Safe Zone von HalcyTheWolf ================================================================================ Prolog: -------- Das Aufkommen der Mappe auf meinem Schreibtisch konnte meinen lauten Seufzer nicht übertönen. Mein Kollege sah von seinem Laptop auf, Besorgnis in seinem Blick. »Das Übliche, Cap?« Ich ließ mich genervt in den Stuhl fallen: »Ja, schon das dritte Mal diese Woche. Wenn heute noch jemand anruft und sagt, Thawat und seine Idioten haben was angestellt, raste ich aus.« Müde fuhr ich mir mit der Hand durchs Gesicht, versuchte, mich zu beruhigen. Ich durfte der ganzen Sache nicht so viel Raum geben. Es war kurz nach halb vier nachts, noch wenige Stunden, dann war meine Schicht vorbei. Seit einem Monat war ich auf diesem Revier in Bangkok als Polizist eingeteilt, jeden Tag gab es Probleme mit Thawat. Kein Wunder, dass die Kollegen mich nicht um die Versetzung beneidet hatten. Jeder von ihnen hätte ihn gerne hinter Gittern gesehen, aber seine reiche und einflussreiche Familie wusste es geschickt zu verhindern. Ich war hierher versetzt worden, um genau das zu ändern, damit die Leute hier wieder in Ruhe leben konnten. Aber selbst mir war noch kein genialer Plan eingefallen. Ich hielt mich mit Tee wach, beobachtete die Zeiger der Uhr. In der Nachtschicht bewegten sie sich komischerweise immer besonders langsam. Seufzend begann ich, den Fall von eben in den Computer zu tippen. Der Aktenschrank hinter mir war bereits voll, denn Thawat litt unter dem schlimmen Ich-darf-mir-alles-erlauben-weil-meine-Eltern-reich-sind-Syndrom. Ich hatte keine Ahnung, warum er es sich zum Hobby gemacht hatte, die Cops aus dem Viertel zu vertreiben, aber ich mochte die Leute in der Nachbarschaft und das hatten sie nicht verdient. Irgendwas musste ich tun. 4 Uhr. 5 Uhr. 6 Uhr. Ich streckte mich, schaltete den Computer aus und verabschiedete mich in den Feierabend. Glücklicherweise war es den Rest der Schicht ruhig gewesen. Noch in Uniform verließ ich das Büro, doch kaum bog ich um die Ecke, musste ich erst einmal innehalten. Da stand er vor mir, Thawat Saengsuwan, kurz Tii, höchstpersönlich. Er hatte ein Bein an der Mauer angewinkelt und rauchte. Zwischen den schwarzen Haaren blitzten dunkelrote Strähnen hervor, er trug Ohrringe und eine schwarze Lederjacke. Ich konnte mir den Seufzer nicht verkneifen, er hatte sich eindeutig viel zu viel von Gangsterfilmen inspirieren lassen. Thawat grinste mich an: »Na, ruhige Schicht gehabt, Cap?« Ich war stolz auf meinen Titel, aber nur die Kollegen durften ihn abkürzen. Auch wenn es sinnlos war, sagte ich: »Für dich immer noch Captain Niran. Ja, es war ruhig, danke.« Meine Schritte beschleunigten sich, ich musste schnell hier weg. Es reichte schon, wenn ich mich auf der Arbeit mit ihm rumschlagen muss, in meiner knapp bemessenen Freizeit musste das nicht sein. Außerdem war ich müde und freute mich nur auf mein Bett. Doch in diesem Moment blieb es mir nicht erspart, denn plötzlich lief er neben mir. »Der letzte Cap hat nur zwei Wochen geschafft. Ich bin mal gespannt, wie lange wir brauchen, bis du abhaust. Die Wetten laufen schon.« Ich versuchte ihn zunächst zu ignorieren, schlug einen anderen Weg ein, der nicht nach Hause führte. Vielleicht war das meine Chance. Ich würde mich nicht unterkriegen lassen von einem zwanzigjährigen Großmaul, der wohl mal lieber die Uni besuchen sollte. Challenge accepted. »Wie hoch ist der Einsatz?« Thawat blieb stehen, hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich antworten würde. Er hatte einen triumphierenden Blick aufgesetzt: »10.000 Baht (ca. € 271,82), wenn ich es schaffe, dass du nach einem Monat heulend das Revier verlässt.« »Dann wette ich 20.000 Baht (ca. 542,82 €), wenn ich es in einem Monat schaffe, dich für drei Tage in Untersuchungshaft zu stecken«, ich sah ihm in die Augen. Es war mir wichtig, dass sie merkten, dass ich ihre Spielchen nicht ohne Weiteres hinnehmen würde, sondern lieber mitspielte. Thawat war ein bisschen größer als ich, seine Haare waren ordentlich gestylt. Seine braunen Augen blitzten mich überrascht an: »Du traust dich was, Cap. Die Wette gilt.« Wir gaben uns die Hand, um die Wette zu besiegeln. Entweder war es genial, weil sie merkten, dass sich die Polizei nicht nur auf der Nase rumtanzen ließ oder es war extrem dumm, weil er mir die Schichten noch mehr zur Hölle machen würde, als ohnehin schon. Andererseits, wie hieß es noch gleich? Sei deinen Freunden nah, doch deinen Feinden noch näher. Ich ließ ihn stehen und trat den Heimweg an. Zuhause fiel ich nur noch ins Bett, um bis zur nächsten Nachtschicht etwas Schlaf zu bekommen. Kurz nach 23 Uhr war ich wieder auf dem Revier, zusammen mit meinem Kollegen Cho. Ich stellte meinen Tee auf dem Schreibtisch ab, sah ihn fragend an. Er schüttelte zu meiner Erleichterung den Kopf. »Bisher nichts.« Für einen Moment überlegte ich, ob ich ihm von der Wette erzählen sollte, schließlich würde es seine Arbeit auch beeinflussen. Aber dann würde er mich für irre erklären und ich beschloss, es zu lassen. Ich starrte lethargisch das Telefon an, als könnte ich damit die Stille erzwingen. Doch ich saß noch nicht mal, da klingelte es schon. Verdammt. Vielleicht sollte ich lieber mit Cho wetten, ob es um Thawat ging oder nicht, wahrscheinlich würde ich dann reich werden. »Guten Abend, Revier 23, sie sprechen mit Captain Niran. Wie kann ich helfen?« Wir beantworteten meistens Anrufe von Bürgern, aber ab und zu halfen wir auch bei Notfällen oder hörten den Funk mit. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cho schon den nächsten Anruf annahm. Am anderen Ende der Leitung hörte ich eine ältere Dame sagen: »Captain, ich bin froh, dass ich Sie erreiche. Bei uns wurde eingebrochen.« Ich ließ mir die Adresse geben, schnappte mir Cho und wir machten uns auf den Weg. Den anderen Fall gaben wir an die Zentrale weiter. Ich als Schichtleiter musste alles koordinieren, konnte aber nicht überall sein. Daher war es wichtig, dass ich mein Handy immer aufgeladen und das Funkgerät eingeschaltet hatte. Wahrscheinlich wird es meine Schuld sein, wenn wir das Nachtpersonal aufstocken müssen. Als wir ankamen, kam uns die ältere Dame schon völlig aufgelöst entgegen. »Sehen Sie, Captain Niran, sie haben unser Fenster mit einem Stein eingeschlagen und einiges von meinem Schmuck gestohlen.« Ich bat Cho sie zu beruhigen, damit ich mir den Tatort in Ruhe ansehen konnte. Wir gingen mit ihr zurück ins Haus. Ich sicherte die Spuren, machte Fotos von den durchwühlten Schubladen. »Haben Sie gesehen, wer bei Ihnen eingebrochen ist?«, hörte ich Cho fragen. Das interessierte mich auch brennend. Nur weil Thawat derjenige war, der das Viertel in Angst und Schrecken versetzte, gab es durchaus auch noch Verbrechen an denen er, scheinbar, nicht beteiligt war. »Es tut mir Leid, ich weiß es nicht. Wir sind erst von dem Geräusch wachgeworden, doch als ich nachsehen wollte, war keiner mehr da.« Okay, wir würden schon herausfinden, wer dahintersteckte. Sorgfältig achtete ich darauf, jede mögliche Spur mitzunehmen. Als ich damit fertig war und aus dem Haus trat, rannte ich fast jemandem in die Arme. Der hatte mir gerade noch gefehlt. »Habt viel zu tun, oder?« Das war noch gar nichts. Ich ging an ihm vorbei, tat einfach so, als wäre er unsichtbar. Da ich ihm zu diesem Zeitpunkt nichts nachweisen konnte, hatte es auch keinen Sinn mit ihm zu sprechen. Cho kam auch raus, um mir zu sagen, dass er fertig war und sah mich erstaunt an, als Thawat vor ihm stand. »Komm‘ Cho, wir müssen zurück. Falls du nichts anderes zu tun hast, Thawat, kannst du gerne mitkommen. Wir haben eine sehr gemütliche Zelle auf dem Revier.« Wir stiegen ein. Cho schüttelte den Kopf: »Glaubst du wirklich, du kannst den Saengsuwan einbuchten? Der Vater wird dir was husten.« »Genau dafür bin ich hier. Aber wir werden einen Plan brauchen, denn er hat einige Handlanger. Die Familie von dem kann mir herzlich egal sein. Das Strafrecht gilt für alle und wir sollten denen mal endlich klarmachen, dass sie sich nicht überall rauskaufen können.« Kapitel 1: Zone 1 - Willkommen in der Hölle ------------------------------------------- Thawat »Was? Der Cop hat mit dir gewettet?«, Mi sah mich mit großen Augen an. Wir waren gerade in meiner Wohnung, die meinen Eltern gehörte. Mi ist Teil meiner Gang und eine gute Freundin von mir. Wir kannten uns schon ewig und auch wenn viele dachten wir wären zusammen, war es nicht so. Liebe war mir egal. Ich hatte Wichtigeres zu tun, als mit irgendwem rumzuschnulzen. Anders als ich ging Mi zur Uni, nahm ihre Kurse ernst und lernte. Trotzdem war sie ein Teil von uns. So wie etliche andere, die ich mit einem Fingerschnipsen mobilisieren könnte. »Hat er. Mutig, aber auch ziemlich dumm. Er wird genauso wie alle anderen Idioten vor ihm mit eingezogenem Schwanz den Bezirk verlassen. Was soll er mir schon nachweisen, wenn ich gar nichts mache?« Bisher hatte es immer geklappt. Ich ließ sie auflaufen, weil sie mir keine Taten anhängen können. Dafür hatte ich meine Handlanger. »Ja, so war es immer, Tii. Aber ich finde es schon krass, dass er sich darauf eingelassen hat. Ist das nicht bescheuert? Hat er dich dann nicht mehr am Hals als sowieso schon?« Mi fläzte sich auf mein Sofa, spielte an ihrem Handy. Währenddessen sah ich nach draußen, überlegte mir schon den nächsten Schachzug. In einem Spiel, dass nur einer gewinnen konnte. »Ziemlich bescheuert. Er kann sich auf die volle Dosis gefasst machen. Wo auch immer er vorher war, ruhige Nachtschichten wird es nicht mehr geben. Kennst mich doch.« »Soll ich den beschatten?«, fragte sie und es schwang Vorfreude in ihrer Stimme mit. Normalerweise war es auch ihre Aufgabe, da sie als Studentin mit einem durchschnittlichen Aussehen am wenigsten auffiel. Doch die Wette hatte es für mich geändert. »Lass‘ mal, Mi. Diesmal ist es Chefsache«, sagte ich und grinste. »Wie du meinst.« Meine Mission startete früh, denn am nächsten Tag um 6 Uhr morgens lungerte ich in der Nähe der Polizeistation herum. Den Wohnort würden wir vermutlich über unseren Hacker herausfinden, aber es war wichtig seine Wege und Routinen zu kennen. Cap wird wohl eine ruhige Nacht gehabt haben, denn noch hatte ich niemanden auf ihn angesetzt. Er kam in Uniform aus der Station, machte sich zu Fuß auf den Weg. Das hieß schon mal, er wohnte nicht weit weg. Mit gebührendem Abstand folgte ich ihm, beobachtete, dass er sich öfter umdrehte. Konnte nicht schaden, misstrauisch zu sein. Sein Weg führte mich in kleine, verwinkelte Gassen und ich vermutete, dass es ein Umweg war. Er blieb oft stehen, weil er von Anwohnern angequatscht wurde. Die Leute hier in der Gegend waren sehr skeptisch und auch sie wollten so viel über den neuen Polizisten wissen wie möglich. Schließlich würde er bald der wichtigste Kontakt von ihnen sein. Cap nahm sich trotz seines Feierabends Zeit für jeden, sprach mit allen, die was von ihm wollten. Er sollte die restliche Zeit, die ihm dafür blieb, auch lieber nutzen. Mehr als zwei Wochen würde er ohnehin nicht schaffen. Als er eine Tür aufschloss, sehe ich mich genau um. Mein Handy half mir dabei, die Adresse herauszufinden. Ich schickte meinen Leuten den Standort in die Gruppe. Natürlich musste es nicht zwangsläufig seine Wohnung sein, aber ich ging zunächst davon aus. Ich wollte nicht ewig davor warten, ab hier würden andere übernehmen. Daher rief ich Zeta an. »Ja, Boss?« »Ihr übernehmt heute die Beschattung für den Standort, den ich geschickt habe. Wechselt euch von mir aus ab. Ich muss alles ganz genau wissen.« »Okay. Rho und ich machen das.« »Nach 23 Uhr treffen wir uns bei mir. Bis dahin solltet ihr besser was herausgefunden haben«, ich betonte es extra deutlich. Zeta war dafür bekannt, zwischendurch mal zu sehr abgelenkt zu sein. »Alles klar.« Ich machte mich auf den Weg zu Cy, unserem Hacker. Er war meine wichtigste Informationsquelle. Es war mittlerweile ein Ritual von mir, bei einem neuen Polizisten persönlich bei ihm aufzutauchen. Cy hatte Familie, die jedoch nichts von seinen Aktionen wusste. An der Tür begrüßte er mich kurz. »Boss.« Mit einer Kopfbewegung gab er mir zu verstehen, dass ich reinkommen konnte. Wir gingen in seinen Keller, von dem die Familie nichts wusste. Hier fand der wichtigste Schritt statt: Die grundlegende Recherche. Cy setzte sich an seinen Computer: »Der Schichtleiter des 54. Bezirks, nehme ich an?« »Genau.« Er wusste schon, was auf ihn zu kam. Mehr Informationen waren nicht nötig, um uns einen Vorteil zu verschaffen. Ich lehnte mich an die Wand. Ihnen die Schicht aufzumischen war sowieso der Plan, aber das reichte mir nicht. Wir würden noch einen Schritt weitergehen und auch vor ihrem Privatleben nicht halt machen. So wurde man sie am schnellsten los. Ein paar Minuten später händigte er mir eine Mappe aus. Meine stärkste Waffe. Ich schlug sie auf, sah mir sein Foto an und setzte ein Grinsen auf. Captain Niran Kongkaew, 30 Jahre, Schichtleiter des 54. Bezirks. Willkommen in deiner persönlichen Hölle! Niran Erleichtert schloss ich die Tür hinter mir, als ich auf dem Revier ankam. Den ganzen Weg über hatte ich mich verfolgt gefühlt. Als wäre jeder Schatten gefährlich. Mir wurde klar, dass Thawat schon seine Leute auf mich angesetzt hatte. Doch er brauchte nicht glauben, dass er dieses Spiel allein spielte. »Cho, ruf‘ alle zusammen, die Dienst haben. Wir treffen uns im Meetingraum. Ach, und bring‘ bitte die Bezirkskarte mit.« Er sah von seine Computer auf: »Jetzt?« »Jetzt.« Ich schnappte mir ein Whiteboard und schob es zum Konferenzraum. Wir durften keine Sekunde verlieren. Wenn wir eine Chance haben wollten, brauchten wir eine Strategie. Er sollte nicht unterschätzen, was ich mobilisieren konnte. Langsam fanden sich alle ein, bisher leider nur fünf Leute. Ich hatte schon mit dem Bezirksleiter gesprochen. Wenn wir Glück hatten, würde er unser Personal aufstocken. Auch er wusste von dem Problem, leider aber auch alle anderen. Daher war es schwierig Leute zu finden, die sich darauf einlassen würden. Jeder ihrer Kollegen würde ihnen von der Nachtschicht im 54. Bezirk abraten. Durch den hohen Verschleiß an Schichtleitern, hatten wir diesen schlechten Ruf bekommen. Eigentlich war es ein Wunder, dass hier überhaupt noch jemand arbeitete. Alle setzten sich, sahen mich erwartungsvoll an. Cho händigte mir die Bezirkskarte aus, die ich am Whiteboard befestigte. »Wenn wir Thawat und Konsorten in den Griff bekommen wollen, müssen wir strategisch vorgehen. Von meinen Vorgängern habe ich erfahren, in welchen Bereichen sie besonders häufig unterwegs sind. Daher denke ich, es ist am besten wir teilen den Bezirk ein.« Mit einem Stift unterteilte ich den Bezirk grob in vier Bereiche. Wenn er meinte, wir würden keine Recherche betreiben, hatte er sich gewaltig geschnitten. In jedes der Kästchen schrieb ich eine Zahl. Dann deutete ich auf das erste Kästchen: »In diesem Bereich ist ein Polizeihäuschen, hier sind wir erst einmal abgesichert. Für die Bereiche 2, 3 und 4 brauche ich Leute, die patrouillieren. Ich weiß, wir sind nicht viele in der Nachtschicht. Aber dadurch können wir vermutlich den Workload an Anrufen etwas abfangen.« Darauf, dass mir keine Begeisterung entgegenkommen würde, war ich vorbereitet. Ihre Blicke sprachen Bände. »Ich kann mir vorstellen, was ihr denkt. Aber anders wird es nicht gehen.« View meldete sich zu Wort: »Captain, warum bist du dir so sicher, dass wir die Patrouille brauchen? Thawat schlägt gerne über die Stränge, aber vorher sind wir auch ohne ausgekommen. Dass die Schichtleiter reihenweise das Handtuch geworfen haben, wird nicht allein daran gelegen haben.« Das traf mich. Denn diesen Kampf würden wir nicht zuletzt auf den Schultern der Kollegen austragen. Es war nicht richtig, sie anzulügen, doch ich konnte es ihnen nicht sagen. Ich ließ die Schultern sinken. Diese blöde Wette hatte mich als Schichtleiter auf ganzer Linie versagen lassen. Doch es gab kein Zurück und ich musste da irgendwie durch. »Glaubt mir bitte, wir werden jeden brauchen, den wir kriegen können. Es kann sein, dass wir eine Personalaufstockung bekommen.« Ich atmete tief aus: »Schaffen wir das als Team?« Mir war klar, dass es diese Frage sehr gewagt war, sie kannten mich schließlich kaum. Andererseits war es bei der Polizei unabdingbar, zusammenzuarbeiten. Ohne den Rückhalt des Teams würde ich mit wehenden Fahnen untergehen. Ich sah jedem Einzelnen in die Augen, konnte eine Mischung aus Unsicherheit und Entschlossenheit in ihren Blicken erkennen. View stand auf: »Natürlich machen wir das als Team. Aber du musst versprechen, dass du uns nicht im Stich lässt. Wir sind es langsam leid, alle zwei Wochen mit jemand neuem arbeiten zu müssen.« Das war definitiv etwas, was geändert werden musste. Und zwar so schnell wie möglich. Ich setzte einen entschlossenen Blick auf, mein Puls erhöhte sich: »Ich werde euch nicht im Stich lassen.« Ich hoffte inständig, dass es keine leeren Worte bleiben würden. Ich teilte die Leute ihren Bezirken zu, die sie jeweils für eine halbe Schicht bewachen würden und beendete das Meeting. Wieder im Büro, vertiefte ich mich erneut in die Recherche. Die Vorgänger waren geistesgegenwärtig genug gewesen, alles über Thawat und seine Gang festzuhalten. Ich versuchte mir die Gesichter der Leute genau einzuprägen. Als ich jedoch die Berichte über ihre Taten las, musste ich ein paar Mal schlucken. Sie machten vor nichts und niemandem halt. Einbruch, Hausfriedensbruch, Diebstahl. Doch vor allem Körperverletzung schlug mir oft entgegen. Der schlimmste Fall war allerdings eine Entführung eines Polizisten, bei der sie Lösegeld erpresst hatten. Kriminelle hatten meist ein Motiv. Stahlen, weil sie kein Geld hatten oder schlugen sich wegen Eifersucht. Warum zum Teufel hatte es sich Thawat es zur Lebensaufgabe gemacht, uns das Leben schwer zu machen? Es interessierte mich, denn entweder er hatte ein Problem mit Polizisten oder viel zu viel Langeweile. Ich zog eine psychische Störung in Betracht. Oder er war einfach nur ein Idiot. Wie auch immer, ich wollte es herausfinden. Vielleicht könnten wir es ändern, wenn wir nur die Gründe wussten. Die Leute einzubuchten war natürlich eine Lösung, um das Viertel friedlicher zu machen. Aber auf Dauer wäre es besser, zu wissen, was sie antrieb. »Cap?«, Cho holte mich aus meinen Gedanken. »Ja?« »Ich weiß nicht, ob das mit der Patrouille so eine gute Idee ist. Es fühlt sich an, als würden wir die Kollegen ans Messer liefern.« Chos besorgter Blick war unmissverständlich. Und bei ihm würde ich die letzten Zweifel auch nicht ausradieren können. »Ich weiß, dass es riskant ist. Aber es ist wichtig, damit wir ein paar Sachen präventiv verhindern können. Die Bürger werden sich auch sicherer fühlen«, es klang nicht so überzeugt, wie ich es gerne hätte. Enttäuscht wandte er sich wieder seinem Computer zu: »Okay.« Die Schicht verlief beängstigend ruhig. Ich war weiterhin damit beschäftigt, Thawats Hintergründe zu verstehen. Sein Vater war Großunternehmer in der Stahlindustrie, die Firma kannte sogar ich. Sie waren eine der reichsten Familien in der Stadt. Somit lieferten sie für Thawat vermutlich das beste Beispiel für Korruption. Er hatte auch noch einen Bruder, der aber noch nie kriminell in Erscheinung getreten war. Thawat gehörte zu den Leuten, die mir zuwider waren. Ruhten sich auf fremdem Reichtum aus und machten unschuldigen Leuten das Leben schwer. Ich spürte die Wut in mir aufsteigen. Auch wenn es nicht jedes Problem lösen würde, für ihn wäre es höchste Zeit, mal eine Zelle von innen zu sehen. Nicht nur mein Pflichtbewusstsein gegenüber der Gesellschaft und den Kollegen, auch mein Ehrgeiz trieb mich an. Ich konnte ihn unter keinen Umständen gewinnen lassen. Mittlerweile war es 2 Uhr nachts, Cho war zu einem kleineren Fall aufgebrochen. Trunkenheit am Steuer. Die anderen Kollegen waren auf ihrer Patrouille, also war ich allein. Die Polizeistation stand auch nachts den Bürgern offen, doch das Büro war noch durch eine Art Rezeption abgesichert. Das heißt weiter als bis dort, würde niemand kommen. Zumindest nicht, wenn wir ihn nicht reinließen. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, sah seufzend auf meinen Schreibtisch. Ein einziges Chaos. Überall lagen aufgeschlagene Akten herum, doch ich war zu müde, sie einzusortieren. Stattdessen ging ich nach draußen, in der Hoffnung, die kalte Luft würde meine Müdigkeit vertreiben. Als sie mir entgegenschlug, half es auch für einen kurzen Moment. Ich blieb direkt vor der Tür stehen, hatte für alle Fälle das Handy und Funkgerät dabei. Es würde vermutlich die letzte ruhige Schicht werden. Ich sah mich um, das Licht über der Tür und die Straßenlaternen erleuchteten die Straße schwach. Unsere Station lag in einer Seitenstraße, daher war weder tagsüber noch jetzt viel Verkehr. Ich wollte die angenehme Luft etwas genießen, erlaubte mir kurz die Augen zu schließen. Ich riss sie sofort wieder auf, als mir jemand einen Arm um die Schulter legte. Braune Augen funkelten mich herausfordernd an. Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dieses fiese Grinsen würde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen. »Na, Cap? Habt ihr euch schon eine Strategie überlegt?«, fragte Thawat. Kapitel 2: Zone 2 - Einer von uns --------------------------------- Niran Für einen Moment verharrte ich in meiner Schockstarre, dann stieß ich ihn von mir. Ging noch ein paar Schritte zurück. Thawat grinste immer noch. »Haben wir. Danke der Nachfrage«, sagte ich abweisend, versuchte ihn im Blick zu behalten. Auch heute war er ganz in schwarz gekleidet, die roten Strähnen wurden durch das schwache Licht erleuchtet. Ich musste auf jeden Fall vorsichtiger sein, wenn er es schaffte, sich so an mich anzuschleichen. Das Letzte, was ich brauchte war mit irgendwelchen Gangstern auf Kuschelkurs zu gehen. Abstand bedeutete auch Respekt für mich. Er sah durch unsere Glastür ins Innere. »Du bist alleine, Cap? Was für ein Timing. Schade, dass wir deine Entführung erst für später geplant haben.« Thawat ließ es klingen, als sei es keine Drohung, sondern etwas ganz Normales. Währenddessen wurde mir heiß und kalt bei diesem Gedanken, doch ich musste Ruhe bewahren. Lässig lehnte er sich an die Tür, zündete sich eine Zigarette an. Ich schüttelte mich. Was sollte mir dieser Halbstarke schon tun? Ich bin ausgebildeter Polizist, ich werde mich wohl zu wehren wissen. Das Timing war tatsächlich gut, denn das war meine Chance, der Sache auf den Grund zu gehen. »Thawat«, begann ich. Er bliess den Rauch in die Luft, sah mich an. In seinem Blick lag kein Hass, es war etwas anderes. Etwas, was ich nicht deuten konnte. »Warum machst du das?«, versuchte ich es direkt. Thawat ließ die Zigarette sinken, für einen kurzen Moment sah ich Überraschung in seinem Gesicht aufblitzen. Vermutlich hatte ihn das vorher niemand gefragt. Dann schnaubte er verächtlich: »Was willst du von mir hören, Cap? Dass ich ‘ne düstere Vorgeschichte oder einen guten Grund habe?« »Zum Beispiel.« Abfällig schüttelte er den Kopf. Auch wenn es nicht leicht war, versuchte ich so viel wie möglich den Blickkontakt zu suchen. »Träum‘ weiter. Vielleicht solltest du dich mit der Idee anfreunden, dass es auch einfach schlechte Menschen gibt.« Ich seufzte schwer. Natürlich würde er es mir nicht beantworten. Ich beschloss das mit dem schlechten Menschen jedoch erst zu glauben, wenn ich es mit eigenen Augen sah. Ich fragte mich, was für ein Bild wir gerade abgaben. Die Bürger würden sich vermutlich wundern, wenn der Schichtleiter einen gemütlichen Plausch mit dem Gangster vor der Polizeistation abhielt. Ich ging nicht auf seine Äußerung ein. Irgendein Motiv musste es geben. Innerlich hoffte ich, dass gerade niemand zur Station zurückkommen würde. Thawat sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an: »Hast du keine Angst vor mir, Cap?« Jedes Mal, wenn er meinen Titel abkürzte, als würden wir uns schon Jahre kennen, zog sich alles in mir zusammen. Es war unpassend und viel zu vertrauensselig. Ich wusste, dass es Teil seiner Psychospielchen war, mich von oben herab zu betrachten. Außerdem sollte es uns falsche Sicherheit vermitteln. Ich lachte gespielt: »Angst? Vor dir? Ich bitte dich.« Ich war vorsichtig, weil ich mich mit solchen Leuten auskannte. Angst hatte ich nicht. Nicht, solange ich die Situation unter Kontrolle hatte. Langsam veränderte sich sein Blick. Achtlos warf er die Zigarette weg, kam auf mich zu. Ich wich nicht zurück. Wenn ich jetzt nicht zu meinen Worten stand, wäre es unglaubwürdig. Abstand schien ein Fremdwort für ihn zu sein, denn er blieb erst stehen, als unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. Provokation. Ruhig bleiben, Captain. In meinem Kopf spielten sich gerade sämtliche Deeskalations-Seminare ab, die ich jemals besucht hatte. »Dann wird es höchste Zeit, dass wir das ändern. Wenn wir euren Bezirk aufgemischt haben, frage ich dich nochmal«, zischte er mit einem bedrohlichen Unterton. Auch wenn der Geruch des Zigarettenrauchs und mein Herzklopfen wegen der Konfrontation kaum auszuhalten waren, setzte ich ein Grinsen auf. Was du kannst, kann ich schon lange. »Mach‘ das ruhig, Thawat. Die Antwort wird sich nicht ändern«, flüsterte ich. Seine Augen verengten sich. Er kam noch näher, sodass ich keine Wahl hatte und zurückweichen musste. »Gut zu wissen. Dann sollten wir diesmal wohl härtere Geschütze auffahren.« Thawat legte mir die Arme auf die Schultern und ich bekam Gänsehaut. »Ich finde es sowieso spannender, wenn meine Spielzeuge nicht so leicht nachgeben.« Ich schüttelte ihn von mir ab. Diese Worte ließen mich schaudern. Egal ob er gefährlich war oder nicht, was er sagte, verfehlte seine Wirkung nicht. Als er Anstalten machte zu gehen, wollte ich gerade erleichtert aufseufzen. Doch er drehte sich noch einmal um: »Gewöhn‘ dich lieber an mich. Wir sehen uns jetzt öfter. Auf gute Zusammenarbeit!« Thawat verschwand in der Dunkelheit und ließ mich verwirrt zurück. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cho mit dem Auto zurückkam. Er lief auf mich zu, legte mir die Hände an die Arme. »Cap, bist du okay? Was hat Thawat mit dir gemacht?« Ich sah durch Cho hindurch, musste diese Begegnung erst mal verarbeiten. »Er hat…mit mir geredet«, gab ich zurück. »Was hat er gesagt?«, Cho trat von einem Fuß auf den anderen und es machte mich noch nervöser. Meine Kollegen würde ich mit diesem Geschwafel bestimmt nicht behelligen. Durch die Wette fühlte es sich mehr wie etwas Persönliches an. »Nichts Wichtiges.« Doch Cho schien das nicht zu reichen: »Dafür siehst du aber ganz schön verwirrt aus, Cap.« Vielleicht sollte ich meinen Titel ändern lassen. Die Verwirrung kam daher, dass Thawat das Konzept von Abstand nicht kannte. Ich nahm seine Hände runter und ging in Richtung Tür. »Es ist alles gut, Cho. Ich habe den schon im Griff.« Und wieder musste ich lügen. Denn ich war mir gar nicht sicher, ob das wirklich der Fall war. Thawat Ich lief zurück zu meiner Wohnung. Die Anderen würden auch da sein. Für die letzte Lagebesprechung vor dem Angriff. Ich ließ mir das Gespräch mit Cap durch den Kopf gehen. Er war einer der interessanteren Gegenspieler, die ich seit langem hatte. Einerseits war er nicht so langweilig, wie die Alten, die sich auf nichts einließen. Andererseits konnte ich spüren, dass meine Worte etwas in ihm auslösten. Es war interessant, gleichzeitig hatte es das Potential mich zur Weißglut zu treiben. Ich würde ihm schon zeigen, was Angst bedeutet. Als ich ankam, waren wie erwartet alle da. Mi auf der Couch, Zeta und Rho zockten irgendwas, Alpha stand gelangweilt in der Gegend herum. Wie immer, wenn er niemanden zusammenschlagen konnte. Mein Blick fiel auf das Whiteboard der letzten Besprechung, dort standen alle Details über Cap. Seine Routine war auch nicht schwer herauszufinden, da er entweder arbeitete oder schlief. Keine Familie, keine Verpflichtungen. Seine Schwester wohnte nicht in Bangkok, seine Eltern jedoch schon. Falls sie ein gutes Verhältnis hatten, würden wir genau dort ansetzen. »Tii, mir ist langweilig«, Alpha kam auf mich zu. Wenn man ihn nicht kannte, konnte man ihn mit den braunen Haaren und braunen Augen glatt für den netten Typen von nebenan halten. Doch wenn man ihn kannte, wusste man, dass er genau das Gegenteil war. Alpha schreckte vor nichts zurück. Er war mein bester Freund und bester Mann. Loyal bis in den Tod. Zeta und Rho waren auch gute Freunde von mir. Auch sie könnte man für harmlos halten. Doch wenn sie einmal in ihrem Modus waren, waren sie nicht mehr zu stoppen. Zeta war zwischendurch ein bisschen neben der Spur. Ich hatte keinen Plan, was in seinem Kopf abging. Diese Wohnung war mehr ein Hauptquartier als eine richtige Wohnung. Ich kam meist nur tagsüber zum Schlafen. Schließlich konnten auch meine Leute kommen und gehen, wann sie wollten. Daher musste ich mein Schlafzimmer öfter abschließen. Ich räusperte mich und alle sahen mich an. »Also, ich habe mit Cap gesprochen und festgestellt, dass der viel zu überheblich ist. Ich will ihm nicht nur die Schicht unerträglich machen. Ich will, dass er und seine Leute vor Angst erstarren, wenn sie auch nur einen von uns sehen.« Zetas weiße Haare leuchteten, als er eifrig nickte. »Geht in eure Bezirke, ruft eure Leute an. Ich glaube, die brauchen ein bisschen Arbeit.« Das war das Signal, Zeta und Rho sprangen auf. Alpha sah mich an. In seinen Augen lag die pure Mordlust. Genauso musste es sein. »Irgendwelche Regeln oder Ausnahmen?« »Nein. Ab jetzt ist alles erlaubt.« Während ich mit Genugtuung zusah, wie sie nach und nach das Haus verließen, plante ich den nächsten Coup. Dafür reichte ein Anruf. »Ich hab‘ dir vorhin geschrieben, was ich diesmal vorhabe. Kriegst du das hin?« »Klar. Übermorgen ist das geregelt.« Meine Arbeit war damit getan und ich brauchte mir das Schauspiel nur noch aus der Nähe ansehen. Ich würde der Station das Leben schwer machen und musste nicht einmal selbst einen Finger dafür rühren. Mal sehen, wie lange du das durchhältst, Cap. Niran Zwei Tage später wurde ein neuer Kollege vorgestellt. Es war gegen Mitternacht und wir hatten schon genug zu tun. Der Bezirksleiter hatte gesagt, dass es noch nicht von der Personalaufstockung war. Das spielte jedoch keine Rolle, ich freute mich über jede Verstärkung. Noch besser, der neue Kollege war kein Anfänger, sondern wurde von einem anderen Bezirk hierher versetzt. Selbstverständlich würde ich auch neue Kollegen ausbilden, doch aktuell wäre das nicht mehr als der Sprung ins kalte Wasser. »Mein Name ist Jiraphat, aus dem 42. Bezirk. Ihr könnt mich Jira nennen«, sagte er, als er vor uns stand. Gerade waren wir nur zu dritt, daher war der Applaus eher verhalten. Jira kam auf mich zu, begrüßte mich mit dem traditionellen Gruß. »Willkommen, Jira. Ich bin der Schichtleiter, Captain Niran.« »Freut mich.« Ich wies ihm seinen Schreibtisch zu, ganz in der Nähe von meinem. Unsere Station war ziemlich groß, aber durch die wenigen Leute auch ziemlich leer. »Ich hoffe du lebst dich schnell ein und man hat dir gesagt, dass wir gerade viel zu tun haben«, er sollte schließlich sofort mit der Wahrheit konfrontiert werden. Es waren erst zwei Tage, trotzdem verfolgte mich das Klingeln des Telefons schon in den Schlaf. Jira lachte und irgendetwas daran ließ mich stutzig werden. Es kam mir bekannt vor. Aber wieso das? Ich kannte niemanden aus dem 42. Bezirk. Der, davon abgesehen, auch nicht gerade um die Ecke war. Ich schüttelte diesen Gedanken ab. »Ja, keine Sorge. Ich bin bestens informiert, Cap.« Die meisten Bezirke funktionierten nach dem gleichen System, trotzdem ließ ich ihm von Cho einiges erklären. Wenn ich selbst nicht schon drei Fälle von Diebstahl auf dem Tisch hätte, würde ich es selbst machen. Thawat ließ es sich natürlich nicht nehmen, jeden Tag hier aufzutauchen. Ich war ein friedliebender Mensch, aber manchmal würde ich ihm das Grinsen schon gerne…Belangen zu seinen Taten konnten wir ihn nicht. Er war nie am Tatort, vermutlich kannte er die Hintermänner seiner eigenen Leute nicht. Er sah sich selbst vielleicht als Gangster, in Wirklichkeit gab er nur die Befehle. Der Trick war leicht zu durchschauen. Wegen ihm machten alle das Viertel unsicher, die Fälle stapelten sich und man versank darin. Dadurch, dass man ihm selbst nichts anlasten konnte, ging das einfach weiter. Irgendwann waren die Schichtleiter frustriert und ließen sich versetzen. Dann hatte er sein Ziel erreicht und das Spiel begann von vorne. Weil sie eben an die Wurzel des Übel nicht herankamen. Seine Strategie funktionierte, aber ich würde nicht so einfach aufgeben. Ich wollte versuchen es zu verstehen. Vielleicht tat er es auch nur, um von anderen Taten abzulenken. »Was?«, hörte ich Thida am Ende des Raums ins Telefon rufen und schreckte auf. Sie stand mit dem Hörer in der Hand auf. Unsere Blicke trafen sich. »Ja, ich leite dich weiter«, sagte sie. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Neue Fälle waren nichts, auf das sie so reagieren würde. Dann klingelte es bei mir. Der Ton ging mir durch Mark und Bein und ich beschloss, ihn demnächst zu ändern. »Ja?« »Cap, ich bin‘s, Nawin im 2. Bezirk. Ich wurde verletzt!« In mir schrillten alle Alarmglocken. Natürlich würden sie vor unseren Leuten auch nicht halt machen. Eine Hiobsbotschaft, wie sie im Buche stand. »Hast du schon einen Krankenwagen gerufen?« »Habe ich.« »Alles klar. Gib‘ deinen Standort durch, wir sind unterwegs.« Das musste ich selbst übernehmen. Sie wollten unsere Grenzen testen. Eigentlich sollten wir dieses widerliche Spiel nicht mitspielen, aber wir hatten keine Wahl. Cho und Thida waren anderweitig eingebunden, daher nahm ich Jira mit und fuhr mit ihm in den 2. Bezirk. Das Blaulicht des Krankenwagens war nicht zu übersehen, als wir eintrafen. Nawin saß auf der Liege im Krankenwagen, das Bein in einem Verband. Wieder kam das schlechte Gewissen in mir auf. Ich war daran schuld, dass es meinen Leuten schlecht ging. Cho hatte Recht, ich hatte sie durch die Patrouille ans Messer geliefert. Ich betrat den Krankenwagen, schaffte es kaum, Nawin in die Augen zu sehen. »Wie geht’s dir?« Er starrte auf sein Bein: »Es geht schon. Cap, es tut mir leid.« Als Nawin den Kopf hängen ließ, fühlte ich einen Stich in meiner Brust. Ich konnte ihn nicht in dem Glauben lassen, dass es seine Schuld war. Daher nahm ich seine Hand: »Du kannst nichts dafür, okay? Du hast nur deine Arbeit gemacht.« In seinen Blick schlich sich ein Flehen, was es für mich nur noch schwerer machte. »Ja, aber wir haben schon so wenige Leute. Ich habe mich nur am Bein verletzt, ich kann doch noch Büroarbeit machen!« »Ganz bestimmt nicht. Du sagst uns genau, was passiert ist und dann ruhst du dich im Krankenhaus aus.« Ich würde nicht verantworten, dass jemand verletzt zur Arbeit kam. Langsam merkte ich, wie mich das alles schlauchte. Es waren nur verdammte zwei Tage. Nawin erzählte uns, dass ihn zwei Jugendliche auf einem Roller angefahren hatten und auch sehr rücksichtslos unterwegs waren. Seiner Schilderung nach zu urteilen war es allerdings kein Unfall, da sie ihn direkt angefahren hatten. Nawin war professionell genug, bereits eine Fahndung mit Aussehen und Kennzeichen rausgegeben zu haben. Wie ich ihn kannte, hatte er das gemacht, bevor er den Krankenwagen gerufen hatte. Jira blieb bei ihm, während ich einen der Sanitäter zur Seite nahm. »Ich bin sein Vorgesetzter. Wie sieht es aus?«, ich traute mich kaum, diese Frage zu stellen. »Bisher können wir nichts genaueres sagen, Captain. Aber wir nehmen an, dass das Bein gebrochen ist.« Ich konnte gerade noch so einen Seufzer unterdrücken. Das hieß im Umkehrschluss, dass Nawin wochenlang ausfallen würde. Ich sah mich schon Albträume haben, wie ich in Akten versank. »Vielen Dank.« Kurz schloss ich die Augen. Arbeiten, Captain. Ich war Schichtleiter, hatte die Verantwortung, dann durfte ich mich auf keinen Fall der Verzweiflung hingeben. »Jira, du fährst bitte mit ins Krankenhaus und kümmerst dich um den Papierkram. Ich werde derweil die Fahndung bewachen.« Mir blieb nichts anderes übrig, als dem Krankenwagen hinterherzusehen und meine Entscheidungen zu überdenken. Meine Patrouille für den 2. Bezirk war ausgefallen und daher würde selbst der Neue nichts mehr ausgleichen können. Wir waren wieder bei Null. Seufzend ging ich zurück zum Auto, musste schon Halluzinationen haben. An meinem Auto lehnte Thawat. Woher wusste er immer, wo ich war? »1:0 für uns, würde ich sagen«, er lehnte genau an der Fahrertür, sodass ich nicht einsteigen konnte. Ich verstand jeden Schichtleiter, der schreiend das Weite gesucht hatte. Doch ich würde den Bezirk beschützen, egal was ich dafür einsetzen musste. Wie konnte man darüber glücklich sein, gerade jemanden verletzt zu haben? Das war krank. Langsam beschlich mich der Glaube, dass er doch einfach ein schlechter Mensch war. In diesem Moment kam ein Funkspruch rein. »Streife 12 an 54. Hören Sie?« »Höre.« »Wir haben die beiden Jugendlichen auf dem Roller an der Ecke aufgelesen. Dank‘ der präzisen Angaben des Kollegen konnten wir die ziemlich leicht finden. Wir bringen die zu euch auf die Station.« »Vielen Dank. Gute Arbeit.« Dieser kleine Erfolg fühlte sich so verdammt gut an. Diesmal war ich es nämlich, der das Grinsen aufsetzen konnte. Ich legte Thawat eine Hand auf die Schulter: »1:1 würde ich sagen. Und jetzt lass mich ins Auto. Ich muss arbeiten.« Trotz allem schaffte ich es, diesen kleinen Triumph auf der Rückfahrt zu genießen. Der 54. Bezirk würde das aushalten. Und ich auch. Dafür betete ich. Kapitel 3: Zone 3 - Burnout --------------------------- Thawat Genervt trat ich gegen eine Mülltonne. »Er gibt einfach nicht auf!«, rief ich in die Nacht. Alpha und ich hingen an unserer üblichen Straßenecke rum und ich musste meine Wut an irgendetwas auslassen. Es war schon mehr als eine Woche vergangen, wir hatten eine Patrouille ausgeschaltet, doch Cap machte keine Anstalten zu gehen. Normalerweise reichte es und in dieser Zeit gab es schon die ersten Anzeichen. Nichts. Und es machte mich nervös, vor allem wenn ich an die Wette dachte. Ich würde mir bestimmt nicht die Blöße geben, gegen einen Cop zu verlieren. Alpha lehnte an einem Geländer, sah mir beim Abreagieren zu. »Hat J irgendetwas gesagt?«, wollte er wissen. Es gab einfach von keiner Seite irgendetwas Gutes zu melden. Ich hörte auf und lehnte mich ebenfalls an. Ich musste mir auf die Zähne beißen, um nicht völlig auszurasten. »Ja, nämlich, dass Cap noch einigermaßen klarkommt. Das kotzt mich an!« Alpha rieb sich die Hände: »Soll ich ihn zusammenschlagen?« Es war nicht, als hätte nicht bereits darüber nachgedacht. Schüttelte trotzdem den Kopf: »Nein, Alpha. Das wäre zu einfach. Ich brauche eine neue Strategie. Irgendetwas unverzeihliches, was selbst Cap nicht mehr tolerieren kann«, erwiderte ich. Wenn ich ihn schon nicht mit Arbeit überfordern konnte, musste es anders gehen. Ich legte meinem Kumpel eine Hand auf die Schulter, sah ihn herausfordernd an: »Wann hast du das letzte Mal jemanden entführt?« Sofort sah ich die Aufregung in seinen Augen aufblitzen: »Viel zu lange her, Tii. Hast du was für mich?« Wenn man ihn nicht kontrollieren würde, hätte der Bezirk vermutlich ein viel größeres Problem. »Noch nicht. Sollte Cap in den nächsten Tagen immer noch nicht nachgeben, kannst du dich schon mal drauf einstellen.« Ich brauchte das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Noch funktionierte es nicht wie ich es wollte. »Dann hoffe ich den Auftrag zu bekommen, Tii. Was willst du jetzt machen?« »Ich würde mich gerne abreagieren, aber dafür würden legale Wege nicht ausreichen«, ich biss die Zähne zusammen. »Aber du weißt, dass ich keine Spuren hinterlassen darf.« Es war frustrierend, aber sobald irgendetwas auf mich zurückfiel, war das Spiel vorbei. Das konnte ich nicht riskieren. »Sollen wir uns schlagen?«, Alpha hatte die Fäuste schon im Ansatz. Das würde der auch machen. Seufzend drückte ich seine Fäuste runter: »Glaubst du ich will sterben, oder was?« Ich war vielleicht verrückt, aber nicht so lebensmüde, mich mit ihm auf einen Kampf einzulassen. Dafür hatte ich genug Opfer von ihm gesehen. Er legte mir einen Arm um die Schulter: »Hast du Angst, Boss?« Lächelnd schüttelte ich ihn ab: »Ich weiß nur, dass ich gegen dich keine Chance habe. Du wirst ja wohl kaum den Boss zusammenschlagen, oder?« »Nee, aber ich werde ihm zeigen, was wir vorhaben.« Alpha zog mich mit und ehe ich mich versah, waren wir schon wieder in der Nähe der Polizeistation. Doch diesmal auf der anderen Seite, wo die Parkplätze waren. »Also?«, mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich ihn an. »Ich habe mir überlegt, ich lasse meine Jungs ein bisschen zündeln. Cap wird ein, zwei Autos sicherlich nicht vermissen«, wie aufs Stichwort zündete er sich eine Zigarette an. »Was sagst du, Boss?« »Verdammt, Alpha. Du bist echt eiskalt. Eine sehr gute Idee, das wird Cap eine Weile beschäftigen.« Niran (ein paar Stunden vorher) Vor meiner Schicht wollte ich Nawin im Krankenhaus besuchen. Als ich ins Zimmer kam, saß eine schwangere Frau an seinem Bett. Er stellte sie mir als seine Ehefrau vor, dann setzte ich mich auch zu ihm ans Bett. Die Hälfte des Zimmers sah aus wie eine Gärtnerei, da hatte ihm wohl nicht nur das Revier Blumen geschenkt. Seine hochschwangere Frau war für ihn ein deutlich schlechter Zeitpunkt, verletzt zu werden. »Nawin, wie geht es dir?«, fragte ich. »Cap, solltest du nicht schlafen? Ich freue mich, dass du trotz eures Workloads vorbeischaust.« Leider hatte er Recht, denn die Schichten waren einfach nicht mehr dieselben. Die Beschwerden und Fälle häuften sich, ich tat mich fast schwer damit, zur Station zu kommen. Wir konnten kaum Pausen machen, geschweige denn einen pünktlichen Feierabend. Seit Tagen hatte ich kaum geschlafen, musste immer wieder gegen die Müdigkeit ankämpfen. Manchmal musste ich einfach bleiben, weil wir die Arbeit sonst nicht schafften. Der Bezirksleiter hatte zwar die Freigabe für die Aufstockung bekommen, aber noch fand sich niemand, der bei uns arbeiten wollte. Kein Wunder, selbst ich hatte mich schon bei dem Gedanken erwischt, aufzugeben. »Klar nehme ich mir Zeit für meine Leute.« »Das ist lieb. Ich habe zwar noch Schmerzen, aber es ist auszuhalten. Ich beeile mich, schnell wieder einsatzbereit zu werden«, er salutierte und ich musste sogar lachen. Einfach eine gute Seele. »Aber dann bist du hoffentlich noch da, oder Cap?« Was sollte ich schon sagen? Ich wollte nicht ständig lügen, so würden wir nie Vertrauen im Team aufbauen können. »Ich hoffe es sehr, versprechen kann ich aber nichts.« Ich wollte uns damit aber nicht die Stimmung verderben, daher wandte ich mich an seine Frau: »Wann ist es so weit?« Liebevoll strich sie sich über den Bauch. Ihre schwarzen Haare waren so lang, dass sie darauf fielen. »In einem Monat ungefähr. Wir sind schon sehr aufgeregt.« Es war eine willkommene Abwechslung für mich, darüber zu sprechen und vor allem zu sehen, wie sie sich freuten. Ab und zu eine gute Nachricht würde mir jetzt guttun. »Euer erstes Kind?«, fragte ich. Beide nickten. Ich selbst hatte keine Erfahrung damit, konnte mir jedoch vorstellen, dass es aufregend war, das erste Mal Eltern zu werden. Meine Schwester hatte ein Kind, sie wusste das sicher besser. »Ich wünsche euch alles Gute. Und du Nawin, konzentrierst dich auf deine Genesung und deine Familie.« »Roger, Cap. Kann ich dich kurz allein sprechen?« Seine Frau verstand und verließ den Raum. In mir kamen die Sorgen direkt wieder hoch. Was konnte wichtig genug sein, dass sie es nicht hören sollte? »Was ist los?«, ich legte die Stirn in Falten. »Jira ist mit mir ins Krankenhaus gefahren und ich finde ihn seltsam. Klar, er ist neu, das hat er mir auch erzählt. Aber er hat sehr viele Fragen über dich gestellt, Cap.« Zunächst fand ich das nicht allzu ungewöhnlich, dass man etwas über seinen Vorgesetzten wissen wollte. Obwohl Nawin sicherlich nicht die beste Quelle war, um über mich Auskunft zu geben. »Was soll daran seltsam sein?« Nawin legte seinen Hände in den Schoß: »Diese Fragen, Cap. Über deine Familie. Wo deine Eltern wohnen und solche Dinge. Für mich sind das keine Dinge, die man über seinen Chef wissen muss.« Ich beschloss es im Hinterkopf zu behalten, doch zunächst reichte es mir, es als reine Neugier abzutun. Solche Leute gab es immerhin auch. »Okay, verstehe. Es ist gut, dass du mich informiert hast. Aber gehen wir erst mal davon aus, dass Jira einfach sehr neugierig ist.« Ich verließ das Krankenhaus, um zu versuchen, bis zu meiner Schicht noch ein bisschen zu schlafen. Viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Die Gedanken hörten überhaupt nicht mehr auf zu kreisen. Draußen empfing mich schönes Wetter mit wolkenlosem Himmel. Bevor ich jedoch die Treppen hinunterging, sah ich mich um. Weit und breit kein Anzeichen von Thawat. Wenigstens würde mir sein Anblick dann einmal am Tag erspart bleiben. Ich ging in Richtung der Bushaltestelle, versuchte die Ruhe zu genießen. Doch beim nächsten Schritt musste ich stehenbleiben. Plötzlich begann sich alles zu drehen. Ich schaffte es, mich an einem nahegelegenen Geländer festzuhalten. Dadurch fiel ich nicht um und nach einem Moment war es wieder vorbei. Ich schüttelte mich und setzte meinen Weg fort. Der Letzte, der jetzt ausfallen konnte, war ich selbst. Schon als ich auf dem Revier ankam, herrschte heilloses Durcheinander. Ständig klingelte ein Telefon, an unserem Empfang waren auch ein paar Leute. Bevor ich mich selbst ins Chaos stürzte, verschwand ich in unserer Umkleide. Dort schloss ich kurz die Augen. Ein stechender Schmerz fuhr mir in den Kopf. Manchmal wünschte ich, man könnte sowas einfach abstellen. Ich trank noch einen Schluck Wasser, atmete tief durch und ging dann ins Büro. Die Patrouille hatte ich vorerst abgezogen, daher waren wir gerade zu fünft. Ich ging kurz zu jedem, um mich briefen zu lassen. Bei Thida waren es Vandalismus und Einbrüche. Bei Cho saß jemand, der verprügelt wurde. Jira bearbeitete Diebstähle und Sachbeschädigungen. Fah versuchte einigermaßen den Empfang zusammenzuhalten. Dort wurde dringend Hilfe gebraucht, also beschloss ich das zuerst in den Griff zu bekommen. Mehr als zehn Leute hatten sich in unserem kleinen Vorraum versammelt. Ich trat durch die gesicherte Tür, sofort schlug mir der Lärm in doppelter Lautstärke entgegen. Einige der Leute wollten auch auf mich zueilen. Ich streckte meine Arme aus, um sie von mir fernzuhalten. »Hören Sie mir bitte zu!«, ich hob meine Stimme, um die Aufmerksamkeit von allen zu bekommen. Es wurde still. Na bitte. »Wir haben den Bezirk in vier Bereiche eingeteilt. Sie sagen meiner Kollegin, wo Sie wohnen und werden dann einem der Bereiche zugewiesen. Dann können sie gerne Ihr Anliegen vortragen. Ich würde Sie bitten, dies geordnet zu tun. Nehmen Sie bitte Rücksicht auf die Kollegen, wir sind aktuell etwas unterbesetzt.« Meine Worte schienen zu wirken, denn es kehrte etwas Ordnung ein. Manchmal musste man eben ein Machtwort sprechen. Als Schichtleiter wurde man wohl eher ernstgenommen. Fah sah mich dankbar an, konnte wieder ihre Arbeit machen. Wenn das so weiter ging, würden wir ein Callcenter mit Warteschleife einrichten müssen. Zu meinen Kopfschmerzen gesellte sich noch ein durchgehender Ton in meinem Ohr, der jedoch schnell wieder verschwand. Die hellen Neonröhren blendeten mich, taten mir in den Augen weh. Wenn ich daran dachte, dass ich vor einer Woche noch eine normale Zeit im 50. Bezirk hatte, wünschte ich es mir wieder zurück. Doch der Bezirksleiter traute mir das zu, die Sache hier in den Griff zu bekommen. Dann durfte ich ihn auch nicht enttäuschen. Zwischen die Gedanken und schmerzhaften Eindrücke mischte sich ein hohes Fiepen. Diesmal stammte es jedoch nicht aus meinem Kopf. Ich kannte dieses Geräusch. Feueralarm! Während die Leute, die gerade noch Zettel ausgefüllt hatten, aus dem Gebäude strömten, lief ich zurück ins Büro. »Cap! Draußen haben welche eins unserer Autos angezündet!«, rief Thida mir entgegen. »Alle raus hier!«, befahl ich. Über Funk forderte ich die Feuerwehr an, während wir das Gebäude verließen. Ich hatte keine Zeit über irgendetwas nachzudenken, musste schnell handeln. Das Feuer sollte nicht die Überhand bekommen. Zwei der Kollegen hatten zwar Feuerlöscher mitgenommen, doch dieser Brand würde sich damit nicht bekämpfen lassen. Vermutlich wurde ein Brandbeschleuniger genutzt, daher breiteten sich die Flammen schnell aus. Ich wies alle an, großflächig Abstand zu nehmen. Der Parkplatz befand sich direkt hinter dem Gebäude, daher machte ich mir Sorgen, er könnte sich ausbreiten. Thida, Cho und Fah waren da, doch Jira nicht. War er nicht mit rausgekommen? Panisch sah ich mich um, doch es war dunkel und ich konnte die Leute kaum auseinanderhalten. »Wisst ihr wo Jira ist?«, fragte ich die Kollegen, doch sie schüttelten den Kopf. Die Probleme wurden nicht weniger. Bevor ich wieder ins Gebäude lief, gab ich den Befehl, die nahliegenden Gebäude vorsorglich evakuieren zu lassen. »54. Bezirk an Alle. Wir haben einen Fahrzeugbrand auf unserem Parkplatz. Wir nehmen an, dass es sich um Brandstiftung handelt. Bitte um Verstärkung für die Evakuierung der umliegenden Gebäude. Erste Maßnahmen wurden bereits eingeleitet.« »Alles klar. Verstärkung ist unterwegs.« In diesem Moment sah ich in die Flammen und fühlte gar nichts. Meine Augen brannten, doch das war alles. Kein Herzrasen, kein Adrenalin, keine Panik. Mein Körper hatte in einen Modus geschaltet, der keine Emotionen zuließ. Ich funktionierte nur noch. Ohne Weiteres hastete ich ins Büro zurück, wo sich Jira tatsächlich aufhielt. Angesichts der Gefahr sollten wir uns beeilen, doch er stand seelenruhig vor dem Aktenschrank und las in Ordnern. An den Orderrücken konnte ich erkennen, dass es sich um ältere Akten handelte. Meine Akten, die ich extra aus dem anderen Revier mitgebracht hatte. Die Worte von Nawin kamen mir wieder in den Sinn. Offenbar war er sehr neugierig, was meine Person anging. Selbst als er mich sah, machte er keine Anstalten, aufzuhören. Er hatte die Gefahr ausgenutzt, um heimlich in den Akten zu schnüffeln. Für einen Moment sah ich mir die Szene nur an, dann reagierte ich endlich. Lief auf ihn zu, nahm ihm die Akte aus der Hand und zog ihn am Arm aus dem Gebäude. Ganz egal, was er für Dinge vorhatte, zunächst war wichtiger, dass alle in Sicherheit waren. Widerstandlos ließ er sich mit nach draußen ziehen. Die Feuerwehr war bereits da, es sah aus, als bekämen sie den Brand unter Kontrolle. Mein Team und die Kollegen der Verstärkung sorgten dafür, dass die evakuierten Leute nicht in Panik verfielen. Ich wusste nicht, welches Problem ich als erstes angehen sollte. Dass sie uns fast die Station abgefackelt hatten? Dass Jira sich komisch benahm? Dass wir die wütenden Bürger im Nacken hatten? Wir sahen der Feuerwehr dabei zu, wie sie den Brand löschten. Zwei unserer Autos waren völlig unbrauchbar geworden. Ich sah mich schon die Schadensfälle und Anträge ausfüllen. Sie attackierten uns genau an den Stellen, die am meisten schadeten. »Team von der 54ten, ihr könnt die Evakuierung beenden«, rief ich und langsam strömten die Leute in ihre Häuser zurück. Ich stand mittendrin, um mich herum Menschen, Blaulicht, Einsatzfahrzeuge, Kollegen von der anderen Station. Alles verschwamm vor meinen Augen, es waren nicht mehr als undeutliche Silhouetten. Als würde es passieren, aber ich wäre nicht dabei. Erst als ein älterer Herr in Uniform vor mir erschien, konnte ich mich wieder fangen. Er stellte sich als Schichtleiter des 53.Bezirks vor. Unsere Nachbarn. Er war etwas größer und breiter gebaut als ich. Ich meinte, die ersten grauen Strähnen in den Haaren auszumachen. »Captain Niran, nehme ich an«, seine Stimme war angenehm tief. Sie schmerzte nicht in meinem Kopf, so wie alles andere. »Live und in Farbe. Vielen Dank für die Hilfe bei der Evakuierung«, gab ich zurück. »Selbstverständlich. Ich bin übrigens Captain Kasem. Wir haben mitbekommen, dass Thawat und seine Leute euch wie immer das Leben schwer machen. Aber sowas wie heute hatten wir schon lange nicht mehr. Ich habe einen Vorschlag für euch. Ihr macht die Station für heute dicht, alle noch aufkommenden Fälle leitet ihr an uns weiter. Das gibt euch Zeit, die Situation zu besprechen und nötige Anträge vorzubereiten. Sobald das geklärt ist, treffen wir uns zu einer Besprechung mit den benachbarten Schichtleitern. Egal was die Teams davon halten, wir können euch hier nicht einfach untergehen lassen.« Diese Worte hatten eine heilende Wirkung auf mich. Als würde mir jemand einen Rettungsring zuwerfen, kurz bevor ich ertrinken würde. Ich hatte die anderen Bezirke bisher rausgehalten, weil sie ihre eigene Arbeit hatten. Außerdem wären die Teams nicht begeistert, wie Captain Kasem gesagt hatte. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich bin. Wir können das gerade mehr als gebrauchen.« Er schüttelte den Kopf: »Brauchst du nicht. Ihr solltet um Hilfe bitten, wenn es nicht anders geht. Ich habe schon mit dem Bezirksleiter gesprochen, er ist damit einverstanden. Macht mal eine Pause.« Es gab also noch Hoffnung. Das freute mich und ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Pass‘ bitte gut auf dich und deine Leute auf, Captain Kasem.« »Machen wir. Das Gleiche gilt natürlich auch für euch.« Kurz nachdem wir das Büro wieder betreten hatten, schloss ich die vordere Tür ab und druckte einen Zettel aus. Dort stand, dass die Station dienstlich für einen Tag geschlossen werden musste und sich alle bitte an die 53. Station wenden sollten. Ich nahm mir einen kurzen Moment, um durchzuatmen. Die Arbeit war nicht vorbei, aber zumindest würde uns das Chaos für ein paar Stunden erspart bleiben. Ich bat alle in den Konferenzraum, die Sache mit Jira weiterhin im Hinterkopf. Wir setzten uns und es war totenstill. Eine angenehme Stille, die wir alle in diesem Moment brauchten. Als ich jedoch herunterfuhr, kam meine Müdigkeit mit voller Wucht zurück. Denn nur weil wir die Station geschlossen hatten, hieß das nicht, dass wir nicht trotzdem bis 6 Uhr arbeiten mussten. Minutenlang schwiegen wir. Ich sah in die Gesichter meines Teams, versuchte ihre Stimmung einzufangen. Außer Erschöpfung konnte ich jedoch nicht viel erkennen. Gerade Fahs tiefe Augenringe sprachen Bände. »Wir haben die Erlaubnis erhalten, die Station für einen Tag zu schließen, richtig?«, brach sie das Schweigen. »Genau.« Erleichtertes Aufseufzen erfüllte den Raum. Ich konnte das nachvollziehen, denn so ging es mir auch, als ich davon gehört hatte. »Und was ist mit den Fällen? Die werden wohl kaum aufhören«, fragte sie weiter. Fah ließ sich in ihren Stuhl sinken. Ihr genervter Unterton war nicht zu überhören. »Die 53te übernimmt die vorerst. Wir versuchen hier etwas Ordnung reinzubringen und die Brandstiftung aufzuklären«, ich musste aufpassen, überhaupt noch sinnvolle Worte rauszubekommen. »Ich weiß, wir haben noch einiges zu tun. Aber können wir wenigstens eine kurze Pause machen, Cap?«, bat Cho leise. Nicht nur sein flehender Blick ruhte auf mir. Auch die Anderen sahen mich erwartungsvoll an. Ich nickte: »Klar, ich gebe euch eine Stunde, macht was ihr wollt. Bestellt euch etwas zu Essen oder schlaft ein bisschen. Nur Jira, mit dir möchte ich kurz sprechen.« Sie verließen den Raum, Cho klopfte mir anerkennend auf die Schulter. »Danke, Cap. Aber du solltest vielleicht auch mal Pause machen.« »Später, Cho.« Das Team brauchte diese Pause mehr als dringend. Wenn sie zusammenbrachen, nützten sie mir auch nichts mehr. Jira blieb, er sah ziemlich entspannt aus. Wenn der Chef mit mir sprechen wollen würde, wäre ich das nicht. Er lehnte in seinem Stuhl, sah mich nicht an. »Jira, was hat es damit auf sich, dass dich meine Akten interessieren? Du bist dir bewusst, dass ihr das Büro verlassen solltet? Dass es ein Befehl war?«, fragte ich und mein Ton war schärfer als beabsichtigt. Er mied meinen Blick weiterhin, machte mit seinen verschränkten Armen einen desinteressierten Eindruck auf mich. »Ich kann das natürlich auch dem Bezirksleiter melden, wenn dir das lieber ist.« Statt sich einsichtig zu zeigen, setzte er ein Grinsen auf: »Mit welcher Begründung? Dass ich Akten gelesen habe?« An diesem Punkt musste ich mich zusammenreißen, nicht laut aufzuseufzen. Ich war weder in der Stimmung noch in der Verfassung ein angemessenes, dienstliches Gespräch zu führen. Kurz atmete ich aus, dann begann ich noch einmal: »Jira, wie du weißt, sind wir gerade in einer schwierigen Situation. Da muss ich jedem von euch hundert Prozent vertrauen können.« Natürlich könnte man es als Neugier abtun, aber zusammen mit Nawins Worten, war es für mich ein berechtigter Verdacht. Auch wenn ich mir nicht erlauben konnte, jemanden zu verlieren. Jira schüttelte verächtlich den Kopf: »Nur deswegen vertraust du mir nicht?« Ich gestand mir selbst ein, dass ich es nicht besonders gut angegangen war. Zumindest hatte ich es angesprochen, das war ein erster, wichtiger Schritt. »Sieh‘ es als erste Warnung an, Jira. Mal abgesehen von den Akten war es auch ziemlich gefährlich, im Gebäude zu bleiben. Ich möchte, dass du nächstes Mal meinen Anweisungen Folge leistest.« Jira antwortete mir nicht und ich sah auch keinen Sinn darin, weiter mit ihm zu sprechen. Ich konnte ihn im Auge behalten, war mir aber nicht sicher, ob ich aktuell überhaupt die Zeit haben würde. Nach drei Stunden konnten wir endlich den Feierabend einläuten. Ich hatte die Schadensmeldung und die Neubeantragung für Dienstfahrzeuge noch geschafft. Denn je weniger wir schafften, desto mehr musste die Tagschicht übernehmen. Es war ein Teufelskreis. Auch heute würde die Station noch bis zur Nachtschicht geschlossen bleiben. Wir standen am Empfang und übergaben der Tagschicht die Büroaufgaben und die Fälle, die die 53te für uns abgefangen hatte. Ich war nur froh, als ich die Station hinter mir lassen konnte. Meine Gedanken ließen sich nicht einmal in diesem Moment abschalten. Der Weg zur Wohnung zog sich hin, meine Füße fühlten sich an wie Blei. Mit der letzten Konzentration, die ich noch hatte, schleppte ich mich dorthin. Wo mich gleich die nächste Überraschung erwartete. Thawat lehnte neben meiner Haustür. Der letzte Mensch, dem ich in meinem Zustand begegnen wollte. Ich hätte ihm nichts entgegenzusetzen. Vielleicht bildete ich mir ihn aber auch nur ein. Fahrig kramte ich den Haustürschlüssel aus meiner Tasche. Ich war jedoch zu hektisch und er fiel mir vor die Füße. Als ich mich runterbeugen wollte, um ihn aufzuheben, fuhr mir ein Blitz durch den Kopf. Keine schnellen Bewegungen, alles klar. Ich musste mich beeilen, meine Haustür war doch direkt vor mir. Langsam richtete ich mich wieder auf, merkte dabei, wie mich die letzten Kräfte verließen. Bitte nicht hier und vor allem nicht jetzt! Mein Körper hörte jedoch nicht mehr auf mich, ich merkte nur noch, wie ich nach hinten fiel. Thawat Als Cap fiel, machte ich aus Reflex einen Schritt zur Seite, um ihn aufzufangen. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob er schon bereit war aufzugeben, nachdem wir ordentlich Chaos gestiftet hatten. Es hatte gereicht, um mich einigermaßen abzureagieren. Das war also schon seine Grenze? Dabei waren meine Leute doch noch zu ganz anderen Sachen fähig. Cap war schwerer als ich dachte und ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Meine Gedanken begannen zu rasen. Wenn mich so jemand sah, würden die doch direkt denken, ich hätte ihn umgebracht. Ich sah mich um, es war zum Glück noch früh, also waren kaum Leute unterwegs. »Cap?«, versuche ich ihn anzusprechen, doch er reagierte nicht. Ich schüttelte ihn, auch keine Reaktion. Ich könnte ihm auch einfach seinem Schicksal überlassen. Was wäre, wenn ich ihn einfach vor seiner Tür liegen ließ? Würden ihn dann die Nachbarn bemerken oder würde er sterben? Ich sah Cap an, dunkle Augenringe zeichneten sich ab, seine schwarzen Haare standen wild in alle Richtungen ab. Zumindest schien er noch zu atmen. Dieser Anblick löste etwas in mir aus, doch ich sträubte mich dagegen. Wieso sollte ich ihn bemitleiden? Es war doch genau mein Ziel gewesen, ihn in diese Situation zu bringen. Wieso war ich nicht glücklich darüber? Ewig konnte ich aber hier auch nicht so stehen bleiben. Niemand durfte mich so sehen oder jemals davon erfahren. Daher blieb mir nichts anderes übrig. Ich legte Cap ab, sodass er an der Wand gegenüber lehnte. Ich hob den Schlüssel auf und schloss die Tür auf. Für einen kurzen Moment hielt ich inne. Was zum Henker tat ich hier eigentlich? Wieso war es mir nicht egal, wenn er hier liegen würde? Ich versuchte all diese komischen Gedanken loszuwerden. Jetzt musste ich es nur noch schaffen, ihn irgendwie in diese Wohnung zu kriegen. Ich rastete die Tür ein, griff Cap unter die Arme und schliff ihn in seine Wohnung. Menschen waren ziemlich schwer, vor allem wenn sie selbst nicht mithalfen. Fast wie eine Leiche. Erst als ich die Tür löste und sie ins Schloss fiel, konnte ich erleichtert aufatmen. Cap war mir komplett ausgeliefert, ich könnte alles machen. Seinen Ruf ruinieren, ihn entführen, ihm etwas anhängen oder unterjubeln. Etwas machen, was hundertprozentig seine Karriere ruinieren würde. Game Over. Die Wette hätte ich gewonnen und der Bezirk würde einen neuen Schichtleiter bekommen. Alles wieder auf Anfang. Doch bisher hatte es niemand so lange ausgehalten wie er. Dieses Spiel wollte ich gewinnen, aber wenn Cap dabei zusehen konnte, dass alles unter ihm zusammenbrach. Ich schliff ihn weiter zu einer Matratze, die in der Ecke des großen Zimmers lag. Dort legte ich ihn ab. Also das Minimalismus zu nennen, wäre untertrieben. Ich schaltete das Licht ein, sah mich um. Die Wohnung war erstaunlich kalt, erinnerte mich an meine. Keine Bilder, weiße Wände, kaum etwas persönliches. Sie bestand aus einer Küche, einem Bad und dem Zimmer, was wohl Wohn-und Schlafzimmer war. Doch selbst hier standen nur einer kleiner Tisch und ein Fernseher. Bis auf ein paar weitere Möbel war nichts vorzufinden. Das wunderte mich, denn ich wusste aus den Akten, dass Cap schon länger hier wohnte. Vermutlich lebte er für seine Arbeit, viel Freizeit hatte er ohnehin im Moment nicht. Das einzige Bild, was ich sah, war das von einer Frau und einem Kind. So weit ich wusste, seine Schwester und sein Neffe. Ich schloss die Begutachtung der Wohnung ab, setzte mich neben die Matratze und beobachtete ihn. Es war das erste Mal, dass ich bei einem der Schichtleiter in der Wohnung war. Bei Bewusstsein hätte er das niemals zugelassen. Cap wälzte sich unruhig hin und her, dass zeigte immerhin, dass er noch lebte. Es löste Erleichterung in mir aus, keine Leiche entsorgen zu müssen. Als Cap die Wette mit mir eingegangen war, wusste ich, dass es diesmal anders werden würde. Keiner der anderen Schichtleiter hätte sich jemals auf so etwas eingelassen. Mal sehen, wie lange du das noch aushältst, Captain. Kapitel 4: Zone 4 - Spuren der Vergangenheit -------------------------------------------- Niran Ich war noch ein kleiner Junge, als mein Vater und meine Mutter mal wieder verletzt und blutüberströmt nach Hause kamen. Ich kannte diesen Anblick schon, konnte meine Tränen aber nicht verhindern. Die Angst kroch langsam in mir hoch. Würden sie sterben? Ich konnte nur hilflos zusehen, wie sie sich ins Wohnzimmer schleppten. Meine Mutter hatte eine Platzwunde am Kopf, mein Vater hielt sich den Bauch. Ich lief zu unserem Schrank mit dem Verbandskasten und brachte ihn zu meinen Eltern. Mein Vater rang sich ein Lächeln ab: »Ruf‘ bitte deinen Onkel an, ja?« Schnell lief ich zum Telefon. Onkel Wirat war der Einzige, der uns helfen konnte. Auch wenn ich in der Schule gelernt hatte, dass man einen Krankenwagen rufen sollte, hatten meine Eltern es verboten. Ich ignorierte die Tränen, wählte mit zitternden Händen die Nummer. Ich musste kaum etwas sagen, da war er schon unterwegs. Bangend wartete ich die Minuten ab, bis er endlich kam. Ich stand an der Tür, öffnete sie direkt, als es klopfte. Onkel Wirat kniete sich vor mich: »Nii, geht’s du bitte in dein Zimmer? Ich werde Mama und Papa helfen, okay?« »Versprichst du es? Dass sie nicht sterben?« Er machte eine kurze Pause: »Ich gebe mein Bestes.« Ich ging in mein Zimmer, kannte das schon. Das war die schlimmste Zeit, wenn ich warten musste, dass alles gut wird. Ich legte mich auf das Bett, starrte die Decke an und begann zu beten. Papa und Mama haben nie gesagt, was sie arbeiten. Ich durfte in der Schule nie etwas von zuhause erzählen und auch keine Freunde einladen. Ich wusste nur, dass sie etwas Böses taten. Heute war meine Schwester nicht da, sonst nahm sie mich in den Arm und sagte, dass alles gut werden würde. Doch jetzt nahm mich niemand in den Arm. Daher kuschelte ich mich an meinen Stofflöwen, hielt ihn ganz fest. Wenn ich die Augen zumachte, sah ich meine verletzten Eltern vor mir. In die Stille mischte sich das Ticken der Uhr, welches jede Sekunde endlos lang erschienen ließ. Ich musste etwas tun. Als ich die leisen Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte, stand ich auf. Mama und Papa brauchten meine Hilfe! Ich nahm den Stofflöwen mit und schlich mich zur Tür. Ich ging jeden Tag durch diese Tür, doch in diesem Moment kam sie mir verboten vor. Wie ein Monster ragte sie vor mir auf. Bevor ich sie öffnen konnte, ging sie von selbst auf und meine Schwester steckte ihr Gesicht durch den Spalt. Ich war erleichtert, sie zu sehen. Sie lächelte mich an, streckte mir ihre Hand entgegen. »Komm‘, Nii. Wir müssen weg.« Ohne zu zögern, nahm ich ihre Hand und verließ mein Zimmer. Meine Eltern waren notdürftig verarztet, standen mit Taschen in den Händen da. Meine Schwester zog mich mit und wir verließen gemeinsam das Haus. Wir stiegen ins Auto und fuhren sofort los. Meine Schwester und ich saßen hinten, Papa fuhr. Durch den Rückspiegel sah er uns an. »Papa, ich habe Angst. Wo fahren wir hin?«, fragte ich, presste meinen Stofflöwen an mich. »Da wo wir sicher sind. Du brauchst keine Angst zu haben, Nii. Kinder, könnt ihr mir etwas versprechen?« Seine Worte nahmen mir nicht die Angst, doch ich beschloss, ihm zu vertrauen. »Was sollen wir denn versprechen?«, meine Schwester hielt meine freie Hand. »Ich möchte, dass ihr niemals werdet wie wir. Macht bitte etwas aus euren Leben, werdet anständige Leute.« Das waren die Worte meines Vaters an dem Tag, an dem wir fliehen mussten. Der Tag an dem ich nichts mitnahm, außer meinem Stofflöwen und seinem Rat. Als ich aus diesem Traum von meiner Vergangenheit erwachte, musste ich mich erst einmal orientieren. Mein Kopf schmerzte immer noch, aber meine restlichen Sinne schienen sich einigermaßen erholt zu haben. Ich fasste mir an Kopf, überlegte, was passiert war. Ich war vor meiner Wohnung zusammengebrochen und dann? Wie war ich in die Wohnung gekommen? Da realisierte ich, dass ich vor Thawat zusammengebrochen sein musste! Was? Sofort setzte ich mich auf, versuchte die Situation zu verstehen. Ich sah mich um. Das Licht war eingeschaltet, ich befand mich in meinem Bett. Daneben saß jemand. Thawat. Er schlief. Was zum? Es machte einfach alles keinen Sinn für mich. Er musste mich in die Wohnung gebracht haben, aber warum? Wieso hatte er mich nicht einfach vor der Tür liegengelassen? Ich fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht, war enttäuscht von mir selbst. Wie konnte ich mich ihm einfach so ausliefern? Vorsichtig tastete ich meinen Körper ab, fragte mich, ob er irgendetwas angestellt hatte. Doch meine Waffe und mein Taser waren noch da, das beruhigte mich. Trotzdem schwor ich mir, mich vor ihm nie wieder von meiner schwachen Seite zu zeigen. Natürlich musste ich ausgerechnet vor meiner Haustür zusammenbrechen. Noch nicht einmal einen Meter vor dem Ziel. Alles ärgern nützte jedoch nichts, ich musste zusehen, ihn so schnell wie möglich aus meiner Wohnung zu entfernen. Thawat sollte mich als Autorität wahrnehmen, also musste ich souveräner auftreten. Ich stand auf und stellte mich vor ihn: »Hey, aufwachen!« Thawat blinzelte, musste wohl selbst erst verstehen, wo er sich befand. Langsam erhob er sich. »Oh, Cap. Du wandelst wieder unter den Lebenden.«, gab er verschlafen von sich. Ich wollte gar nicht wissen, was er gesehen hatte. »Offensichtlich, Thawat. Und du solltest zusehen, so schnell wie möglich aus meiner Wohnung zu verschwinden!« Als er auf mich zukam, hielt ich den Taser bereit. Diesmal nicht. Er sah den Taser und hielt seinen Abstand ein. Geht doch. »Ganz ruhig, Cap. Was willst du machen, wenn ich nicht gehe? Die Polizei rufen?«, sagte er und setzte wieder sein Grinsen auf. Ich wusste, dass er immer nur Handlanger schickte. Das hieß aber auch, dass ich absolut nicht beurteilen konnte, wozu er fähig war. »Sehr witzig. Jetzt verschwinde!« Er setzte sich nicht zur Wehr, sondern trat den Rückweg an. Kurz vor der Tür, drehte er sich noch einmal um: »Und? Willst du nicht doch aufgeben? War wohl doch zu viel, Cap.« »In deinen Träumen!« Thawat verließ meine Wohnung und als die Tür zufiel, lehnte ich mich dagegen. Auch wenn ich zusammengebrochen war, aufgeben kam nicht in Frage. Zwei Gedanken stritten sich in meinem Kopf um Aufmerksamkeit. Der eine war, dass ich in meiner Situation wohl besser im Zeugenschutzprogramm aufgehoben wäre. Der andere war: Wenn Thawat so ein schlechter Mensch sein sollte, warum hatte er mich in die Wohnung gebracht? Warum war er geblieben? Aber das alles würde ich nie erfahren. Egal wie sehr es mich interessierte, ich durfte ihn nicht zu nah an mich ranlassen. Es war besser so, denn er sollte nicht meinen, dass ich mir alles gefallen ließe. Müde sah ich auf die Uhr, es war gegen Mittag. Bis zur nächsten Schicht war noch etwas Zeit. Ich duschte, zog mich um und fühlte mich danach etwas klarer im Kopf. Die Müdigkeit wollte jedoch nicht verschwinden, daher aß ich kurz etwas und legte mich wieder hin. Über diese seltsame Begegnung würde ich mir später noch genug Gedanken machen können. Wieder auf der Station ging es mir schon deutlich besser. Ich wusste nicht, wie lange dieser Zustand anhalten würde, aber ich musste es ausnutzen. Ich bekam mit, dass sich das Team leise unterhielt, was mir zeigte, dass sie nicht allzu gestresst waren. Diese Nacht würde die Station noch geschlossen bleiben, denn ich erwartete Gäste. Wie von Captain Kasem angekündigt, würde ich heute die Schichtleiter der 50ten Bezirke treffen, insgesamt fünf Leute. Es machte mir etwas Hoffnung, dass wir endlich wieder Boden unter den Füßen gewinnen konnten. Auch wenn ich den Klingelton meines Telefons mittlerweile geändert hatte, erschrak ich mich trotzdem, als es klingelte. Der Bezirksleiter. »Ja?« »Captain Niran, ich hoffe ihre Station hat sich ein wenig von dem Angriff erholt. Sie empfangen heute die Schichtleiter, richtig?« »Das ist richtig.« »Sie haben sich bisher tapfer geschlagen. Ich denke, die anderen Bezirke können für zusätzliche Entlastung sorgen.« Es war schön, diese Bestätigung durch den Bezirksleiter zu bekommen. Damit kam auch meine Motivation zurück. »Vielen Dank.« »Ich wollte Ihnen noch etwas mitteilen, Captain. Für die Personalaufstockung sieht es auch gut aus. Ab nächster Woche werden Sie fünf neue Kräfte für Ihr Team bekommen.« Ich traute meinen Ohren kaum. Das war unsere Rettung! Mit den anderen Bezirken und den neuen Leuten würden wir wieder eine realistische Chance haben. Es fühlte sich gut an. So einfach wirst du den 54ten Bezirk nicht in die Knie zwingen, Thawat. »Das sind sehr gute Neuigkeiten. Wir werden Sie nicht enttäuschen«, gab ich zurück und versuchte, nicht zu euphorisch zu klingen. Ich verabschiedete mich noch, dann betrat ich den Konferenzraum, um ihn auf das Meeting vorzubereiten. Dort fanden sich nach und nach die fünf Schichtleiter ein. Sie stellten sich kurz vor, gaben mir die Hand, dann setzten wir uns. Das Meeting würde Captain Kasem leiten. Ich kannte niemanden von ihnen, auch nicht meinen Nachfolger aus dem 50ten Bezirk. Sie waren alle unterschiedlich alt, doch ich hatte des Gefühl, dass ich der Jüngste war. Jetzt wo ich Captain Kasem im Licht sah, bestätigte sich meine Vermutung mit den grauen Strähnen. Er stand vor dem Whiteboard, worauf er: »Sonderkommission T.«, schrieb. Wofür das stand, konnten wir uns alle denken. »Also, wir haben beschlossen, den Fall von Thawat und seiner Gang nicht in der alleinigen Verantwortung des 54ten Bezirks zu lassen.« Sein Blick fiel auf mich: »Captain Niran, wenn man so will, haben wir dich getestet.« Verwirrt sah ich ihn an: »Was meinst du damit?« »Wie du weißt, haben es die Schichtleiter hier nie lange ausgehalten. Und wir wollten sehen, ob du es schaffst, bevor wir die ganze Sache größer aufziehen«, erklärte er. Ich dachte wirklich er nahm mich auf den Arm. Sie haben uns willentlich untergehen lassen, nur um zu schauen, ob ich es durchhalte? Ich konnte es zwar verstehen, dass man verlässliche Leute brauchte, um so etwas aufzubauen, aber das konnte ich kaum glauben. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, wichtig war, dass sie uns ab jetzt helfen würden. Trotzdem spürte ich immer mehr Druck auf mir lasten. Es war, als würde man in den Ring steigen, um zu kämpfen und alle hätten ihr Vermögen auf einen selbst gesetzt. Zum Glück wusste niemand von meinem Zusammenbruch, ansonsten würden sie mich wahrscheinlich direkt nach Hause schicken. »Okay. Wie ist das weitere Vorgehen?« »Alle Schichtleiter der 50ten Bezirke werden Mitglieder der Sonderkommission. In ihren Teams stellen sie jeweils zwei Leute, die nur für diese Fälle zuständig sein werden. Alle anderen, werden sich um alles, was sonst aufkommt kümmern. Natürlich müssen wir als Schichtleiter auch weiterhin für solche Dinge ansprechbar bleiben. Unser großes Ziel am Ende wird sein, Thawats Aktion ein für alle Mal zu beenden«, erklärte er. Der Ansatz war sehr gut, so würden wir viel mehr Personen dahinter kriegen und die anderen Fälle würden auch nicht untergehen. »Welche Leute aus welchem Team helfen werden, müssen sie unter sich selbst ausmachen. Ich möchte niemanden zwingen.« Captain Kasem schrieb diese Punkte an das Whiteboard. Ich wusste jedenfalls, wen aus meinem Team ich nicht dabeihaben wollte. »Durch die breitere Verteilung schaffen wir es vielleicht auch, die Hintermänner auszumachen. Als zweiten Plan möchte ich noch etwas vorschlagen, was uns bisher weniger gelungen ist, aber ein Schlüsselpunkt im Ganzen sein könnte.« Ich sah in die Gesichter der Anderen, die ähnlich verwirrt aussahen wie ich. Bisher war uns nur sehr wenig gelungen, das schränkte es nicht ein. Captain Kasem lachte: »Keine Sorge. Ich sehe schon, dass ihr nicht wisst, wovon ich spreche. Grundsätzlich geht es darum, Thawats Motive herauszufinden. Am besten mit seinen Eltern, aber vor allem mit ihm selbst zu sprechen. Wenn wir es schaffen, rauszufinden, was er mit diesem Spiel bezweckt, können wir es eventuell beenden.« Captain Kasem schien der Einzige zu sein, der von diesem Plan überzeugt war. Alle anderen schüttelten empört den Kopf. Ich konnte es mir gerade noch verkneifen. Natürlich war es die richtige Herangehensweise, aber wenn ich an die letzten Gespräche mit ihm dachte, rechnete ich mir wenig Chancen aus. »Und wer soll das machen?«, meldete sich der Captain des 51ten Bezirks zu Wort. In diesem Fall würden wohl alle dieselbe Meinung vertreten. Niemand wollte sich mit ihm beschäftigen. Schon gar nicht in dieser Intensität. Allerdings war es mein Bezirk und ich befürchtete, es würde gar keine andere Möglichkeit geben. Meine Befürchtung bewahrheitete sich, denn sein Blick fiel auf mich. »Ich glaube Captain Niran ist dafür bestens geeignet. Es geht nicht nur darum, dass es dein Bezirk ist. Die Anderen haben einfach bisher nichts mit ihm zu tun gehabt, da ist es unwahrscheinlich, dass er sich kooperativ zeigen wird.« Ich konnte die anderen aufatmen hören, mich selbst allerdings nicht. Captain Kasem war zwar nicht mein Vorgesetzter, aber es würde seine Gründe haben, dass der Bezirksleiter ihn zum Vorsprecher gemacht hatte. Ich konnte es trotzdem nicht einfach stehen lassen: »Ich möchte ehrlich sein, Captain Kasem. Bisher hatte ich ein, zwei kurze Begegnungen mit Thawat. Es hat sich als nicht sehr produktiv erwiesen. Er wird sich auch mir, seinem vermutlichen Erzfeind, kaum anvertrauen.« Er kam auf mich zu, legte mir eine Hand auf die Schulter: »Ich verstehe deine Zweifel. Aber wir sollten zumindest den Versuch wagen. Wenn wir Glück haben, wird Thawat irgendwann keinen Spaß mehr daran haben, euch das Leben schwer zu machen. Wir müssen es irgendwie schaffen, dass er uns nicht als Feinde sieht, sondern als Leute, die ihm helfen wollen.« Sein freundlicher Blick ruhte auf mir und ich konnte mich absolut nicht widersetzen. Wenn dieser Plan mit meiner Initiative stehen oder fallen würde, sollte es so sein. »Alles klar. Ich mach‘ das.« Captain Kasem lächelte mich an und ging wieder zurück an sein Whiteboard. »Super. Ich verlange ja nicht, dass ihr euch anfreundet«, sagte er und fuhr mit dem Rest des Plans fort. Ich machte mir derweil Gedanken, wie ich es angehen sollte. Dass Thawat und ich in diesem Leben keine Freunde mehr werden würden, war eindeutig. Vor allem nach unserer letzten Begegnung würde dieses Vorhaben alles andere als einfach werden. Thawat Seit einer halben Stunde starrte ich auf mein Handy. Es lag neben mir auf dem Bett, klingelte die ganze Zeit. Irgendeine Nummer, die ich noch nicht blockiert hatte. Wahrscheinlich mein Vater. Er hörte einfach nicht auf anzurufen, immer und immer wieder. Aber ich verstand es nicht. Sie wollten nichts von mir wissen, ich nichts von ihnen, was sollte es also zu sagen geben? Ich nahm das Handy in die Hand, drückte so fest zu, wie es ging. Konnte mich noch gerade so davon abhalten, es gegen die Wand zu werden. Wie oft hatte ich schon die Nummer gewechselt? Doch mein dämlicher Vater und seine Connections würden alles über mich herausfinden, jederzeit. Ich könnte das Land verlassen und er müsste nur seine Leute auf mich ansetzen. Ausschalten konnte ich es auch nicht, weil ich für meine Leute erreichbar sein musste. Also lag ich im Dunkeln, starrte diese Nummer auf dem Display an. Doch egal, wie sehr sie bettelten oder wie oft sie mich rauskaufen würden, ich würde nicht eher aufhören, bis sie ihrem Untergang geweiht waren. Niemand würde es verstehen, daher redete ich auch mit niemanden darüber. Schon gar nicht mit meinen Leuten. Es reichte, dass sie wussten, dass wir nicht gerade das beste Verhältnis hatten. Seufzend sperrte ich das Handy und ließ es unter dem Kopfkissen verschwinden. Seit Monaten war ich nicht mehr in diesem verfluchten Haus gewesen, weil ich genau wusste, wie es enden würde. Irgendjemand würde mich anschreien oder schlagen. Diese Wohnung hier gab es auch nur, damit sie mich nicht ertragen mussten. Dann konnte ich ihnen wenigstens noch auf der Tasche liegen. Ich wollte gerade die Augen schließen, da hörte ich jemanden. Das war nicht ungewöhnlich, aber vielleicht war es ein Fehler gewesen, allen den Zutritt zu erlauben. Ich erhob mich, schlurfte zur Tür, um die Leute wieder rauszuschmeißen. Ich hatte in diesem Moment wirklich nicht den Nerv, mich mit irgendjemandem abzugeben. Als ich durch den Spalt sah, entdeckte ich Zeta und Rho im Wohnzimmer. Ausgerechnet die Beiden nervigsten. Sie trafen sich oft zum Zocken hier. Ich wollte gerade durch die Tür treten, da sah ich Rho auf Zeta zulaufen. Was mich aufhielt, meinen Posten zu verlassen, war die seltsame Stimmung zwischen ihnen. Rho blieb erst stehen, als sie nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Liebevoll strich er Zeta eine weiße Strähne aus dem Gesicht. Doch Zeta trat zurück und senkte den Blick: »Rho, das können wir nicht machen. Das weißt du doch.« Seine Stimme war brüchig, überhaupt nicht wie ich den aufgedrehten Zeta sonst kannte. Er war normalerweise ein lebender Energydrink. Er war der mit der großen Klappe. Was ging hier ab? Ich legte die Stirn in Falten, beschloss es noch ein bisschen zu beobachten. Rho legte ihm die Hand ans Kinn, hob Zetas Gesicht an: »Können wir sehr wohl.« Rho grinste, trat wieder näher zu ihm. Zeta konnte nicht weiter zurückweichen, hinter ihm war nur noch die Wand. »Was ist, wenn der Boss uns sieht?« Als ihre Blicke in Richtung meines Schlafzimmers gingen, brachte ich mich hinter der Tür in Deckung. »Der hat im Moment genug mit dem Captain zu tun. Als ob er dann um diese Uhrzeit hier wäre«, hörte ich Rho sagen und wagte mich wieder vor den Spalt. Zeta sah ihn unsicher an: »Meinst du?« »Ja.« »Na gut«, Zeta ging von einem Schmollen in ein Grinsen über. Er legte Rho die Arme um den Nacken und küsste ihn. Als ich das sah, hielt ich für einen Moment den Atem an. Rho erwiderte den Kuss, für mich sah es nicht aus, als wäre es das erste Mal. Klar, sie hingen öfter miteinander rum, aber seit wann denn so? Auch wenn ich mir wie ein Spanner vorkam, konnte ich einfach nicht wegsehen. Kurz unterbrachen sie es, grinsten sich an und machten dann weiter. Ich kannte das zwar aus den Serien, aber in echt hatte ich es noch nie gesehen. Irgendwie übte es eine seltsame Faszination auf mich aus. Erst als Rho begann an Zetas T-Shirt zu zupfen, räusperte ich mich. Das musste ich dann aber nicht sehen. Sofort sprangen sie auseinander und ich verließ meine Deckung. »Verdammt, ich habe dir doch gesagt, der Boss könnte hier sein«, zischte Zeta. »Hey Boss«, grüßte er mich und legte sich eine Hand in den Nacken. Ich deutete auf die Couch: »Setzt euch, wir müssen reden.« Keine zwei Minuten später saßen sie da, wie auf einer Anklagebank. Rho hielt immer noch Zetas Hand. »Seht mich an«, befahl ich und sie sahen langsam nach oben. Ich versuchte mich zu entspannen, um nicht böse zu wirken. Setzte mich in den Sessel schräg gegenüber. »Boss, ich..wir…das alles«, begann Zeta, doch ich brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Okay, das mussten wir wohl zuerst klären. »Tut mir leid, falls es so aussieht, aber ich habe absolut nichts dagegen«, klärte ich sie auf. Anstatt sich zu entspannen, sahen sie mich erstaunt an. »Was denn? Habt ihr damit gerechnet, dass ich ausraste, oder was?«, ich konnte die Empörung in meiner Stimme nicht verbergen. Zeta nickte leicht: »Irgendwie schon, Boss. Wir wissen ja nicht, wie du dazu stehst.« Auf eine komische Art und Weise war es ernüchternd, wie meine Leute über mich dachten. Im Prinzip überraschte es mich aber nicht, wenn ich genauso rüberkam. Respekt war mir wichtig, aber meine eigenen Leute sollten keine Angst vor mir haben. »Dann wisst ihr es jetzt. Nur bei Alpha wäre ich an eurer Stelle vorsichtig«, ermahnte ich sie. Bei ihm wusste ich ziemlich sicher, wie er dazu stand. Langsam schienen sie sich zu entspannen, lehnten sich zurück. Auch wenn ich sie meistens als Freunde bezeichnete, wusste ich doch erstaunlich wenig über sie. Zeta war zwar jemand der normalerweise sehr viel redete, aber trotzdem hatte ich das nicht gewusst. Über die Anderen wusste ich noch weniger, genauso wie sie über mich. Nur bei Alpha hatte ich das Gefühl, ihn besser zu kennen. Am Ende des Tages kannte ich aber wahrscheinlich niemanden von ihnen wirklich. »Kann ich euch was fragen?«, es klang vorsichtiger als beabsichtigt. Rho sah mich verwirrt an: »Ist alles okay? Du bist irgendwie komisch heute, Tii.« Natürlich wunderte Rho sich darüber, ich war nicht der Typ großartig mit ihnen zu plaudern. »Klar. Alles, was du willst, Boss«, mischte sich Zeta ein. Er warf Rho einen warnenden Blick zu. In diesem Moment hätte ich zu gerne gewusst, was sie dachten. »Wie lange geht das schon mit euch?« Es ging nicht darum, dass sie etwas verheimlichten. In diesem Moment interessierte es mich einfach. Zeta zählte es an einer Hand ab: »Ähm, ungefähr vier Monate denke ich«, dafür bekam er einen Seitenhieb von Rho. »Ich meinte natürlich fünf.« »Okay.« Das war schon recht lange und zeigte mir umso mehr, wie wenig ich sie kannte. Was sollten sie mir denn auch schon erzählen? Ich war ja auch nur der Typ, von dem sie Befehle bekamen. Ich erhob mich: »Jungs, ich bin weg.« Ich ging zurück ins Schlafzimmer, zog mich um, nahm mein Handy und verließ die Wohnung. 30 verpasste Anrufe, 21 Nachrichten. Ich ließ das Handy in der Jackentasche verschwinden, genauso wie meine Hände. Ich konnte einfach nirgendwo vernünftig allein sein. Vielleicht sollte ich mich doch ins Ausland absetzen. Ziellos lief ich durch die Straßen, bog schon fast automatisch in Richtung Polizeistation ein. Cap ging einfach wieder arbeiten, er musste zu den ganz harten gehören. Jeder andere, der einigermaßen vernünftig dachte, wäre nach diesem Zusammenbruch nicht direkt wieder zur Arbeit gegangen. Wenn Cap sich nicht einmal davon aufhalten ließ, musste ich ihn als Gefahr für meine Mission betrachten. Ich spürte das Handy in meiner Tasche vibrieren. Nicht schon wieder. Trotzdem sah ich auf das Display und es war zum Glück keine unbekannte Nummer, sondern J. »Was gibt’s?« »Tii, die fahren jetzt ganz große Geschütze auf. Statt nur mit Cap, wirst du dich demnächst auch mit den Schichtleitern aus den anderen Bezirken rumschlagen müssen«, er klang hektisch. Ich spürte fast, wie sich die Schlinge um meinen Hals enger zog. In meinem Kopf begann es zu arbeiten. Es gab fünf Bezirke, mit denen er im Umkreis arbeiten könnte, wenn die alle ihre Leute schickten, könnte es eng werden für uns. Ich konnte es doch jetzt nicht nur deswegen aus der Hand geben. »Haben die noch was gesagt?« »Sie werden Teams einteilen, die speziell für eure Fälle zuständig sein werden, in allen Bezirken. Glückwunsch, Tii. Ich glaube die erste Sonderkommission wurde gerade nach dir benannt.« Es war das erste Mal, dass ich von einer groß angelegten Aktion hörte. Fuck. Ich hatte genug gehört, legte auf, ohne mich zu verabschieden. Personalaufstockung und Vergrößerung des Einzugsgebietes? Als wenn ich das nicht auch konnte. Leute zu finden, die für mich arbeiten würden, wäre nicht schwer. Immerhin hatte ich J, dann wussten wir von der Strategie und konnten uns dementsprechend vorbereiten. »Khun Saengsuwan?«, hörte ich eine Stimme hinter mir und allein diese Anrede bedeutete nichts Gutes. Als ich mich umdrehte, stand ein Mann im Anzug vor mir. »Ich komme nicht mit«, bemerkte ich und wollte gerade kehrt machen, da packte mich jemand am Arm und hielt mich fest. Sein Griff war so fest, dass ich mich kaum bewegen konnte. »Wir fragen nicht. Das müssten Sie mittlerweile aber wissen«, sagte der, der mich festhielt und schliff mich einfach mit sich. Ich konnte mich gar nicht wehren, dazu fehlte mir die Kraft. Nicht lange, dann gab ich auf, um mir meine Kraft für anderes zu sparen. Es war nicht das erste Mal und ich wusste genau, was auf mich zukam. Wenn ich eben nicht nach seiner Pfeife tanzte, musste er regelmäßig zu solchen Mitteln greifen. Immerhin blieb er bei der klassischen Variante, in der sie mich in den schwarzen Van mit beklebten Scheiben steckten. Mein Handy nahmen sie mir auch ab. »Könnt ihr es ausschalten?«, fragte ich. Irgendwie fühlte es sich gut an, es woanders zu wissen. Ob sie es taten oder nicht, sah ich nicht, aber mein Problem war es nicht mehr. Es war ziemlich dumm von mir, nach all diesen Anrufen nicht vorsichtiger zu sein. Doch zunächst blieb mir nichts anderes übrig, als mich meinem Schicksal zu ergeben. Nach einer kurzen Fahrt zerrten sie mich aus dem Wagen und es ergab sich absolut keine Gelegenheit zur Flucht. Diesem Griff würde ich nicht einfach entkommen. Gut, dann also die Konfrontation. Diesen Wunsch konnte ich ihnen erfüllen. Resigniert ließ ich sie gewähren, gemeinsam liefen wir durch den Garten. Dann fiel die Eingangstür hinter mir ins Schloss. Ich stand in dem, mit Marmor ausgekleideten Foyer, was ich schon immer viel zu übertrieben fand. Meine Eltern standen vor mir, mit dem üblichen genervten Gesichtsausdruck, wenn sie mich sahen. Meine Mutter hatte ihre langen, schwarzen Haare zu einem hohen Zopf gebunden. Sie trug ein dunkelblaues Kleid und Schmuck, als wären sie gerade von einer Gala gekommen. Mein Vater trug wie üblich seinen Anzug, Haare hatte er keine mehr. Das kam vermutlich davon, dass er sich zu viel über mich aufregte. Sie waren oft bis spät in die Nacht unterwegs, um sich irgendwo zu besaufen. Daher war es nicht unüblich, dass sie mich um diese Zeit einsammelten. Wortlos gingen sie ins Wohnzimmer und ich folgte ihnen. Die Anzugträger um mich herum, hätten ohnehin nichts anderes zugelassen. Das Wohnzimmer war nicht weniger luxuriös, wie der Rest dieser Villa. Boden aus Marmor, überall standen irgendwelche teuren Vasen rum, alles was ging, war vergoldet. Ich hatte das noch nie gemocht. Reichtum war schön und gut, aber es nervte mich, dass sie es auf jedem Zentimeter raushängen lassen mussten. Sie setzten sich auf die weiße Ledercouch, ich blieb in gebührendem Abstand an der Treppe stehen. »Dass du nicht besonders schlau bist, ist uns bewusst, Thawat. Aber vielleicht kannst du dich an unsere Deadline erinnern?«, begann meine Mutter. Zwischen können und wollen lag für mich schon ein großer Unterschied. Ihr Seitenhieb bezüglich meiner Intelligenz war mir auch nicht entgangen. »Wir haben uns lange genug von dir den Ruf ruinieren lassen. Die Aktien sind auch schon wieder im Keller. Die Deadline ist schon längst verstrichen, aber es hat sich nichts geändert«, genervt wandte sie sich ihrem Tee zu. »Es wird sich auch nichts ändern. Nicht, solange ihr noch so gechillt hier sitzen könnt«, gab ich zurück, ballte die Hand zur Faust. Mein Vater erhob sich: »Thawat! Hör‘ gefälligst auf damit! Reicht es dir nicht, was du bisher angerichtet hast?« Jedes Wort von ihm ließ die Wut in mir stärker werden. »Das soll reichen? Lächerlich. Ich bin noch lange nicht fertig damit, euch ins Unglück zu stürzen!«, rief ich. Es war überhaupt nicht gut für mich, hier zu sein. Brachte sofort alle negativen Gefühle in mir wieder auf, welche ich über Monate verdrängt hatte. Mein Vater näherte sich mir, krallte seine Finger in die Hose. »Du bist erst zufrieden, wenn du uns vollständig ruiniert hast, ja?«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Egal, wie gefährlich er für andere aussehen mochte, ich empfand nur Wut und Enttäuschung. Ich grinste: »Ganz genau. Wenn ihr am Boden liegt und um Gnade winselt!« Es tat gut, ihm das ins Gesicht sagen zu können. Er packte mich am Kragen: »Gut, dass das niemals passieren wird. Wir haben wenigstens noch einen vernünftigen Sohn.« Ich stieß ihn von mir, spürte wie ich langsam die Beherrschung verlor. Wieso musste er es ansprechen? »Euer Vorzeigesohn, ja? Und was ist, wenn der euch nicht mehr helfen kann?« Ich spürte es in meinen Ohren klingeln, als mein Vater mich schlug. Meine Wange brannte und mein Puls erhöhte sich. Sein Gesicht verwandelte sich in eine verstellte Fratze. »Wag‘ es, ihm ein Haar zu krümmen und du wirst des Lebens nicht mehr froh!« Ihr Herzstück zu verlieren, würde sie in eine Krise stürzen, von der sie sich nie wieder erholen würden. Falls der Idiot im Haus war, konnte er was erleben. Ich machte einen Schritt zur Seite und stürmte die Treppe hoch. Ich wusste nicht, wer oder wie viele es waren, hörte aber, dass sie mir hinterherliefen. Ich hatte lange genug hier gelebt, um mich auszukennen. Schnell stürmte ich auf die Tür meines Bruder zu und riss diese auf. Als ich das Licht einschaltete, setzte er sich im Bett auf: »Tii?« Kapitel 5: Zone 5 - Bittere Erkenntnisse ---------------------------------------- Niran Auch wenn die Zuarbeit der anderen Bezirke unsere Arbeit deutlich erleichterte, war immer noch genug zu tun. Mittlerweile waren wir jedoch wieder Herr über die Situation geworden. Thida und Cho hatten sich bereiterklärt, sich der Sonderkommission anzuschließen. Jira hatte ich dafür nicht zugelassen. Es war schon verdächtig genug, wenn er sich zum Telefonieren rausschlich. Wirklich verstecken tat er es nicht, aber solange ich keine konkreten Beweise hatte, konnte ich nicht viel machen. Außerdem war es das erste Mal, dass ich mich mit einem Fall dieser Art beschäftigen musste. Ich beschloss beizeiten jemanden ins Vertrauen zu ziehen. »Cap! Khun Saengsuwan hat angerufen, dass Thawat durchdreht. Wir müssen rausfahren!«, rief Thida. Familienprobleme? Dieser Junge war wirklich ein Vollzeitjob. Ohne viel darüber nachzudenken, nahm ich die Autoschlüssel und bat Thida mir zu folgen. Cho würde mich vertreten. Es ging mir nicht gut mit dem Gedanken, das Haus der Saengsuwans zu betreten. Trotzdem konnte es nicht schaden, mehr über Thawats Umfeld zu erfahren. Vor allem nicht mit meiner Mission im Hinterkopf. Wir gingen zum Auto und ich stellte das GPS ein. Thida nestelte mit irgendwelchen Unterlagen herum. »Alles gut?«, erkundigte ich mich. Mit ihren schulterlangen, brauen Haaren versuchte sie ihr Gesicht zu verdecken. »Ich weiß nicht. Ich habe ein bisschen Angst davor, dass es eskalieren könnte, Captain.« Noch während sie das sagte, fuhr ich los, um keine Zeit zu verlieren. »Von dieser Familie geht eine kriminelle Energie aus, die mir nicht behagt«, sprach sie meine Gedanken aus. »Ich weiß, Thida. Wir werden vorsichtig sein. Ich kann jetzt zwar nicht mehr umkehren, aber wenn dir das mit der Sonderkommission zu viel ist, musst du es nicht machen.« Ich kannte die Leute aus dem Team noch nicht gut genug, um ihre Persönlichkeiten und Fähigkeiten richtig einzuschätzen. Entschlossen legte sie die Unterlagen zur Seite: »Nein, Cap. Ich habe auch Interesse daran, dass wir die Causa Thawat endlich in den Griff bekommen.« »Dann bin ich froh, dass du dabei bist.« Ich bog auf die Hauptstraße ein, schaltete das Blaulicht ein und trat aufs Gas. An der Villa angekommen, wussten wir überhaupt nicht, was uns erwartete. Vorsichtshalber befahl ich Thida daher, ihre Waffe zu ziehen. Es standen ein paar Männer im Anzug herum, die uns den Weg wiesen. Schon die Tatsache, dass so viel Sicherheit vor Ort war, mutete mir komisch an. Wozu brauchten sie dann die Polizei? Als wir durch die Eingangstür gingen, wurden wir von dem hellerleuchteten Foyer geblendet. Einer der Anzugträger wies uns an, die Treppe raufzugehen. Immer wieder sah ich mich nach Thida um, doch die Entschlossenheit hatte sich in ihrem Blick festgesetzt. Je weiter wir gingen, desto mulmiger wurde mir. Wir hatten zwar eine grobe Beschreibung bekommen, aber erfahrungsgemäß konnten sich emotionale Situationen innerhalb kürzester Zeit ändern. Ich versuchte mich nicht zu sehr von der Umgebung ablenken zu lassen, was gar nicht einfach war. Es sah aus wie in einem Schloss. Maßlos übertrieben war wohl eher das richtige Wort. Wir erreichten die offene Tür, wagten uns vorsichtig in den Raum. Dieser sah ganz anders aus als der Rest des Hauses. Dunkles Parkett und dunkelblaue Tapeten vermittelten eine ruhigere Atmosphäre, die den Leute im Raum allerdings nicht anzusehen war. Neben den Sicherheitsleuten befanden sich noch vier andere Leute darin. Zwei ältere, von denen ich annahm, dass sie die Eltern waren. Ein junger Mann mit braunen Haaren, der mit erhobenen Händen an der Wand stand. Und Thawat, der diesen jungen Mann mit einem Brieföffner bedrohte. Um mich bemerkbar zu machen, tippte ich dem älteren Herrn auf die Schulter. Kurz zuckte er zusammen, sah dann aber erleichtert aus. »Tii, warum machst du das?«, fragte der junge Mann flehend. Es sah aus, als wäre er den Tränen nah. »Wenn du nicht mehr da bist, können sie sich vielleicht auch mal Gedanken um ihren zweiten Sohn machen!«, ich hörte nichts als Hass heraus. Wichtig war, sich gut zu überlegen, wie man diese Situation entschärfen konnte. Ich wies Thida an, dass wir uns Thawat langsam nähern sollten. Natürlich waren wir trainiert für solche Fälle, aber das Training und die Realität lagen oft sehr weit auseinander. Außerdem stufte ich Thawat als unberechenbar ein. Mein Puls erhöhte sich, ein gewisses Maß an Angst ließ sich nicht abstellen. »Aber Tii! Ich mag dich doch! Ich kann doch nichts dafür, dass unsere Eltern so drauf sind«, versuchte sein Bruder es weiter. »Das interessiert mich nicht! Sie müssen eben Opfer bringen und das wirst du sein!«, er näherte sich ihm weiter, hob den Brieföffner an. Der Bruder hatte uns entdeckt, kurz trafen sich unsere Blicke. Dann sah sich auch Thawat um. Im Blick seines Bruders lag Verzweiflung, in seinem der blanke Hass. Ich musste schlucken, als er mich ansah. Er richtete sich an seinen Vater: »Ich habe dir gesagt du sollst die Sicherheitsleute raushalten und dann rufst du die Cops?« Niemand antwortete ihn. Die Luft fühlte sich an, als könnte man sie schneiden. Ich bewegte mich auf ihn zu. »Lass die Waffe fallen, Thawat«, ich versuchte meine Stimme so ruhig klingen zu lassen, wie es ging. Er war in diesem Moment extrem emotional, würde auf jede Kleinigkeit ebenso extrem reagieren. »Halt du dich bloß raus, Cap! Du hast überhaupt keine Ahnung!«, er schrie schon fast. »Komm‘ einen Schritt weiter und dieser Verräter hier wird sterben!« Seinem Bruder liefen die Tränen über die Wangen: »Tii, warum? Warum kannst du mich nicht einfach als Familie ansehen?« »Du solltest auch die Klappe halten!«, er wandte sich wieder seinem Bruder zu. Ich konnte spüren, wie alle im Raum die Luft anhielten. Planänderung. Thawat hatte sich zu sehr fixiert, als dass meine Worte irgendetwas verhindern würden. Ich deutete Thida und den Sicherheitsleuten, sich langsam zu nähern. Zusammen zogen wir den Kreis um Thawat enger. Durch das große Bett im Raum hatten wir nicht viel Platz, mussten alles nutzen was ging. In solchen Moment versuchte ich alles Unwichtige auszublenden. Das Timing war entscheidend. Wenn man das vermasselte, konnte es eng werden. Je näher ich kam, desto mehr aktivierte sich mein Fokus. Thawat hielt den Brieföffner so fest, dass seine Finger weiß hervortraten. Ich sah Thida noch einmal an, damit auch sie wusste, was der nächste Schritt sein würde. Sie nickte mir zu. »Ich habe doch gesagt, keinen Schritt weiter!«, Thawat hob seine Hand, da überbrückte ich die letzte Distanz und griff seine Arme. Er war überrascht und ließ den Brieföffner fallen. Ich wandte den Spezialgriff an, der ihn dazu zwang, die Arme hinter dem Rücken zu verschränken. Dann klickten die Handschellen. Ich versuchte mein Zittern so gut wie möglich zu verbergen. Die Situation war entschärft, alle konnten für den Moment aufatmen. Thawat versuchte sich zu wehren, doch ich hielt ihn fest. Er sollte sich nicht die Hoffnung machen, eine Chance gegen einen ausgebildeten Polizisten zu haben. Ich zog ihn von seinem Bruder weg, damit er nicht auf komische Ideen kam. Die Eltern, die wie versteinert dort gestanden hatten, bewegten sich wieder. Mit Thidas Hilfe schaffte ich es Thawat in die richtige Richtung zu lenken. Ihre Hilfe war wichtig, da er versuchte abzublocken. Als wir an seinen Eltern vorbeigingen, sagte ich: »Wir bringen Ihren Sohn erst einmal auf das Revier. Ich würde Sie bitten uns so bald wie möglich zu folgen, damit wir Ihre Aussagen aufnehmen können.« Sein Vater schnaubte verächtlich: »Ich kümmere mich erst um meinen Sohn. Seien Sie so gut und bringen mir diesen Abschaum aus den Augen, Captain.« Ich stockte kurz, fing mich jedoch schnell wieder. Allein dieser Satz sagte mir schon einiges. Vieles ging mir durch den Kopf, als wir Thawat zum Auto brachten. Was er wohl gerade dachte? Zwischendurch warf ich einen Seitenblick auf ihn, um seinen Gesichtsausdruck zu beobachten. Der hatte sich aber immer noch nicht geändert. Irgendwie musste sein Bruder ein rotes Tuch für ihn sein. Ich hoffte inständig, dass die Familie meiner Bitte nachkommen würde, damit wir etwas Licht in diese Situation bringen konnten. Der Weg zum Auto zog sich hin und wir mussten einiges an Kraft aufwenden, um ihn unter Kontrolle zu halten. Als er endlich im Auto saß und die Türen verriegelt waren, erlaubte ich mir ein erleichtertes Aufseufzen. Thida sah mich triumphierend an und ich hatte das Gefühl wir hatten heute gut als Team funktioniert. Ich nahm mir vor, es bei Gelegenheit anzusprechen. Als wir die Station erreichten, staunten die Anderen nicht schlecht, dass wir ausgerechnet Thawat im Schlepptau hatten. Zunächst brachte ich ihn in eine der Zellen und schloss ab. Ich hoffte, dass er sich in der Zwischenzeit ein bisschen beruhigen konnte. Zurück im Büro, sah Cho mich besorgt an: »Hattet ihr alles im Griff, Cap?« »Es war etwas heikel, aber wir haben das Schlimmste verhindern können«, erklärte ich und versuchte ihn mit meinem Lächeln zu beruhigen. Es schien zu wirken: »Okay, dann bin ich erleichtert. Wir haben uns echt Sorgen gemacht.« Ich setzte mich an meinen Platz und winkte ab: »Es ist ja nichts passiert. Kannst du mich kurz briefen, was während unserer Abwesenheit passiert ist?« Ich klang deutlich entspannter, als ich es war. Mein Puls hatte sich noch nicht ganz beruhigt, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Cho kam zu mir rüber, präsentierte mir kurz, welche Fälle in unserer Abwesenheit aufgekommen waren. Auch wenn wir gefühlt nicht lange weg waren, war es immer noch einiges. Glücklicherweise schienen aber auch sie alles im Griff gehabt zu haben. Ich war noch nicht lange Schichtleiter in diesem Bezirk, trotzdem machte es mich stolz ein gutes Team zu haben. Während wir noch dabei waren, alles zu dokumentieren, erschienen die Saengsuwans auf dem Revier. Ich platzierte sie im Warteraum, bat Thida mit der Mutter zu sprechen. Ich selbst nahm den Vater mit. Wir begaben uns in einen abgeschlossenen Raum, in dem sich nicht mehr befand als ein Tisch und zwei Stühle. Trotzdem war es ein heller, freundlicher Raum, wir waren schließlich kein Geheimdienst. Es sollte nur eben nichts ablenken. Wir setzten uns gegenüber, der Vater wandte sich mir nicht direkt zu. Diese ablehnende Haltung fiel mir sofort auf, aber ich ließ mich davon nicht irritieren. »Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Wasser?«, bot ich an, doch er schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vor, mich hier niederzulassen, Captain. Meine Frau und ich waren auf einer Veranstaltung, wir sind müde, es ist spät«, beschwerte er sich. Was für ein sympathischer Mensch. »Natürlich. Ich wäre Ihnen trotzdem dankbar, wenn Sie kurz erzählen könnten, was passiert ist.« Er lehnte sich zurück: »Dieser dämliche Idiot Thawat, der leider mein Sohn ist, will uns ruinieren. Wir haben ihn nach Hause geholt, um klarzumachen, dass wir uns das nicht länger gefallen lassen. Dann ist er ausgerastet und wollte seinen Bruder umbringen.« Er erzählte es unbeteiligt, als wäre es etwas, was jeden Tag in diesem Haus passierte. Dieser Mann war mir nicht geheuer. Grundsätzlich musste man bei Leuten mit viel Einfluss sehr vorsichtig zu sein, aber ich wollte keine Ausnahme machen. Ein bisschen ausführlicher könnte er schon berichten. »Ist dazwischen etwas passiert, was diese Reaktion von Thawat ausgelöst haben könnte?«, erkundigte ich mich. Er schnaubte verächtlich und stand auf: »Ich muss seinen Bruder doch nur erwähnen. Sperren Sie den am besten ein und gerne auch für immer. Dann sind nicht nur Sie eine Menge Probleme los, sondern auch wir. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« So schnell wie er aus dem Raum verschwunden war, konnte ich gar nicht reagieren. Ich schüttelte den Kopf, dieses Gespräch hätte ich mir wirklich sparen können. Cho brachte als nächstes den Bruder zu mir. Als er mir gegenübersaß, bot ich auch ihm etwas zu trinken an. »Wasser, gerne«, seine Stimme war brüchig. Ich holte es und stellte das Glas Wasser vor ihn. »Also, Khun Saengsuwan«, begann ich. »Nennen Sie mich bitte Thana«, unterbrach er mich. »Gut, Khun Thana, was ist vorgefallen?«, kam ich direkt auf den Punkt. Thana umklammerte das Glas mit beiden Händen, sah hinein. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, was mir die Gelegenheit gab, ihn zu betrachten. Anders als vorhin, waren seine braunen Haare ordentlich zurechtgemacht, vermutlich für seinen Besuch hier. Seine Augen waren gerötet, er sah müde aus. Mich überkam ein komisches Gefühl, denn die Verwandtschaft mit Thawat konnte er nicht abstreiten. Vor allem die Augen riefen in mir dieses surreale Gefühl hervor. Als hätte ich Thawat in brav vor mir sitzen. Thana sah auf und ich zuckte kurz zusammen. Diese Ähnlichkeit war mir im Haus gar nicht aufgefallen. »Ist es in Ordnung, wenn ich ein bisschen weiter aushole, Captain?« »Ich würde Sie sogar darum bitten«, er machte mir Hoffnung darauf, ein bisschen mehr zu erfahren. »Sie müssen wissen, Tii war nicht immer so«, diese traurigen Augen ließen mich schlucken. Es war schon länger her, dass ich mich mit einem größeren Fall beschäftigt hatte. Innerlich versuchte ich mich darauf vorzubereiten, dass es emotional werden könnte. »Es fing vor ein paar Jahren an, als die Sache mit der Arbeit in der Firma unseres Vaters konkreter wurde. Tii wollte es nicht. Nicht, weil er grundsätzlich dagegen war, sondern weil er sich nichts vorschreiben lassen wollte. Unsere Eltern sind nicht unschuldig daran, sie haben uns immer verglichen, versucht Tii so klein zu machen, wie es ging. Ich habe mich schlussendlich überreden lassen, in dieser Firma zu arbeiten. Das musste sich für ihn wie Hochverrat angefühlt haben.« Er machte eine Pause, trank einen Schluck Wasser. Wieder machte er eine lange Pause, sah sich hektisch um. »Khun Thana, lassen Sie sich bitte Zeit«, versuchte ich beruhigend auf ihn einzuwirken. »Würde ich, aber ich befürchte, dass mein Vater es nicht gut finden wird, wenn ich lange bei Ihnen bin.« Natürlich nicht. Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen, denn ich konnte ihn nicht einfach gehen lassen. Nicht, nachdem ich sicher war, dass er einer Schlüssel in der ganzen Sache war. Captain Kasem meinte ich sollte mehr über Thawats Motive herausfinden, das wäre die perfekte Gelegenheit. »Das glaube ich gern. Wir können Ihre Eltern nach Hause schicken, ich würde Sie später fahren«, bot ich an. Gespannt wartete ich auf die Antwort, fühlte mich, als stünde ich vor einem Durchbruch. Als er nickte, musste ich meine Freude verbergen. »Ja, machen Sie das bitte. Ich kann mich sonst nicht konzentrieren«, sagte er leise und sein Blick fiel zur Tür. Ich erfüllte ihm diese Bitte sofort. Auch wenn sein Vater protestierte und seinen Sohn wieder mitnehmen wollte, übte ich mein Hausrecht aus und warf ihn raus. Womöglich hatte er Angst davor, was Thana mir erzählen würde. Wenn ich mir die ganze Familiengeschichte der Saengsuwans anhören musste, um die Überhand zu gewinnen, würde ich das tun. Zumindest Thawat konnte in der Zwischenzeit nicht auf blöde Ideen kommen. Ich bat ich Thida darum, mir Auskunft zu geben. Vielleicht hatte ihr Gespräch mit der Mutter für irgendwelche zusätzlichen Erkenntnisse gesorgt. An ihrem Augenrollen konnte ich jedoch erkennen, dass dies nicht der Fall war. Über den Bildschirm ihres Computers sah sie mich an: »Ich weiß nicht, was der Vater dir erzählt hat, aber die Mutter hat nur deutlich gemacht, wie sehr sie Thawat verachtet. Zeit sei Geld hat sie gesagt und wollte dann nicht mehr mit mir reden.« Sie deutete auf meinen Platz: »Das super ausführliche Protokoll habe ich dir auf den Schreibtisch gelegt.« Ich wollte ihn nicht länger warten lassen, also betrat ich den Raum wieder. Als er mich sah, setzte er sich sofort wieder gerade hin. Als ich saß, lächelte ich ihn an: »Entspannen Sie sich, Khun Thana.« Er nickte zwar, veränderte seine Haltung jedoch nicht. Thana konnte einem leidtun, wie er dort saß. Mit gesenkten Schultern, dem leeren Blick. »Sie haben mir eben schon grob die Problematik geschildert, könnten Sie noch einmal genauer darauf eingehen? Falls Sie eine Pause brauchen, sagen Sie bitte Bescheid«, ich legte meine Notizen wieder zurecht und schaltete das Aufnahmegerät ein. »Wir waren immer ein Duo, Thawa und Thana. Eigentlich ist das auch sein Spitzname. Brüder, die alles zusammen gemacht haben, die sich nie im Stich gelassen haben. Aber wie schon gesagt, als ich den Job begann, war es vorbei mit Thawa und Thana. Mein Bruder sieht mich als Verräter, auf der Seite unserer Eltern. Ich habe das aber nicht getan, um ihn zu ärgern, sondern weil ich dachte, wenn ich es mache, muss er es nicht. Trotzdem hat er sich komplett darauf versteift, sie mit allem zu enttäuschen was geht. Seitdem redet er nicht mehr mit mir. Jedenfalls nicht mehr…wie…früher«, seine Stimme brach, er legte das Gesicht auf den Arm, der auf dem Tisch lag und weinte. Auch wenn ich die ganze Geschichte noch nicht kannte, zeichnete sich schon ein recht klares Bild ab. Thana war derjenige, der am schlechstesten bei der ganzen Sache wegkam. Auch wenn er nichts getan hatte, war er Thawats Opfer und bekam seinen Hass zu spüren. Es war offensichtlich, dass er ganz anders dachte und seinen Bruder mochte. Ich unterdrückte ein Seufzen. Ob Thawat wusste, wie es seinem Bruder dabei ging? Dass er für die Rache gegenüber den Eltern ausgenutzt wurde? Dass er als Verräter gilt, obwohl er seinem Bruder nur helfen wollte? Thana beruhigte sich etwas, hob die Hand: »Es geht gleich wieder.« Er musste ganz schön fertig sein. Erst wurde er von Thawat aus dem Schlaf gerissen, von ihm bedroht und musste dann auch noch mitten in der Nacht auf dem Polizeirevier aufkreuzen. Zum Glück hatten wir immer Taschentücher in diesem Raum, von denen ich ihm eins reichte. Er erhob sich, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Wissen Sie, ich finde es einfach traurig, dass Thawa mich so sieht. Dass ich Angst vor ihm haben muss, obwohl ich ihn doch liebe!«, es liefen ihm weitere Tränen über das Gesicht, doch er ignorierte es. Ich konnte mich nicht dazu äußern, aber bei der Vorstellung meine Schwester würde mich umbringen wollen, gefror mir das Blut in den Adern. Daher konnte ich zumindest einigermaßen nachvollziehen, wie er sich fühlen musste. Thana nahm den Faden wieder auf: »Jedenfalls hat er ab diesem Zeitpunkt Gesellschaft von Gangstern gesucht, die er auch ziemlich schnell gefunden hat. Sie gaben ihm den Namen »Tii.« Von da an, ging es mit jedem Tag bergab. Seine neuen Freunde wussten von unserem Reichtum und stellten sich daher gut mit ihm. Er schaffte es schnell, ihr Anführer zu werden. Als der erste Schichtleiter das Weite gesucht hat, hat er gemerkt, dass durch solche Aktionen auch Investoren abspringen und Aktienkurse crashen. Das ist dann seine persönliche Mission geworden. Sie haben doch auch schon gesehen, dass Thawa eigentlich nicht kriminell ist, oder?«, er griff meinen Arm und sah mich flehend an. Auch wenn ich das nicht zulassen sollte, ließ ich ihn für einen Moment gewähren. Ob Thawat wirklich kriminell war oder nicht, darüber ließ sich streiten. Er führte die Taten nicht selbst aus, das hieß aber nicht, dass er nicht die kriminelle Energie hatte, andere dazu zu befehligen. Langsam entzog ich meinen Arm: »Davon bin ich noch nicht endgültig überzeugt, Khun Thana. Sie scheinen ziemlich viel zu wissen. Können Sie mir auch noch etwas über diese Leute sagen, die ihn ihren Anführer nennen?«, bat ich. »Das meiste weiß ich von meinem Vater. Er hat immer mal wieder ein Auge darauf, was Thawa treibt. Auch die Leute, mit denen er rumhängt, kenne ich nicht gut, ich weiß nur, dass Alpha gefährlich ist. Wenn er den auf mich ansetzt, war es vermutlich das letzte Mal, dass Sie mich gesehen haben.« Das hatte ich befürchtet. Bei solchen Dynamiken war es nicht unüblich, dass es zumindest einen gab, der wirklich gefährlich war. »Alpha?« Er kramte sein Handy aus der Tasche und zeigte mir ein Bild, welches ich direkt abfotografierte. »Ja, sein angeblich bester Freund. Ich bin mir sicher, dass er zu Dingen fähig ist, an die Thawa nicht einmal denken würde.« Gut, dann wussten wir zunächst, worauf wir den Fokus legen mussten. »Vielen Dank. Gibt es noch etwas, was Sie zu dem Vorfall heute Nacht sagen möchten?« »Ich weiß nur, dass er plötzlich vor mir stand. Ich bin aufgestanden, weil ich mit ihm reden wollte, aber dann hat er mich bedroht. Es tut einfach weh, wie sehr Thawa versucht böse zu sein«, endete er. Ich beendete mein Protokoll und schaltete das Gerät aus. Ich hatte genug gehört, mit dem ich arbeiten konnte. Thana sah mich an: »Glauben Sie, Sie können uns helfen, Captain?« Ich konnte einen letzten Rest Hoffnung heraushören, doch musste bei der Wahrheit bleiben. »Mein Team und ich werden unser Bestes tun, Khun Thana. Wir können versuchen, ihren Bruder von seiner Mission abzubringen. Ihre Familienprobleme kann ich jedoch nicht lösen.« »Natürlich. Aber allein Ihr Durchhalten ist schon sehr viel wert. Vielleicht kann er mit Ihrer Hilfe verstehen, was er uns und den Menschen antut.« Langsam schien es, als würden wirklich alle darauf vertrauen, dass ich es richten würde. Dann auch noch die Familie, das war nicht ohne. Ich war Thawats persönliche Mission und ab jetzt war er auch meine. Gemeinsam verließen wir den Raum. »Oh, hi Jira. Bist du hierher versetzt worden?«, ich stutze als ich Thana das sagen hörte. Jira sah sich panisch um, deutete ihm an, den Mund zu halten. »Oh, verstehe.« Das war auch noch eine Baustelle, um die ich mich kümmern musste. Doch langsam wurde es eng für ihn. Es war nicht verboten, irgendjemanden zu kennen, trotzdem hatte ich mittlerweile genug Verdachtsmomente gesammelt. Thana ging mit zum Auto und wir stiegen ein. Auf der Rückfahrt sprach er nicht, lehnte mit dem Kopf am Fenster, starrte nachdenklich in die Nacht. An der Villa angekommen, setzte er sich wieder richtig hin. »Kennen Sie Jira?«, fragte ich. »Ähm, ja. Er ist ein Freund der Familie. Ich weiß nicht, inwieweit er mit Thawats Aktion zu tun hat, aber ich halte es nicht für besonders schlau, ihn bei sich arbeiten zu lassen.« Nicht mehr lange und wir könnten das auch hinter uns bringen. Wenn der Personalmangel kein Problem mehr war, würde seine letzte Stunde auf dem Revier schlagen. »Khun Thana, vielen Dank. Mit allem was sie mir heute erzählt haben, haben Sie unserem Team und vermutlich dem ganzen Bezirk sehr geholfen. Falls Sie uns noch etwas mitteilen möchten, rufen Sie jederzeit an«, ich gab ihm meine Visitenkarte und er nahm sie entgegen. »Vielen Dank, Captain. Es tut mir leid, dass ich es nicht schon viel eher gemacht habe, aber da Thawa mich ohnehin schon hasst, wollte ich ihn nicht weiter verärgern. Ich weiß, Sie sind kein Therapeut, aber es wäre schön, wenn Sie irgendeine Art von Einfluss auf ihn nehmen könnten.« Es stimmte mich traurig, dass er verzweifelt genug war, diese Aufgabe der Polizei zu überlassen. Thawat Immer wieder fiel mein Blick auf die Handschellen, jedes Mal wurde ich wütender. Für Cap musste es sich gut anfühlen den nervigen Typen endlich eingesperrt zu wissen. Ich wusste nicht, ob die Idioten wirklich zur Polizeistation gekommen waren, aber wenn ja, hatte ich ein verdammt großes Problem. Thana würde ihm bestimmt bereitwillig alles erzählen. Dieser Verräter! Hätte ich nur schneller gehandelt, dann wäre jetzt nicht die komplette Mission in Gefahr. Cap wollte nicht gehen und alle machten weiter wie bisher. Wie konnte es so weit kommen? Frustriert trat ich gegen die Wand, meine einzige Möglichkeit, mich abzureagieren. Sobald ich hier rauskam, war eindeutig, was zu tun war. Alpha musste endlich seinen lang erwarteten Einsatz bekommen. Es war das erste Mal, dass ich eine Zelle auf dem Revier von innen sah. Niemand vorher hatte die Eier gehabt, mich tatsächlich festzunehmen. Cap schien komplett unberührt davon zu sein, wer ich war oder wo ich herkam. Wie ein Tiger im Käfig lief ich auf und ab. Die Zelle bestand aus nichts als weißen Wänden und einem Bett aus Stahl. Ich wusste nicht, wie lange ich hier drin war, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Es machte mich verrückt, mit mir selbst und meinen Gedanken allein zu sein. Plötzlich hörte ich, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Endlich. Cap erschien in dem Spalt: »Bevor ich dich gehen lasse, würde ich gerne noch mit dir reden, Thawat.« Auch das noch. Ich hatte keinen Bedarf, ihm irgendetwas zu erzählen. Das würde ich auch nicht, aber mit der Aussicht, endlich das Revier verlassen zu können, fügte ich mich. Sein Griff war fest, aber er tat nicht weh. Der nächste Raum war ähnlich trostlos wie die Zelle. Cap löste die Handschellen und ich rieb mir die Handgelenke. Wir setzten uns und Cap sah mich freundlich an. Dieses freundliche Getue ging mir auf die Nerven. Warum konnte er mich nicht einfach genauso herablassend behandeln, wie alle anderen? Was hatten die ihm erzählt? Ich verschränkte die Arme: »Glaubst du jetzt du hast die Wette gewonnen, oder was?« Es war nur noch knapp eine Woche, wenn er bis dahin nicht ging, würde ich als Verlierer dastehen. Caps braune Augen ruhten auf mir, musterten mich. Vermutlich versuchte er irgendetwas zu analysieren. »Thawat, es geht mir nicht um diese Wette. Ich möchte verstehen, was vorgefallen ist. Was bringt dich dazu, deinen Bruder zu bedrohen?« Als ob er die Antwort nicht mittlerweile kannte. Schon der Gedanke daran, ließ mich wütend werden. »Kannst ruhig einen auf guter Cop-Nummer machen, das zieht bei mir nicht.« Ich suchte den Blickkontakt, um ihm zu zeigen, dass seine Anwesenheit mich nicht einschüchterte. Cap lehnte sich vor und sah mir ebenfalls in die Augen. »Ich weiß nicht, von was für einer Nummer du sprichst. Ich mache meinen Job und gebe jedem die gleiche Chance, sich zu dem Vorfall zu äußern«, seine Stimme war komplett ruhig. Das reichte mir. Es war schon demütigend genug, von ihm in Handschellen abgeführt zu werden. Ich lehnte mich ebenfalls vor, um provokant Nähe aufzubauen. Cap wich nicht zurück, behielt seinen neutralen Ausdruck bei. Ich wollte mich gerade dazu äußern, da stockte ich. Es war nicht das erste Mal, dass ich diesen Trick anwandte, aber trotzdem brauchte ich eine Weile, um meine Gedanken zu ordnen. Es war, als wäre ich hypnotisiert worden. Sein Anblick und diese ruhige Art faszinierten mich irgendwie. Cap war ein Kämpfer, so wie ich. Und er würde nicht aufgeben, bis er gewonnen hatte, riskierte alles für seinen Bezirk. Er war mir ebenbürtig. Nichts in seinem Gesicht deutete auf irgendeine Gefühlsregung hin, ich war nicht einmal sicher, ob er überhaupt atmete. Ich schluckte und musste mich zurückziehen. Ich hätte diese Gegenüberstellung nicht eine Sekunde länger ausgehalten. Mit meinem Stuhl rutschte ich nach hinten und schüttelte mich. Was zum Teufel hatte ich gerade bitte gedacht? Dann war er eben ein Kämpfer, na und? Mich würde er trotzdem nicht besiegen. Es fiel mir schwer, den Faden wieder aufzunehmen. Ich fixierte irgendeinen Punkt im Raum, damit ich ihn nicht ansehen musste. Verdammt, ich hatte verloren. Zumindest für den Moment. »I-ist mir egal. Ich werde mich nicht dazu äußern.« Ich musste mich besser konzentrieren, durfte nicht zulassen, dass er mich aus dem Konzept brachte. »Dazu bist du auch nicht verpflichtet. Der Vorfall wird in die Akten aufgenommen. Du kannst gehen.« Er hatte es nicht einmal ganz ausgesprochen, da war ich schon aufgesprungen und aus dem Raum geflohen. Cap folgte mir bis zum Ausgang. Ich war zu neugierig und versuchte mein Glück: »Haben sie dir was erzählt?« Er reagierte nicht darauf, drehte sich um und ging wieder rein. Zeit für Plan B. Weil die Sicherheitstypen mir das Handy nicht wiedergegeben hatten, musste ich zu Alphas Wohnung gehen. Er half mir, alle in der Wohnung zusammenzurufen, um mich zu updaten. Bis auf Zeta waren alle da. Rho sah entsprechend fertig aus. »Was ist los?«, fragte ich und sofort lagen alle Blicke auf ihm. Ich war mir nicht sicher, ob die Anderen von Zeta und Rho wussten. Ich würde es ihnen jedenfalls nicht erzählen. Rho sah mich mit verengten Augen an: »Das fragst du noch? Weißt du eigentlich, wie oft ich versucht habe, dich anzurufen?« Meine Stimmung war ohnehin schon im Keller, da machte es dieser Tonfall nicht gerade besser. »Wie redest du mit mir? Ich habe gerade kein Handy, weil meine Idioten-Eltern irgendwelche beschissenen Pläne hatten!«, rief ich ihm entgegen. Von meinem Aufenthalt in der Zelle erzählte ich nichts. Rho stand auf, kam auf mich zu: »Es ist mir scheißegal, wer was mit dir angestellt hat. Sieh‘ zu, dass du ein Handy bekommst. Irgendjemand aus einem anderen Bezirk hat Zeta geschnappt, der jetzt zu diesem dämlichen Captain gebracht wird!« Offenbar musste ich heute die schwarze Katze übersehen haben, die mir über den Weg gelaufen sein muss. Wie viel Pech konnte man an einem einzigen Tag haben? Und dann auch noch ausgerechnet Zeta, die Plaudertasche Nummer eins. Meine Leute waren der Dreh- und Angelpunkt der Mission, ohne sie würde ich die Station nicht genug beschäftigen können. Trotzdem passte es mir nicht, wie er sprach. »Ich kümmere mich darum, aber hab in Zukunft ein bisschen mehr Respekt vor deinem Boss, klar?« Das reichte mir als Besprechung, ich verließ wütend die Wohnung, zog Alpha mit mir. Wenn meine eigenen Leute nicht auf mich hörten, würde alles zusammenbrechen. Ein paar Meter vor der Tür blieben wir stehen. »Alles okay, Boss?« Ich schwieg. War in keiner sonst wie gearteten Verfassung über diese Vollkatastrophe zu sprechen. »Nein, aber das spielt keine Rolle. Du besorgst mir ein neues Handy und vermutlich habe ich bald wirklich eine Mission für dich.« Vorfreude leuchtete in seinen Augen auf: »Ist es das, was ich denke?« »Ja.« Niran Ich wollte mich gerade meinem frischen Tee widmen, den Tag Revue passieren lassen und mich um den Papierkram kümmern, als jemand aus einem anderen Bezirk plötzlich einen von Thawats Leuten reinbrachte. Ich freute mich zwar, weil es die Aussicht darauf war, uns weiter zu entlasten. Andererseits war es bereits fünf Uhr morgens und meine ganze Energie war für die Saengsuwans draufgegangen. Mein Tee musste warten und ich saß schon wieder in diesem Raum. Mein Gegenüber diesmal hatte weiße Haare, die in einem starken Kontrast zu seinen dunklen Augen standen. Auf seinen Klamotten war überall Farbe. Vermutlich ein Sprayer. Er sah sich um, wirkte eher neugierig als ängstlich. Von ihm ging eine Aura absoluter Entspannung aus. Ich versuchte den Gedanken abzuschütteln, wie oft ich heute schon hier war. Es war nun mal Teil meiner Arbeit und wenn es dem Bezirk helfen würde, sollte es selbstverständlich sein. »Du bist der neue Cap? Hab‘ schon gesehen, dass du ganz schön hartnäckig bist!«, er lächelte mich an. Mir fiel dazu nur ein Wort ein: Befremdlich. Sein ganzes Benehmen passte überhaupt nicht zur Situation. »Dafür sind Sie nicht hier, Khun Chakan.« Als ich seinen Namen aussprach, zuckte er zusammen. Die Kollegen hatten die Personalien bereits aufgenommen und mir übermittelt. Er war erst achtzehn. Anders als Thawat würden wir ihm sicherlich das ein oder andere nachweisen können. »Gruselig. Kannst du mich Zeta nennen?« So wie die meisten hier, bekam er seinen richtigen Namen scheinbar nicht oft zu hören. Bitten nach einer anderen Ansprache lehnte ich nie ab. »Meinetwegen. Aber dafür erzählen Sie mir alles, okay?« Seine Geschichte deckte sich mit dem, was ich vorher von Thana gehört hatte. Vor zwei Jahren wurde er von Thawat angestiftet, den Bezirk ins Unglück zu stürzen. »Wir sind zumindest keine Schläger. Meine Leute und ich sind für Vandalismus, Einbrüche und Sachbeschädigungen zuständig. Aber wir verletzen niemanden. Meistens jedenfalls.« Wow. Thawat war nicht besonders sorgfältig mit der Auswahl seiner Gang gewesen, wenn diese Leute fröhlich bei der Polizei plauderten. Für uns war es natürlich besser. Irgendwann schien er es auch zu realisieren. »Das hätte ich nicht sagen sollen, oder?«, zum ersten Mal sah ich so etwas wie Panik in seinem Gesicht. »Nein, es ist genau richtig, dass Sie es tun. Warum arbeiten Sie für Thawat? Was haben Sie davon? Sind sie befreundet?« Zeta überlegte für einen Moment. Trotz allem, was er aufgezählt hatte, er machte keinen gefährlichen Eindruck auf mich. Ganz im Gegenteil. Ein netter, junger Mann, der als Bauernopfer in Thawats makabren Spiel herhalten musste. »Ob wir wirklich befreundet sind, keine Ahnung. Er ist der Boss. Wenn man für ihn arbeitet, wird man von den anderen respektiert, weil sie Angst vor ihm und seinen Eltern haben.« Das reichte mir schon. »Zum Schluss noch eine Frage. Sagt Ihnen der Name Jira was?« »Jira? Ja, er arbeitet auch für Tii.« Es war fast schon unfreiwillig komisch, aber das war zumindest etwas handfestes. Auf unserer Seite verzeichnete ich einen sehr erfolgreichen Tag, der uns in dieser Sache ein ganzes Stück weiterbringen würde. Ich empfand keinerlei Freude dabei, doch ich musste es sagen. »Vielen Dank. Khun Chakan, Sie sind vorläufig festgenommen.« Kapitel 6: Zone 6 - Gewissenskonflikte -------------------------------------- Niran Seit Zetas Festnahme war es deutlich ruhiger geworden im Bezirk. Viele Delikte traten seltener auf, vermutlich arbeiteten seine Leute nur, wenn er es befahl. Immer wieder ging mir diese Wette durch den Kopf. Die Zeit war um, der Bezirk war standhaft geblieben. Es machte mich stolz, aber Thawats Pläne würde es mit Sicherheit nicht ändern. »Nii, du denkst nur wieder an die Arbeit, oder?«, hörte ich meine Schwester von der Seite sagen. Wir waren gerade auf dem Weg in eine Bar. An meinem einzigen, freien Tag nahm ich mir Zeit für sie. Natürlich hatte sie Recht, ich war mit meinen Gedanken mal wieder auf der Station. »Tut mir leid, Sari«, gab ich es kleinlaut zu. »Ach was, ich kenne doch meinen Workaholic-Bruder«, sie stellte sich vor mich und breitete die Arme aus. »Komm schon.« Lächelnd fiel ich ihr in die Arme, die sich sofort um mich schlossen. Sari war etwas größer als ich, ihre Nähe beruhigte mich sofort. Alle negativen Gedanken fielen von mir ab und ich genoss dieses Gefühl der Geborgenheit. Ich löste mich von ihr, um sie zu betrachten. Ihre Haare waren zu einem strengen Dutt gebunden, sie trug noch die Bürokleidung aus der Kanzlei. Wir gingen weiter, sahen uns immer wieder gegenseitig an. Meistens konnten wir uns nur abends treffen, weil ich durch den Nachtschichtrhythmus tagsüber einschlafen würde und sie auch alleinerziehend war. »Wie geht’s Junior?«, fragte ich, um das Thema von meiner Arbeitsbesessenheit abzulenken. Früher oder später würden wir ohnehin wieder darüber sprechen. Junior war mein Neffe, er war vor ein paar Wochen eingeschult worden. Das musste eine aufregende Zeit für ihn sein. »Junior geht es gut«, sie lachte leise. »Er fragt ständig nach dir, Nii. In der Schule erzählt er allen davon, dass sein Onkel Polizist ist. Als ob mein Job weniger wichtig wäre«, gespielt empört verschränkte sie die Arme vor der Brust. Genau in diesem Moment betraten wir die Bar, in der das Licht gedämmt war. Aus einer Ecke spielte leise Jazz-Musik, die sich mit den Stimmen der Gäste vermischte. Wir setzten uns direkt an die Bar, viel mehr Optionen blieben uns nicht. Während sie einen Cocktail bestellte, begnügte ich mich mit etwas Alkoholfreiem. »Ich bin mir sicher, dass er auch stolz auf seine Mutter ist«, ergänzte ich. Als wir die Getränke bekamen, nippten wir kurz daran. »Wie dem auch sei, ich bin auf jeden Fall stolz auf ihn. Ich glaube, er hat sich gut in der Schule eingelebt.« Ich erhob mein Glas: »Dann sollten wir darauf anstoßen!« Unsere Gläser klirrten aneinander, wir grinsten uns an. Neben meinen Eltern waren Sari und Junior die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Wenn es ihnen gut ging, dann auch mir. Wie ich es mir dachte, konnte sie das Thema meiner Arbeit noch nicht hinter sich lassen. Andererseits gab es aktuell auch nicht viel anderes, über das ich reden könnte. Sie sah mich vorsichtig an: »Ich habe mir richtig Sorgen gemacht, als ich von deiner Versetzung gehört habe. Ich war mir nicht sicher, ob du diesen Problembezirk überstehen könntest. Und dann war auch das mit dem Feuer in den Nachrichten…« »Sari«, begann ich. »Es ist ja nichts passiert. Wir haben jetzt auch die Unterstützung der anderen Bezirke und ich habe das Gefühl, wir gewinnen langsam wieder die Überhand«, versuchte ich sie etwas zu beruhigen und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Okay, aber was ist mit Thawat?« Da sie Anwältin war, ließ ich das mit der Wette lieber weg und blieb bei der Kurzfassung: »Den kriegen wir schon in den Griff.« Wirklich helfen schienen meine Worte nicht, der besorgte Ausdruck wollte einfach nicht aus ihrem Gesicht verschwinden. »Na gut, du hast bisher durchgehalten, daher will ich dir das mal glauben. Bist du dir sicher, dass du dich in der ganzen Zeit auch nicht überarbeitet hast?« Ich zuckte zusammen, fühlte mich ertappt. Sari kannte mich einfach viel zu gut. Ich legte die Arme auf den Tresen, versuchte mich auf den Inhalt des Glases zu konzentrieren. »Ich habe das Recht zu Schweigen«, gab ich leise zurück. »So funktioniert das nicht, Nii. Ich würde gerne mehr für dich da sein, aber es geht leider nicht. Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst«, ich hörte die Schuld aus ihrer Stimme. Sari fühlte sich nicht nur als große Schwester verantwortlich, sondern auch weil ich sonst kaum Kontakte hatte und allein lebte. Ich wollte aber nicht, dass sie sich schuldig fühlte. Sari war mit Junior und ihrem Job schon genug beschäftigt, da brauchte sie sich um mich nicht auch noch kümmern. »Das weiß ich, Sari. Und das musst du auch nicht«, sprach ich meine Gedanken aus. Ich nahm mir noch einen Augenblick Zeit, dann sprang ich über mein Schatten und erzählte ihr von meinem Zusammenbruch und der Begegnung mit Thawat. Sari stellte ihr Glas so laut ab, dass nicht nur ich zusammenfuhr. Es war ein Wunder, dass nichts überschwappte. »Und genau das meine ich, Nii!«, sie wandte sich mir zu. »Du sagst nichts, lässt dir nicht helfen und gehst danach einfach wieder zur Arbeit?«, Sari ließ mich ihre Empörung darüber deutlich spüren. Ich hatte mit dieser Reaktion gerechnet, doch es wäre auch falsch, es zu verschweigen. Ein Teufelskreis. »Ja.« Seufzend legte sie mir die Hände auf die Schultern, sodass ich sie ansah: »Nii, das geht nicht. Du kannst so einen Zusammenbruch doch nicht einfach wegschlafen und dann tun, als wäre nichts gewesen. Du solltest mit dem Bezirksleiter sprechen und mindestens zwei Wochen Urlaub beantragen.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort wieder sanfter. Ich war mir bewusst, dass es kein besonders gesunder Lebensstil war. Doch gerade jetzt konnte ich meine Leute nicht im Stich lassen. Vorsichtig nahm ich ihre Hände von meinen Schultern. »Sari, es geht mir gut, das kannst du mir glauben. Sobald das mit Thawat abgeschlossen ist, denke ich darüber nach, okay?« Schmollend wandte sie sich wieder ihrem Glas zu: »Bis dahin hast du es doch schon wieder vergessen. Nii, ich habe einfach Angst, irgendwann deine Leiche vor deiner Haustür auflesen zu müssen.« Die Traurigkeit in ihrer Stimme ging mir direkt ins Herz. Ich mochte es nicht, sie so zu sehen, daher sagte ich: »Was kann ich tun, damit es dir besser geht, Sari?« »Du solltest dich in erster Linie fragen, was du tun kannst, damit es dir besser geht«, sie betonte das »Dir« besonders. Es nützte nichts. Sari kannte mich, egal was ich sagen würde, sie wusste, dass ich es ohnehin nicht umsetzen würde. Deswegen wollte ich mich nicht weiter dazu äußern. Ich lehnte mich zurück, sah, dass ihr Blick weicher wurde. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, führten wir diese Diskussion und jedes Mal wusste sie, dass es ohnehin nichts brachte. Nach ein paar Minuten der Stille schlich sich ein Grinsen auf ihr Gesicht. »Aber Nii, du bist nicht ernsthaft Thawat in die Arme gefallen, oder?«, sie sah mich von der Seite an. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Wo kam das denn auf einmal her? »I-in die Arme gefallen? Wie kommst du drauf?«, mir war der Gedanke noch nie gekommen. Doch es wäre mir lieber gewesen, es wäre dabei geblieben. Ich sah auf den Tresen, betrachtete die feine Holzmaserung, als gäbe es nichts Interessanteres. »Logisch betrachtet macht es einfach am meisten Sinn. Sonst wärst du einfach auf den Boden gefallen und hättest dich verletzt. Meinst du nicht?« »Kann sein«, antwortete ich leise. Was auch immer passiert ist, es war gut, dass ich nicht bei Bewusstsein war. Sari lachte laut: »Das hätte ich echt gerne gesehen, Nii. Wie eine Szene aus den Serien, die du immer guckst. Das schaffst auch nur du.« Schmunzelnd trank sie ihren Cocktail. Für mich war es okay, dass sie Spaß auf meine Kosten hatte, solange wir nicht wieder in diese bedrückende Stimmung verfielen. Nachdenklich fuhr sie mit dem Finger am Rand ihres Glases entlang. »Mal abgesehen davon, dass er dich stalkt, was für sich genommen schon krank ist. Für mich klingt das nicht nach jemandem, der ein berüchtigter Verbrecher sein will«, sinnierte sie. »Nachdem ich die Familie kennengelernt habe, bin ich der festen Überzeugung, dass er nur aus Rache versucht ein Verbrecher zu sein.« Es machte die Sache nicht besser, aber hatte meine Sichtweise auf ihn verändert. Und vor allem war es ein Punkt, an dem man ansetzen konnte. »Sieht aus, als wärst du an einer spannenden Sache dran, Nii. Aber pass‘ bitte auf dich auf. Falls die Familie irgendetwas gegen dich machen will, du weißt, wo du mich findest«, sie zwinkerte mir zu. Ich lachte: »Es wird mir hoffentlich erspart bleiben, dein Mandant zu werden.« Gespielt beleidigt stemmte sie die Hände in die Hüften: »Willst du etwa damit sagen, dass ich keine gute Anwältin bin, oder was?« »Du bist die Beste, die ich kenne.« »Und auch die Einzige, oder?« »Ja«, sagte ich und wir lachten beide. Als es später wurde, verließen wir die Bar. Sari kam noch mit zu mir, das war schon ein Ritual von uns. Auch wenn wir gefühlt nur einmal in einer Ewigkeit Zeit dafür hatten. Auf dem Heimweg erzählte sie mir Geschichten ihrer Mandanten, wovon sicherlich einiges der Geheimhaltung unterlag. Ich schloss die Tür auf, schaltete das Licht ein und sie sah sich um. »Sag‘ es nicht«, bat ich sie grinsend. Kopfschüttelnd ließ sie sich auf die Matratze fallen: »Mach‘ ich nicht. Du weißt ohnehin, was ich denke. Such‘ uns lieber eine deiner berühmten Schnulzen raus.« Während Sari es sich gemütlich machte, ging ich zum Schrank mit den Filmen. Ich musste zugeben, gute Liebesfilme und Serien waren ein kleines Laster von mir. Sie durften auch gerne kitschig sein. Vermutlich lag es daran, dass ich wegen meiner Arbeit einfach keine Zeit für sowas hatte. Bisher hatte sich, bis auf ein, zwei kurze Sachen in der Highschool, auch nichts ergeben. Obwohl ich mir immer wünschte, es würde mir genauso wie in den Serien passieren. »Nehmen wir den, den wir schon dreißigmal gesehen haben, oder den bei dem du am Ende immer heulen musst?« »Nichts Trauriges. Nehmen wir was, was wir schon kennen«, schlug sie vor. Ich griff nach dem Film, den wir schon so oft gesehen hatten, dass wir die Dialoge mitsprechen konnten. »Was Neues wäre auch langweilig, oder?«, fragte ich, als ich die DVD in den Player legte. »Absolut.« Ich setzte mich neben Sari, die ihren Kopf auf meine Schulter legte. Als der Vorspann lief, sagte sie: »Wir sollten unsere Eltern mal wieder besuchen.« Es stimmte mich nachdenklich, denn auch dafür hatte ich zu wenig Zeit. »Sollten wir. Ich werde es mir auf die To-Do-Liste schreiben«, erwiderte ich. »Häng‘ sie dir an den Kühlschrank, okay?« »Mach‘ ich.« Als der Film anfing, waren wir viel zu sehr damit beschäftigt, unsere Lieblingsszenen mitzusprechen, als dass wir über irgendetwas anderes nachdenken konnten. Ich schlug die Augen auf, Saris Kopf lag immer noch auf meiner Schulter. Sie musste heute nicht arbeiten, daher nahm ich sie vorsichtig an den Schultern und legte sie ins Bett. Ich griff nach meinem Handy, um Junior anzurufen. »Onkel Nii! Hallo!« Bei dieser Begrüßung ging mir direkt das Herz auf. Mein kleiner Junior. Es war noch Recht früh, daher kam mir eine Idee. »Hallo, Junior. Ich wollte dir sagen, dass Mama bei mir ist.« »Ja, das weiß ich. Ich vermisse dich, Onkel Nii. Meine Freunde in der Schule sind alle neidisch, wenn ich erzähle, wie du gegen das Böse kämpfst!« Diese kindliche Begeisterung war wirklich nicht zu übertreffen. Zum Glück sah er nicht, wie viel Papierkram dahintersteckte. »Das freut mich, Junior. Aber übertreib es nicht, okay? Ich bin ja kein Superheld.« »Für mich schon. Ich habe dich auch gemalt und das Bild hängt in unserer Klasse.« Mittlerweile hatte ich auch im Büro schon einige Bilder aufgehängt, die Junior gemalt hatte. »Super. Weißt du was? Ich vermisse dich auch. Was hältst du davon, wenn ich Mama nach Hause bringe und dann noch ein bisschen bleibe?« Bis zu meiner Schicht war ohnehin noch Zeit und mir würde die Abwechslung auch guttun. »Ja!« Ich konnte sein Strahlen fast durch das Handy hören. Ich versprach ihm vorbeizukommen und legte auf. Vorsichtig stieß ich Sari an, um sie zu wecken. »Mhm?«, brummte sie und rieb sich die Augen. »Ich bring‘ dich nach Hause, Sari. Ich habe mit Junior gesprochen und beschlossen, ihm noch einen Besuch abzustatten.« Allein dieser Satz ließ sie hellwach werden. »Echt?« »Ja.« Wir machten uns schnell frisch, dann stiegen wir ein. Mein Auto hatte ich nur für solche Zwecke, es war alt und ich kümmerte mich nicht viel darum. Langsam war ich mir nicht sicher, ob es nicht doch zwischendurch auseinanderfallen könnte. Durch unsere Dienstwagen war ich einen deutlich höheren Standard gewohnt. Meine Schwester wohnte etwas abgelegen, die Fahrt würde in etwa zwanzig Minuten dauern. Es war noch nicht einmal mittags und trotzdem schon ziemlich heiß. Sari fächelte sich Luft zu. »Am besten ich schenke dir ein neues Auto zum Geburtstag«, sagte sie. »Auf gar keinen Fall. Tut mir leid, dass die Klimaanlage nicht funktioniert«, entschuldigte ich mich. In Thailand nicht unbedingt die beste Voraussetzung. »Schon okay. Solange es noch fährt.« Ich wusste in diesem Moment schon, dass ich auf der Schicht müde sein würde, wenn ich jetzt nicht schlief. Doch es war mir egal. Alles andere konnte auf der Strecke bleiben, meine Familie nicht. Für sie hatte ich ohnehin schon viel zu wenig Zeit. Irgendwie hielt das Auto es noch durch und wir erreichten das Haus meiner Schwester. Sie hatte sich ihren Traum wahrgemacht, ein eigenes Haus zu besitzen. Als wir vor dem Tor warteten, kam Junior raus, um es uns zu öffnen. Sari lebte allein mit Junior in diesem Haus, sein Vater war vor ein paar Jahren verschwunden. Kaum ausgestiegen, stürmte er auf mich zu. Ich hob ihn hoch: »Na, Junior?« »Onkel Nii!«, seine kleinen Arme legten sich um mich und erdrückten mich fast. Ich hielt ihn fest, trug ihn ins Haus. »Onkel? Können wir Verbrecher und Polizist spielen? Und du bist der Verbrecher, okay?« Polizist war ich schließlich auch schon genug. Sari ging in die Küche, holte uns etwas zu trinken. »Erst trinkst du was, Junior. Deine Mutter könntest du auch noch begrüßen«, erklärte sie leicht genervt. Ich setzte ihn ab. »Hallo Mama«, sagte er und nahm ihr die Flasche Wasser ab. Ich sah mich in der Wohnküche um. Ich hatte das Gefühl, dass sich etwas geändert hatte. »Hast du renoviert, Sari?«, fragte ich, denn weder die Couch noch die Böden kamen mir bekannt vor. »Ach das?«, sie drückte auch mir eine Flasche Wasser in die Hand. »Ja, schon länger. Ich brauchte einfach mal was Neues.« »Sieht gut aus«, ich nickte anerkennend. Anders als ich, hatte meine Schwester Geschmack, was Inneneinrichtung anging und sie legte auch Wert darauf, dass Junior ein schönes Zuhause hatte. Darauf war ich schon immer neidisch gewesen. »Nii, du hast ja kein Problem damit, wenn ich mich noch ein bisschen hinlege, oder? Ich meine jetzt wo ich einen Babysitter habe«, sagte sie und war schon halb auf der Treppe verschwunden. »Ja klar, mach‘ das ruhig.« Junior, der zwischendurch verschwunden war, kam aus seinem Zimmer zurück. Mit Plastikwaffe und Polizeiuniform. »Also, wir spielen so: Du überfällst eine Bank und ich muss dich einfangen, okay?« Da konnte ich mich natürlich nicht widersetzen. Wir gingen in den Garten, weil es dort mehr Platz gab und ich auch Saris Inneneinrichtung verschonen wollte. Das alte Gartenhaus musste als Bank herhalten. Ich tat, als würde ich mich an der Tür zu schaffen machen: »Ha, jetzt werde ich das ganze Geld nehmen und niemand wird mich aufhalten!« »Halt! Polizei! Sie sind umstellt!«, rief Junior. Als ich mich umdrehte, stand er mit gezückter Waffe vor mir. »Ich habe keine Angst vor der Polizei!«, dann lief ich los. »Stehenbleiben!« Ich lief betont langsam, damit Junior eine Chance hatte, mich einzuholen. »Peng! Ich habe geschossen!« Dramatisch hielt ich mir das Bein und sank zu Boden: »Argh, das können Sie doch nicht machen!« Ich versuchte das Gesicht zu verziehen, meine Schauspielkünste würden dafür noch gerade so ausreichen. Junior stand vor mir, einen entschlossenen Ausdruck aufgesetzt: »Und ob ich das kann. Bei mir hat das Böse keine Chance!« Ich robbte noch ein wenig vor, um eine Flucht vorzutäuschen. Die Nachbarin, die skeptisch über den Zaun sah, versuchte ich so gut es ging zu ignorieren. »Ich..gebe…nicht…einfach auf!«, ich verstellte meine Stimme, sodass es sich anhörte, als müsste ich mich anstrengen. Junior nahm sein Plastikfunkgerät zur Hand: »Krch, Krch. Captain Junior fordert Verstärkung an. Der Bankräuber ist verletzt, aber er will fliehen!« Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, wie es aussah. Und auch über meine Kleidung nicht. Solange Junior Spaß hatte, war es mir das wert. »Captain Junior, da hinten! Da ist noch ein Verbrecher!«, begann ich mein Ablenkungsmanöver. Junior warf sich auf mich, ich spürte wie die Luft aus meinen Lungen entwich: »Ich..ergebe mich!« Er legte mir Plastikhandschellen an und ich stand auf, um mich ins Gefängnis führen zu lassen. Natürlich immer noch mit dem verletzten Bein. Wenn das mit den bösen Jungs immer so einfach wäre. »Wer böse ist, muss eingesperrt werden!« »Aber Captain, wie lange muss ich denn im Gefängnis bleiben?«, erkundigte ich mich, als Junior mich in Richtung Gartenlaube schob. »Tausend Jahre mindestens!« Das war eine ordentliche Haftstrafe für einen Banküberfall. Bevor ich die Strafe jedoch antreten konnte, ließ Junior die Waffe sinken. »Kann ich dir jetzt zeigen, was ich gemalt habe, Onkel Nii?« »Klar.« Während wir ins Haus gingen, klopfte ich mir die Klamotten ab. Wir gingen die Treppe rauf zu Juniors Zimmer, auch hier hing alles voll mit Polizeikram. Ein bisschen Bedenken hatte ich schon, ob das nicht zu viel war. Er legte die Waffe in eine Schublade, gab mir mehrere lose Zettel in die Hand. »Das habe ich gemalt«, verkündete er stolz. Ich setzte mich auf sein Bett und sah mir die Bilder an. Ich. Ich. Ich. Seine Mutter. Ich. Ich. Also gut, da konnte man als Mutter schon mal neidisch werden. Wenn er mich malte, grundsätzlich in Uniform, so viel konnte ich von den Farben her erkennen. Ungelenke Buchstaben zierten die Bilder, er hatte meinen und seinen Namen dazu geschrieben. »Das kannst du schon schreiben?«, fragte ich erstaunt. »Ja. Wir haben die Buchstaben noch nicht gemacht, aber ich habe meine Lehrerin gefragt«, er stand vor mir und strahlte mich an. »Super!« Er fiel mir in die Arme und ich legte die Zettel beiseite. »Irgendwann werde ich Polizist, so wie du. Und dann werde ich die Welt retten!« Ich klopfte ihm auf den Rücken: »Du wirst bestimmt ein ganz toller Polizist.« Junior löste sich und setzte sich neben mich. Sein Ausdruck wurde nachdenklich. So sah er immer aus, wenn er etwas sagen wollte. »Junior?« Er sah auf den Boden: »Hast du schon mal einen neuen Papa bekommen?« Es ließ mich sofort aufhorchen. Vor allem, wenn er sich Sorgen darüber machte. Wir hatten kaum über Sari gesprochen, aber normalerweise würde sie mir sowas erzählen. »Nein, Junior. Wieso? Machst du dir Sorgen?«, ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ein bisschen. Ich mag ihn, aber was ist, wenn er wieder geht?« Ich zog Junior an mich: »Das wird deine Mama entscheiden. Aber du brauchst keine Angst haben, okay?« »Ja, okay.« Ich holte mir einen Stuhl und wir setzten uns zusammen an seinen Schreibtisch, um zu malen. Das würde ihn ein bisschen ablenken. Meine künstlerischen Fähigkeiten konnten ungefähr mit meinem Schauspieltalent mithalten. Ich stufte sie in Richtung nichtexistent ein. Ich half ihm lieber mit den Buchstaben. Der Gedanke an den neuen Mann von Sari ließ mich nicht los. Wieso hatte sie nichts gesagt? Mir fielen genügend Gründe ein. Einer davon war ihre selbstlose Art und ihre Angewohnheit, sich mehr Sorgen um mich, als um sich selbst zu machen. »Onkel! Den Buchstaben schreibt man nicht so!«, beschwerte sich Junior und holte mich aus meinen Gedanken. Ich sah auf das Blatt, hatte tatsächlich einen Fehler gemacht. Ich bat Junior es zu korrigieren, was er auch sofort machte. Ich sah immer wieder auf die Uhr, wollte ihn nicht enttäuschen, aber langsam musste ich mich verabschieden. »Komm‘ wir gehen Mama wecken«, ich wuschelte ihm durch die Haare. An Saris Schlafzimmer angekommen, sah ich, dass sie scheinbar tief und fest schlief. »Soll ich dir zeigen, wie ich Mama immer wecke?«, fragte er. Ohne meine Antwort abzuwarten, begann er, auf dem Bett herumzuspringen. Sari erhob sich langsam, sah mich an: »Musst du schon gehen?« Gekonnt ignorierte sie Junior, der neben ihr wie ein Flummi auf und ab hüpfte. »Ja, ich muss leider. Ich will auf der Schicht nicht einschlafen.« Mein Blick fiel auf Junior: »Kann ich dich gleich kurz noch sprechen, Sari?« Sie zog die Augenbrauen hoch, schien aber nichts dagegen zu haben. Sari stand auf, streckte sich. Für sie musste es gut gewesen sein, sich den Vormittag über nicht um Junior kümmern zu müssen. Auch sie brauchte ab und zu eine Pause. »Junior, hörst du bitte auf, auf dem Bett herumzuspringen? Ich rede noch kurz mit Onkel, dann kannst du dich verabschieden, okay?« Er hörte auf. »Ja, Mama.« Auf dem Balkon sah sie mich fragend an: »Also, was hat Junior dir erzählt? Obwohl, ich kann es mir schon denken.« »Er hat mir etwas von einem neuen Papa erzählt.« Seufzend lehnte sie sich auf das Geländer und sah in die Ferne: »Du weißt doch, wie er ist. Sobald sich irgendetwas anbahnt, spricht er sofort davon. Falls du dich fragst, warum ich das gestern nicht erzählt habe, Nii, es ist noch alles ziemlich frisch. Ich will mir da erst sicher sein.« Ich legte ihr einen Arm um die Schulter: »Ist doch okay. Ich dachte mir nur, dass es doch schön wäre, wenn sich auch mal jemand um dich Sorgen macht.« »Danke.« Ich wurde von Junior noch verabschiedet und durfte eins seiner Bilder mitnehmen. Ich verließ das Haus meiner Schwester mit einem Lächeln. Das hatte mir richtig gutgetan. Bevor ich auf mein eigenes Revier zurückkehrte, statte ich dem 53. Bezirk einen Besuch ab. Ihr Büro sah nicht viel anders aus als unseres, aber es war um einiges ordentlicher. Ich wurde freundlich begrüßt und sofort zu Captain Kasem durchgewunken. Ich setzte mich zu ihm an den Schreibtisch, auch hier war es ordentlich. Ich wünschte, ich hätte Zeit dafür. »Oh, da bist du ja. Was bist du denn so erstaunt, Niran?«, fragte er amüsiert. Ich stockte. Wieso ließ er denn plötzlich die Anrede weg? Ich brauchte kurz, um zu antworten. »Dass es hier so ordentlich ist, da hätte ich nie im Leben Zeit für. Und wieso du mich nicht mit Titel ansprichst«, murmelte ich vor mich hin. Er legte mir einen Arm um die Schulter: »Tut mir Leid, ich wollte dich damit nicht überfallen. Aber ich finde es albern, wenn sich Captains untereinander mit Titel anreden. Meinst du nicht?« Langsam entzog ich mich seinem Arm, das war mir nicht geheuer. »Ja, klar. Müssen wir nicht«, gab ich unsicher zurück. Captain Kasem zwinkerte mir zu und trank aus seiner Tasse. Einfach nicht drüber nachdenken. Ich war schließlich nicht ohne Grund hier. »Also, Kasem, ich habe dir grob geschildert, worum es geht. Und vor allem, warum ich das mit dir und nicht mit dem Bezirksleiter besprechen wollte«, begann ich. Er seufzte: »Sie haben diesmal wirklich nichts unversucht gelassen, oder?« »Nein, absolut nicht. Er weiß nur noch nicht, dass ich seine Spielchen längst durchschaut habe.« Anstatt darauf einzugehen, kramte er eine Akte aus der Schublade hervor und gab sie mir in die Hand. »Also aktentechnisch ist ihm nichts Verdächtiges nachzuweisen. Wie sieht es bei dir aus?« Abwesend blätterte ich in der Akte. »Thawats Bruder hat mir bestätigt, dass er ihn kennt. Zeta hat mir bestätigt, dass er für Thawat arbeitet. Anderweitig gab es von meiner Seite aus genug Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Als das Feuer war, hat er in meinen Akten gelesen, er schleicht sich des Öfteren zum Telefonieren raus«, zählte ich die Verdachtsmomente gegen Jira auf. Captain Kasem sah nachdenklich auf seinen Bildschirm: »Dann weiß er höchstwahrscheinlich auch von der Sonderkommission.« Genau das war der Punkt. Wir konnten noch so ausgeklügelte Strategien entwerfen, solange Jira da war, würde es alles nach außen dringen. »Leider, ja. Ich wusste aber nicht, was ich machen soll. Nur weil er ein paar Leute kennt, heißt es nicht, dass ich eine Handhabe gegen ihn habe«, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Diese Sache schlug mir schon die ganze Zeit auf den Magen, daher musste das endlich ein Ende nehmen. Versöhnlich schüttelte er den Kopf: »Ich gebe dir nicht die Schuld, Niran. Du hast bisher sehr gute Arbeit geleistet. Das wird unsere Mission nicht gefährden.« »Dass du dir da so sicher bist«, als er seine Hände auf meine Schultern legte, zuckte ich zusammen und sah ihn automatisch an. »Warum bist du denn so unsicher?« »Es ist einfach, alle erwarten von mir, dass ich jederzeit alles im Griff habe. Alle denken, ach, Captain Niran wird es schon richten«, sprudelte es aus mir heraus. Ich biss mir auf die Lippe. Warum konnte ich mich nicht einfach zurückhalten? Er verstärkte seinen Griff: »Warum wohl? Weil sich niemand bisher getraut hat, Thawat in diesem Ausmaß entgegenzutreten! Außerdem bist du doch nicht alleine. Du hast uns und auch dein Team.« Seine Worte halfen tatsächlich, dass ich mich ein bisschen besser fühlte. Der Druck des Bezirks würde jedoch nicht aufhören, solange die Sache nicht endgültig geklärt war. »Das stimmt. Danke. Aber wie gehe ich das mit Jira jetzt an?«, schlug ich den Bogen wieder zu unserem eigentlichen Thema. »Versuch‘ dir noch einmal die Zeit zu nehmen, alles Relevante zusammenzufassen. Dann konfrontierst du ihn direkt. Je nachdem, wie er reagiert, hast du zwei Möglichkeiten«, er ließ von mir ab und lehnte sich zurück. »Gibt er es zu, bittest du ihn, sich freiwillig versetzen zu lassen. Er kann ruhig einen fadenscheinigen Grund angeben, schließlich sollte das mit dem Personal kein Problem mehr sein. Wenn er es abstreitet, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als den offiziellen Weg über den Bezirksleiter zu gehen. Jira sollte sich das gut überlegen, ansonsten ist seine Karriere ganz schnell vorbei.« Nachdenklich nickte ich, hoffte darauf, dass er uns den offiziellen Weg ersparen würde. Egal was für eine Intuition schlussendlich dahinter stand, auch Jira zählte ich zu Thawats Schachfiguren. Ich wollte ihn davor bewahren, dass seine Zukunft Thawats verdrehten Plänen zum Opfer fiel. Falls wir jemals komplett dahinter steigen würden, wollte ich gar nicht wissen, wie weit das Ganze am Ende reichte. »Alles klar. Genauso werde ich es machen. Danke für den Rat, das hilft mir sehr, Kasem.« Er lächelte mich an und ich konnte den Blickkontakt nicht lange aufrechthalten, da ich ansonsten das Gefühl hatte, es könnte eine komische Stimmung entstehen. Eine, die ich noch nicht so recht deuten konnte. Notiz an mich selbst: Nicht zu nett zu Kasem sein. »Sehr gerne, Niran. Ich hoffe, dass du es schnell klären kannst.« »Das hoffe ich auch.« Die Begegnung mit Captain Kasem hatte mir Hoffnung gegeben, dahingehend weiterzukommen, die Station wieder in einen guten Zustand zu versetzen. Ein bisschen verwirrt hatte sie mich jedoch auch, wegen seiner Gesten und der plötzlichen Anrede ohne Titel. Er wollte doch nicht etwa? Ich schlug mir diesen Gedanken aus dem Kopf. Als ich plötzlich jemanden vor meinem Auto sah, machte ich eine Vollbremsung. Sofort waren alle meine Gedanken wie gelöscht. Ich schaltete in den Alarmmodus, mein Puls erhöhte sich. Kaum war das Auto zum Stehen gekommen, sprang ich heraus. Ich beruhigte mich etwas, als ich sah, dass nichts passiert war. Den, den ich fast überfahren hatte, kannte ich nur zu gut. War Thawat jetzt schon lebensmüde? »Thawat, was soll das? Zwei Zentimeter mehr und ich hätte dich überfahren!«, rief ich. Er zuckte nur mit den Schultern: »Hast du ja nicht.« Es machte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, also versuchte ich es zu lassen. Dieser Mann gab mir Rätsel auf. Daran, dass er verrückt war, war jedenfalls nicht zu rütteln. Ich atmete tief aus. »Also, was ist so wichtig, dass du mir dafür vors Auto springen musst?« Wollte er etwa doch mit mir reden? Stattdessen zog er einen Umschlag aus seiner Jackentasche. »Was ist das?« Thawat kam auf mich zu, hielt mir den Umschlag hin: »Meine Wettschulden. Du hast gewonnen, Cap.« Aktuell scheine ich absurde Situationen anzuziehen, sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Vorsichtig drückte ich seine Hand mit dem Umschlag von mir. »Deine Absichten in allen Ehren. Aber ich kann und werde das nicht annehmen«, sagte ich und hoffte auch diesmal, dass wir nicht von irgendjemandem gesehen wurden. Es war zwar spät, aber man wusste nie, wer noch unterwegs war. »Warum nicht?« »Weil das unter Korruption fallen würde«, gab ich kurzangebunden zurück. Ich hätte niemals gedacht, dass er die Wette so ernstnehmen, geschweige denn, seine Niederlage eingestehen würde. Schulterzuckend steckte er den Umschlag wieder ein. »Warum hast du dann überhaupt mit mir gewettet? Soweit ich weiß, sollten Cops das auch nicht«, fragte er mit einem Schmunzeln. Damit erwischte er mich eiskalt, denn es stimmte. Doch es gab einen guten Grund: »Sollten wir nicht. Ich habe es gemacht, damit ihr seht, dass wir keine spießigen Typen sind, die nicht mit sich reden lassen.« Thawat lachte: »Schon verstanden, Cap. Aber das spießig würde ich bei dir nicht weglassen.« Sollte er doch denken, was er wollte. Doch es behagte mir nicht. Dafür, dass er die Wette verloren hatte und Zeta festgenommen wurde, war er viel zu glücklich. »Was planst du?«, wagte ich den direkten Versuch. »Glaubst du echt, dass ich dir das jetzt erzähle, oder was?«, er zündete sich eine Zigarette an. »Nein, so naiv bin ich nicht. Aber ein Versuch war es wert«, auch wenn man Direktheit bei ihm nicht weiterkam, mit Indirektheit würde man erst recht nichts erreichen. Ich war schon im Begriff, wieder ins Auto einzusteigen, da sagte er: »Aber mach‘ dir keine Sorgen. Du wirst mich noch oft genug sehen.« Als ob das so eine schöne Aussicht wäre. Ich musste mich dringend dahinterklemmen, was er noch planen könnte. Aber egal was mir in den Sinn kam, es ließ mich alles mit einem mulmigen Gefühl zurück. Jira reagierte erstaunlich gelassen auf die Vorwürfe. Ich hatte alles aufgezählt und ihm unter anderem Zetas Statement vorgespielt. »Ja, das kann ich schlecht noch abstreiten, oder? Ich spreche freiwillig mit dem Bezirksleiter.« Ich war fast geschockt, wie reflektiert er plötzlich war. Ich konnte es mir nur damit erklären, dass es ein Abkommen gab. Es würde Sinn machen, denn sobald es offiziell würde, würde Thawats Name auch fallen. War es etwa ein Fehler, ihm diese Option zu geben? Egal, wir mussten ihn erst einmal aus der Station rauskriegen. »Gut, dann bin ich froh, dass wir das ohne großes Aufheben klären können. Darf ich fragen, warum du deine Karriere dafür aufs Spiel setzt?« »Darfst du nicht«, schmetterte er mich ab und verließ den Raum. Es war das letzte Mal, dass man ihn in unserer Nachtschicht sah. Dieses Rätsel würde ich wohl nur mit Thawats Hilfe lösen können. Wieder ein Erfolg. Ein weiteres Mal konnte die Station aufatmen. Ich hatte das Gefühl, dass wir immer mehr Kontrolle gewannen. Thawat Ich war wütend, dass ich nicht wütend sein konnte. Cap hatte innerhalb eines Monats alle meine Pläne ruiniert, Jira rausgeschmissen und Zeta festgenommen. Aktuell hatte er den Bezirk komplett im Griff. Trotzdem störte es mich nicht so sehr, wie es sollte. Ich trank von meinem Bier, Alpha stieß seins dagegen. »Auf alles, was uns misslungen ist.« »Ja, auf uns.« »Tii, was machen wir jetzt?« »Keine Ahnung. Aber es muss irgendwie gehen, den Bezirk wieder unter Kontrolle zu bekommen«, sagte ich in die Nacht hinein. Wie üblich hingen wir nachts in unserer Seitenstraße rum. »Bist du gar nicht sauer?«, fragte Alpha. Er sah mich an, als er von seinem Bier trank. »Ich wäre es gerne, aber irgendwie kann ich es nicht«, gab ich nachdenklich zurück. »Ich weiß aber, was dich sauer machen könnte«, hörte ich Rhos Stimme plötzlich aus der Dunkelheit. Wo kam der denn her? Noch bevor ich auf irgendetwas reagieren konnte, fühlte ich einen Schlag in meinem Gesicht. Der Schmerz fuhr mir bis in den Kopf, ich taumelte zurück und das Bier fiel mir aus der Hand. Stimmt. Jetzt war ich sauer. »Was soll der Scheiß?«, fragte ich und rieb mir die Wange. »Wie war das? Du kümmerst dich? Warum haben sie Zeta dann festgenommen?«, rief er mir entgegen. »Ja, das habe ich gesagt, aber was sollte ich denn bitte so schnell machen?« Kurz nachdem die Info reinkam, dass Zeta zu Cap gebracht wurde, hatte Jira mich angerufen. Zeta wurde direkt nach dem Gespräch dort festgehalten. »Weiß‘ ich nicht. Aber hast du dich seitdem bisher auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken beschäftigt, was du tun könntest, um ihn wieder rauszuholen?«, wetterte er weiter. Rho atmete schwer, hatte einen mörderischen Blick in den Augen. Ich hasste es, dass er Recht hatte. Zeta war nicht mehr als ein weiterer Grund auf meiner Liste gewesen, warum ich genervt sein sollte. Als ich nicht antwortete, holte Rho erneut aus, wurde diesmal jedoch von Alpha gestoppt. »Lass den Scheiß, Rho. Tii kann nichts dafür, dass der Idiot sich hat schnappen lassen!«, ob gewollt oder nicht, damit hatte er Rhos volle Aufmerksamkeit. »Zeta ist kein Idiot! Außerdem kann Tii wohl was dafür, denn er hätte den dämlichen Captain schon längst loswerden müssen!« Bevor ich protestieren konnte, begann Rho auf Alpha einzuschlagen. Was war hier eigentlich los? Alpha wehrte sich und schon noch ein paar Minuten trug Rho sichtliche Verletzungen im Gesicht davon. Rho schaffte es kaum, sich gegen Alpha durchzusetzen. Der hatte deutlich mehr Erfahrung und war auch um einiges stärker. Verdammt. Ich konnte doch nicht einfach nur zusehen. Daher packte ich Rho an der Schulter, um ihn von Alpha fernzuhalten. Sofort entzog er sich meinem Griff, hielt jedoch inne. Beide Hände waren zu Fäusten geballt, ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Doch mir kam die Szene in den Sinn, die ich letztens beobachtet hatte und dann machte es Sinn. »Komm‘ runter, Rho. Gegen Alpha hast du keine Chance«, versuchte ich zu vermitteln, stattdessen handelte ich mir direkt den nächsten Schlag ein. Ich landete auf dem Boden, mein Gesicht schmerzte. Rho stand mit erhobener Faust vor mir: »Du kannst ab jetzt deine dämlichen Spielchen alleine machen! Weder ich noch meine Leute noch Zetas Leute werden für dich arbeiten!« Rho verschwand in der Dunkelheit und ich konnte nichts tun, als dazusitzen und versuchen zu verarbeiten, was gerade passiert war. Ich nahm die Bierdose und zerquetschte sie in meiner Hand. Sah zu, wie das Bier an meiner Hand herunterlief. Er meinte echt, er könnte so mit mir umspringen und es würde keine Konsequenzen haben? Alpha kam auf mich zu, reichte mir eine Hand und zog mich auf die Beine. Wie vermutet hatte er erstaunlich wenig von Rho abbekommen. »Was geht mit dem?«, Alpha schlug seine Faust gegen die flache Hand. Ich konnte nicht zulassen, dass Rho meinte, mich einfach schlagen zu können. Mir kam eine Idee. Dann würde man mich nicht mehr für den Idioten halten, der es nicht schaffte, seinen Bezirk unter Kontrolle zu halten. Meine Pläne waren ohnehin ruiniert, also würde ein Idiot mehr oder weniger auch keinen Unterschied mehr machen. »Ist doch scheißegal, Alpha. Wenn er doch so gerne bei Zeta ist, lass uns zusehen, dass er ebenfalls eingebuchtet wird. Auf seine mickrigen Leute kann ich gerne verzichten.« »Wir werden ihn auflaufen lassen?«, Alpha setzte ein Grinsen auf und wir schlugen ein. »Worauf du dich verlassen kannst.« Ich konnte nicht noch mehr Ansehen als Boss verlieren. Irgendwann würde mich niemand mehr ernst nehmen. Wenn ich schon den Bezirk nicht haben konnte, dann wenigstens das. Dann würde ich Cap eben mit meinen eigenen Leuten beschäftigen. Sobald ich mit diesem Idioten fertig war, würde ich mich um meine Familie kümmern. Feststand, wenn wir fertig waren, würden weder Rho noch Thana was zu lachen haben. Ich wartete vor dem Geschäft, rauchte und es fühlte sich gut an, diese Wut wieder zu spüren. Das war eben Thawat, der sich nicht unterkriegen ließ. Genauso musste es sein. Ich durfte nicht länger zulassen, vor Cap wie ein Weichei dazustehen. Betont gelangweilt sah ich zu, wie Alpha Rho anschleppte. Der wehrte sich, hatte in Alphas Griff aber keine Chance. Die roten Haare schwangen wild mit, als er sich erfolglos versuchte zu befreien. »Lasst mich einfach in Ruhe!« Als Alpha ihm eine Waffe an den Rücken hielt wurde er plötzlich still und wehrte sich auch nicht mehr. Ich verschränkte die Arme: »Naja, vielleicht sollte man seinen Boss nicht für verweichlicht halten, Rho. Du kannst Zeta dann gerne von der Zelle aus retten.« Ich schnipste die brennende Zigarette vor seine Füße. »Das machst du nicht!«, rief er und die Panik war ihm ins Gesicht geschrieben. Ich empfand Genugtuung ihn so zu sehen, konnte es aber nicht komplett auskosten. Weil dieses dämliche Gewissen immer an mir nagte. Zieh‘ es durch, Thawat. »Alpha«, sagte ich nur und deutete mit dem Kopf auf den Laden. »Du tust besser, was wir sagen, sonst wirst du nicht nur eine Zelle von innen sehen«, drohte Alpha ihm und ich konnte sehen, dass es ihm Spaß machte. Ich schüttelte die letzten Zweifel ab. Rho würde schließlich nicht sterben und er war kriminell, also was machte es da schon, wenn er in der Zelle landen würde? Alpha gab den Befehl, dass er in den Laden einbrechen sollte. Wir blieben in der Nähe, um sicher zu gehen, dass er nicht flüchten würde. Rho fügte sich, doch ich sah selbst aus der Ferne die Tränen in seinen Augen glitzern. War ich zu weit gegangen? Noch könnte ich ihn aufhalten. Doch ich stand einfach nur da und sah zu, wie er sich selbst ins Unglück stürzte. Durch die Diebstahlsicherung dauerte es nicht lange, bis der Alarm anging, als Rho sich an der Tür zu schaffen machte. Nicht lange und die Cops würden hier sein. Rho kannte Alpha wohl auch gut genug, um zu wissen, dass dieser von der Waffe Gebrauch machen würde. Keine fünf Minuten später kam die Polizei mit zwei Streifenwagen. Cap war nicht dabei, obwohl wir uns mitten im 54. Bezirk befanden. Ich stupste Alpha an der Schulter an: »Lass‘ uns gehen.« Nachdem Alpha und ich uns entfernt hatten, gab es noch eine letzte Amtshandlung für mich. Bevor ich mich neu aufstellen würde, musste ich diese Sache noch erledigen. »Du kannst deine Mission antreten, Alpha. Ich will, dass du Thana eine Lektion erteilst.« Ohne Weiteres rauschte er davon. Doch ich empfand nichts als Leere. Ich war einfach nur noch verwirrt. Auch wenn ich die Sache mit Rho am Anfang als Genugtuung empfunden hatte, fühlte sich auf einmal alles so sinnlos an. Cap war noch da, meiner Familie hatte es nur minimalen Schaden zugefügt. Ich befand mich vor einem kleinen Laden, schüttete den gekauften Alkohol in mich rein. Ich trank alles durcheinander, irgendwie musste ich diese Gefühle loswerden. Warum tat ich das alles? Waren mir die Anderen wirklich egal? Würde es irgendetwas ändern? Je mehr Alkohol ich trank, desto besser konnte ich diese Fragen betäuben. Cap hatte mich komplett vom Weg abgebracht, er hatte alles vereitelt. Wäre er einfach gegangen, hätte ich weitermachen können wie bisher. Aber gerade wirkte es nur so, als würde ich mich selbst ins Unglück stürzen. Er schaffte es nicht nur souverän den Bezirk zu beschützen, sondern auch mich aus dem Konzept zu bringen. Ich starrte die leere Flasche an, wusste nicht mal, was ich trank. Achtlos warf ich sie zu Boden und sah zu, wie sie zerbrach. Genauso wie das alles hier. Nur noch Trümmer und Scherben. Nichts machte Sinn. Die Umgebung vor mir verschwamm durch die Tränen. Ich wandte mich dem Laden zu, nahm eine der Flaschen und warf sie gegen die Scheibe. Die Nächste trank ich auf Ex. Der Verkäufer hatte noch zu tun, also nichts von meiner Randale mitbekommen. Der Alkohol brannte in meiner Kehle, fing langsam an, mir die Sinne zu benebeln. Meine Sicht verschwamm, wenn ich versuchte zu laufen, schwankte ich. Doch es reichte mir nicht. Heute würde ich mich komplett abschießen, wenn ich dabei draufgehen würde, dann war es eben so. Ich schaffte es noch in den Laden zu taumeln, weil mein Vorrat aufgebraucht war. Vor dem Regal versuchte ich nach einer der Flaschen zu greifen, doch meine Bewegungen waren ungenau und ein paar Flaschen fielen auf den Boden. Ich ignorierte es einfach und wollte mich mit der Flasche davonmachen, da stand der Verkäufer vor mir. Er hielt mir das Handy auf Augenhöhe vor die Nase, aber ich konnte darauf nichts erkennen. »Wenn du versuchst, hier zu randalieren, rufe ich die Polizei!«, drohte er mir. Ich nickte und lachte ihn an: »Ja, bitte. Und sag ihnen, dass sie Cap schicken sollen.« Ich ließ mich vor ihm auf den Boden sinken, trank einfach aus der neuen Flasche. »Sowas habe ich auch noch nicht gehört. Übrigens ist das Ladendiebstahl«, beschwerte er sich, aber es war mir egal. Unter dieses betäubende Gefühl mischte sich Panik. Ich dachte an Alpha. Was würde er machen? War das zu gefährlich? In dem plötzlichen Anfall von Unsicherheit griff ich nach dem Bein des Verkäufers, der mich jedoch sofort abschüttelte. »Lass‘ das. Da du es unbedingt willst, rufe ich jetzt an.« Der Gedanke, dass Cap hier auftauchen könnte, beruhigte mich etwas. Ich musste mit ihm reden. Ich hatte das Gefühl, nur er konnte mir jetzt noch helfen. Niran Als wenn der Tag nicht schon komisch genug war, hatte ich noch diesen ominösen Anruf aus dem Geschäft bekommen. Ein Besoffener mit roten Strähnen wollte mich unbedingt sprechen? Naja, ich fühlte mich verantwortlich für ihn, dazu gehörte es wohl auch, ihn betrunken irgendwo aufzulesen. Ich verstand seine Strategie einfach überhaupt nicht mehr. Jetzt begann er schon, die eigenen Leute auszuliefern. Mich beschlich wieder diese Vorahnung, dass bald irgendetwas explodieren würde. Also entweder war Thawat jetzt völlig bescheuert oder er hatte die Kontrolle verloren. Ich befürchtete Letzteres. Als ich den Laden betrat, bot sich mir ein bizarres Bild. Der Verkäufer hielt Thawat an der Wand fest, der dort aber mehr hing als stand. Durch die Klingel, wenn man den Laden betrat, bemerkte er mich schnell. »Gut, dass sie da sind. Übernehmen Sie den bitte, der nervt mich schon die ganze Zeit. Sie sind doch der Captain, oder?« »Ja, der bin ich.« Ich näherte mich der Szene, als Thawat mir in die Augen sah, musste ich schlucken. Sein ganzer Ausdruck schrie förmlich nach Hilfe. Thawat befreite sich vom Verkäufer, taumelte auf mich zu und fiel mir in die Arme. Doch es war nicht, weil er sich nicht mehr halten konnte, er umarmte mich richtig. Für mich fror alles ein. Ich wusste nicht wohin mit mir oder meinen Händen. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich seinen Atem an meinem Ohr spürte. Das war definitiv zu nah. Ich konnte jedoch überhaupt nicht reagieren, ließ es einfach zu. »Cap, ich bin so froh, dass du da bist. Ich brauche deine Hilfe. Ich glaube ich habe einen schlimmen Fehler gemacht«, flüsterte er und es war das erste Mal, dass ich ihm glaubte. Kapitel 7: Zone 7 - Ehrliche Tränen ----------------------------------- Niran »Halten Sie den besser fest, ich glaube der kann nicht mehr selbst stehen«, hörte ich den Verkäufer sagen. Das war nicht nötig, denn Thawat hielt sich auch so an mir fest. Diese ungewohnte Nähe zu ihm, machte es schwer, mich zu konzentrieren. Ich musste das sofort beenden. Daher hockte ich mich hin, lehnte ihn vor ein Regal, doch er wollte nicht loslassen. Mühsam löste ich seine Arme von mir, die schlaff an seinem Körper herunterhingen. Je nachdem, wie viel er getrunken hatte, konnte es gefährlich werden. Ich forderte vorsichtshalber einen Krankenwagen an, dann wandte ich mich wieder an den Verkäufer: »Was ist denn passiert?« Er machte einen sehr entspannten Eindruck. Vermutlich lag es daran, dass der Laden den ganzen Tag geöffnet war und er öfter mit Betrunkenen zu tun hatte. »Naja, erst hat er normal bei mir eingekauft und sich wohl vor dem Laden betrunken. Dann kam er rein, weil er wahrscheinlich nichts mehr hatte. Weil ein paar Flaschen aus dem Regal gefallen sind, habe ich ihm mit der Polizei gedroht. Und er redet plötzlich davon, dass er mit Cap sprechen will. Also mir ist schon viel passiert, aber in dreißig Jahren, die ich hier arbeite, gab es noch nie jemanden, der unbedingt die Polizei vor Ort haben wollte«, erklärte er und kratzte sich am Kopf. Das habe ich auch nicht verstanden, aber es musste wohl der Alkohol sein. »Noch etwas?« Sein Blick wanderte zur halb ausgetrunkenen Flasche auf dem Boden, doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich denke, jetzt wo sein Cap da ist, wird er keine Schwierigkeiten machen. Nehmen Sie ihn einfach mit und wir bleiben dabei«, schmunzelnd machte er sich wieder auf den Weg hinter seine Theke. Sein Cap? Das klang befremdlich für mich. Diesmal hatte Thawat Glück gehabt, weil der Verkäufer ihn scheinbar nicht kannte und amüsiert war. In diesem Moment traf der Rettungswagen ein, zwei Sanitäter knieten sich neben ihn. Sie maßen seine Werte und sprachen mit ihm. Ich beobachtete es so lange, bis sich einer der Sanitäter zu mir umdrehte: »Wir würden den Patienten zur Beobachtung gerne mitnehmen.« »Alles klar. Fahren Sie, ich komme hinterher.« Sie deckten Thawat zu, hoben ihn auf die Beine und brachten ihn zum Krankenwagen. Er war bei Bewusstsein und konnte laufen, drehte seinen Kopf aber immer wieder in meine Richtung. Das war unter anderem ein Grund, warum ich mich dafür entschied, mit ins Krankenhaus zu fahren. Betrunken oder nicht, das wäre die Chance mit ihm zu reden. Er hatte in diesem Zustand zumindest eingesehen, dass er Hilfe braucht. Vielleicht konnte ich da noch mehr rausholen. Diesmal wäre es auch kein Problem, länger von der Station wegzubleiben, da es deutlich ruhiger geworden war. Wir kamen gut mit der Arbeit hinterher, darüber brauchte ich mir keine Sorgen machen. Über den Typen, der vor mir im Krankenwagen herfuhr, allerdings schon. Dieser hilfesuchende Blick ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Gehörte er zu den Leuten, die betrunken ehrlich waren und wollte er wirklich, dass ihm jemand half? Meine Gedanken kreisten, als ich auf den Parkplatz des Krankenhauses fuhr. Ich stieg aus und ging auf den Haupteingang zu. Letztes Mal war ich hier, als ich Nawin besucht hatte. Ich mochte die Atmosphäre von Krankenhäusern nicht, denn als ich klein war, war ich viel zu oft dort. Die Gerüche waren schrecklich und der Gedanke daran, um wie viele Schicksale hier jeden Tag gekämpft wurde ließ mich nie los. Die große Empfangshalle erstreckte sich vor mir, ich wurde von jedem gegrüßt, der mich sah. Nachdem ich an der Information gefragt hatte, wurde ich in einen größeren Saal gebracht. Dort standen sehr viele Betten, die lediglich mit weißen Vorhängen voneinander abgetrennt waren. Es war nicht unüblich, wurde für leichtere Fälle gebraucht, Patienten, die nicht lange blieben. Mit einem unruhigen Gefühl schob ich den Vorhang beiseite. Thawat lag im Bett, sie hatten ihm einen Zugang für eine Infusion gelegt. Seine Augen waren gerötet und mir fielen erst in diesem Moment die Verletzungen in seinem Gesicht auf. Er musste sich also auch noch geprügelt haben. Doch dieser Anblick verstärkte meine Unruhe nur. Ich kannte sonst nur dieses freche Grinsen, an das ich mich schon gewöhnt hatte. Als er mich sah, hellte sich sein Blick auf und für eine Sekunde musste ich an Thana denken. Die Beiden sahen sich wirklich ähnlich. »Cap, ich dachte schon, du lässt mich allein!«, rief er und ich setzte mich auf den weißen Plastikstuhl neben dem Bett. Ganz ruhig, Captain. Thawat ist betrunken, es ist normal, dass er sich komisch aufführt, musste ich mir selbst einreden. Als er jedoch auch noch meine Hand nahm, war es endgültig vorbei mit mir. Seine Berührung ließ mir einen Blitz durch den Körper fahren. Doch wie auch schon vorhin, zog ich mich nicht zurück. Wenn es das war, was er in diesem Moment brauchte, würde ich auch das zulassen. Dieses eine Mal. Wenn ich Glück hatte, würde er sich danach nicht mehr daran erinnern. »Wie geht es dir?«, schickte ich voraus, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich wusste zwar nicht, wie viel er intus hatte, aber vermutlich würde es eine Weile dauern, bis er ausgenüchtert war. »Es geht schon, Cap«, seine Augen waren so traurig, dass ich ihn nicht lange ansehen konnte. »Verstehe. Thawat, du hast gesagt, dass du einen Fehler gemacht hast. Was meintest du damit?« Ich war mir erst nicht sicher, ob er sich erinnerte, aber als ich sah, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten, war die Sache klar. »Ich habe Angst, Captain«, sagte er und drückte meine Hand leicht. Ich erwiderte den Händedruck, war erstaunt über seine Ehrlichkeit. Auch wenn vermutlich nur der Alkohol aus ihm sprach. »Du kannst mir alles sagen, Thawat. « Ich durfte mir diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen, endlich zu hören, was ihn umtrieb. Doch schon bei dem Gedanken, was er gleich sagen könnte, wurde mir mulmig zumute. Er schloss die Augen, Tränen flossen an seinen Wangen herunter. »Ich habe Alpha auf meinen Bruder angesetzt«, er öffnete die Augen wieder, sah mich ernst an. »Ich habe es zwar nicht gesagt, aber ich habe Angst, dass er ihn umbringen könnte.« Für einen Moment starrte ich ihn erschrocken an. Alpha? Dieser Name löste ein unangenehmes Gefühl in mir aus. War das nicht genau der, vor dem sein Bruder mich gewarnt hatte? Ich musste ruhig bleiben, noch wussten wir gar nichts. »Thawat, wo war Alpha zuletzt, als du ihm den Befehl gegeben hast?« Er fasste sich an den Kopf, schien ernsthaft zu überlegen. »Das muss vor dem Laden gewesen sein, als Rho festgenommen wurde.« In meinem Kopf arbeitete es, ich versuchte die Stunden zurückzurechnen, die verstrichen waren. Je nachdem ob oder wann Alpha die Mission umgesetzt hat, konnte es durchaus schon zu spät sein. »Hast du die Nummer von deinem Bruder?«, zu meinem Entsetzen schüttelte er den Kopf. Naja, damit hätte ich rechnen müssen. Ohne meine Hand loszulassen, reichte er mir sein Handy. »Hier sind ein paar Nummern, eine davon ist auch von meinem Vater, aber ich weiß nicht welche. Vielleicht hilft das ja.« Das war auch eine Möglichkeit, aber zuerst gab es etwas, was ich unbedingt tun musste. »Weißt du wie Alpha richtig heißt, Thawat?« Auch nur ein Kopfschütteln. Gut, dann musste es eben so gehen. Ich funkte die Station an: »Cho?« »Captain. Was ist los?« Ich sah auf das Bild von Alpha auf meinem Handy: »Gebt bitte eine Großfahndung raus. Der Mann nennt sich Alpha, ist circa 20 Jahre alt, braune Haare und braune Augen. Es ist möglich, dass er Khun Thana verletzt hat oder noch verletzen wird. Stuft es bitte auf höchste Dringlichkeit ein.« Ich leitete Cho das Bild weiter. Die Fahndung würde über alle Bezirke laufen und war das, was mir am sinnvollsten erschien. Irgendwie musste Khun Thana zu finden sein. Ich versuchte ein paar Mal die Nummern aus Thawats Handy, doch es ging immer nur die Mailbox dran. Nur die Fahndung rauszugeben konnte noch nicht alles sein, was ich tun konnte. Falls Alpha in der Villa Saengsuwan sein würde, wäre es gefährlich Teams hinzuschicken, aber ich konnte Thawat hier nicht allein lassen. Ich befürchtete, er würde auf komische Ideen kommen. Es nützte nichts, daher rief ich Kasem an: »Kasem, wir haben eine Bedrohung für Khun Thana vorliegen. Ich kann hier nicht weg, könnt ihr jemanden bei der Villa vorbeischicken? Am besten nehmt ihr so viele Leute mit wie geht. Ich schätze die Bedrohung als sehr hoch ein«, ich versuchte nicht so abgehetzt zu klingen, wie ich mich fühlte. Thawat hatte es nur ausgesprochen und es reichte, um mich komplett zu stressen. »Ja, können wir machen. Was ist denn passiert? Ist alles okay bei dir, Niran?«, seine Stimme war ruhig, aber ich konnte trotzdem die Sorge raushören. Doch dafür war keine Zeit. »Alles gut, keine Sorge. Thawat hat Alpha auf seinen Bruder angesetzt, genau der, vor dem wir gewarnt wurden.« »Verdammt. Aber die Fahndung hast du schon rausgegeben?« »Hab‘ ich, die wird euch gleich erreichen.« »Alles klar. Wir fahren zur Villa. Wir bleiben in Kontakt.« Je mehr Zeit verstrich, desto schlechter ging es mir. Ich durfte einfach nicht über das was wäre wenn, nachdenken. Alles, was passiert war, konnten wir ohnehin nicht mehr ändern. Solange wir keinen der Beiden finden konnten, war auch nichts zu machen. »Weißt du, wo dein Bruder sonst sein könnte, außer zuhause?« »Nein, ich rede seit zwei Jahren nicht mehr mit ihm«, erklärte er leise. Diese Familie würde mich noch in den Wahnsinn treiben. Mir fiel jedoch einer ein, der es wissen könnte. Jira. Ich hoffte darauf, dass er seine Nummer nicht geändert hatte und ranging. Egal was ich tat, Thawats Blick war immer auf mich gerichtet, als hätte er Angst ich könnte gehen. Erst ging Jira nicht ans Handy und ich konnte einen Fluch nicht mehr unterdrücken. Dieses Tuten begann mich zu nerven. Auch wenn es angesichts der Uhrzeit nicht ungewöhnlich war, konnte ich das in diesem Moment nicht gebrauchen. Bange Sekunden verstrichen, bis ich endlich ein Klicken in der Leitung vernahm. »Ja?« »Jira, ich weiß nicht, ob du mir helfen willst oder kannst, aber es ist ein Notfall. Weißt du zufällig, wo sich Khun Thana aufhält, wenn er nicht auf der Arbeit oder zuhause ist?« Jira stockte kurz: »Ähm, er ist viel mir Freunden unterwegs, aber so spät ist er eigentlich nicht mehr draußen.« Er nannte mir Clubs und Bars, wo er sich normalerweise verabredete. Das war ein Ansatz, der uns vielleicht helfen konnte. Ich bedankte mich und ließ das Handy sinken. »Cap, kann ich denn gar nichts tun?«, Thawat hatte sich in das Kissen sinken lassen, starrte die Decke an. Doch, auch er konnte etwas tun. Ich gab ihm sein Handy zurück: »Ruf‘ Alpha an. Vielleicht kannst du es noch verhindern.« Thawat tat wie geheißen, stellte das Handy auf laut. Ich war überrascht, wie geistesgegenwärtig er angesichts der Situation und des Alkohols handelte. Sofern Alpha den Anruf entgegennehmen würde, könnte man ihn auch orten. »Boss?« »Alpha, wo bist du und was machst du?« »Gib‘ mir noch ein bisschen Zeit, dann werde ich die Mission beenden. Versuch‘ bloß nicht, mich aufzuhalten. Du weißt, wie lange ich darauf gewartet habe.« Alpha ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, das Handy lag tutend auf seinem Schoß. Thawat starrte in die Ferne: »Er wird es durchziehen.« Er ließ meine Hand los und für einen kurzen Moment dachte ich, er wäre wieder klar. Doch es war unmöglich, nach einem starken Rausch so schnell aufzuklären. Als er sich die Infusion aus der Hand reißen wollte, hielt ich ihn auf. »Was hast du vor? In deinem Zustand wirst du nicht viel machen können. Wir haben die Fahndungen laufen und ich habe Leute zur Villa geschickt, mehr geht im Moment nicht«, versuchte ich beschwichtigend auf ihn einzureden. Es war weiterhin unübersichtlich, weil wir nicht mehr wussten als vorher. Es kam noch ein Kollege vorbei, der Thawats Handy mitnahm, um Alpha zu orten. Doch ab diesem Moment blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten. Warten darauf, von irgendeiner Seite eine irgendwie geartete Nachricht zu bekommen. Thawat schloss die Augen, es schien, als würde er langsam von der Müdigkeit übermannt werden. Thawat Als ich aufwachte, wurde ich vom grellen Licht geblendet. Mein Kopf fühlte sich schwer an und pochte. Bruchstückhaft konnte ich mich daran erinnern, was passiert war. Aber nichts davon hätte in diesem Universum passieren sollen. Cap..war auch noch da. Er schlief auf dem Plastikstuhl. Mein betrunkenes Ich hatte ihm einen vorgeheult und seine Hand gehalten, peinlicher ging es nicht. Die Sache mit Alpha konnte ich abhaken. Er würde Thana schon nicht umbringen. Das hieß, mir blieb nur noch die Flucht, bevor Cap aufwachen würde. Ich zuckte zusammen, als ich mir die Infusion aus der Hand zog. Ja, ich war verzweifelt gewesen, weil sich nichts richtig angefühlt hatte. Aber meine Gefühle waren egal. Ich sah auf Caps Hände, dort lagen unsere Handys. Ich überlegte kurz, meins an mich zu bringen, doch dann erklang ein markerschütternd lauter Ton, der eine neue Nachricht ankündigte. Cap wachte auf, sah auf mein Handy und riss die Augen auf. Im gleichen Augenblick sprang er auf, gab mir das Handy in die Hand und ich las: »Tii, willst du dir mein Werk ansehen? Ist auch ganz frisch.« Wie gelähmt starrte ich auf die Adresse, der er mitgeschickt hatte. Cap räusperte sich: »Wir sollten sofort hinfahren!« Egal was ich gesagt hatte, das war alles im Delirium geschehen und spielte jetzt keine Rolle mehr. Daher schwang ich mich aus dem Bett und verschwand hinter dem Vorhang. Cap folgte mir, doch ich speiste ihn mit einem genervten: »Was sollen wir da?«, ab. Ich wollte mich entfernen, doch er hielt mich am Arm fest. Ich blieb stehen, aber drehte mich nicht um. »Tii!« Als ich diesen Namen von ihm hörte, drehte ich mich um. Cap sah mich eindringlich an. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass alles was du mir in deinem betrunkenen Zustand erzählt hast, wahr ist. Du willst das alles eigentlich gar nicht, hast dich in deiner Wut auf deine Familie in etwas verrannt, richtig?« Jedes seiner Worte fühlte sich an wie ein Messerstich. Ich spürte Gefühle in mir aufsteigen, die ich jahrelang zurückhalten wollte. »Du wolltest deinen Bruder nicht umbringen. Du hast Mitleid mit allen, die du ins Unglück gestürzt hast, oder?«, er ließ seine Worte weiter auf mich einprasseln. Es trieb mir die Tränen in die Augen und ich entzog mich seinem Griff. »Hör auf!«, rief ich verzweifelt. Wusste nicht mehr, was ich tun sollte. »Tii, du weißt verdammt genau, dass ich Recht habe!«, sagte er und wurde lauter. Ich fühlte mich hilflos, wollte mir nicht schon wieder die Blöße geben, vor ihm zusammenzubrechen. »Was weißt du schon?«, rief ich zurück, konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Cap löste den Blickkontakt nicht für eine Sekunde. »Dass du verzweifelst versuchst, ein schlechter Mensch zu sein, Tii. Aber damit ist niemandem geholfen. Weder deiner Familie noch deinen Freunden und schon gar nicht dir!« »Was ist so schlimm daran?«, das Weiß der Krankenhauslobby verschwamm vor meinem Blick. Langsam begann meine Verteidigung zu bröckeln, doch ich stemmte mich mit aller Kraft dagegen. Bohrte meine Finger so fest in meine Hand, dass es wehtat. Alles, was ich nie von mir zeigen wollte. Alles, was niemand wissen sollte. Das alles überkam mich in diesem Moment. »Du redest dir etwas ein, was du überhaupt nicht nötig hast«, Cap sprach wieder etwas ruhiger. Der Kloß in meinem Hals machte es schwer, zu sprechen. »Du hast mit meiner Familie gesprochen und dir mein besoffenes Gelaber angehört, ja. Aber das heißt gar nichts!«, herrschte ich ihn an. Ich wollte einfach nur weg. Irgendwohin wo mich niemand kannte. Doch meine Beine wollten sich nicht bewegen, »Mag‘ sein. Gut, sagen wir ich weiß gar nichts. Aber wenn ich nicht teilweise recht hätte, würdest du dann so vor mir stehen?« Das schlug voll bei mir ein. Ich wollte gerade zum Sprechen ansetzen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Reiß‘ dich zusammen, Tii. Ich gebe dir hier und jetzt eine Chance. Du musst selbst entscheiden, was du daraus machst. Wenn du mitkommst, werde ich dir helfen. Wir werden als Team arbeiten und versuchen das beste aus diesen Trümmern zu machen. Du musst wissen was dir wichtiger ist, dein Ruf oder das Leben deines Bruders! Wenn du gehst, wird es niemand geben, der dir helfen wird!« Caps leidenschaftliche Worte lösten etwas in mir aus. Etwas, was ich seit zwei Jahren nicht gespürt hatte. Hoffnung, dass es doch noch irgendwie eine Lösung geben würde. »Leg‘ diesen verdammten Stolz beiseite, Tii. Und jetzt komm‘, wir haben keine Zeit hier Seifenopern aufzuführen!« Cap wartete meine Antwort nicht ab, sondern zog mich einfach mit sich. Ich wusste nicht, wie wir es anstellen sollten, aber die Aussicht, dass sich etwas ändern könnte, legte sich über die Verzweiflung. In diesem Moment traf ich eine Entscheidung. Egal wie kurios es wirkte, ich würde mit Cap als Team zusammenarbeiten. Es war das Letzte, was mir noch blieb. Ehe ich mich versah, saßen wir in seinem Auto. Ich bekam mit, dass er telefonierte. »…vermute ich einen höheren Gefährdungsfall. Schickt mir ein paar Leute raus, wir wissen nicht, ob er noch vor Ort ist.« Das Blaulicht hielt die Straße frei und Cap fuhr dementsprechend schnell. Ich fühlte mich schwach und immer noch leicht benebelt. Außerdem war die Situation so surreal, dass ich erst einmal überhaupt klarkommen musste. Mein Herz raste und ich war mir nicht sicher, ob es eine Nebenwirkung vom Alkohol war oder die Angst, was mich erwarten würde. Wieso wollte Cap mir helfen? Ich konnte nicht leugnen, dass ich seinen Einsatz faszinierend fand. Anstatt zu fliehen, trat er voller Selbstbewusstsein auf ein sinkendes Schiff. Er war sich sicher, es retten zu können, obwohl es schon längst zu spät war. Niemand anderes hätte sich jemals darum geschert was mit mir passiert oder versucht, irgendetwas über mich zu erfahren. Plötzlich wurde ich von dem ganzen Blaulicht geblendet, als wir an einer Seitenstraße ankamen. Ein Krankenwagen und mehrere Polizeiwagen waren vor Ort. In meinem Kopf nahmen die schlimmsten Szenarien Form an. Kaum hielt Cap an, sprang ich aus dem Auto, lief auf den Krankenwagen zu. Doch die umstehenden Leute waren so hektisch, dass ich gar keine Chance hatte, mich zu nähern. Ich sah nur eine Trage, die in den Krankenwagen geschoben wurde, konnte kurz das Gesicht meines Bruders sehen. Worte wie Blutverlust und Reanimation rauschten an mir vorbei. Sie schlugen mir die Türen vor der Nase zu, fuhren mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene los. Der fehlende Krankenwagen gab den Blick auf die Seitengasse frei. Sie war von der Polizei ausgeleuchtet worden, war voller Blut. Die Konsequenz meiner Tat drohte mich unmittelbar zu erschlagen. Die Lichter blendeten mich, ich begann zu schwitzen, Stimmen und Geräusche vermischten sich zu etwas unverständlichem. Ich sah nicht mehr klar, nur noch Schatten und Silhouetten. Meine Beine gaben unter mir nach, eine Hand in meinem Rücken verhinderte, dass ich umfiel. »Tii?« Ich spürte, wie mich jemand sanft an den Schultern packte und mich irgendwo absetzte. Ich saß schräg im Auto, lehnte mich an die Säule. Ich wusste nicht einmal, wer mich in das Auto gesetzt hatte, oder welches Auto das war. Das kühle Metall tat gut auf der Haut, aber es half nicht meine grausamen Gedanken zu vertreiben. Ich ließ die Schultern sinken und saß einfach nur da. Thana war nicht tot, oder? Er würde es schaffen, oder? Ich konnte niemanden fragen, denn ihre Stimmen kamen nicht mehr bei mir an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)