den Hinterkopf. In dieser Position blieben die beiden stehen und bewegten sich nicht. Yuri bot Natsuki den nötigen Halt, den diese im Augenblick so dringend zu brauchen schien. Sie würde die Jüngere zu nichts drängen. Die Zeit verging langsam, sehr langsam, doch irgendwann hatte Natsuki sich wieder beruhigt. Stumm beendete sie die Umarmung und trat mehrere Schritte zurück. „Warum? Warum bietest du mir das an? Sag mir das!“, wollte Natsuki von ihr wissen. Überrascht von der Frage sah Yuri sie an, fing dann aber doch zu überlegen legen. „Wie soll ich das sagen… ich meine wir kennen uns eben aus dem Literaturclub und treffen uns auch öfters in der Mittagspause. Unsere Geschmäcker sind sehr unterschiedlich, wie die Bücher, für die wir uns begeistern.“ Auf Natsukis Stirn begann sich eine Zornesfalte zu bilden, eine, die Yuri bereits zur Genüge kannte. „Allerdings ist das nichts Schlechtes, es bringt Abwechslung in den Literaturclub hinein. Wir können voneinander lernen und uns gegenseitig zu neuen Dingen inspirieren oder unterstützen. So wie du es heute mit dem Kleid hier gemacht hast. Immerhin sind wir Freunde, da ist es doch ganz normal, nicht wahr?“ Natsukis Körperhaltung erstarrte, als sie Yuri komplett verblüfft ansah. Die Zornesfalte war schneller verschwunden, als sie erschienen war. „Freunde? Du siehst uns wirklich als Freunde an?“ Yuri, deren Wangen rot aufleuchteten, nickte schwach in ihre Richtung. Was Natsuki ein kleines Lächeln auf die Lippen zauberte. „Danke, das rechne ich dir hoch an. Manchmal bist du doch ein richtig verständnisvoller Mensch.“ „Was… was meinst du damit, Natsuki?“ „Nichts. Absolut nichts. Ich bin dir nur dankbar, dass du mir diese Chance gibst. Irgendwann, wenn ich meine eigene Wohnung habe, dann kann ich das Outfit mitnehmen und dann sagt keiner mehr was! Bis dahin ist es bei dir und deinen Eltern in guten Händen, da bin ich mir sicher. Ich habe deine Bücher gesehen, du bist jemand, der sehr sorgsam mit seinen Sachen umgeht. Daher vertraue ich dir.“ „Danke. Das habe ich von meiner Mutter, sie hat mir den einen oder anderen Kniff beim Lesen gezeigt, wie man das Buch weniger beschädigt. Ich drücke auf die Art aus, wie wichtig mir etwas ist.“   Yuri blickte in die Richtung, in der sich die Kasse befand. „Sollen wir die Sachen bezahlen gehen? Du müsstest dich noch umziehen, aber das geht ja recht schnell. Aber solltest du doch meine Hilfe brauchen, sag Bescheid.“ Da von Natsuki keine Reaktion kam, blickte Yuri zu ihr zurück. Der Ausdruck, der nun auf dem Gesicht der Jüngeren lag, war einer, mit dem Yuri absolut nicht gerechnet hatte. Sie hatte sich ein breiteres Grinsen ausgemalt oder ein genervtes Augenrollen. Stattdessen blickte Natsuki beschämt in ihren Geldbeutel. „Natsuki, gibt es ein Problem?“, fragte Yuri mehr als vorsichtig nach. Als sich ihre Blicke wieder trafen, sah sie wie Natsukis Augen wieder feucht wurden. „Ich wusste es zwar, aber ich wollte mich nochmal vergewissern. Selbst wenn ich das Outfit kaufen möchte, ich habe nicht genug Bargeld dabei. Eine Kreditkarte habe ich leider nicht, das würde mein Vater sofort mitbekommen…“ Verwirrt blickte Yuri sie an und fragte: „Aber meintest du vorhin nicht, dass du dir mühsam das Geld für das Outfit zusammengespart hast?“ Natsuki nickte leicht, als wären jegliche Lebensgeister aus ihrem Körper gewichen. „Das stimmt, das habe ich auch. Allerdings hätte ich nie im Leben damit gerechnet, dass ich heute in die Gelegenheit kommen würde, es auch kaufen zu können. Immerhin habe ich für die Sache mit meinem Vater keine Lösung finden können. Ich hätte nicht mal gedacht, dass ich es heute nochmal anprobieren würde. Daher habe ich auch nicht so viel Geld mitgenommen. Die Summe liegt versteckt in einer Schachtel unter meiner Unterwäsche. Mein Vater hat wenigstens so viel Anstand, um dort nicht herumzuwühlen…“ Natsuki war verletzt, das konnte Yuri ihr deutlich an den Augen ablesen, wie auch an den kleinen Händen, die sich in die Ärmel krallten. „Da stehe ich kurz vor dem Ziel und dann wieder so ein Hindernis. Die Sachen haben sie schon länger hier, wer weiß, ob beim nächsten Mal noch alles vorhanden sein wird? Ob ich dann den Mut wieder aufbringen kann? Mann, dabei habe ich mich jetzt doch so gefreut…“ Yuri sah sie nachdenklich an. Dann sprach sie mit ruhiger, fester Stimme ihren Gedanken aus. „Sag mal, wie viel kostet das ganze Outfit denn zusammengerechnet?“ Unter Brummen nannte Natsuki ihr die Summe, Yuri verstand sie dennoch auf Anhieb. Unsicher schluckte sie mehrere Male, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die sofort wieder trocken wurden. Dann ballte Yuri entschlossen ihre Faust, um das bisschen an Mut, welches sie aufgebracht hatte, nicht wieder zu verlieren. „Natsuki, ich bin mir sicher, dass die Idee dir nicht gefallen wird, aber ich werde sie dir trotzdem nennen. Und lass mich bitte aussprechen, egal, wie unangenehm sie dir auch erscheinen wird.“ Mit gemischten Gefühlen sah Natsuki sie an, Yuri konnte die Verletzlichkeit gerade zu riechen. „Was meinst du damit?“ „Nun, ich meine damit, dass ich für dich das Outfit bezahlen könnte.“ Sofort blies Natsuki ihre Backen weit auf, sie atmete tief ein und wollte bereits etwas sagen, als Yuri die Hand hob. „Ich dachte mir schon, dass es dir schwerfällt, andere Menschen um Hilfe zu bitten. Oder Geld von ihnen zu leihen. Das kann ich alles vollkommen gut verstehen. Dennoch, es macht mir nichts aus. Ich habe gerade noch genug dabei, um die Sachen bezahlen zu können.“ Sie versuchte Natsuki so versöhnlich wie möglich anzulächeln. „Es würde mir nichts ausmachen, darauf gebe ich mein Ehrenwort. Und das Geld kannst du mir dann bei einem unserer Clubtreffen geben, das hat keine Eile. Ich bin mir sicher, dass ich dir da vertrauen kann und du mich nicht übers Ohr hauen wirst. Nein, dazu bist du viel zu aufrichtig.“ Wieder sammelten sich Tränen in Natsukis Augen, wieder wischte sie wirsch mit dem Taschentuch über ihr kleines Gesicht. Sie schien sehr mit sich zu ringen, trat wieder und wieder von einem Fuß auf den anderen. Ihr Mund öffnete und schloss sich im Sekundentakt. „Wie du bereits sagtest, du weißt nicht, wie lange sie die Sachen noch im Sortiment haben werden. Jetzt hast du die Gelegenheit dazu, also solltest du auch zugreifen. Sei mutig! Ich werde auch den anderen nichts davon erzählen, wenn dir das lieber ist.“ Endlich schien Natsuki ihre Worte wiedergefunden zu haben. „Das wäre mir in der Tat lieber, danke. Alles müssen die beiden sowieso nicht wissen.“ Als sie Yuri wieder in die Augen sah, waren sämtliche Lebensgeister in ihren kleinen Körper zurückgekehrt. „Vielen Dank, Yuri, ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte.“ „Schon in Ordnung“, winkte Yuri ab. „Und jetzt zieh dich lieber um, bevor du das noch vergisst.“ Das brachte Natsuki zum Lachen. „Sehe ich aus wie Sayori? Das würde eher ihr passieren. Aber gut, gib mir fünf Minuten, dann bin ich wieder zurück.“ Schnell eilte die Jüngere zur Umkleidekabine zurück, ihre Füße wippten bei jedem Schritt und Yuri konnte sich das Glück, dass Natsuki in ihrem Herzen spürte, um sie herum strahlen sehen.   ~   „Vielen Dank für Ihren Einkauf, ich hoffe, Sie beide beehren uns bald wieder.“ Während Natsuki ihre Tasche an sich nahm und die Verkäuferin sich zum Abschied verbeugte, steckte Yuri das Wechselgeld in ihren Geldbeutel hinein. Natsuki sah sie mit großen Augen an. Diese waren mittlerweile von den vielen Gefühlsausbrüchen leicht gerötet. „Vielen lieben Dank, für alles. Also wirklich alles. Das werde ich dir mein Lebtag nicht mehr vergessen…“ Zufrieden und glücklich verließen die beiden das Geschäft und machten sich auf den Weg, das Einkaufszentrum endlich hinter sich zu lassen. Sie beide hatten eine Menge über sich und die jeweils andere erfahren; und auch eine Menge Mut zusammengebracht für eine Veränderung in ihrem Leben. Eine Erfahrung, die ihnen beiden guttat, mutmaßte Yuri, während sie den Gang entlangschritten. Plötzlich blieben die beiden stehen, Yuri sah sich um, da sie sich an Natsuki orientiert hatte. „Ist etwas nicht in Ordnung?“, wollte Yuri wissen, Natsuki jedoch schüttelte nur mit dem Kopf. „Ich hatte nur eine spontane Idee, als ich die Eisdiele hier sah. Das Eis hier ist sehr, sehr lecker, musst du wissen. Sayori hat mich einmal eingeladen und ich dachte zuerst, sie würde nur übertreiben. Aber nein, dieses Mal hatte sie sogar recht.“ Natsuki war wieder ganz sie selbst und grinste Yuri von einem Ohr zum anderen an. „Was meinst du, kann dich zu einer Kugel Eis einladen? Ob in der Waffel oder im Becher, das kannst du dir aussuchen. Und keine Angst, das Geld bekommst du natürlich trotzdem noch von mir. Sieh es einfach als einen spontanen Akt der zusätzlichen Dankbarkeit an. Kannst du das?“ Yuri erwiderte das Grinsen mit einem zarten Lächeln. „Ja, ich denke, das kann ich. Dann nehme ich die Einladung doch gerne an“, sagte sie und folgte Natsuki, die sich sofort in die Warteschlange stellte. „Welche Eissorte gefällt dir eigentlich am besten?“, wollte Natsuki von ihr wissen, während sie darauf warteten, bedient zu werden. Yuri musste nicht lange überlegen. „Vanille, die gefällt mir am besten“, sagte sie und sah, wie Natsukis Augen zu glänzen begannen. „Das ist nicht wahr, oder? Das ist auch meine Lieblingssorte! Wer hätte gedacht, dass wir mal was gemeinsam haben?“ Der schräge Tonfall in Natsukis Stimme brachte Yuri zum Lachen. Ein Lachen, welches Natsuki sofort ansteckte. „Ist doch schön, nicht wahr?“ Natsuki nickte, soweit es ihr Lachen zuließ. Dann sah sie Yuri in die Augen. „Ja, das ist es wirklich.“ Mit einem Gefühl von Zufriedenheit und Glück lächelten die beiden sich an, dies war ein wahrlich sonniger und warmer Tag für sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)