Back to December von Khaleesi26 (Eine Michi Kurzgeschichte) ================================================================================ Kapitel 9: 1 Tag vor Weihnachten - Heute ---------------------------------------- „Willst du schon gehen?“, fragt Kari, als ich schnellen Schrittes an ihr vorbei in Richtung Haustür eile. „Ja, tut mir leid, es ist etwas dringendes dazwischen gekommen“, lüge ich, ohne rot zu werden. Es ist ja auch nur eine Notlüge. Was sollte ich ihr auch sonst sagen? Ich kann die Anwesenheit deines Bruders nicht länger ertragen? Kari folgt mir zur Tür. „Schade, ist es was Ernstes?“ „Was?“ „Na, weswegen du weg musst.“ „Ach so, äh … ja, total.“ Oh man, besonders gut lügen konnte ich noch nie. Aber eine wirklich gute Ausrede fällt mir gerade nicht ein. Seit Tai die alten Erinnerungen wieder wach gerüttelt hat, ist mein Kopf wie leer gefegt. Warum musste er das tun? Am liebsten würde ich schreien. Aber da das nicht geht, weil mich sonst alle für komplett verrückt halten würden, brauche ich dringend frische Luft. Ich werfe mir den Mantel über und schaffe es nicht mal, mich anständig von Kari zu verabschieden, so sehr will ich von hier weg. Nein, nicht weg von hier – weg von Tai! „Danke, für die schöne Feier. Ich ruf dich an“, rufe ich Kari noch nach, die verdattert an der Haustür stehen bleibt. Doch ihr klappt erst recht der Mund auf, als Tai an ihr vorbei stürmt – und mir auch. Für einen Moment stehe ich wie versteinert da und schaffe es nicht, mich zu rühren, doch noch ehe er die Stufen der Veranda herunter gesprintet ist, erwache ich aus meiner Schockstarre, drehe mich um und setze mich in Bewegung. Ich renne nicht, aber ich laufe so hastig, dass ich aufpassen muss, in der Dunkelheit nicht irgendwo drüber zu stolpern. „Mimi, hey!“, ruft Tai mir nach, aber ich beachte ihn gar nicht. Stattdessen lege ich nur noch einen Zahn zu, was sicher total bekloppt aussieht. „Jetzt bleib doch mal stehen!“ Ja, das hättest du wohl gern. Und dann? Willst du noch mehr schmerzliche Erinnerungen an die Oberfläche zerren? Oh, nein. Nicht mit mir. „Sag mal, denkst du, das ist ein Wettlauf?“, redet Tai einfach weiter, denn er hat mich schon längst eingeholt und ist nur noch ein paar Schritte hinter mir. Aber ich gebe nicht auf. Ich gehe so schnell, dass meine Beine brennen, genauso wie meine Lunge. Ich bin jetzt schon total aus der Puste. Innerlich stöhne ich auf, weil ich weiß, dass es Tai nicht so geht. Dieser kleine, schnelle Fußmarsch macht ihm nicht das Geringste aus. Er schnauft nicht mal, während ich mich inzwischen anhöre, wie eine 80 jährige Kettenraucherin. „Wir können das die ganze Nacht lang machen, Mimi. Ich habe kein Problem damit, dir durch ganz Tokyo hinterher zu laufen.“ Ach! Zum Teufel mit dir, Taichi Yagami. Abrupt bleibe ich stehen und stütze mich hechelnd auf meine Knie ab. Gott, bin ich im Eimer. Und es hat nicht mal was genützt, denn Tai steht nun direkt neben mir. Warum musste er mir auch folgen? Was soll das? „Was … willst … du?“, krächze ich und schnappe zwischen den Worten hörbar nach Luft. Tai zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Also erst mal will ich, dass du hier nicht mitten auf der Straße krepierst. Brauchst du irgendwas? Was zu trinken? Einen Defibrillator?“ Ich schnaufe. „Sehr witzig.“ Meine Lunge tut zwar immer noch weh und ich atme weiße Wölkchen in die kalte Nachtluft, aber ich richte mich trotzdem auf. „Du musst dich nicht über mich lustig machen.“ „Fällt mir reichlich schwer. Du verhältst dich total kindisch“, antwortet Tai. „Wie bitte?“, entrüste ich mich. „Ja, also bitte, Mimi. Wer rennt denn einfach von einer Party davon wie ein kleines Kind, nur, weil es kurz etwas unangenehm wurde?“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Verdammt, er hat recht. Das war absolut daneben. „Na gut, du willst das wie ein Erwachsener klären?“, entgegne ich und verschränke die Arme vor der Brust. „Dann rede doch. Was hast du mir zu sagen, Tai? Ich bleibe so lange hier stehen, bis du ausgeredet hast.“ Mein Innerstes wehrt sich zwar mit Händen und Füßen dagegen und mein Herz schreit mich an, es nicht zu tun, aber ich habe das Gefühl, dass ich ihm das schulde. Ihm und mir. Kurz ist Tai etwas sprachlos und wirkt leicht irritiert. Vermutlich hat er nicht damit gerechnet. Aber dann fängt er sich schnell wieder und räuspert sich. „Na schön, ich … wo soll ich anfangen?“ Gestresst fährt er sich durch die Haare. Dann sieht er mich an. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe, als du damals so plötzlich mit mir Schluss gemacht hast? Es war … die Hölle.“ Ich schlucke schwer und bereue schon jetzt, ihm gesagt zu haben, ich würde mir das alles anhören. Die Wahrheit tut verdammt weh. Aber sie scheint gerade unumgänglich zu sein und auf mich herabzustürzen wie ein Wasserfall. „Aber das war noch nicht mal das Schlimmste. Selbst, als du meinen Antrag abgelehnt hast, war ich nicht so sehr verletzt, wie du vielleicht denkst. Das wirklich Schlimme daran war, dass du einfach so aus meinem Leben verschwunden bist. Wir haben uns jahrelang nicht mehr gesehen, du hast mich komplett gemieden. Als hätte es mich nie gegeben. Als hätte es UNS nie gegeben. So etwas tut verdammt weh. Du warst meine beste Freundin, Mimi und ich hätte dich so oft an meiner Seite gebraucht. Selbst in dem Jahr, als du in Paris gelebt hast, warst du mir nicht so fremd, wie in der Zeit nach unserer Trennung.“ Okay. Das zu hören ist härter als erwartet. Bereits jetzt spüre ich, wie sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildet. Es fühlt sich an, als würde ich ersticken. Genau deshalb wollte ich dieses Gespräch nicht. „Ich habe es einfach nicht verstanden“, redet Tai unterdessen weiter. „Du hast mit mir Schluss gemacht, weil du dachtest, du würdest mir in der Zukunft nur weh tun. Aber nach all den Jahren kann ich dir sagen, so wäre es nicht gewesen. Egal, ob du mich irgendwann geheiratet hättest oder nicht. Egal, ob wir eine Familie gegründet hätten … das Schlimmste für mich war, dich nicht mehr an meiner Seite zu wissen. Dass du einfach nicht mehr da warst, war schlimmer als alles andere, was hätte passieren können. Du hast mich nicht gerettet, als du mit mir Schluss gemacht hast, Mimi. Du hast mich zerstört.“ Meine Lippen beginnen zu beben. Tai’s Worte treffen mich so hart, so unvorbereitet, dass es mich völlig aus der Bahn wirft. Ich wusste nicht, dass er so denkt. Dass es ihm so weh tat, dass ich ihn habe gehen lassen. Oder … nein … dass ich ihn von mir gestoßen habe. Ich wusste nicht, dass er so darunter gelitten hat. Ich dachte, es wäre das Beste für uns beide. 7 Jahre später stellt sich heraus, dass es das nicht war. Ich habe alles kaputt gemacht. Aufgebracht sieht Tai mich an und wartet auf irgendeine Reaktion von mir. Doch sie kommt nicht. Ich habe so oft diesen Schmerz unterdrückt, dass ich inzwischen Meisterin darin bin, meine wahren Gefühle zu verbergen. Auch wenn mich seine Worte direkt ins Herz treffen wie ein Messer, werde ich jetzt nicht vor ihm losheulen. Aber ich kann ihm auch nichts antworten. Meine Stimme würde sofort versagen und dann würde Tai meine Wahrheit sehen. Und dafür ist es schon lange zu spät. Ungeduldig sieht er mich immer noch an. „Willst du nichts dazu sagen?“ Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. „Bist du fertig?“ „Ja.“ „Gut.“ „Gut? Das ist alles? Mehr hast du nicht zu sagen?“ Tai wirkt fassungslos und ich kann es ihm nicht verübeln. Ich wäre auch sauer. Aber ich muss mich irgendwie selbst schützen. „Ich habe gesagt, ich höre dir zu, bis du fertig bist. Und das habe ich getan.“ Ich wende mich von ihm ab und gehe weiter. Einfach weiter. „Also, läufst du wieder weg?“ Darauf muss ich ihm nicht antworten. Es hätte ihm vorher klar sein müssen, dass es so endet. „Schön, bitte. Dann geh doch“, ruft Tai mir noch hinterher und ich höre die Wut in seiner Stimme. Was ich hier mache ist nicht fair. Aber was soll ich tun? Ich schaffe es einfach nicht. Tai hat schon zu viele alte Wunden wieder aufgerissen. Ich würde es nicht besser machen für ihn, wenn ich noch länger bleiben würde. Was würde das ändern? Nichts. Und das tut am meisten weh. Zu wissen, dass man die Vergangenheit nun mal nicht rückgängig machen kann. Wir können nichts mehr daran ändern. Eine leise Träne rollt mir über die Wange, während ich meine Schritte im Schnee fortsetze und mich nicht mehr umdrehen will. Ich höre noch wie auch Tai’s Schritte sich endlich entfernen. Wie der Schnee unter seinen Fußsohlen knirscht. Und dann höre ich die Hupe, die viel zu laut ist, viel zu nah. Ein Quietschen von Reifen. Ein lauter Knall. Ein Schrei. Tai … Hastig wirble ich herum. Alles, was ich sehe ist weiß und rot. Die Straßenlaternen werfen einen Schein darauf, als wäre es der letzte Akt in einem Theaterstück auf der Bühne. Blut sickert in den Schnee und verfärbt ihn. Ich renne los, rufe immer wieder seinen Namen. Als ich bei ihm bin, lasse ich mich neben ihm auf die Knie fallen, während der Motorradfahrer, der ihn angefahren hat, bereits einen Notruf absetzt. „Tai? Tai!“, rufe ich, doch er antwortet nicht. Er liegt einfach nur da, hat die Augen geschlossen. Ich fange an zu weinen, weil ich nicht mal weiß, woher das Blut kommt, wo genau die Wunde ist. Stattdessen nehme ich einfach seinen Kopf und bette ihn auf meinen Schoß. Ich weine und rufe seinen Namen. Tai. Tai. Tai … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)