Nadira von Amalia-chan (und das Erbe der Finsternis) ================================================================================ Prolog: Das ungeschriebene Naturgesetz -------------------------------------- Spärlich warfen die flackernden Laternen ihr Spotlight auf das dunkle Kopfsteinpflaster. Die Feuchtigkeit des vergangenen Tages hing immer noch in der Luft und legte ihre schweren Nebelbänke über die düsteren Strassen der Metropole. Tief im Schatten einer kleinen Seitengasse verborgen vermischte sich ein dünnes Rinnsal aus tiefem Rot mit dem ockerfarbenen Schlick und Matsch, den der Regen aufgeschwemmt hatte. Kräftiges Waldgrün floss in geschmeidigen Wellen über den Dreck des Pflasters. Leises Wimmern verflüchtigte sich im Dunst der Finsternis. Zittrig entwich dem hellen Fleisch allmählich alle Farbe und pulsierte in dem blassen Alabaster direkt daneben. Zierliche Hände von edlen Rüschen umschmeichelt hatten das hautfarbene Fleisch in ihrem erbarmungslosen Griff. Tief bohrten sich die messerscharfen Krallen in die zarte Haut, während hellbraune Kringellöckchen den Anblick auf die erschrockene Totenmaske verwehrten. Einzig der rabenschwarze Schopf lag bebend in den zierlichen Armen, als ein Ruck durch den Körper ging. Ein letztes Aufbäumen. Da ließ die schlanke Frauengestalt von ihrem Opfer ab und der Rumpf sackte leblos in sich zusammen. Schlaff lag er unbeachtet in der anmutend zärtlichen Umklammerung, als die Angreiferin den Blick vor sich hob. Tiefes Rot tropfte auf die alabasterfarbenen Brüste, die sich vor Erregung heftig gegen das straffe Mieder drängten und befleckte das goldene Amulett, welches im Fokus eines weit aufgerissenen, tiefblauen Augenpaares lag. „Trinke niemals vom Tod“, lenkte das flackernde Augenpaar dann auf die rotumrandeten Lippen, über die sich immer noch die scharfen Eckzähne spannten. Wild sprangen die hellblonden Löckchen auf und ab, als ihre Besitzerin zustimmend nickte. Sorgsam wurde der leblose Rumpf dann aus der tödlichen Umarmung entlassen, während das große Augenpaar neugierig über die aschfahle Haut glitt. Dann beorderte das seidige Rascheln des aufgebauschten Stoffes diesen wieder hin zu der zierlichen Frau ihr gegenüber. Die augenscheinlich Ältere erhob sich in einer katzenartig geschmeidigen Bewegung und streckte den zarten Arm nach dem blonden Mädchen aus, das erstarrt im Halbdunkel unter der Laterne stand. Einen letzten Blick warf sie dann doch noch auf den regungslosen Leichnam, da brach auch schon ausgelassenes Gackern durch die Stille der Nacht. Erschrocken wandte sich die Ältere sofort um und fand sich konfrontiert von einer zuvor noch heiteren Gesellschaft, die umgehend verstummte und gebannt das Bild, das sich ihnen bot bestaunte. Schmerzhaft dröhnte die Stille in den Ohren des kleinen Mädchens, das angsterfüllt die Augen aufriss, als es sich der genauen Musterung der fremden Männer und Frauen bewusst wurde. Binnen Sekunden huschten die Augen der Unbeteiligten mehrmals von ihr zu dem Leichnam über die Ältere und wieder zurück zu ihr, ehe die Mienen der Männer sich grimmig verzogen und einer sogar umgehend ein Holzkreuz aus seinem Umhang zerrte. Das Mädchen begann zu zittern, während der zarte Rücken ihr die weitere Sicht auf das beängstigende Symbol versperrte. „Weiche von ihr, Dämon!“, spie der bullige Kerl mit dem christlichen Abbild aus. „Verschwindet und euch wird kein Leid widerfahren“, warnte die Braunhaarige in Waldgrün, während sie sich vor dem verängstigten Mädchen positionierte. „Lass das Kind gehen und wir verschaffen dir einen schnellen Tod“, forderte ein Weiterer. Besagtes Kind verfolgte die Szene konzentriert, so dass ihr der Fremde in ihrem Rücken erst auffiel, als er sie urplötzlich von hinten packte und wegzerrte. Angsterfüllt kreischte sie auf und strampelte in der festen Umklammerung. Die Ältere fuhr augenblicklich herum, fletschte die Zähne und stürmte auf den Angreifer zu. Das Folgende rann wie in Zeitlupe vor den panisch geweiteten tiefblauen Kulleraugen ab, als sie die Braunhaarige abrupt in ihrer Bewegung innehalten sahen. Ekstatisch drückte die ihre Wirbelsäule durch, als sich die stark verzerrten Gesichtszüge schmerzerfüllt verspannten. Blankes Entsetzen trat in die raubtierartigen Pupillen, als sie auf die angstgelähmt Tiefblauen trafen. Im Augenwinkel erkannte sie die hölzerne Spitze, die sich durch die zarte Erhebung ihrer Brust bohrte. Da warf die Ältere ihren Kopf in den Nacken und öffnete ihre blutunterlaufenen Lippen zu einem für die Menschen unhörbar hellen Kreischlaut, der der Jüngeren in den Ohren brannte. Erst als sich die Glut der Asche bis hinauf in ihr schmerzverzerrtes Gesicht gefressen hatte verstummte dieser, dann fiel das teure Kleid hüllenlos zu Boden, während der Staub in feinen Körnern darüber rieselte. Das blonde Mädchen hatte aufgehört sich zu wehren und hing jetzt schlaff und schockiert in den kräftigen Armen des bärtigen Mannes, der so widerlich nach Alkohol und Bordell roch. Lethargisch ließ sie sich behutsam auf ihre kleinen Füßchen stellen, während ihr Blick wie erstarrt vor sich auf dem ausgebreiteten Grün haftete. Ihre Unterlippe bebte, dennoch entrang sich ihrer zarten Kehle kein einziger Laut. Sie fuhr heftig zusammen, als sie kurz darauf eine sanfte Last auf ihrer Schulter vernahm. Dann sah sie sich warm flackerndem Braun gegenüber. „Keine Angst, petit ange“, flüsterte ihr die Schwarzhaarige mit dem tiefen Ausschnitt beruhigend zu, während ihre Hand ihr eine der blonden Löckchen zart zurückstrich. „Es ist ja vorbei.“ Das Mädchen starrte einfach nur fassungslos in das fremde Augenpaar, offensichtlich zutiefst schockiert. Immer noch zitterten ihre zarten Ärmchen, die träge an ihr hinabhingen. Einen weiteren Moment zeigte sie keine deutliche Regung, kein Anzeichen dafür, dass sie sie verstand Dann, von einem Moment zum anderen, hörte sie auf zu zittern, als sich die Kerze der Strassenlaterne im zarten Windhauch bog und ihnen ihr warmes Licht so für einen Augenblick versagte. In der kurzzeitigen Finsternis leuchteten die blauen Augen wie Saphire, welche sich urplötzlich schimmernd in die tiefe Dunkelheit in ihrem Rücken richteten, ohne einen Funken Angst darin. Irritiert kräuselte die Schwarzhaarige ihre Nase, als sie meinte, kurz zu frösteln. Das dumpfe Geräusch hinter sich bewegte sie dann dazu, verwirrt den Blick des Bärtigen zu suchen. Der starrte längst angsterfüllt und kreidebleich durch sie hindurch. Das Weiße bereits deutlich hervortretend aus seinen Augen. Schnell erhob sie sich und drehte sich mit mehr als nur einem mulmigen Gefühl um. Totenstille empfing sie, so dass selbst ihr ihr wild klopfendes Herz in ihrer Brust dröhnend laut vorkam. Ausdrucksloses Rot begegnete ungerührt ihrem ängstlich flackernden Rehbraun. Ihr Herzschlag war verstummt wie eingefroren unter den unmenschlich tiefroten Iriden. Selbst das warme Orange des Lichtspenders über ihnen schien, sobald es mit der makellos hellen Haut des Fremden in Berührung kam zu ersterben, einfach von dem kühlen Silber erstickt zu werden. Samtenes Hellblond umrahmte die engelsgleich geschmeidigen Züge des augenscheinlich jungen Mannes. Sein leuchtendes Rot hatte derweil von ihr abgelassen und huschte rasch über den leeren Stoff am Boden hin zu der Blondhaarigen, als es aus ihr herausbrach: „Der Gefallene.“ Sie erlangte wieder seine volle Aufmerksamkeit, als sich endlich der erlösende Schrei aus ihrer zarten Kehle entrang, sobald sie ihre Begleiter zu seinen Füßen erkannte. In einer unmenschlich schnellen Bewegung schlossen sich da die blassen langen Finger um den Hals der dunkelhäutigen Schönheit und beendeten den schrillen Laut in einem geräuschvollen Knacken, als das Genick wenige Zeit später unter der unnatürlichen Belastung brach. Der Bärtige war bereits auf halbem Weg davon und doch ereilte ihn das Schicksal seiner Freunde, als sich blitzartig ein Schatten aus dem Rücken des ganz in edles Schwarz bekleideten Blonden löste und ihm in atemberaubender Geschwindigkeit nachsetzte. Der erstickte Schrei erfolgte wenige Zeit später und blieb doch weitestgehend ungeachtet, als einzig das Mädchen schreckhaft zusammenzuckte. Akribisch verfolgte das fremdartig leuchtende Augenpaar die blutrote Träne, die allein und verlassen über ihre bleiche Wange perlte, während ihr tiefes Blau seinem Blick standhielt. Keine weitere Regung zeichnete sich auf beiden Mienen ab, als das leise Knirschen von der Rückkehr des Zweiten kündete. Erst da ließ der blasse Schönling von dem blonden Engel ab, die ihn aus großen Kulleraugen ansah und blickte zu dem Dunkelblonden, der aus dem Schatten in das künstliche Licht trat. „Lass uns gehen, Nadira“, beugte sich der Zweite, der in einen beigen Gehrock gekleidet war zu dem Mädchen hinab. Widerstandslos ließ sich diese von ihm auf den Arm nehmen und umschlang sogleich seinen Hals. Zärtlich wanderten die hellen Finger durch ihr lockiges Gold, während er sie behutsam vom Ort des Grauens wegtrug. „Es ist ja alles gut, Kleines“, redete er besänftigend auf sie ein und streichelte immer wieder über den zartrosa umhüllten Rücken der Jüngeren. Deren Kulleraugen lagen nach wie vor Schock geweitet auf dem Haufen Asche, der weich gebettet vom seidenen Waldgrün umgeben war. „Maman“, vernahm sie der Ältere wispern, als die Kindgestalt beobachtete, wie sich der Hellblonde in ihrem Rücken hinabbeugte und das goldene Amulett aus den Überresten fischte. Es existiert seit Anbeginn der Zeit ein ungeschriebenes Naturgesetz, dem selbst wir, die wir unsterblich sind, folgen. Wie diese ahnungslosen Menschen in dieser verhängnisvollen Winternacht in Paris, als sie einzig ein unschuldiges Kind in den gefährlichen Fängen einer furchteinflössenden Bestie der Nacht sahen. Sie hatten keine andere Wahl, als ihm zu folgen. So wie auch letztlich meine Mutter keine andere Wahl hatte. Selbst in meinen Kreisen nennen sie mich den dunklen Engel. Sehen doch auch sie das väterliche Erbe in mir. Das Erbe, das meiner Mutter in dieser Nacht zum Verhängnis wurde. Als sich die engelsgleiche Unschuld meines Vaters mit der schutzsuchenden eines Kindes paarte und in eben diesen Menschen einen uralten Instinkt aktivierte. Menschen sagen, die Zeit heile alle Wunden. Was sie damit eigentlich meinen, ist, dass sie zu wenig davon haben, um ewig zu trauern. Doch was, wenn dir die Ewigkeit gegeben ist? Wir sagen, der Schmerz eines Unsterblichen ist unsterblich… Es existiert seit Anbeginn der Zeit ein ungeschriebenes Naturgesetz. Auch wir folgen ihm. Auch wir, die wir unsterblich sind, sind den Gesetzen der Natur unterworfen. Ich kenne nur einen Einzigen, der ihnen trotzt. Den Einzigen, der sich von eben diesem Schutz nährt. Den Einzigen, dem wir alle folgen: Meinen Vater. Kapitel 1: Nadira ----------------- Dröhnend vibrierte der Bass durch die menschengefüllte Halle. Ausgelassen und vom Alkohol beschwingt feierte die Szene sich selbst im leuchtenden Neonlicht der Neuzeit. Es schien, als wären Lack und Leder nie aus der Mode gekommen. Mancherorts lebten Renaissance oder das viktorianische England nebeneinander wieder auf; alle schienen sich jedoch darin einig, dass noble Blässe und schwarz-untermalte Augen nach wie vor angesagt waren. Schwarz war die Farbe des Abends. Tief summte der Bass in dem Stahlgerüst in schwindelerregender Höhe wider, wo zwei dunkel gekleidete Gestalten auf die ausgelassene Menschenmasse hinabblickten. Helles Goldblond wallte dem Hockenden über die breiten Schultern, als seine himmelblauen Augen prüfend die unzähligen Schöpfe überflogen. An dem Dunkelblondhaarigen mit dem Topfschnitt gegenüber der Bar verweilte er eine kurze Weile, ehe er weiter diese entlangglitt, um auf gelocktes Blond zu treffen. Eine junge Frau, augenscheinlich in den Mittzwanzigern, warf gerade ihre wilde Lockenmähne, die ihr bis knapp unters Kinn ging in ihren Nacken und öffnete ihre verlockenden, blutroten Lippen, die dafür gemacht zu sein schienen, stürmisch erobert zu werden. Ihr feinzügiges Gesicht erstrahlte vor Freude und verlor doch nicht ihre düstere, geheimnisvolle Anmut dabei. Das Farbenspiel der Lichtmaschine spiegelte sich auf ihrer silbrigen Haut. Ihr dunkles Oberteil verstärkte den leblosen Glanz und ließ zugleich tief blicken. Und doch tat dieser neuzeitliche Makel ihrer erotischen Erscheinung keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Wie immer scharrten sie sich um den blonden Engel. Doch er sah, was er wusste und nur noch wenigen vorbehalten war, zu sehen. Kurz verharrte er an ihren spitzen Eckzähnen, ehe er nachdenklich die Traube an Ahnungslosen, die ihr solch diabolisches Vergnügen zu bereiten schien, schweifte. Er war sich sicher, ihre tiefblauen Kulleraugen glitzerten hinter ihren langen Wimpern feurig. Sie amüsierte sich offensichtlich köstlich. Damit lenkte er sein Himmelblau zu dem dunkelblonden Struwwelkopf in einiger Entfernung. Er hatte sich unter das Volk gemischt und tanzte ausgelassen mit einem Südländer. Von dort war es nur ein kurzer Weg bis zu der Dritten und Jüngsten im Bunde, wie er wusste. Der dunkelhaarige Lockenkopf verschwand gerade mit seinem Opfer an der Hand aus seinem Fokus. Da blickte er auf zu dem Braunhaarigen, der ungerührt an seiner Seite gestanden hatte. Ein knappes Nicken und dieser ließ sich umgehend zurückfallen, mitten hinein in die schützende Dunkelheit der Schatten am Rande der Tanzfläche. „… Und dein Make-up. Wahnsinn. Wie machst du das?“, beorderte gerade das funkelnde Blau auf eine Braunhaarige, deren Gesicht mit weißer Farbe zugekleistert zu sein schien. „Und deine Zähne, hast du die dir machen lassen?“, warf ein Zweiter sogleich ein. An sich ein recht Hübscher. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Ohne die schwarzen Linien um seine leuchtend grünen Augen, die seine Augenringe noch betonten, könnte er ihr direkt gefallen, schmunzelte sie in sich hinein. Es war schon eine Schande, wie manche Menschen sich heutzutage entstellten. Empfanden sie das wirklich als schön? Wie waren sie nur darauf gekommen? Eine wahre Sünde, die sie da dem lebendigen und so rosigen Farbton ihrer Haut antaten. Wer wollte denn schon weiß wie Kalk sein? Eines jedoch verstand sie, wie sonst kein Anderer ihrer Art. Ihre Faszination für den Tod. Sie teilte sie sogar. Schon seitdem sie denken konnte, faszinierte er sie. Es war atemberaubend und zugleich erschreckend; und setzte jedes Mal, heute wie damals, ein elektrisierendes Kribbeln in ihrem Körper frei, wenn sie das Leben aus den Augen weichen sah. Sie verglich es sogar zuweilen mit so manchem prickelnden Vorspiel. Als ob das Leben sich dem Sterbenden noch einmal in seiner vollen Pracht und Blüte eröffnen wollte, sich mit einem großen Paukenschlag verabschieden wollte. So erschien es ihr gelegentlich. Hatte doch der Moment des Todes durchaus etwas Erotisches an sich, zumindest für sie. Sie lächelte nachgiebig, als sie den vor Wissbegier und Begeisterung strahlenden Augenpaaren um sich begegnete. Menschen waren schon sonderbar. „Nein, meine Zähne sind schon seit meiner Geburt so“, vereinte sich dann ihre wohlklingende Stimme mit den Wogen der Musik, die ihre zarte Brust zum mitschwingen animieren wollten. „Echt schräg“, ereiferte sich ein Weiterer. „Du meinst, seit deinem Tod“, verbesserte derweil ein Anderer. Im Gegensatz zu dem Ersten schien er sich weitaus besser im Griff zu haben, widerstand er doch ihrem verführerischen Dekollete. Er sah ihr dabei sogar offen in ihre blauen Kulleraugen. Sie lächelte leise, beinahe schon zärtlich, ehe sie von ihrem Getränk nippte. Die erwartungsvolle Spannung damit noch weiter anheizend, meinte nicht nur sie, die Luft knistern zu vernehmen. Höchst erotisch trieb sie ihr Spiel weiter, ehe sie nüchtern offenbarte: „Ich bin nie gestorben.“ Verblüffung spiegelte sich auf den Mienen ihrer Gegenüber wider, als sie sich ihnen abermals zuwandte. Hatte sie doch gerade eben ihren Drink zurück auf den Tresen gestellt. Lässig stützte sie sich erneut auf ihren Ellenbogen gegen das polierte Holz und schmunzelte zuckersüß. Das war einfach immer wieder ein Knaller. „Wie? Du meinst also…“, stammelte der Hübsche mit den tiefen Augenringen. Man sollte meinen, in ihrer Fantasie seien sie wenigstens toleranter. Aber nein, da waren sie genauso beschränkt und engten sich selbst immer wieder mit ihren oft traditionsbelasteten Moralvorstellungen und ihren viel zu eng gefassten Prinzipien ein. „Ich wurde geboren.“, beendete sie dann für ihn. Unglauben und Faszination begegneten ihr Hand in Hand. Das leise Schmunzeln setzte sich auf ihren smarten Zügen fest. „Genauso wie meine Brüder. Ich bin das jüngste Kind meines Vaters. Die Tochter des Mächtigsten unserer Art und einer seiner Geliebten. Sein einziger Bastard. Er machte mich meiner Mutter im Herbst des Jahres 1710 zum Geschenk.“ „Dann bist du ja… 322 Jahre alt.“, hauchte ein anderer ehrfürchtig, während anderorts leise geschmunzelt oder ungläubig mit dem Kopf geschüttelt wurde über solch ausgeprägte Fantasie. „321, wenn man es genau nimmt“, korrigierte sie beiläufig. „Und lass mich raten, deine Mutter war demnach auch eine Vampirin?“ „Ja, eine Gewandelte, wie wir sie nennen. Mein Vater schenkte ihr ihr zweites Leben und teilte mit ihr seine Kraft, die es ihr dann gestattete, mich zu gebären.“ Sie genoss die erstaunten und begeisterten Gesichter. Menschen, sie waren immer so leicht zu beeindrucken, hatten sie doch keine Ahnung von ihrer Welt. „Du sprachst von deinen Brüdern, wie viele hast du denn? Und wie alt sind die dann? Ich meine, wenn du schon…“ Sie schmunzelte. Die üblichen Verdächtigen. „Ich habe drei Brüder. Wie alt die beiden Ältesten sind, weiß ich selbst nicht so genau. Aber mein jüngster Bruder…“, sie deutete in die Menge auf den Dunkelblonden, der gerade mit seinem Tanzpartner eng umschlungen Speichel austauschte. „… Er ist mindestens 5 Jahrhunderte älter als ich. Irgendwann relativiert sich das“, beorderte sie dann aller Augen wieder von dem gegelten Stachelkopf hin zu sich. „Und dein Vater?“, hielt sie dann davon ab, abermals genüsslich an ihrem Cocktail zu nippen. Grüblerisch schürzte sie ihre Lippen. Das war eine schwierige Frage. Bei ihm hatte sich das Mitzählen vermutlich schon irgendwo zwischen ihren beiden ältesten Brüdern relativiert, oder vielleicht schon lange davor? Sie wusste es nicht. Es hatte sie auch nie sonderlich interessiert. Sie hatte gelernt, dass es sie nicht interessierte. „Das weiß niemand so genau. Ich kenne zumindest keinen, der behauptet, es zu wissen. Zeit spielt für uns eine untergeordnete Rolle.“, warf sie dann noch in den Raum. Nachdenklich legte sie ihre blasse Stirn in Falten, während sie ihren Bruder mit dem heißblütigen Schönling beobachtete. Von all ihren Geschwistern war sie zwangsläufig diejenige, die am meisten von ihrem gemeinsamen Vater mitbekommen hatte. War sie doch von ihm genährt worden, nach dem Tod ihrer Mutter. Eventuell kam ihre sonderliche Verbundenheit ja auch daher? Ihr merkwürdiges Verhältnis, sein Interesse. Sie hatte eigentlich schon vor langer Zeit beschlossen, sich nicht mehr damit zu befassen. Es war sinnlos. Selbst sie, die sie sein Blut so oft mit ihm geteilt hatte, das Reinste, das ihre Art kannte, hinterblickte ihn nicht. Den Bau der Pyramiden hatte sie in seinem Blut gesehen. Unzählige Städte und Metropolen hatte sie brennen sehen unter den Feuern der Zerstörung, Kriege um Reiche, die die Menschen schon lange vergessen hatten. Länder und Völker, die schon so lange verloren waren, dass sie längst zu Mythen und Sagen geworden waren. Wie lange es wohl brauchte, bis aus Geschichte Mythos wurde? Wie alt musste man sein um selbst unter Unsterblichen zu einem Mythos zu werden? Sie schmunzelte undeutbar. Unter all ihren Geschwistern war sie von Anfang an herausgestochen. Schon allein, weil sie ein Bastard war. Sein erster und bis jetzt einziger. Es war, wie es war. Sinnlos also, darüber nachzudenken. Das Getuschel um sie herum ging an ihr vorbei. Sie schaltete auf Durchzug, während sie über das herausgeputzte Antlitz des Älteren fuhr. Sein schlanker Körperbau ließ die zierlichen und doch gut ausgeprägten Muskelstränge erahnen, die sich unter dem hellblauen Stoff seines Hemdes verbargen. Er hatte es bis zum Brustansatz aufgeknöpft und in den Armkehlen gekrempelt. Um seinen schlanken Hals baumelte eine zarte Lederkette mit einem ungewöhnlichen Zahn als Anhänger. Seine langen Beine waren modisch in eine gutsitzende Jeans gekleidet, sein dunkelblonder Igel zu einer trendigen „Out-of-Bed“ Stachelfrisur gegelt. Nicht Wenige sagten ihnen eine gewisse Ähnlichkeit nach, viel mehr als die zu den älteren Beiden. Ob das daran lag, dass sie sich so gut verstanden? Sie wusste es nicht. Vielleicht lag es aber auch nur an der banalen Tatsache, dass sich einzig bei ihnen beiden das helle Haar ihres Vaters ansatzweise durchgesetzt hatte. „… Und Dracula?“, schnappte sie gerade noch neben sich auf. Sie ertränkte ihre aufkommende Belustigung in dem süßlichen Alkohol in ihrer zarten Hand. Auf diese Frage hatte sie gewartet. Das kam immer irgendwann. Mal früher, mal später. „Gibt es ihn wirklich? Wie ist er so? Kann er wirklich fliegen? Und wie ist das mit seiner Verwandlung?“, überschüttete man sie dann regelrecht, sodass sie sich gezwungen sah, einzugreifen. „Er kann nicht fliegen. Niemand kann das.“ Das stimmte nicht ganz, wie sie sehr wohl wusste. Sie kannte nur einen, dem ihre aller Urmutter die schwarzen Schwingen vermacht hatte. „Wir bewegen uns einzig zu schnell für eure menschlich schwachen Augen, sodass ihr nur einen Bruchteil unserer Bewegungen tatsächlich erfassen könnt. Das mit dem Wände hinaufklettern und so, das stimmt allerdings“, gestand sie dann wahrheitsgetreu und verbarg ihr Schmunzeln in ihrem eleganten Glas. „Und das Verwandeln?“ „Hollywood“, tat sie es lapidar ab. „Und wie er so ist? Nun, er ist ein machtbesessener, kleiner, nichtsnutziger Halsaufschneider, dessen Welt sich einzig um ihn selbst zu drehen hat“, urteilte sie hart. „Und seine Frauengeschichten?“, das musste von einem Mann kommen. „Das hätte er gerne“, lächelte sie ehrlich. Dieser verabscheuungswürdige Schwächling. „Natürlich nutzt er seine Wirkung auf die menschlichen Frauen aus. Aber seine Kraft ist bei Weitem nicht ausreichend um sie ewig an sich zu binden. Also schuf er kurzerhand seinen eigenen Mythos“, nach einem ganz bestimmten Vorbild, fügte sie gedanklich noch hinzu. Den Groll verbat sie sich dabei aber umgehend. Das war er nun wirklich nicht wert, zumal er ja schon erhalten hatte, was er verdiente. Obwohl sie immer noch darauf wartete, bis der ungeduldige und narzisstische Dummkopf seine Füße nicht mehr still hallten konnte. „Also seid ihr gar nicht ewig an euren Partner gebunden?“, trat dann die Romantikerfraktion in Aktion. Ehe die altbewährte und so lästige Diskussion, ob denn nun der Vampirbiss reine Erotik oder doch eher dem romantischen Gefühl der Liebe zuzuschreiben sei, entbrennen konnte, erläuterte sie entnervt: „Nein. Das wäre auf die Dauer wohl ziemlich langweilig.“ Und auf die enttäuschten Mienen mancher Mädels gestand sie dann doch noch zähneknirschend: „Es kann aber durchaus aus einem Gefühl tiefer Zuneigung entstehen. Doch das muss es nicht zwangsläufig. Fakt ist aber, gewandelt wird nur, was gefällt.“ Menschen, sie wollten immer alles einfach und geradlinig. Wann begriffen sie endlich, dass ihre Welt so ganz und gar nicht monoton, sondern quietschbunt war? „Du hast ja wirklich eine ausgefuchste Fantasie“, lachte dann ein Anderer. Sie lächelte geheimnisvoll. Oh ja, die hatte sie. Nur bis jetzt hatte sie sie noch nicht einmal bemühen müssen. Hätten die Menschen auch nur einen Bruchteil einer Ahnung davon, wie wenig Fantasie es in ihrer Welt tatsächlich brauchte, sie wären, ebenso wie ihre Vorfahren, schreiend davongelaufen, anstatt hier ihrer Art zu huldigen. Auf solch billige und vorurteillastige Art und Weise. Und das alles nur, weil ein gewisser Jemand seinen Mund nicht halten hatte können und so diese ganze Hysterie ausgelöst hatte. Niemand, auch nicht die Weisesten ihrer Art hatten auch nur im Entferntesten erahnt, wie sehr sich das letztlich zu ihrem Vorteil entwickeln würde. Niemand glaubte seit Hollywoods etlichen Draculaadaptionen mehr an ihre Art, nicht wirklich. Hatte es der gute, alte Vladi doch ein wenig übertrieben mit seinem Drang nach Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Schmunzelnd drehte sie ihr Glas in ihrer kleinen Frauenhand und besah es sich dabei eingehend. „Du hast ja keine Ahnung“, blickte sie dann auf und stach in sein überraschtes Augenpaar. Der amüsierte Glanz war einem weitaus gefährlicheren Glitzern gewichen. Instinktiv erkannte die Beute seinen Räuber, wie seine schwitzigen Hände verrieten, als er sich unwillkürlich durch seinen schwarzen Vorhang strich. Sein Kehlkopf zuckte aufgeregt an seinem dünnen Hals, während ihre Augen kurz die intensiv pulsierende Halsschlagader fokussierten. Sie lächelte in böswilligem Vergnügen, ließ dann aber gelangweilt von ihm ab. Das war unter ihrem Niveau. Aber zum Spielen durchaus annehmbar. Ungerührt schickte sie ihren Blick über die tanzende Masse und prüfte kundig das Angebot. Ein leises Lächeln, mehr verriet dem Beobachter nicht, dass sie gefunden hatte, was sie suchte, als sie einen Braunhaarigen ins Visier nahm. „Also kennst du Dracula persönlich?“, lenkte dann wieder ein junges naives Ding die Aufmerksamkeit auf ihr wohl von Hollywoods Schönlingen geprägtes Idealbild eines Vampirs. „Ja, dafür hat er mit seiner Egokampagne gesorgt“, entgegnete sie abwesend. Ihr tiefes Blau glitt derweil abschätzend über die stolze Erscheinung desjenigen, der ihr Interesse unbewusst geweckt hatte. „Welche…?“, zwang sie dann dazu, von ihm abzulassen; vorerst. Sie wandte sich wieder ihren Zuhörern zu. Es war Zeit das zu beenden. Es begann zu langweilen. „Nun, dachtet ihr ernsthaft, Bram Stocker habe sich das alles allein aus den Fingern gesaugt? Ich würde ja eher annehmen, er wurde, sagen wir mal, inspiriert. Wodurch er dann natürlich auch zwangsläufig auf uns andere aufmerksam gemacht wurde. Damit brach dann dieser Wahn aus. Zugegeben Unerwarteterweise. Wir wurden zu emotional labilen Wesen, die den Romantikern und Dramatikern für ihre schmierigen Inszenierungen dienten, während jemand ganz Bestimmtes sich in seinem kurzzeitigen Ruhm badete.“ Ein hämisches Grinsen huschte über ihre Züge, als sie ihr leeres Glas abstellte und mit leuchtenden Iriden berichtete: „Ich glaube, er hatte tatsächlich erwartet, sich darin noch ein wenig länger suhlen zu können.“ Sie schüttelte leise den Kopf. Wie blöd konnte man sein? „Aber er ist doch immer noch berühmt“, wurde da auch gleich nach einem Logikfehler in ihrer angeblich fantasievollen Geschichte gesucht. „Oh, ja. Das wird er auch vermutlich noch für eine lange Weile bleiben. Nur fragt ihr euch nicht, warum der ach so mächtige Urvampir sich gerade im verkommenen und alten Rumänien auf seinem Ruhm ausruht, anstatt mal nach Hollywood zu den Reichen und Schönen zu fliegen, wo er doch so auf schöne Frauen abfährt?“ Wie erwartet sah sie sich neugierigen Gesichtern gegenüber. Sie schmunzelte zufrieden. „Ganz einfach. Er fürchtet seine ewige Existenz endgültig zu verwirken, wenn er sich aus seiner Verbannung begibt.“ Erstauntes Schweigen. Nur die Musik brummte in ihren Ohren. „Und warum sollte er bitte…?“ „Habt ihr euch nie gewundert, warum keine Beweise existieren? Nein? Dabei liefert Hollywood doch so nette Erklärungen. Wir leben im Verborgenen. Es ist uns nicht gestattet, unsere Welt preiszugeben. Einzig unseren Opfern erlauben wir einen kurzen Einblick“, lächelte sie. Noch hielt sich die Unruhe in Grenzen, vom Unglauben und der Faszination überlagert. „Und warum erzählst du uns dann so freizügig davon?“, kam es dann endlich neunmalklug. Gar nicht mal so schlecht. Ab und an dauerte es viel länger, bis der Groschen an diesem Punkt fiel. „Wer weiß? Vielleicht war mir gerade danach, ehe ich mich auf euch stürze“, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen. Und tatsächlich schlug ihr mancherorts die instinktive Furcht entgegen, während sich auf ausnahmslos allen Gesichtern ein ungläubiges Lächeln spannte, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Ja, ja. Der Unglaube und sein tückisches, zweites Gesicht, trällerte sie in Gedanken. Alles, was sie ihnen verraten hatte, war natürlich in keiner Weise noch gefährlich, dank Dracula. Einzig ihre Daten würden ihren Vater verstimmen. Doch sie konnte sich keine Möglichkeit erdenken, wie dieser je davon erfahren sollte. Er ging nicht mehr unter Menschen. Ob er das je getan hatte? Sie konnte es sich nicht wirklich vorstellen, aber sein Blut sprach eine andere Sprache. Sie kostete die Anspannung regelrecht aus, die sich unter der versammelten Mannschaft ihres Auditoriums ausbreitete, wie ein Virus. Ungeniert blickten sie wie gebannt auf sie. Warteten nur zu offensichtlich auf eine auflösende Regung in ihrem Gesicht, konnten sie doch den leisen Urinstinkt nicht ganz außer Acht lassen. Sie gönnte sich noch einen kurzen Augenblick, badete in der unterschwelligen Urangst, die ihnen allen innewohnte. Dann erlaubte sie sich ein hauchzartes Lächeln und mit einem Mal brach das amüsierte Gelächter auch schon los. Es befreite so manch geschundene Seele von der nagenden Unsicherheit und Furcht; und erlaubte eine wohlige, aber vor allem trügerische Sicherheit. „Gute Geschichte.“ „Du solltest wirklich damit zu einem Verlag oder am besten gleich nach Hollywood.“ Luzifer bewahre, lächelte sie in Gedanken. Dann würde sie ernsthafte Konsequenzen riskieren. Nein, so war das viel angenehmer. Mit einem wissenden Lächeln stieß sie sich vom Tresen ab und verabschiedete sich von den ahnungslosen Glückskindern geheimnisvoll: „Man kann nie wissen und jetzt entschuldigt, mein Instinkt ruft.“ Kapitel 2: Wyatt ---------------- Raubtierartig elegant bahnte sie sich ihren Weg durch die fröhliche Masse an Tanzenden. Der Saum ihres dunklen Rockes vollendete ihre lasziven Hüftbewegungen in schwingender Ekstase. Ihre blonde Lockenpracht stach in der Dunkelheit hervor. Die helle Haut diente dem wilden Farbenspiel als unberührte Leinwand. „Hi, Süße!“, drängte sich ihr alsbald der Erste in den Weg und blies ihr seinen alkoholgetränkten Atem ins Gesicht. Unbeeindruckt drehte sie ihren Kopf und sah teilnahmslos in die vom Rausch verzerrten Züge des Rotblonden. Sie schmunzelte leise. Eine undefinierbare Form der Bedrohung lag darin verborgen, als sie zuckersüß anfragte: „Wie ist dein Name?“ Der Andere glaubte zu triumphieren, seinem schiefen Grinsen nach zu urteilen, als er sich sogleich enger an sie heranwagte und lallend antwortete: „Ashley. Und du, meine Hübsche?“ Bedachtsam glitten ihre blauen Augen seinen Hals hinab, folgten ihrer zierlichen Frauenhand, als sie ihre langen Finger in den scheinbar krallenartig zugespitzten Fingernägeln verspielt über die Knopfreihe seines dunklen Hemdes wandern ließ. Das Blut pulsierte wild unter seiner erhitzten Haut. Lebendig und verführerisch pochte sein menschliches Herz im wilden Rhythmus ihrer lockenden Berührung. „Tanz mit deinen Freunden, Ashley!“, gebot der Lockenkopf dann schmunzelnd. Wie aufs Zauberwort drehte sich der junge Mann da abrupt wieder zu besagten Freunden um, die ihn in überschwänglicher Freude begrüßten. Sie beachtete es nicht weiter und nahm stattdessen ihr Ziel wieder ins Auge. Kurz schweifte ihr erfreut funkelndes Augenpaar das vertraut silbrige Blau. Sie lächelte hinterlistig, als der Dunkelblonde ihr nur neckisch zuzwinkerte, ehe er sich wieder über den noch jungfräulichen Hals seines dunkelhäutigen Opfers hermachte. Wie ein Raubtier, das sich an seiner Jagd erfreute, stolzierte sie mit schwingenden Hüften auf ihre erwählte Beute zu. Andächtig zog ihr schlanker Finger dann einen elektrisierenden Weg über die ansehnliche Rückensansicht des Braunhaarigen, den sie bereits von der Bar aus erblickt hatte. Federartig flog er weiter über seine Schulterblätter bis hin zu seinem durchaus strammen Bizeps, als ihr Blau auch schon seinem überraschten Grün begegnete. Augenblicklich verfing es sich in ihren sonderlich glitzernden Saphiren, tauchte ein in eine nie zuvor gekannte Tiefe, während sie geschmeidig an seine Seite kam. Vorwitzig umfasste sie seine Wange und nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Einzig sie schien seinen Geist nun vollkommen zu beherrschen. Spielerisch trommelten ihre blassen Fingerkuppen über seine warme Haut, als sie auch ihre andere Hand an seine noch unberührte Wange führte. Die Faszination und Verblüffung in ihrem Rücken ignorierte sie gekonnt, als sie sich einzig auf den sportlichen Athleten vor sich konzentrierte. Sein kräftiger Herzschlag verriet ihr alles, was sie wissen musste, während sein Geruch sie verheißungsvoll umnebelte. Zufrieden nahm sie ihre Wahl genauer unter die Lupe. Er ließ sie gewähren. So gestattete sie ihm die Umklammerung ihrer Hüfte. Eine stille Übereinkunft schien getroffen, als sie düster grinsend wieder seinen lüsternen Blick traf und mit einem aufreizenden Hüftschwung in die Musik mit einfallen wollte. Doch sie wurden überrascht. Grob umpackte jemand ihren Erwählten am Oberarm und unterbrach so ihr gerade erst einsetzendes Spiel. Sie schob enttäuscht ihre Unterlippe vor, als der Braunhaarige widerwillig von ihr abließ. Seine warme Hand auf ihrer Taille war die einzige Verbindung. „Wyatt, was soll das?“, brauste der Braunschopf auf. Ihr entging die argwöhnische Musterung des Hellhaarigen derweil nicht, als er seinen augenscheinlichen Freund am Kragen seines T-shirts näher an sich heranzog, um ihm etwas zuzuflüstern. Sie wurde neugierig, riskierte es allerdings nicht, ihre Lauscher zu spitzen. Nicht bei der lauten Musik. Stattdessen fokussierte sie seine durchaus sinnlich vollen Lippen. „Was? Sag mal, spinnst du jetzt? Was soll der Mist?“, stieß ihn dann ihr Tanzpartner von sich. Damit stach das stürmische Grau des Blonden in ihre in der Dunkelheit sonderbar funkelnden Iriden. Irrte sie, oder lag da so etwas wie eine Form von Erkenntnis in dem hitzigen Augenpaar? „Brian“, mahnte der Zweite. Doch noch ehe der Angesprochene reagieren konnte, schritt seine Gegenüber und Auslöser des freundschaftlichen Zwistes ein. Sanft, nahezu versöhnlich, legte sie ihm ihre kalte Hand auf die bebende Brust, unter der sich seine Muskeln beachtlich spannten. Neugierig beäugte sie den Hinzugekommenen, der ihr so voller Misstrauen begegnete, als sie sich zwischen die beiden jungen Männer drängte. Äußerst ungewöhnlich für einen Menschenmann, der noch dazu in der Blüte seiner Jugend stand. Für gewöhnlich verfehlte ihre Ausstrahlung nie ihre Wirkung. Doch bei diesem hier schien das nicht so. Ganz im Gegenteil, er hatte eine gehörige Portion Respekt vor ihr. Sein Herz pumpte das Adrenalin ungeduldig durch seine Adern, als sie kurz vor ihm zum Stehen kam. Intensiv tauchte sie ein in sein wild flackerndes Graublau. „Was auch immer du bist, hau ab“, heizte ihr Interesse nur weiter an und ließ sie den Braunhaarigen fast gänzlich vergessen. „Was auch immer ich bin?“, schnurrte sie. Er hielt ihrem lauernden Blick stand, tapfer, eisern, wie der Fels in der Brandung. Sie bedachte es mit ihrem so geheimnisvollen Schmunzeln. Das klang sehr interessant. „Entschuldige, er ist eigentlich nicht so. Ignorier ihn einfach“, bemühte sich der Braunschopf zu retten, was schon längst verloren war. Sie hob abwehrend ihre Hand und ordnete desinteressiert an, ohne ihn anzusehen: „Misch dich nicht ein, Brian.“ Augenblicklich verstummte dieser. Ihr Gegenüber sah kurz alarmiert von seinem erstaunlich teilnahmslosen Freund zu ihr und wieder zurück. Erst als Nadira näher an ihn herantrat und ihre Nase über seinen Hals schickte, war er versucht, zurückzuschrecken. Da hatte sie bereits wieder von ihm abgelassen und wich auf die vorherige Distanz zurück. Er vermochte ihr Grinsen nicht zu deuten, mit dem sie ihn daraufhin besah. Er hatte allerdings auch keine Zeit, ihr merkwürdiges Verhalten weiter zu ergründen, da teilte sich auch schon die Masse in ihrem Rücken und gewährte den Blick auf einen dunkelblonden Struwwelkopf. Er hielt zielstrebig auf sie zu. Ein weiterer Mann hing an seiner Seite und hatte seinen einen Arm um die breiten Schultern des Hellhaarigen geschlungen. Der andere Arm baumelte schlaff zur anderen Seite. Der schwarzer Haarvorhang gab nur hin und wieder sein selbstzufriedenes Grinsen wieder, das sich breit über seine vollen Lippen zog. Er schien jenseits von Gut und Böse. „Nadira!“, erreichte sie die vertaute Männerstimme. Der Lockenschopf drehte sich augenblicklich zu dem Herankommenden um. Geschwind huschten ihre Saphire über den Dunkelhaarigen an der Seite ihres Bruders, ehe Letzterer sie auch schon anwies: „Wir sollten gehen. Ich hab Raphael rumschleichen sehen.“ Wyatt verstand gar nichts. Es war ihm nur recht. Hauptsache er bekam Brian von dieser sonderbaren Frau weg. Also legte er seinem Freund kurzerhand seine Hand auf dessen massige Schulter, da fand auch schon wieder dieses seltsame Augenpaar das Seine. Er schluckte unmerklich. Alles in ihm spannte sich an. Er schien wie erstarrt. Und doch war da ein winziger Teil in ihm, ein bedeutungslos geringer Teil, der sich unerklärbar angezogen fühlte. Sowohl von der Blonden, wie auch noch seltsamerweise von dem Fremden, der da anscheinend seinen Freund auf den Beinen hielt. Da jagte sie ihm auch bereits unwillkürlich heiß-kalte Schauer den Rücken hinab, als sie abermals nah an ihn herankam. Er war machtlos und konnte ihrem Blick einfach nicht entgehen, der tief in den Seinen eintauchte. Noch einmal fühlte er sich von ihr fremdartig enttarnt, als hätte er irgendein Geheimnis, das sie ihm an der Nasenspitze ansah. Da streckte sie sich nach seinem Ohr. Er erschauderte, als ihr warmer Atem erotisch über seine Ohrmuschel fegte, ehe sie ihm verführerisch zuraunte: „Wir sehen uns wieder, Seher.“ Ohne auch nur einen weiteren Moment seine Verwunderung auszukosten, wandte sie sich rasch ab und verschwand mit dem Struwwelkopf und dessen schwarzhaarigen Begleiter in der Menge. „Wo ist Kelly?“, wollte sie sogleich wissen. „Toiletten“, erwiderte ihr Bruder knapp, nachdem er einen Moment in sich gegangen war. „Und du willst den mitnehmen?“, erkundigte sie sich mit Blick auf seine heutige Errungenschaft. „He, die Nacht ist noch jung, Kleines. Gönn mir doch auch mal was. Im Gegensatz zu dir hatte ich schon lange kein Heißblut mehr“, grinste der Ältere dann frech. Der Schwarzhaarige humpelte derweil mehr schlecht als recht an seiner Seite. Er wurde viel mehr von ihm mitgeschleift, als dass er mit den langen Schritten des Dunkelblonden mithalten konnte. Nadira kräuselte daraufhin nachdenklich ihr Näschen. „Musstest du gleich soviel trinken? Der hält nur auf“, schimpfte sie dann, ehe sie unbeirrt anordnete: „Hol den Wagen, ich hole Kelly.“ Ohne seinen Protest abzuwarten, hörte sie ihn doch bereits verräterisch Luft holen, schlug sie den Weg zu den Toiletten ein. „Kein weiteres Spiel heute Abend, Nadira, hörst du?“, warf er ihr dann doch noch hinterher. Vergebens, wie er noch darunter erkannte. Und so machte er sich seufzend daran, sich und seinen „Freund“ zum Wagen zu schleppen. Hektisch glitten ihre Iriden umher, während sie sich durch die Menschenmasse wühlte. Gerade noch rechtzeitig presste sie sich an einen der grauen Stützpfeiler, als sie den hellblonden Schopf unter den Übrigen im Augenwinkel herausstechen sah. Ein leises Lächeln überzog ihre blutroten Lippen, während ihre Brust sich erregt gegen den seidenen Stoff ihres Oberteils presste. Vorsichtig lugte sie um die Ecke zu der schwarzen Tür, die gerade hinter einer weiteren Frau zu schwang. Abschätzend glitt sie dann hinüber, bis sie auf die imposante Erscheinung des Goldblonden traf. Schwarz kleidete ihn gut, erlaubte sie sich ein Urteil, ehe sie wieder ihren Weg ins Auge fasste. Anscheinend hatten sie dasselbe Ziel. Sie grinste, schöpfte noch einmal leise Luft und straffte ihre Schultern, um dann aus ihrem vorläufigen Schutz zu treten. Einzig von manchen Menschen gebremst huschte sie so geschwind es ihr möglich war durch die schwarze Flügeltüre. Grell empfingen sie die Neonröhren an der Decke, so dass sie kurz blinzelte. Sie hielt sich nicht mit den Damen vor dem Spiegel auf, von denen so manche verwundert aufsah, als die Blonde an ihnen vorbeirauschte, ohne ihr Spiegelbild. Schnell trat sie in den eigentlichen Raum mit den aneinandergereihten, schwarzen Kabinen. „Kelly?“, brach sich ihre Stimme augenblicklich an den polierten Fliesen. Ein kurzes Erzittern einer der hinteren Kabinentüren wies ihr den Weg. „Wir gehen“, ordnete sie an, noch während sie auf dem Weg dorthin war. Dort angekommen, richtete sich ihr Blick umgehend wieder zur Tür, welche zum Vorraum führte. „Was? Jetzt schon? Können wir nicht…?“ „Gabriel ist hier. Komm in die Gänge.“ „Was?“, kam es panisch von drinnen. Nadira rollte mit den Augen. „Lass gut sein, du kannst Zuhause trinken.“ Damit öffnete sich die Kabinentür und der dunkle Lockenschopf spitzte hervor. „Das kann ich nicht…“, setzte sie kleinlaut an. Da stieß sie die Blonde grob zur Seite und erhaschten den Blick auf einen schlanken Jüngling, der zusammengesunken auf der Kloschüssel saß. Den Kopf zur Seite geneigt, offenbarte er die beiden blutenden Wunden an seinem Hals, die den roten Lebenssaft bereits auf seinem weißen Hemd verteilt hatten. Kurz suchte sie das verunsicherte Antlitz ihrer Freundin, die ihr unaufgefordert ihren blutenden Unterarm präsentierte. Sie stöhnte unwillkürlich auf. Der Abend lief allmählich aus dem Ruder. Dass ihr das auch ausgerechnet jetzt einfallen musste. Gewandelte! Jung und ungeduldig! „Dann bring es zu Ende. Schnell. Ich lenk ihn ab.“ „Aber wir können ihn doch nicht…“ Das hysterische Aufkreischen aus dem Vorraum stoppte ihre Widerworte umgehend. „Wir haben drei Tage, um ihn zu finden“, war gerade noch Zeit, da knarrten auch schon die Türangeln am anderen Ende des Raumes. Augenblicklich schob sie die Dunkelhaarige in ihre Kabine zurück, um dann mit einem unmenschlich flinken Satz hinter den Reihen der Kabinen in Deckung zu gehen. Kurz schwoll der Geräuschpegel dröhnend an, ehe er abrupt wieder auf das vorige Maß zurücksank. Angespannt lauschte sie den bedachtsam langsamen Schritten, die auf den blanken Fliesen klackerten. Eng presste sie sich dabei an das lackierte Holz in ihrem Rücken und suchte mit ihren Augen nach einer Fluchtmöglichkeit. Ihr Geist arbeitete auf Hochtouren. Da traf sie auf die Fensterreihe zu ihrer Rechten. Sie verbat es sich, erschrocken zusammenzufahren, als ihre Überlegungen urplötzlich von einem schrillen Aufschrei unterbrochen wurden. „Hinaus!“, vibrierte der sonore Bass scharf in ihren Ohren. Sie schloss kurz die Augen und kontrollierte ihre Atmung. Kleine Schritte stöckelten schnell über den harten Boden. „Flegel!“, erlaubte sich noch eine zu schimpfen, ehe die Türen abermals auf- und zu schwangen. Ihre Sinne verrieten ihr, dass sie nun allein waren. „Erfolgreiche Jagd gehabt, Nadira?“, befahl dann ein teuflisches Schmunzeln auf ihre zarten Züge. Quietschend öffnete sich dann eine der Kabinentüren und erlaubte es so ihrem feinen Gehör, ungefähr zu erahnen, wo er sich gerade befand. Sie zuckte ein wenig zusammen, sobald der schwarze Schopf ihrer Freundin plötzlich zu ihren Füßen auftauchte, weil diese sich unter der Wand hervorkämpfte. Warnend legte sie ihren Finger auf ihre Lippen, ehe sie damit zu der Fensterreihe deutete. Skeptisch zog Kelly ihre Stirn in Falten. Nadira sah sie durchdringend an und so nickte sie kurz zur Bestätigung. Mittlerweile zählten sie die dritte Türe, deren Angeln geräuschvoll protestierten. Die Blonde ließ der Zweiten den Vortritt, als sie sich daranmachte, in die andere Richtung, also nahe zum Rand der Kabinenreihe zu schleichen. Ihre Absätze bereiteten ihr dabei wie so oft nicht ganz unerhebliche Schwierigkeiten. Doch sie schaffte es, ihre Schritte hinter dem unterschwelligen Bass zu verbergen. Kurz wechselten die Freundinnen einen letzten Blick und verständigten sich wild gestikulierend. Die Eine, weil sie ihre Freundin hier nicht zurücklassen wollte, die Andere, weil sie eben dies von ihr verlangte. Erst, als sie auf die Fensterreihe gegenüber zeigte, hatte die Dunkelhaarige ein Einsehen und nickte zögerlich. Damit erhob Nadira ihre Stimme, während Kelly sich weniger elegant durch eines der gekippten Fenster zwängte. „Gabriel. Mischt du dich mal wieder unters Volk? Ich würde es ja einen Teilerfolg nennen.“ „So?“ Sie hörte eine Türe schwungvoll zuschlagen. Schnell schaute sie zur Seite und erhaschte gerade noch den Blick auf die Sohle des Stiefels ihrer Freundin. Kurz lehnte sie den Hinterkopf gegen die hölzerne Wand und schloss die Augen. „Ja.“ „Nervös?“ „Ich bitte dich. Du machst den Abend doch immer zu einem Highlight. Obwohl, wenn ich mir das richtig besehe, gebührt mir die Ehre diesmal gar nicht, nicht wahr, Gabriel?“ Zu gerne hätte sie ihm jetzt Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Doch so musste sie einzig mit seinem Spiegelbild in einem der Fenster Vorlieb nehmen. Er war stehen geblieben. Ein Glück hatte seine Art nicht so gute Ohren, wie die Ihre. Obwohl auch sie erheblich unter den äußeren Bedingungen litt. Hastig schätzte sie die Entfernung zur gegenüberliegenden Fensterseite, ehe sie vorsichtig auf Zehenspitzen ein Stück weiter zurückschlich. Sie behielt seine Silhouette dabei allerdings nach wie vor im Auge. „So schweigsam, großer Krieger?“ „Sag mir, was du meinst.“ „Gabriel, ich bitte dich“, lächelte sie dann diabolisch. „Stell doch dein Licht nicht so unter den Scheffel. Ich muss zugeben, ich war sehr überrascht, haben wir doch alle angenommen Van Helsing sei der Letzte gewesen. Da hast du Vater aber schön an der Nase herumgeführt. Gut gemacht. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Sie verlor ihn aus den Augen, als er sich rasch ihrer Stimme zuwandte. Zeit für den Abgang, entschied sie. „War das etwa ein Lob, Lilithkind?“ „Vielleicht. Wer weiß“, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen, ehe sie sich fest gegen die kalte Wand in ihrem Rücken presste. Sie vernahm seinen Herzschlag nun laut und deutlich. Und so meinte sie abschließend: „Beim nächsten Mal berichtest du mir, wie du das angestellt hast.“ Damit stieß sie sich kraftvoll von den rauen Fliesen ab, sodass manche unter ihren Händen bröckelten. Noch ehe er um die Ecke war, rannte sie auch schon in ungeheurer Geschwindigkeit an ihm vorbei, um dann mit einem gezielten Köpfer durch das schmale Fenster zu brechen. Sie fiel kopfüber in die Tiefe, um wenig später galant auf ihren Füßen in der Hocke zu landen. Wie auf die Sekunde genau bog der rote Flitzer da auch schon in die Seitengasse ein und kam vor ihr mit laufendem Motor zum Stehen. Die Beifahrertür wurde augenblicklich aufgerissen und Kellys braune Knopfaugen erwarteten sie sehnsüchtig. Da richtete sie noch einen kurzen Blick hinauf zu dem zerbrochenen Fenster, wo der Blonde auf sie hinabsah. Sie begegnete dem Himmelblau seiner Augen undeutbar schmunzelnd. Dann warf sie ihre blonde Lockenpracht zur Seite, ehe sie geschwind in den teuren Wagen einstieg und rasch die Tür hinter sich zuzog. Mit rauchenden Reifen brauste der rote Flitzer im Rückwärtsgang aus der Sackgasse. Der Blonde verhaarte ungerührt an Ort und Stelle und hielt den Braunhaarigen, der an seine Seite kam einzig mit einem „Nein“ bestimmt zurück, als dieser gedachte, dem Auto sofort nachzusetzen. „Das ist nicht der Auftrag, Raphael.“ „Mistress Nadira, Master Franςois, Kelly“, wurden die Drei dann wenig später wie gewohnt ehrerbietig begrüßt, als sie die schweren Türen zum offenen Atrium aufrissen. Der Vierte, der nach wie vor berauscht am Hals des jungen Masters hing, fand keinerlei Beachtung. Demütig neigte der augenscheinlich alte Glatzkopf mit dem lichten, ergrauten Schopf sein Haupt, sobald er bei ihnen angekommen war. „Ich hoffe, die Nacht war erfreulich.“ „Annehmbar“, entgegnete die Blonde kurz angebunden und rauschte umgehend an ihm vorbei. Schnellen Schrittes eilte sie über den weiß-schwarz gemusterten Marmor die drei Treppenstufen hinauf und riss die gläsernen Türen zu dem kleinen Herrenschloss am Stadtrand schwungvoll auf. Sie war bereits in dem geräumigen Treppenhaus am Fuße der beiden Prunktreppen angelangt, als der Dunkelblonde sich nachsichtig lächelnd an den Älteren wandte: „Danke, Archie. Der Wagen läuft wieder einwandfrei.“ Damit übergab er den Schlüssel zufrieden lächelnd dem Alten und folgte mit Kelly an seiner Seite der Jüngeren. Diese stand nach wie vor am breiten Treppenabsatz und sah sich einem feurig lodernden Blick gegenüber. „Oh,oh“, zog ihr Bruder scharf die Luft ein, sobald er an ihrer Seite war. Prompt kam auch er in den Genuss der ungeteilten Aufmerksamkeit des rehbraunen Augenpaares, das ihn nicht minder zornig anfunkelte, wie seine Schwester noch kurz zuvor. Mit einem eingeschnappten Schnauben machte die rassige Schönheit dann auf dem Absatz kehrt, sodass ihre wilde Lockenmähne durch die Luft wirbelte und ließ sie kommentarlos zurück, als sie in ihre Gemächer im ersten Stock verschwand. Laut fielen die Türen wenig später hinter ihr ins Schloss. „Scheint ganz so, als sei da jemand ordentlich sauer“, trällerte der Dunkelblonde, ehe er seinem Spanier an seiner Seite unterstützend unter die Arme greifen musste. „Wiedermal“, fügte er noch hinzu, wofür er dann endgültig in die Seite geboxt wurde und ein empörtes „He“, zum Besten gab. Mehr erlaubte seine Errungenschaft nicht. „Was hast du erwartet?“, fiel Kelly mit ein. Nadira strafte die beiden mit Nichtachtung, ehe sie an ihnen vorbei die Stufen erklomm, um sich eiligst in ihre Gemächer auf der gegenüberliegenden Seite zurückzuziehen. Schwarzhaarige und Dunkelblonder tauschten einen Blick, ehe sie es mit einem beiderseitigen Achselzucken flüchtig abtaten und stattdessen zwischen den marmornen Treppen hindurch in den Wohnraum gingen. Ihren Gast dabei im Schlepptau. Kapitel 3: Gabriel ------------------ Leise klapperten die Dachziegel, ehe ihr schepperndes Aufeinandertreffen in der Dunkelheit der Nacht verhallte. Verspielt klackten die Absätze der zierlichen Lederschuhe über den gebrannten Ton, auf dem bereits der Nebel der morgendlichen Frische zu kondensieren begann. Die blonden Kringellöckchen hüpften wild im Takt ihrer Bewegungen umher, während die winzigen Ärmchen, in zarte Rüschen gehüllt, die Balance hielten. Das leise Lächeln in ihrem Rücken ging an ihr vorbei, als die augenscheinlich Zehnjährige ihren Gleichgewichtssinn im Spiel austestete. Einzig die Tatsache, dass sie dies in schwindelerregender Höhe über den Dächern der Metropole tat, verwies darauf, dass das vermeintliche Kind kein gewöhnliches war. Einen kurzen Augenblick verharrte das grüne Augenpaar der Mutter in einiger Entfernung auf ihr, beobachtete das unbekümmert dahin summende Ergebnis ihrer Entscheidung. Das einzigartige Geschenk, das viele so lange für unmöglich gehalten hatten. Und der Grund für alle ihre Bemühungen. Dann befahl der zarte Windstoß, der ihre eigenen hellbraunen Locken zum Tanz aufforderte ihren Blick wieder vor sich. Das Summen in ihrem Rücken verstummte, sobald ihr im darauffolgenden Moment kalkweiß-gefiederte Schwingen die Sicht nahmen. Strahlendes Himmelblau traf tiefes Waldgrün, während die imposante Kriegergestalt geräuschlos auf dem Dach an ihrer Seite aufsetzte. Einzig das leise Trippeln kleiner Füße in ihrem Rücken durchbrach die angespannte Stille, bevor die Jüngere die zart behandschuhte Hand ihrer Mutter suchte. Erst da ließen die gegensätzlichen Augenpaare voneinander ab, um in unterschiedlichster Form auf dem verunsicherten Antlitz der Jüngsten zwischen ihnen zu liegen. Beruhigend drückte die Braunhaarige in wallender Seide die bleiche Kinderhand in ihrer, während sich deren Besitzerin der interessierten Musterung des Goldblonden nicht minder neugierig stellte. „Weiß er, dass du hier bist?“, vibrierte die sonore Männerstimme durch die frische Nachtluft. „Interessiert dich das wirklich, Gabriel?“, lenkte die Braunhaarige seinen Blick von ihrer Tochter, deren Hand sie immer noch hielt. „Sie dürfte nicht einmal existieren“, war keine Antwort. „Und dennoch tut sie es“, protestierte das Mutterherz. „Du hast keine Ahnung, worauf du dich da eingelassen hast.“ Unterband sie umgehend: „Soll das ein Scherz sein? Seit meiner Geburt weiß ich…“ „Gar nichts weißt du. Was willst du also, Aurora?“, tat er es rabiat ab. Kurz senkten sich die grünen Smaragde auf den Blondschopf zwischen den beiden so konträren Gestalten. Dunkelblaue Kulleraugen blickten irritiert von einem zum anderen, als auch das himmelblaue Augenpaar undeutbar auf sie herabsah. „Sie kann nichts dafür und obwohl er Lilith Brut ausgerottet hat, so erlaubt er ihm doch, zu existieren; so wie ihr…“ „Das kann unmöglich dein Ernst sein“, grollte es unheilvoll vor der besorgten Mutter. „Jedem seiner Menschen lässt er die Wahl. Er ließ zu, dass sie geboren wurde.“ „Sie ist seine Tochter, das allein besiegelt ihr Schicksal, ebenso, wie das deine.“ „Aber ich hatte die Wahl“, begehrte die einstige Evatochter auf. „Die Wahl?“, schnaubte ihr Gegenüber abfällig. „Das denkst du vielleicht und dennoch hast du keine Ahnung, was oder wer er ist. Er gestattet dir doch nur einen Einblick so tief, wie du es ertragen kannst.“ „Das ist nun nicht mehr dein Belangen, denn wie du schon richtig angemerkt hast, ich habe mein Schicksal bereits längst besiegelt. Also, sag mir, meinst du, er gedenkt sie zu bestrafen, weil ihre Mutter sich von ihm abwandte?“ „Seine Wege sind selbst für mich unergründlich, Aurora.“ „Darum bat ich um deine Meinung…“ Wieder beäugte der großgewachsene Blonde die kindliche Gestalt skeptisch, die darunter längst gelangweilt an einer Schleife ihres Kleides spielte, solange, bis ihre messerscharfen Krallen den seidenen Stoff geräuschvoll zerschnitten. Die Brauen des breitschultrigen Erzengels zückten in die Höhe und legten als Einziges Zeugnis davon ab, dass er es zur Kenntnis genommen hatte. „Sag mir, Gabriel, wirst du sie auch jagen? Wirst du mein Kind auf seinen Befehl strafen und in die Hölle verdammen? Für mein Vergehen?“ „Das obliegt nicht meiner Entscheidung, Aurora“, entgegnete der Angesprochene, ohne von besagtem Kind abzulassen. Da stachen die tiefblauen Kulleraugen in das unruhige Himmelblau. Er wandte den Blick nicht ab, hielt den Unschuld anmutenden Ozeanen der Verführung und Lasterhaftigkeit stand, ebenso wie sie, die ihm so voller kindlicher Sorglosigkeit begegnete. „Es wird mir kein Vergnügen bereiten, da sei dir gewiss“, bekundete der Goldblonde, ehe er aufsah in das entschlossen funkelnde Smaragdgrün seiner einstigen Schutzbefohlenen. Protestierend kreischten die schweren Flügeltüren in ihren Angeln auf und rissen sie schlagartig in die Realität zurück. Der Schmerz brach umgehend durch die dämmrige Schläfrigkeit, weil sich ihre Wangen wohl bereits seit einer geraumen Weile schmerzhaft gegen das harte Holz des Tisches drückte. Die Zellulose dagegen bettete ihre blasse Hand im blauen Licht des Rechners umso weicher. „Ah, da bist du also“, offenbarte sich ihr umgehend der Störenfried, ehe der dunkelbraune Lockenschopf in ihr Blickfeld trat. Kurz folgten ihre tiefblauen Augen den schwingenden Hüften der Anderen, die wie so oft ihre feurigen Kurven in eine enge Jeans und ein noch spannenderes Mieder gehüllt hatte. Sie schmunzelte ahnungsvoll, noch ehe die rassige Schönheit die Vorhänge erreicht hatte, um sie sogleich mit einem Ruck entschlossen zur Seite zu ziehen. „Zeit das Silber unserer `Sonne´ zu begrüßen. Oder willst du etwa unseren Tag verpassen?“, trällerte Kelly überschwänglich, während sich Nadira erst blinzelnd in ihrem Stuhl aufzurichten begann. Sie wurde dabei mit schief gelegtem Kopf beäugt – ein eindeutiger Tadel. Weil sie ihre müden Glieder streckte. Da klackerte die schlanke Brünette bereits auf ihren hohen Hacken schimpfend heran: „Sag bloß, du hast schon wieder den ganzen Tag über diesen Büchern verbracht. Was ist das überhaupt?“, unterbrach Kelly sich dann selbst, ehe sie eines der weit über den antiken Eichentisch verstreuten Wälzer zur Hand nahm, noch ehe Nadira Widerspruch einlegen konnte. Ergeben lehnte die sich daraufhin zurück und beobachtete stattdessen ihre Schöpfung dabei, wie sie ihren knackigen Hintern aus ihrer Reichweite neckisch auf einer der Tischkanten platzierte. „Oho. Sieh einer an. Gabriel und hier wieder Gabriel. Und nochmal Gabriel. Mann, da sieht er ja direkt mal gut aus. Warum trägt er die Rüstung eigentlich nicht mehr? Hast du ihn je in der Rüstung zu sehen bekommen? Macht echt was her…“ Nadira rollte mit ihren großen Kulleraugen und ließ sie plappern und blättern. „Du…“, setzte sie erneut an, ehe sie abrupt innehielt und sich eine der unzähligen Seiten skeptisch besah. Mit gerunzelter Nase erkundigte sie sich dann: „Ich dachte, alle Nephilim seien mit der Sinnflut beseitigt worden. Große, bösartige Halbwesen und so, du verstehst? Sag mal, was machst du da? Wirst du wohl endlich mit deiner Paranoia aufhören. Seit diesem Abend im Club, was war da bloß? Du bist ja richtig besessen von der Idee, dass die noch existieren.“ „Nein, kein Nephilim, Kelly. Ein Seher“, korrigierte sie aufseufzend. „Na, ist doch völlig egal. Beides existiert nicht mehr. Das hast du mir beigebracht, weißt du noch? Also, was verschwendest du deine Zeit mit solchem Unsinn? Oder geht es nur um unseren beflügelten Vollstrecker hier?“, deutete sie dann diabolisch grinsend auf eine schwarz-weiß Abbildung in dem antiken Schmöker. „Der zugegeben direkt mal eine Sünde wert wäre“, neckte Kelly weiter. Nadira tat ihr den Gefallen. Und so musste die aufgeweckte Brünette wenig später kichernd der wenig motivierten Klaue ausweichen, die nur halbherzig nach ihr gelangt hatte und nun -wie zu erwarten- ins Leere fischte. „Tja, da müsst ihr euch schon aus dem Stuhl bequemen, Mistress“, sprang die Braunhaarige schäkernd auf - das Buch dabei in ihren Händen. Nadira schürzte verstimmt die verführerischen Schmolllippen, ehe sie sich fahrig durch ihre wilde Mähne strich. Sie beschloss, es dabei zu. Also hielt sie dem neckenden Blick unbeeindruckt stand. Nachsichtig wanderten ihre düsteren Saphire die verführerische Figur ihrer Gegenüber ab. Über ihre schlanken und feinzügigen Gesichtszüge, die stets aufgeweckt und vor Energie zu sprudeln schienen, hinab zu ihren üppigen Brüsten, die ihr aus dem freizügigen Dekolleté des engen Mieders aufgebracht entgegen wippten. Letzteres betonte zugleich ihre schlanke Taille. Die enge Jeans schmeichelte dagegen ihrer gut proportionierten Hüfte. Ihr dunkelbraunes Haarmeer fiel in seichten Wellen um ihre nackten Schultern und reichte ihr bis zu den Schulterblättern. Die Jeans verlor sich in den dunklen Stiefeln. Eigentlich war es überraschend, wie schnell sie ihre Gesellschaft zu genießen gelernt hatte. Man konnte durchaus sagen, dass sie die quirlige Vampirin dort vor sich erquickend fand. Und nicht nur sie, ihrem Bruder ging es genauso. Dieser Gedankengang raubte Nadira sogar einen charakteristischen Zug um die Mundwinkel, ehe sie ihre krallenbesetzten Finger durch ihre Lockenpracht trieb. Kelly brachte Farbe in ihren grauen Alltag. Das musste sie ihr lassen. Seit die Brünette hier war, war keine Nacht vergangen, in der sie sich gelangweilt hatte. Dabei war das so eigentlich gar nicht geplant gewesen. Aber, die süße Studentin aus Amerika hatte einfach nicht sterben wollen. Und so hatte sie letztlich Franςois darum bitten müssen, ihr den Kuss der Unsterblichkeit zu geben. Sie selbst tat das nicht. Nicht mehr, jedenfalls. „Ach, komm schon. Das hast du jetzt davon. Warum kannst du es denn nicht einfach lassen? So macht das doch keinen Spaß“, meckerte die Jüngere und zog ihren verlockenden Schmollmund. Nadira zeigte sich nachsichtig, indem sie keine Miene verzog. Ihr Tiefblau lag einfach nur abwartend auf ihrer Gegenüber. Eine stille Form der Duldung – wie die Schöpfung bereits früh gelernt hatte. „Gewandelte“, murmelte es ihr einzig verächtlich entgegen, „ungeduldig und unersättlich.“ „Das will ich aber meinen“, unterband dann der wohlklingende Tenor die traute Zweisamkeit und lenkte damit beide Augenpaare sogleich zu den schmuckvoll verzierten Flügeltüren. Ein dunkelblonder Igelschopf spitzte durch den schmalen Spalt herein, während die goldenen Klinken unter der Last seiner Hände, die sich darauf stützten, immer noch hinuntergedrückt wurden, als er sich gegen diese stemmte. „Franςois“, vertieften sich dann die Sorgenfalten auf den zarten Gesichtszügen der Brünetten – eindeutig um Hilfe heischend. „Sie war den ganzen Tag in der Bibliothek“, beklagte die Tochter sogleich verzweifelt, sodass das Sorgenkind einzig in stummem Aufstöhnen mit den Augen gen stuckverzierter Decke rollte. „So? Müssen wir uns etwa Sorgen machen, mon petit chérubin?“, kam der Angesprochene daraufhin hinter sie. Er stützte sich auf den verzierten Holzlehnen ab, ehe er einen sanften Kuss in den goldenen Lockenschopf tupfte. Interessiert überflogen seine silbrig-blauen Augen das Meer an aufgeschlagenen Buchseiten. „Zerbrichst du dir etwa immer noch wegen diesem… Sterblichen den süßen Kopf, Schwesterchen?“, flüsterte er dann zärtlich gegen ihre Stirn, während er eines der Bücher zur Hand nahm und kurz studierte. „Er hat mich erkannt, Franςois.“ „Ach, was“, tat es dieser lapidar ab. „Das ist unmöglich. Der wird ein wenig betrunken gewesen sein und Hollywood eben mal gut interpretiert haben. Oder er hat dir gelauscht…“, legte er den dicken Wälzer daraufhin wieder zurück, zugeschlagen. „Unfug. Ich hätte ihn bemerkt. Er sah mich an…“, sie rang um Worte, „als wäre da keine natürliche Anziehung.“ „Nadira. Van Helsing war der Letzte. Du hast seinem Tod beigewohnt. Wir alle haben das. Glaub mir, es ist vorbei.“ „Aber Gabriel…“, begehrte Ermahnte vehement auf, um sogleich wieder nur besänftigend auf die Stirn geküsst zu werden – dem kleinen Kind gleich, das er soeben noch als Engel bezeichnet hatte –, ehe es sie mit Nachdruck erreichte: „…war eben aus Zufall dort. Glaub mir, sie sind mit den van Helsings endgültig von dieser Welt verschwunden. Und außerdem sieht Vater es nicht gerne, wenn du dich mit unserem Goldjungen beschäftigst. Das weißt du.“ Ihr Blick versprach höllischstes Qualen. Nichtsdestotrotz konnte er die aufmunternde Miene ihrer Gegenüber nicht trüben. Natürlich stimmte die Tochter mit ihrem Schöpfer überein. Sie lenkte ein – weil kein weiterer Protest erfolgte. Sie zeigte keine Regung, als der warme Atem des Dunkelblonden zart über die dünne Haut ihres Halses blies, während er sich noch einmal nach vorne beugte, um den Rechner herunterzufahren. Der Zahn baumelte an der braunen Lederkette an ihrer Seite. Sie betrachtete ihn kurz abschätzend. Wieso nur wollte sie sich nicht beruhigen lassen? Franςois hatte Recht, das wusste sie. Zumal Gabriel solch ein Geheimnis doch niemals vor ihrem Vater geheim hätte halten können. Andererseits, es war nicht seine Art zu lügen und seine Reaktion sprach eine deutlich andere Sprache. Nur wie sollte sie das dem Älteren begreiflich machen? „Kleines, bemühe deinen Spürsinn nicht weiter, nur weil du dem Irrtum erliegst, einer längst erkalteten Spur nachzujagen. Benutz ihn eher für was Reales“, holte sie Franςois aus ihren Überlegungen. Sein Grinsen war schelmisch, das er der hibbeligen Kelly damit entgegnete. Die erwiderte es, wenn auch deutlich unsicherer. „Ihr habt ihn also noch nicht gefunden?“, konstatierte Nadira nahezu gelangweilt. Es war eindeutig zu lange her. Oder die Bedeutung verlor sich unter den geborenen Vampiren. „Hab ein wenig Nachsicht. Es ist ihr Erster. Da darf sie etwas nervös sein“, nahm der Ältere die junge Erstlingsvampirmutter in Schutz. „Dir ist aber schon klar, dass nur du ihn tatsächlich aufspüren kannst. Er ist dein Werk“, erinnerte Nadira und Kelly nickte eifrig. Die Geschwister tauschten einen Blick, ehe Franςois wieder Kelly ansah und anordnete: „Na, dann, wollen wir dich mal stilgerecht in der Erwachsenenwelt willkommen heißen, Kelly.“ In die blonde Mähne vor sich merkte er noch an: „Und vielleicht finden wir ja auf dem Weg zum Friedhof noch ein wenig frisches Blut für dich. Du bist gar so blass, Kleines.“ Besagtes Kleines hob ein wenig die Mundwinkel – der Versuch einer müden Reaktion - und blickte zu ihm auf. Zielsicher ließ sie da ihre Zeigefingerkralle über die raue Haut seines Halses streicheln – unter seiner aufmerksamen Musterung ihrer Züge, um, kaum bei der ruhigen Halsschlagader angekommen, leichten Druck auszuüben. Gezielt durchstach sie die dünne Haut so und legte den dickflüssigen Lebenssaft frei, den sie in genussvoller Langsamkeit von ihrer Nagelspitze ableckte. Kelly beobachtete die Zärtlichkeit unter den Geschwistern ungeduldig, konnte sich das leise Lächeln aber dennoch nicht verkneifen, sobald sie den Älteren zuerst lächeln, dann jedoch alsbald tadelnd mit der Zunge schnalzen hörte. Aus dem Alter war sie eindeutig bereits seit Ewigkeiten raus. „He, ich störe euch ja nur ungern. Aber mein Untoter wartet, wenn ihr euch erinnert und ich kann euch versichern, es ist sicherlich nicht schön aus seinem Grab aufzuerstehen, ohne jemanden, der einen bereits mit Erklärungen erwartet“, nörgelte die nervöse Kelly. „Als wenn du darin Erfahrung hättest“, kritisierte Nadira abfällig. Franςois lächelte ihr nur verschmitzt entgegen. „Geh dich schon umziehen“, bat er sie dann liebevoll und tupfte einen hauchzarten Kuss auf ihre blutunterlaufenen Lippen. Elegant schwang sie ihre Hüften an ihm vorbei in Richtung Ausgang, um dann, sobald er sich über die Akten beugte, zum nächsten Dolch, der in einer Befestigung an der Wand hing, zu greifen und diesen in einer flüssigen Drehbewegung knapp an seinem Ohr vorbei zu werfen. Die Spitze grub sich zielsicher zwischen seinen Zeige- und Mittelfinger, die er auf dem Tisch abgestützt gespreizt hatte. Kelly zuckte erschrocken zusammen. Er blieb dagegen die Ruhe selbst, als er den Dolch aus dem Holz zog und einlenkte: „Deine Mutter hätte dir das niemals beibringen sollen.“ „Und du solltest endlich lernen, mich nicht zu überprüfen.“ „Deine Mutter hat dir das beigebracht?“, machte die Brünette ihrer Verblüffung da Luft. Welche Mutter brachte ihrer Tochter den Umgang mit Waffen bei? Nadira strafte ihre Verwunderung mit Nichtachtung und trat gelassen aus der Bibliothek. Kelly starrte ihr verwirrt nach, ehe sie sich an den Älteren wandte: „Ihre Mutter?“ „Das Porträt gegenüber ihrem Bett“, antwortete der Dunkelblonde kurz angebunden und ergänzte auf ihren zynischen Blick hin: „Lass das Thema lieber ruhen, sonst trifft der hier dich vielleicht das nächste Mal.“ Damit ließ er die kurze Klinge, die im fahlen Mondlicht aufblitzte andeutungsvoll durch seine Finger gleiten, ehe er sie wieder auf ihren Platz zurückpinnte. Eine gute Weile später standen Franςois und Kelly im Atrium. Der dunkle Tweet-Mantel betonte dabei seine schlanke Linie und schien doch perfekt auf den figurbetonten Ledermantel seiner Nebenfrau abgestimmt zu sein. Die baldige Vampirmutter konnte einfach nicht mehr stillstehen. Seit einer geraumen Weile trat sie bereits ungeduldig von einem Bein auf das Andere. Und eben das brachte den Älteren ein ums andere Mal zum Schmunzeln. Ein Glück, befand er, konnte sie ihr Mundwerk noch im Zaum halten. Immer mal wieder fing sein silbrig helles Blau den verhassten Blick aus den zwei tiefschwarzen Augen auf, die die Brünette an seiner Seite vom Treppenabsatz weg nur zu gerne auf der Stelle zu erdolchen gedachten. Er verzog lediglich verstimmt die Lippen, schwieg allerdings dazu. Das war nicht seine Angelegenheit. Da knarrten im oberen Stockwerk endlich die Türen und wenig später hallten die gleichmäßigen Schritte majestätisch über den marmornen Flur. Der spitzenbesetzte Stoff ihres dunklen Mantels, dessen besticktes Muster nur das Nötigste verbarg, lugte unter ihrem knöchellangen Mantel hervor. Einer Schleppe ähnlich glitt der dunkle Stoff ihren schlanken Beinen hinterher über die weißen Marmorstufen - dabei ein gut hörbares Knistern in den feinen Ohren heraufbeschwörend. Ihre goldene Lockenpracht trug Nadira offen. Ihr flacher Bauch spitzte unter dem durchsichtigen Schleier des Stoffmantels hervor, da ihr Mantel noch offen war, als sie erhobenen Hauptes die Prunktreppe hinabstolzierte. Auf dem tiefschwarzen Augenpaar der rassigen Schönheit am Fußende verweilten ihre dunklen Saphire einen kurzen Augenblick. Kein Wort fiel und dennoch zeugte ihre Mimik von einer kurzen Absprache, nur für die beiden ungleichen Frauen verständlich. Dann war Nadira auch schon zwischen ihren Bruder und den herbeigeeilten Glatzkopf mit dem grauen Haarkranz getreten. Der Ergraute reichte ihr kommentarlos den Autoschlüssel. Sie nahm ihn unkommentiert entgegen. „Behalte Elena im Auge“, vermochten einzig die Drei in ihrer unmittelbaren Umgebung zu hören. Sie blickte sich nicht nach der rassigen Vampirin am Treppenabsatz um, sondern knöpfte unbehelligt ihren Mantel zu, als hätte sie nichts Wichtiges verlauten lassen. Doch der Vertraute erkannte durchaus die Brisanz, nicht anders wie die anderen beiden, die es vorzogen, dazu zu schweigen. „Wie Ihr wünscht, Mistress Nadira“, versicherte der augenscheinlich Ältere. Damit suchte sie das silbrige Blau ihres Bruders. Der trat mit ihr und Kelly, nach einem knappen Nicken, auch bereits durch die Türen in den Vorraum und von dort hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Das empörte Aufschnauben in ihrem Rücken erahnte sie gerade noch, ehe sich die Türen schlossen und das laute Klirrgeräusch einsperrten, welches die alte Vase verursachte, sobald die geräuschvoll auf dem hochwertigen Marmor zerschellte. Kapitel 4: Gerryl ----------------- Der Mond stand in seiner vollen Pracht am dunklen Himmelszelt. Wie Diamanten funkelten die Sterne vom nachtblauen Firmament auf die Welt herab. Keine einzige Wolke verdeckte den Blick auf das Dach ihrer ganz eigenen Welt. Es war fast so, als wollte die Nacht ihr neustes Kind in all ihrer Pracht und stolzem Glanze willkommen heißen. Leise raschelte der Wind durch das Blätterdach über ihren Köpfen und verfing sich in ihren Haaren, lockte sie, spielte mit ihnen, um dann wieder weiterzuziehen in seiner endlosen Freimütigkeit. In nicht weiter Ferne verklang gerade noch der letzte Glockenschlag, der die Geisterstunde hoch über den Dächern verkündete. Vom lauen Wind wurde er über das Meer an Steintafeln hinweg bis an die ausgeprägten Ohren derer getragen, die stumm an einem der Ausläufer des weiträumigen Geländes vor einem frisch ausgehobenen Hügel standen. Dunkel und hünenhaft ragten ihre Silhouetten zwischen den unzähligen Monumenten der Vergänglichkeit hervor, die das angelegte Areal in systematischer Genauigkeit säumten. Dabei eine Lebendigkeit anmutend, die nicht hierher gehörte, wie es schien. „Er lässt sich reichlich Zeit“, wagte der hochgewachsene Blondschopf nach kurzer Zeit einen leisen Tadel. Sein Augenmerk galt dabei nach wie vor der ziervollen Schrift auf dem hölzernen Kreuz ihm gegenüber. „Cameron Lutrell. Die Menschen werden nie müde, seltsame Namen zu finden“, merkte er an, als der Wind von Neuem auffrischte. Die Blätter bogen sich geräuschvoll über ihnen. Sein Lockruf wurde drängender, insistierender, als er an der langen blonden Mähne der Sitzenden zerrte. Sie saß auf einer Steinplatte monumentalen Ausmaßes, die das Grab neben dem frisch aufgeschütteten Erdreich bedeckte und zeigte sich teilnahmslos. Einzig ihre schwarzen Lackstiefelspitzen genossen ihre gesamte Aufmerksamkeit, so schien es. Dem Blondhaarigen entwich ein Seufzen, als er zu ihr sah. Sie langweilte sich. Klar, für sie war das ebenso wenig aufregend und neu, wie für ihn. Doch musste sie das so offensichtlich zur Schau stellen? Sein mystisch helles Blau wanderte neben sich zur seiner Rechten. Dorthin, wo die eigentliche Hauptperson des heutigen Abends aufgeregt mit ihren langen Fingern auf ihren Oberarmen tippelte. Unruhig trat sie dabei von einem Fuß auf den Anderen. Kein Wunder, für sie war es das erste, eigene „Kind.“ Ein spannender Moment in jedem Leben eines Unsterblichen. Der Schritt vom unmündigen Schützling ihres Erschaffers zur eigenständigen Vampirin, die selbst einen Schützling nahm, stand kurz bevor. Und so gesehen auch ein stolzer Moment für ihn, der er sie gewandelt hatte. Ein spitzbübisches Grinsen huschte bei diesem Gedanken über seine Züge, das den Schalk in seinen gespenstisch blauen Augen hervorblitzen ließ. Wenn man es so besah, wurde er Großvater. „Nun kommt schon. Oder wollt ihr hier etwa schweigend warten, ehe er sich bequemt, aus seinem Grabe zu steigen?“, versuchte er es erneut. Ohne den Blick von dem Mauseloch zu ihren Füßen zu erheben, welches eben diese Art der Wiedergeburt ankündigte, erwiderte die Sitzende ungerührt: „Was willst du denn jetzt besprechen, Franςois? Mir ist zum Sterben langweilig und Kelly ist bei Weitem zu nervös. Wenn dir dieser Friedhof also zu verschwiegen ist, dann musst du hier allein den Unterhalter mimen.“ „Dauert das immer so lange?“, warf Kelly da bereits wie zur Bestätigung ein. „Das kann gut und gerne noch ein Weilchen dauern“, erklärte der Ältere geduldig und bemühte sich, aufmunternd seinem bald mündigen Schützling zuzulächeln. Die angehende Vampirin dankte es ihm im Stillen. Sie zog dabei einzig eine leidvolle Grimasse und drehte eine weitere Runde um den Erdhaufen. Das tat sie nicht zum ersten Mal in der heutigen Nacht und würde es vermutlich auch nicht zum letzten Mal, sollte ihr Auserwählter sich nicht bald an den Aufstieg machen, bemerkte der Älteste im Stillen bei sich. Franςois beobachtete sie einen Augenblick lang dabei. Das rief Erinnerungen in ihm wach. Und so konnte er nicht widerstehen, und da er sowieso nichts mehr hasste als Schweigen, brach er die Stille: „Weißt du, als ich das erste Mal auf eines meiner `Kinder´wartete, da war ich nicht weniger nervös und ungeduldig wie du jetzt.“ Nadira entkam ein herzhaftes Stöhnen. Die alte Leier. Ihr Bruder beließ dies unbeachtet. Einzig Kelly schenkte ihr einen kurzen Blick, ehe sie sich an ihren Schöpfer wandte: „Ach ja? Wann war das denn so ungefähr, Franςois?“ „Das war, glaube ich, 1548 in Ungarn, wenn ich mich recht erinnere. Er hieß Gregor…“ „… und hielt nicht Mal ganze fünf Jahre, wenn ich mich recht entsinne, Franςois. Keine gute erste Wahl also“, kommentierte Nadira entnervt. Kelly machte daraufhin einen verängstigten Eindruck und trat noch hibbeliger als zuvor schon von einem Bein aufs andere. Der Ältere zog die Augenbrauen missgünstig über seinem Nasenbein zusammen und nahm seine Schwester in seinen Fokus. Konnte sie ihre Launen denn nicht für sich behalten? Als Kelly dann auch noch damit begann, auf ihrer vollen Unterlippe herumzukauen, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war, lenkte Franςois ein und bemühte sich stattdessen wieder um die angehende Vampir“mutter.“ „Keine Sorge, Kelly. Es wird schon alles gut gehen. Wir sind ja da, und unterstützen dich, wo wir können.“ Und mit Blick auf seine Schwester, die nach wie vor lieber ihre Stiefelspitzen ins Auge fasste, als ihre Begleiter, fügte er noch hinterher: „Hör einfach nicht auf Nadira, schließlich hat nicht jeder Vampir das zweifelhafte Glück, von seinen Fehlern auf ewig begleitet zu werden.“ Da erst blickte die Angesprochene auf und ihr feuriger Blick traf den Seinen. Kelly war einen Moment wie erstarrt, konnte sie sich doch ihrer menschlichen Instinkte noch nicht gänzlich erwehren. Dieselben alten Instinkte, die sie nach wie vor noch vor der beängstigenden Spannung warnten, die sich da gerade zusammenbraute und sie zur Flucht anhielten. Einen Augenblick fühlte sie sich zurückversetzt in die Zeit, als sie noch die Beute gewesen war, die jetzt gerade zwischen zwei Jäger geraten war und nicht, wie die Jägerin, die sie nun war. Dann rief sie sich in Erinnerung, wer sie war und die Stärke überwältigte den Anflug von Erinnerung. „Hört endlich auf damit“, ging sie energisch dazwischen, „ihr macht mich noch ganz kirre!“ Einen Moment heimste sie sich damit den verwirrten Blick ihres „Vaters“ ein und trieb sogar Nadiras fein geschwungene Augenbraue zweiflerisch in die Höhe. Doch da sie dieses Mal keine wirkliche Lust verspürte, den beiden ihren längst nicht mehr aktuellen „Neuzeitjargon“ begreiflich zu machen, überging sie das einfach. Sie würden es ja doch nur wieder als „neuzeitliche Sonderheit“ abtun, die weit unter ihrer antiquierten Vampirwürde lag, oder hätten es spätestens bis zum nächsten Mal wieder vergessen. Sinnlos und verschwendete Liebesmühe also. „Macht doch, was ihr wollt“, tat es da bereits Nadira gleichgültig ab. Sie hatte sich noch darunter bereits in ihrer geschmeidigen, katzenartigen Art und Weise erhoben, die Kelly schon beim ersten Mal, als sie sich begegnet waren, aufgefallen war. Weil sie so vollkommen anders gewesen war, als alles, was die junge Studentin bis dato gekannt hatte. So, wie Nadira in allem anders war, als all das, was sie in ihrem kurzen Menschenleben kennengelernt hatte. Und wieder bewies sie es ihr in ihrer unberechenbaren Launenhaftig- und Gleichgültigkeit, die sie auch dieses Mal wieder nahe an den Rand der Verzweiflung zu bringen drohte. Doch die vertraute Last von Franςois erkalteter Männerhand auf ihrer zarten Schulter behielt sie am Boden und ließ ihre Vernunft über die Empörung siegen. Und so zog Nadira kommentarlos von dannen, und erst, als ihre Gestalt sich mit den Schatten der Nacht vereinigt hatte, entspannte sich Kelly wieder. Doch dass sie dann die Hand wegschlug, kam für den Älteren doch sehr überraschend. Dennoch hatte er beide Hände abwehrend in die Höhe erhoben und sein versöhnliches Sonntagslächeln bereits lange aufgesetzt, noch ehe sie sich schwungvoll zu ihm umgedreht hatte. Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern erklärte sich ihm prompt: „Und du, du bist auch nicht besser.“ „Aber, ich hab doch nur…“, begehrte er auf. Da hatte Kelly ihm das Wort bereits abgeschnitten, nach wie vor von ihrem erhitzten Gemüt beherrscht: „Du weißt ganz genau, dass Elena ein wunder Punkt ist. Also, unterlass es das nächste Mal gefälligst, sie daran zu erinnern!“ Zu einer weiteren Erwiderung seitens des Älteren kam es nicht mehr, als Kellys Nervosität schlagartig wieder über sie herfiel, sobald sich das erste Kratzen über das Rauschen des Windes erhoben hatte. Nadira hatte unterdessen schon längst damit begonnen, die Luft nach einer Ablenkung zu filtern, die ihr ihre Langeweile zu vertreiben versprach. Und tatsächlich deutete sich ihr wenig später eine vielversprechende Chance an, die Nacht doch noch unterhaltsamer zu gestalten. Es war nur eine winzige Unstimmigkeit. Viel zu unbedeutend eigentlich, um nicht selbst von dem aufmerksamsten Unwissenden verworfen zu werden. Doch Nadira war alles andere als unwissend. Und so stimmte sie diese eine, einzelne Falte in den Zügen des Fabelwesens nachdenklich, das in Marmor gehauen auf dem Dach scheinbar über ein altes Familiengrab wachte. Seine Flügel und sein drachenähnlicher Rumpf schienen bereits vom Moos befallen. Es passte zu seiner längst aus der Mode gekommenen Gestalt. Und doch war da etwas, was zuvor noch nicht gewesen war. Neugierig kam die Vampirin heran. Ihre blauen Augen leuchteten voller Freude, als sie die eine Falte auf der Stirn des gruseligen Fabelwesens genauer unter die Lupe nahm. Wie der Jäger sich seiner Beute näherte, schlich sie sich in ihrer raubtierhaften Eleganz durch die Stille der Nacht. Sie war noch nicht nahe genug heran, um die einzelne Schweißperle in der Dunkelheit auszumachen, die sich auf den Weg über seine Stirn machte. Doch das war gar nicht nötig. Denn kaum war sie aus den Schatten der Bäume in das Licht ihres Himmelskörpers getreten, begann das eigentlich tote Gestein, Schatten im milchigen Antlitz zu werfen. Nadiras Muskeln spannten sich voller Vorfreude an. Dann ging alles rasend schnell. Binnen eines Augenblickes fiel das Moos von dem erwachenden Gesteinskoloss ab. Stein wurde weicher und weicher, bis sich schließlich seine rauen Konturen gänzlich geglättet und zu einem matten Asbestgrau gefunden hatten. Flügel und Schwanz waren ebenso gewachsen, wie die Gestalt an sich und flatterten im Gegenwind, als der lebendig gewordene Wasserspeier die Flucht antrat. Natürlich nahm Nadira mit Freuden die Verfolgung auf, froh um diese willkommene Beschäftigung. Leichtfüßig trabte sie daher über das Meer an Steinen dem Flüchtenden hinterher, der, wie sie genau wusste, immer mehr in rasende Panik verfiel. Sie fand jeden noch so kleinen Hinweis darauf und kostete ihn in vollen Zügen aus. Selbst dass sich ihr auserkorenes Opfer immer weiter an das Haus Gottes herankämpfte, konnte das teuflische Grinsen auf ihren Zügen nicht schmälern. Ganz im Gegenteil spannte die nahende Herausforderung ihre Muskeln in erwartungsvoller Freude. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte ein klein wenig, um ihr Opfer nicht in falscher Sicherheit zu wiegen. Einzig von missgünstigen Blicken verfolgt, betrat sie wenig später, nachdem sich die schwere Eichentüre zum ersten Mal quietschend gegen ihre Angeln gedrückt hatte ungehindert das Gotteshaus. Manche lernten eben nie dazu, triumphierte sie in boshafter Freude. Die heilige Stille wog zwar schwer auf ihren Schultern und legte sich erdrückend auf ihre düstere Seele, doch das nahm Nadira billigend in Kauf. Sie hatte längst einen Grund gefunden, der ihr Interesse lebendig hielt. Die Eichentüre war noch dabei sich geräuschvoll hinter ihr in ihr Schloss zuzuschieben, als die Vampirin von einem bedrohlichen Knurren begrüßt wurde, das sich an der hohen, mit Stuck und Wandmalereien einst bunt verzierten Decke brach und von überall widerzuhallen schien. Instinktiv blieb sie vor den Bankreihen im Eingangsbereich stehen. Ihre Saphire glänzten listig im düsteren Halblicht und trafen alsbald auf zwei goldene Raubtieraugenpaare, die sie genau im Fokus hatten. Sie kamen langsam auf sie zu. Und sie erkannte den Speichel der Jagdfreude, der aus ihren Mäulern auf den steinernen Kirchenboden tropfte. Rasch suchten ihre Augen die schattenhafte Dunkelheit an den Rändern nach dem ehemaligen Gejagten ab, ihre Angreifer dabei nie aus den Augenwinkeln lassend. „Uh, nette Hundchen, die du dir da angeschafft hast, Gerryl. Ein Geschenk von deinen neuen Finanziers, wie ich annehmen darf?“, brach sich wenig später ihre Stimme fest über das anhaltende Knurren. „Dein Vater hat mich aus seinem Dienst entlassen. Ich bin dir und deiner Art, Nadira, also nichts mehr schuldig. Lass mich in Ruhe!“ Seine Stimme hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Wie sie ihr von den Wänden entgegenzitterte und so seine genaue Position verriet. Hatte sie sich also doch nicht geirrt. Ihr Lächeln kehrte zurück, als sie sich wieder auf die neuen vierbeinigen Freunde des ehemaligen väterlichen Lakaien konzentrierte. Sie waren stehen geblieben und warteten auf die Befehle ihres Schützlings. Als Herrn konnte sie den feigen Wasserspeier nicht einmal in ihren Gedanken betiteln. „Schade, wo du mich doch direkt hierher eingeladen hast.“ Ein Pfiff und die zwei „Hündchen“ nahmen ihren Weg wieder auf. Scheinbar hatte er sie auch nicht vergessen. Erfreulich, lächelte sie in die Schatten. „Du bist keinen Deut intelligenter geworden, Gerryl. Oder hast du den Unterschied zwischen mir und den Untoten vergessen?“, diente als einzige Warnung, ehe sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete und die beiden feindlichen Vierbeiner ins Auge fasste. All ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Jahrtausende alte Feindbild ihrer Art, als das tiefe Saphirblau allmählich dem väterlichen Karmesinrot wich. Im milchigen Antlitz des Vollmondes, welches durch das zerbrochene Altarfenster der ausgedienten Kathedrale hereinfiel, erhob sich ihr Schatten in ihrem Rücken. Rasch überwand er die wenige Distanz, wuchs über die maroden Bänke hinweg. Wie Rauch verdunkelte er alsbald die mondbeschienen Steinplatten auf seinem Weg bis vor die pelzigen Pfoten und gelangte alsbald bis an die Ausläufer der beiden flankierenden Säulengänge. Das Knurren stieg ebenfalls an, wurde tiefer und schwoll zu einem ohrenbetäubenden Drohlaut an, der den gesamten Raum einnahm. Da entfaltete der Schatten seine volle Spannbreite, durchbrach den letzten Winkel an unberührter Dunkelheit und verleibte sie sich erbarmungslos ein. Mit festem Blick aus flammendem Rot, fletschte die Lilithtochter ihre spitzen Eckzähne und stieß einen für Menschen unhörbaren Kreischlaut aus, der auch noch das letzte Glas der Fenster zum Zerbersten brachte und den Wölfen in den Ohren klingelte. So war es unvermeidlich, dass anders, als von dem Wasserspeier erhofft, das Winseln seiner beiden Leibwächter nur Augenblicke, nachdem die Lungen der Vampirin nach frischer Luft heischten, von seinem Niedergang kündete. Noch während seine Wölfe ergeben vor der Blondgelockten zurückwichen, glitt er wimmernd an der Wand in seinem Rücken auf die Knie. Dort verweilte er, gelähmt von der Angst vor dem, was ihn womöglich erwartete, während Nadiras Stiefel gelassen über den Stein auf ihn zuklackerten. Ihr Schatten war bereits wieder auf seine normalen Ausmaße geschrumpft und hatte sich gönnerhaft mit den Schatten der Nacht hinter ihr vereint, während in ihren blauen Raubtieraugen nach wie vor das teuflische Rot ihres Vaters lauernd im Hintergrund glühte. Wie ein glimmender Zigarettenstummel, der nur eines einzigen Windhauchs bedurfte, um von Neuem entflammt zu werden. „Wirklich dumm, Gargoyle. Ich würde dir raten, dich das nächste Mal über das Können deiner Leibwächter ausreichend zu informieren. Werwölfe sind ja nicht gerade für ihre Vertrauenswürdigkeit bekannt. Und jetzt lege ich dir nahe, mir zuzuhören. Mir ist nämlich dank deiner kleinen Überraschung die Lust an unserem Spielchen vergangen.“ Gerryl brachte es einzig über sich, zu nicken, während er am ganzen Leib zitterte und aus weit aufgerissenen Augen ängstlich ihrem feurigen Blick entgegensah. „Gut“, sorgte bei ihm nicht für die Erleichterung, die er sich insgeheim immer noch sehnlichst herbeiwünschte. Denn ihre krallenbesetzte Hand lag nun bedenklich nahe an seiner pulsierenden Halsschlagader. Warum musste sie ihn so quälen? Denn auch wenn seine Haut dicker war als die ihrer üblichen Opfer, so wusste er doch sehr wohl aus dem jahrelangen reichen Erfahrungsschatz mit ihrem Herrn Vater, dass er nicht austesten wollte, wie viel eben dieser seiner Jüngsten an Kraft und Stärke vermacht hatte. Zumal er sehr genau wusste, was Vater und Tochter verband wie niemand anderen ihrer Art. Also brachte er es einzig zu einem harten Schlucklaut, der sich brüllend an dem hohen Gewölbe brach. Nadira nahm es als Zustimmung – zu mehr war der Angstgargoyle wohl nicht im Stande. Durchaus vielversprechend. „Du kennst die alten Texte besser als so manch einer unserer eigenen Leute. Von daher kannst du mir sicherlich weiterhelfen.“ Es gab kein Entrinnen. Er brachte es doch tatsächlich zu einem Nicken. So heftig, dass sie sich ernsthaft fragte, warum ihm dabei nicht schwindelig wurde. Sie schüttelte den Gedanken allerdings prompt ab, zu drängend war ihre Neugierde, zu groß ihre Wissbegier. „Sag mir also, was weißt du über den letzten Seher, Gerryl?“ Für einen Augenblick schien der Wasserspeier seine Furcht vor ihr gänzlich vergessen zu haben. Ganz so, als wäre sie wie der Vorhang zu Vorstellungsbeginn abrupt von ihm abgefallen, starrte er sie ungeniert fassungslos an. Sie stieß einen Mix aus einem hellen Keif- und Knurrlaut aus. Wie er wusste, eine ausgewachsene Drohung. Und so zuckte er rasch zurück und senkte den Blick, ehe er stotternd ansetzte: „Nun, ähm… Er ist von eu-euch gerichtet worden: Genauer, Euer Vater hat ihn und die Seinen zum Tode verurteilt, Mistress Nadira. Ihr wart anwesend, wenn auch se-sehr jung…“ Weiter kam er nicht in seiner Stotterei, da war das Feuer zurück in ihren Blick gekehrt und schlug ihm wie beißende Flammen entgegen. Sie hatte ihn am Kragen gepackt und hielt das bibbernde Häufchen Elend, das um seine unsterbliche Existenz fürchtete, hoch in die Luft. Es dauerte einen qualvoll langen Moment, ehe die Eckzähne zurück auf Normallänge schrumpften und ihr ruhiges Saphirblau zurückkam. „Idiot“, fauchte sie ihn nicht wirklich besänftigt an. „Ich spreche nicht von Helsing!“ Da Gerryl nun jedoch so verängstigt war, dass er wie Espenlaub zitterte und einzig noch zu wimmern vermochte, ließ sie ihn alsbald los. Er plumpste gar nicht sanft auf den harten Steinboden und brauchte eine geraume Weile, um wieder annähernd zur Vernunft zu kommen. Da setzte Nadira von Neuem an: „Ich sehe, so hat das keinen Sinn. Dann verrate mir stattdessen, was dein scheues Wesen über Gabriels neusten Schützling weiß.“ Diesmal beherrschte er sich, sie nicht unverhohlen anzustarren, sondern verfiel stattdessen in nachdenkliches Schweigen. Selbst sein Zittern ließ nach, sehr zum Wohlwollen der Vampirin. Sie interpretierte es als Zeichen dafür, dass er sich ernsthaft um eine Antwort bemühte und so zeigte sie sich geduldig, ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um all die Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen waren, nach dem Gewünschten durchzugehen. Sie wusste, er kam viel rum und war der geborene Spion, mit seiner Kunst sich allerorts und jederzeit in sein steinernes von Menschenhand nachgeformtes Abbild zu verwandeln. Eine Eigenschaft, die auch schon ihr Vater sehr zu schätzen gewusst hatte. Dummerweise nur kannte Furcht keine Loyalität zu der Hand, die sie ernährte. „Es…“, unterbrach sein Stottern dann ihre Gedanken. Sie lauschte. „… heißt nur, dass er einen neuen Schützling unter den Menschen hat. Aber, ich wu-wusste nicht, dass Ihr bereits im B-bilde seid, Mistress.“ Gespannt wartete er auf ihre Reaktion, sich innerlich für so gut wie alles wappnend. „Das ist alles?“ Er nickte hastig. Nun gewährte sie sich einen Moment des Schweigens. Nachdenklich musterte sie seine elende Erscheinung. Hätte er in den Büchern etwas darüber gefunden, eine Prophezeiung oder Ähnliches, so war er nun nicht mehr im Stande, es ihr zu verschweigen. Selbiges galt für die Gerüchteküche. „Ich will mehr darüber wissen. Und du, Gerryl, wirst mir dazu verhelfen“, beschloss sie daher rasch. „Hör dich um, such in den vergessenen Bibliotheken…“ „… Aber, die sind…“ „Unterbrich mich niemals“, fuhr sie ihn bedrohlich an und das Rot glühte von Neuem auf. Er wich zurück, drückte sich so eng als noch irgendmöglich an die kalte Mauer und kauerte sich ängstlich zusammen. „Ich weiß, dass sie längst vergessen sind. Aber du weißt, wo sie waren, dann dürften sie für dich ja nicht allzu schwer zu finden sein. Was du auch anstellen musst, ich will Antworten, wenn ich dich das nächste Mal besuchen komme. Und du weißt ja, ich finde dich, überall. Und nun geh mir aus den Augen!“ Erbärmlich, selbst für seine Art, urteilte sie noch gedanklich, während er sich bereits in jäher Panik mit seinen beiden Hundchen davongemacht hatte. Abfällig sah sie den Vierbeinern noch einmal nach. Ob sie sich jetzt gekränkt fühlen sollte? Immerhin hatte er tatsächlich geglaubt, einfache Wölfe könnten sie schrecken und eine verfallene Kathedrale ausreichend Macht besitzen, um sie in ihre Schranken zu weisen. Er hatte wohl auf die Schnelle nichts anderes gefunden und da er so kurz nach einer Verwandlung seine Flügel nicht einsetzen konnte... Er musste lange zu Stein erstarrt gewesen sein. Wenn der sonst nichts zu tun hatte - gut, dass sie ihm eine sinnvolle Beschäftigung besorgt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)