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Wichtelgeschichten 2022

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Für Mady. Die Worte waren Leben - Meteor - Hufeisen
Ich hoffe, es gefällt, auch wenn es etwas verspätet kommt. Komplett anzeigen

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Fallende Erinnerungen

Der kalte Hauch des russischen Winters kribbelte unangenehm auf ihrer Haut, bevor ihre Magie erneut die Überhand bekam und einen Schutzfilm von warmer Luft nicht nur unter ihrer Kleidung, sondern auch auf die wenigen entblößten Stellen ihres Gesichts legte. Mit keinem Wimpernschlag sah man ihr an, dass sie die Intensität ihres Zaubers etwas unterschätzt hatte. Im Süden hätte sich bei der Wärme, für die sie sich entschieden hatte, bereits ein unangenehmer Schweißfilm über ihren Körper gelegt. Hier reichte er kaum, um die beißende Kälte vollkommen fernzuhalten. Immer wieder fand die Natur für kurze Sekunden eine Lücke und streifte ihre Wangen. Doch damit würde sie für diesen Abend leben müssen. Mikhails Fokus lag auf ihr und damit schwand die Möglichkeit, ihren Zauberstab unbemerkt zu ziehen, um diese Macke in ihrer Perfektion zu beheben. Trotz des Zaubers waren sowohl Mikhail als auch sie den Wetterbedingungen angemessen gekleidet. Er stiefelte in einem langen, dicken Fellmantel vor ihr her. Die hohen, gefütterten Lederstiefel verdeckten bis zur Wade sein aus hochwertiger Wolle gefertigtes Beinkleid. Nur das Fehlen eines Schals oder einer entsprechenden Mütze zeugte davon, dass die Kleidung mehr eine déclaration de mode war, denn einer Notwendigkeit entsprang. Sie selbst hatte dieser Farce wesentlich vollkommener entsprochen. Ein Umstand, der es ihr ermöglichte, ihr tatsächliches Empfinden hinter einem Berg von Stoff zu verbergen.

“Wir haben es nicht mehr weit. Nur noch um die Ecke, dann sind wir dort”, zerriss die tiefe, ruhige Stimme ihres Russen die einträchtige Stille der nächtlichen Tundra. Warum er sie nicht einfach zu ihrem Zielort hatte apparieren können, schlich sich ihr am heutigen Abend nicht zum ersten Mal in den Kopf. Aber ihr Verlobter hatte sich für eine Wanderung entschieden und natürlich würde sie ihm diesen Wunsch nicht entsagen. Zumindest nicht so kurz nach ihrer Verlobung, die nach Eleonores Verschwinden von essentieller Notwendigkeit war, um den guten Ruf zu wahren. Sie war im Moment nicht in der Position, die wenigen, gesellschaftlich angemessenen Kanten zu zeigen, die bei seinem Vorschlag nach einem Ausflug in die russische Natur nur zu gerne über ihre Lippen gekommen wären. Stattdessen hatte sie ihm mit einem perfekten Lächeln, das perfekte Maß an anständiger Begeisterung gezeigt und ihn nach einem Datum gefragt. Er hatte sie abgeholt und sie zu einem kleinen, verschlafenen, russischen Zaubererdorf irgendwo im Nirgendwo gebracht. Von dort aus waren sie losgestiefelt. Er vorneweg, um ihr den Weg von Schnee und Eis zu befreien. Sie hinterher. Interesse an der weißen Natur heuchelnd. Ein Gespräch war darüber nicht zustande gekommen. Das war vor nun drei Stunden gewesen und mittlerweile lief der erstaunlich dehnbare Geduldsfaden der Rousseau-Erbin stark Gefahr, zu reißen. Ihre Zeit so sehr zu verschwenden und dabei so schrecklich gut gelaunt zu wirken - für russische Verhältnisse - kam für sie einem Affront gleich. Zum Glück - für ihn – sollte er recht behalten und der enge Bergpfad, dem sie die letzte halbe Stunde gefolgt waren, öffnete sich zu einem offenen Felsvorsprung. Einsam und beinahe unberührt lag der frische Schnee vor ihnen und reflektierte schwach das ungetrübte Sternenmeer über ihnen. Nur hier und da fanden sich tierische Fußspuren, doch keins der dazugehörigen Tiere zeigte sich den zwei Menschen, die eben auf der Bildfläche erschienen waren. Sie waren allein... nun, beinahe. Ihnen beiden war bewusst, dass sie stets unter Beobachtung standen, seit die Verlobung verkündet worden war. Nicht von der Presse, wohl aber von dem treuen Personal ihrer Eltern. Der Anstand sollte gewahrt werden. Doch sie waren diskret genug, dass selbst sie deren Anwesenheit manches Mal vergaß.

Mikhail hatte kurz gewartet, bevor er sich erneut einen Weg durch die unberührte Natur fraß bis zu einem Platz, der ihm angemessen erschien. Dort befreite er den Boden von der flockigsten Schneedecke und breitete eine Decke aus, welche bei genauerem Betrachten leicht schwebte und so davor schützte, dass sie selbst den Boden berührten und das kalte Nass sie von unten erreichte. Louise folgte einen kritischen Gesichtsausdruck unterdrückend seiner Einladung und setzte sich vorsichtig auf den überraschend weichen und bequemen Stoff.

“Die Umgebung ist wirklich eine ausgezeichnete Wahl für ein winterliches Picknick.” Louise zupfte leicht an ihrem Mantel, um die Wellen, die sich nach ihrem Hinsetzen auf dem weichen Leder über der warmen Schafswolle gebildet hatten, mit wenigen Handgriffen zu entfernen. Beiläufig, doch routiniert, ließ sie die kleine Unvollkommenheit verschwinden, während sie ihre Worte an ihren Begleiter richtete. Mikhail schenkte ihr eines der strahlenden Lächeln, die er sich für ihre privaten Momente aufhob. Dann, wenn aus der ruhige, ernste Tolstoy es wagte, etwas aufzutauen und Güte und Freundlichkeit herausschimmerte. Louise hatte diese Seite bisher nur zwei Mal erlebt, als sie für einen kurzen Moment unbeobachtet waren. Es war der Grund, weswegen sie nicht das Gefühl hatte, ihr Leben für die Forderung ihres Vaters wegzuwerfen, wie man es in unwissenden Kreisen wohl nennen wollte, wenn man von arrangierten Hochzeiten sprach. Warum sich ihr Groll auf ihre Schwester mittlerweile in Grenzen hielt, welche all das, was ihre Familie bedeutete, all die Privilegien, aber eben auch die Pflichten, weggeworfen hatte, um einem impertinenten Dorftrottel hinterherzurennen.

Mikhail würde ein guter Ehemann sein, allerdings würde er eine sichere Hand brauchen, damit sein Kern weder ausgenutzt noch ausgeblutet werden würde. Und dafür würde sie da sein. Sie ergänzten sich gut, das sah die weitblickende Französin bereits schon eine Weile. Und Mikhail schien ihr zuzustimmen. Wenn auch nicht in diesem speziellen Moment. Ihre Augen wanderten über das sanfte Kopfschütteln.

“Nicht nur dafür habe ich dich diesen Ort gewählt”, erklärte er schließlich den Grund ihrer Wanderung. Gleichzeitig erschien dennoch eine Auswahl von französischen und russischen Delikatessen auf der Decke zwischen ihnen. Ein diskreter Hinweis, dass ihnen zugehört wurde, dass sie eben nicht so allein waren, wie es ihnen vielleicht erscheinen mochte. Mikhails Blick glitt nach oben. Eine klare Winternacht im russischen Gebirge. Tödlich kalt für jene, die sich nicht wussten, davor zu schützen, hinreißend glitzernd unter dem Sternenmeer, für jene, die es zu wagen vermochten, für einen kurzen Moment innenzuhalten. “Bald ist es soweit.”

Und dann begann es. Erst eine, dann eine zweite... drei, zehn, fünfzig, hunderte von Sternen begannen sich zu lösen, herabzuregnen auf das Paar, das auf Kissen gebettet den Blick in die unendlichen Weiten des Universums richteten. Die fallenden Meteore ließen sie innehalten. Für einen kurzen Moment im Hier und Jetzt. Für den Nächsten in alte Erinnerungen fallen.
 

Zu den Momenten eines heileren Lebens.
 

“... Metor... ”, Eleonores zartes Stimmchen geriet ins Stocken, als sie an dem schwierigen Wort in ihrer Erzählung angekommen war. Der Privatlehrer der beiden hatte heute zum Anlass des Tages einen Fokus auf Astronomie gelegt. Er hatte die beiden jungen Mädchen darüber informiert, dass diese Nacht am nördlichen Himmel ein wahres Spektakel zu sehen sein würde. Und, dass man sich nach alter Tradition bei jeder Sternschnuppe etwas wünschen durfte. Eine Information, die Louises Schwester wohl schwer beeindruckt hatte, dass sie es für notwendig hielt, es während des Abendessens zu erwähnen.

“Mete... Meteor...”, ein kurzer, hilfesuchender Blick in Richtung von Louise. Diese legte das aufgespießte Gürkchen wieder auf den Teller gleiten, bevor sie sich in Richtung ihrer Eltern richtete. Ein missbilligender Blick ob der Zeitverschwendung kam ihr entgegen und sie richtete sich etwas gerader hin.

“M. Bremond hat uns heute erklärt, dass es heute Nacht einen”, sie holte kurz Luft, um sich zu sammeln. Sie war nur ein älter als ihre kleine Schwester, aber sie war älter und das hieß, dass sie weiter sein musste. “Meteorschauer geben solle.” Sie verkniff sich ein erleichtertes Lächeln, als der Begriff korrekt über ihre Lippen kam und richtete ihren Blick wieder auf ihre kleine Schwester, die eilig, doch nicht zu stürmisch darauf nickte.

“Ich würde mir den gerne anschauen-”, begann Eleonore erneut, verstummte aber sofort, als ihr Vater bereits den Kopf schüttelte.

“Morgen haben wir Besuch vom französischen Innenminister.”

Und damit war das Thema erledigt. Keine Erklärung, warum dieser Besuch für die beiden Kinder wichtig sein sollte, war notwendig. Wenn sie Besuch hatten, würden sie sich von ihrer besten Seite zeigen müssen. Und zwei Mädchen, die höchstens das fünfte Lebensalter erreicht hatten, konnten dies nicht tun, wenn sie unausgeschlafen waren... Dennoch registrierte Louise die klare, vernichtende Enttäuschung, die sich auf dem Gesicht ihrer Schwester abzeichnete... Vielleicht nächstes Jahr... Vielleicht... Louise wandte ihren Blick ab, bevor ihre Gedanken in falsche Richtungen gleiten konnten. Doch dazu war es bereits zu spät.

Als Eleonore zu Bett gebracht worden war, lag Louise noch eine Weile wach. Die Hauselfen hatten nach ihr gesehen, als es auch für sie Zeit war Schlafen zu gehen. Doch sie hatten sie bereits warm eingekuschelt in ihrem einsamen Himmelbett vorgefunden. Sie sei heute schon früh müde, hatte sie gesagt und die Hauselfen hatten sich damit zufrieden gegeben. Sie würden nicht mehr zu ihr oder ihrer Schwester kommen, es sei denn, sie würden gerufen werden. Im Dunkel der Nacht lauschte Louise aufmerksam auf die vertrauten Geräusche des alten Anwesens. Das quelllose Knarzen der alten Dielen, das leise, entschuldigende, doch geschäftige Trippeln der Elfen, die schwereren Schritte von Vater, die im Büro über ihr auf und ab gingen, das Blubbern von verborgenen Heizkörpern, die selbst in so alte und magische Häuser wie das ihre Einzug gehalten hatten. Nach und nach versiegten die Geräusche über ihr und auch die anderen Lebewesen fanden etwas Ruhe. Louise blieb noch etwas liegen, um sicherzugehen... dann schlüpften ihre baren Füße in die Pantoffeln vor ihrem Bett und vorsichtig schlich sie zu ihrem Fenster, spähte heraus in den Nachthimmel. Nur, um sicherzugehen... ihre Lippen verbreiternden sich zu einem zufriedenen Lächeln, als sie den unbedeckten Sternenhimmel sah und den Beweis, dass M. Bremond nicht gelogen hatte.

Vorsichtig schlich sie zu ihrer Tür, das Klicken der Klinke ließ sie kurz zusammenzucken. Verunsichert lauschte sie kurz, doch es schien niemand gehört zu haben. Also öffnete sie die Tür einen Spalt breit, erneut verharrte sie, ging sicher, dass niemand auf ihrem Gang war, dann huschte sie hinaus und in Richtung des Zimmers ihrer kleinen Schwester. Es war nicht weit, aber als Louise die Tür zu Ellies Zimmer hinter sich schloss, hämmerte ihr Herz schmerzhaft in der Brust. Sie war nicht dafür geschaffen, sich gegen die Wünsche ihres Vaters aufzulehnen, das wusste sie gerade mehr als zuvor. Aber um zurückzugehen war es jetzt zu spät und so huschte sie auf lautlosen Sohlen zu dem Bett ihrer Schwester. Sie umging automatisch die knarzenden Stellen im Boden und war ein fast schwereloser Schatten, als sie auf das Bett der Jüngeren kletterte und sanft an ihr rüttelte.

“Mh... Louise? Was...”, die Hand der Älteren legte sich verschwörerisch auf das verschlafene Gesicht der Kleinen. Es war etwas klebrig von alten Tränen und üblicherweise hätte Louise wohl Ekel empfunden, aber im Moment gab es wichtigeres. Ihre andere Hand führte einen Finger zu ihrem Mund und beschwor Eleonore leise zu sein. Erst, als diese – noch immer müde, aber vor allem verwirrt – nickte, ließ sie von ihrem Mund los.

“Wir können den Schauer vom Fenster aus schauen”, erklärte sie schließlich flüsternd und bedeutete ihr, ihre Kissen und eine Decke mitzubringen. Ellie, plötzlich hellwach, begann über ihr gesamtes Gesicht zu strahlen, ehe sie begann, ihrer großen Schwester dabei zu helfen, eine kleine Kissenoase zu bauen, die Vorhänge leise aufzuziehen und sich neben Louise unter Kissen und Decken einzukuscheln. Dann begannen sie sich leise ihre Wünsche für das nächste Jahr zuzuflüstern, kichernd, für eine Nacht ganz normale Kinder, die dem Namen Rousseau keine größere Bedeutung zuschoben.

Sie waren am nächsten Morgen von den Hauselfen geweckt worden, die sie schüchtern darauf aufmerksam machten, dass der Himmel schon graue. Eilig war Eleonore wieder zurück ins Bett geschlüpft, die Diener hatten das Aufräumen übernommen und Louise war bereits auf dem Weg durch die Tür, als ihre Schwester sie noch einmal aufhielt.

“Warte, ich habe was für dich”, flüsterte sie, während sie eilig an ihrem Nachttisch zog. Ein kleines Geschenk kam zum Vorschein. “Eigentlich für Weihnachten, aber das brauchst du jetzt bestimmt mehr.”

Neugierig geworden kam Louise zurück und riss vorsichtig das Papier vom Gegenstand. Zum Vorschein kam eine kleine, goldene Kette mit einem simplen Anhänger. Louise lächelte, als sie ihn als kleines Hufeisen ausmachte. Es war edel, doch verspielt und fein genug, dass es eine Fünfjährige tragen konnte.

“Damit du Glück mit dir trägst, wenn du raus gehst”, erklärte Eleonore und Louise schenkte ihr ein kleines Lächeln.
 

“Gefällt es dir?”, die Stimme Mikhails durchbrach die traute Zweisamkeit, in welcher sie die letzten Minuten stumm nebeneinander gesessen hatten. Er holte sie damit aus einer süß-schmerzlichen Erinnerung zurück und dafür war Louise ihm dankbar. Sie war normalerweise nicht sehr nostalgisch und wollte dies heute Abend nicht ändern.

“Sehr, danke für den Ausflug”, antwortete sie und beobachtete dabei den Weg der letzten Sternschnuppe. Ein leichter, aufkommender Wind wirbelte den Schnee um sie herum auf, als wolle er ihnen zu verstehen geben, dass es Zeit war, zurückzukehren.

Mikhail lächelte und tupfte eine Schneeflocke von ihrer Wange, bevor diese schmelzen konnte. Eine einfache Geste. Schlicht, unkompliziert. Ignorierend, dass sie dort gar nicht erst hätte landen dürfen.

“Komm, lass uns den kürzeren Weg zurückgehen.”

Louise ergriff sanft die dargebotene Hand und zum ersten Mal an diesem Abend wurde ihr Lächeln ehrlich, als sie ein Herzschlag später die warmen Wände von Mikhails herrschaftlicher Empfangshalle umschlossen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Schneefeuer1117
2023-01-02T20:08:59+00:00 02.01.2023 21:08
Ich mag Mikhail & Louise ;___;
Und die kleine Szene ist sehr herzerweichend. So traurig, dass die Unschuld so brutal vernichtet wurde D:


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