Reverti von Coronet (Zurück auf Anfang) ================================================================================ Kapitel 1: Ein Ende ... ----------------------- 01. September 1982   Ungeduldig tappte Minerva mit den Fingern auf das Notizbüchlein vor sich. Aus dem Augenwinkel schielte sie immer wieder zur Standuhr in der Ecke des Lehrerzimmers hinüber, deren kleiner Zeiger der Zwölf entgegen schlich wie eine müde Schnecke. Nicht ganz eine halbe Stunde, dann würde das Schloss von einer Heerschar Kinder und Jugendlicher überfallen. Am liebsten wäre sie bereits unten, um sich auf die Ankunft der Erstklässler vorzubereiten, anstatt der Litanei Argus Filchs zu lauschen, der seine Liste der verbotenen Gegenstände über den Sommer deutlich erweitert hatte. Aber der guten Ordnung halber zwang Albus sie alle, sich die Aneinanderreihung sämtlicher magischer Spielzeuge und Süßigkeiten anzuhören. »... und diese knallenden Scherzmäuse – meine Mrs Norris denkt immer, das wären echte Mäuse und ist dann enttäuscht, wenn sie sich in Luft auflösen ...« Mit einem innerlichen Seufzen ließ Minerva den Blick durch die Runde schweifen. Pomona neben ihr starrte mit glasigen Augen aus dem Fenster, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen längst wieder bei ihren Gewächshäusern, und zur anderen Seite faltete Filius aus dem Einwickelpapier eines Zitronenbonbons einen Origamiphönix. Eine Person am Tisch war allerdings noch wach – gleichwohl man daran zweifeln konnte, ob sie auch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war. Ausgerechnet Sybill Trelawney hatte ihre untertassengroßen Augen auf Minerva gerichtet und musterte sie, als stünde ihr die Speisenfolge für das abendliche Festessen auf die Stirn geschrieben. Röntgenaugen. Anders konnte Minerva es nicht beschreiben. Es gab keinen adäquaten magischen Begriff für die Intensität, mit der Sybill zu starren pflegte. Und genauso wie Ärzte oft mit unangenehmen Neuigkeiten aufwarteten, verkündete Sybill einem stets irgendein großes Leid, das angeblich in der Zukunft lauerte, sobald sie diesen Blick aufgesetzt hatte. »Meine Liebe«, raunte Sybill da auch schon mit tiefer Stimme und lehnte sich über Filius hinweg zu Minerva, »deine Aura ... hat sich gewandelt.« Minerva hob eine Augenbraue. »Das liegt wohl daran, dass ich diesen Sommer am Amazonas war und zum ersten Mal seit Jahren Urlaub gemacht habe, anstatt Aufsätze zu korrigieren. Sehr entspannend, danke der Nachfrage.« Sybills Armreifen klimperten, als sie eine Hand auf ihre Brust – verborgen unter unzähligen Schals – presste. »Aber nein, daran liegt es nicht, Werteste. Es hat sich etwas tief innen drin verändert, so etwas spüre ich ... da ist etwas in dir erwacht ...« Ein paar Plätze weiter biss Septima Vektor sich auf die Unterlippe, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Auch Pomona schien in die Gegenwart zurückgekehrt. Zumindest galt ihr versonnener Blick nicht länger den Schäfchenwolken, sondern Sybill. »Nun, ich bin immer noch etwas erkältet seit meiner Rückkehr – der Unterschied im Klima, du verstehst –, also hältst du vielleicht lieber etwas Abstand, Sybill«, entgegnete Minerva. Sybill ignorierte ihre Worte allerdings geflissentlich und beugte sich zu Filius’ Unmut weiter vor, eine Hand auf Minervas Unterarm gelegt. »Nein ... ich sehe mehr – einen großen Umbruch in deinem Leben, einen Mann, der dein Leben durcheinander bringt –« Jetzt konnte Septima nicht länger an sich halten. »Oh, dafür muss man nun wirklich keine Wahrsagerin sein, um das zu wissen.« Die Professorin kicherte. »Immerhin trägt Minerva den Ehering für uns alle gut sichtbar.« Während eine verlegene Röte in Minervas Wangen schlich, blieb Sybill von diesem Einwurf vollkommen unberührt. Sie rückte ihre Schals zurecht und verkündete schließlich: »Hüte dich vor scharfen Zähnen, meine Liebste, das ist es, was ich sehe. Und natürlich meine Glückwünsche zur Hochzeit ... auch wenn ich das längst vorausgesehen habe.« Mit warmem Kopf sah Minerva auf ihre Hände hinab. Auf den schlichten Ring, den sie seit dem Sommerbeginn trug. Sie hatte sich noch nicht wirklich daran gewöhnt. Normalerweise war es nicht so leicht, sie in Verlegenheit zu bringen, doch die Erinnerung an ihren Ehemann, der in ihrem Cottage in Hogsmeade auf sie wartete, brachte sie jedes Mal aufs Neue aus dem Konzept. So ungern sie es auch zugab, Sybill hatte vielleicht doch ein kleines bisschen recht. Die Dinge hatten sich verändert; sie hatte sich verändert. Dabei war der Gedanke, eines Tages eine verheiratete Frau zu sein, vor vielen Jahren von Minerva begraben worden. Nicht jeder fand das Glück in der Ehe und sie hatte das Schicksal eben für anderes vorgesehen. So zumindest ihr Glaube. Als große Schwester war sie Zeugin des Liebesglücks ihrer Brüder geworden, hatte zugesehen wie diese eine Familie gründeten, und versucht, sich für die beiden zu freuen. Ihr eigenes Bedauern tief in sich vergraben, war sie zur Lieblingstante ihrer Nichten und Neffen erwachsen, anstatt dem nachzuhängen, was nicht sein sollte. Und das hätte ihrem Glauben nach reichen müssen. Aber jetzt saß sie hier, hatte die 40 überschritten und doch »Ja« gesagt. Obwohl sie sich geschworen hatte, diesen Fehler nicht zu machen. Nicht erneut.   ☽•••☾   »Minerva ... W-was – was habe ich falsch gemacht? Bitte ... sag es mir doch! Ich – das kann doch nicht ...« »Es tut mir so leid, Dougal.« Der schottische Wind riss Minerva die Worte von den Lippen. Ein früher Sturm, der den Herbst ankündigte, jagte über die goldenen Felder von Caithness und passte damit erschreckend gut zu ihrer Gemütslage. Der Sommer war verschwunden, ebenso wie ihre Leichtigkeit. »Lass uns darüber reden, ich flehe dich an! So darf es nicht enden, einfach so ...« Dougal streckte zögerlich die Hand aus, als wolle er wie so oft über ihre Wange streichen, ließ sie dann aber wieder sinken. »Wir stehen doch gerade erst am Anfang, das kann nicht das Ende sein. Darf es nicht!« Minerva wickelte ihre Strickjacke enger um sich und presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, obwohl sie wusste, dass sie so entsetzlich streng und unleidlich aussah. Doch anders konnte sie das Schluchzen nicht zurückhalten. Und sie hatte sich geschworen, nicht in Tränen auszubrechen. Das hier war eine vernünftige, wohldurchdachte Entscheidung, allein zu ihrem Wohl. Ein Beschluss, der sich anfühlte, als hätte sie ihr Herz aus der Brust gerissen und es Dougal statt des Brillantringes in die Hand gelegt. Was zurückblieb, war tiefe Leere, die einem permanenten Seufzen gleich ihre Gedanken erfüllte – Bedauern um etwas, das sie viel zu kurz besessen hatte, als dass sie es wirklich vermissen dürfte. Aber lang genug, damit es sie zerriss. Dougals Augen glitzerten mit dem Edelstein an ihrem Verlobungsring um die Wette, erfüllt von den Tränen, die sie bereits in der vergangenen Nacht vergossen hatte. Immer wieder sah er von dem Schmuckstück in seiner Handfläche zu ihr. Seine Lippen formten weitere, lautlose Worte, angesichts derer Minerva die Finger tiefer in ihre Oberarme grub, die Arme vor der Brust verschränkt. Wenn sie jetzt nachgäbe, würde sie nie wieder die Stärke aufbringen, zu gehen. Dann wäre sie gefangen in Caithness – und es gäbe Schlechteres, als an Dougals Seite zu leben; ja sie wäre bestimmt glücklich. Für eine Weile zumindest. Bis die Realität sie einholen würde. Ihre Träume waren lebhaft genug gewesen. Erst ein Kind, dann sicher ein zweites; eventuell ein drittes. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Die Kleinen würden ihr schwarzes Haar und Dougals dunkleren Teint erben – und wahrscheinlich auch ihre Kurzsichtigkeit. Aber dabei würde es nicht bleiben. Eines Tages würde sich die Magie dieser Kinder offenbaren. Vielleicht würden Stofftiere das Fliegen erlernen oder ungeliebte Pullover schrumpfen. Egal wie – Dougal würde es nicht verstehen, denn er war ein Muggel und das Geheimhaltungsabkommen verbat es ihr, ihm die Wahrheit zu sagen. Minerva müsste all das Unerklärliche vor ihm verstecken, bis er eines Tages unweigerlich über ihren Zauberstab stolpern würde. Dougal würde Fragen stellen. Auf die Fragen würden Vorwürfe folgen, bis sie doch ihr wahres Gesicht zeigen würde. Natürlich würde er sich verraten, betrogen fühlen. Weil seine Frau nicht war, was sie vorgab zu sein. Mit Sicherheit gäbe es Streit. Tränen. Möglicherweise würde er gehen, vielleicht auch nicht. Aber das, was sie jetzt hatten, wäre zerstört. Unwiederbringlich. Minerva brauchte sich diese Bilder nicht ausdenken. Das war die Geschichte ihrer Eltern, eins zu eins. Wenn sie die Folgen einer solchen Ehe sehen wollte, musste sie nur nach Hause gehen. So wie gestern Abend. Ihre Mutter hatte einmal mehr mit rotgeäderten Augen am Küchentisch gesessen, den ersten Hogwartsbrief Robbies, dem jüngsten ihrer drei Kinder, vor sich. Minervas Vater dagegen war in seinem Arbeitszimmer gewesen, vorgeblich mit der Predigt für die nächste Sonntagsmesse beschäftigt. Sein leises Weinen hatte trotzdem den Weg bis in Minervas Zimmer gefunden. Doch damit nicht genug. Minerva hatte die Sehnsucht in den bebenden Händen ihrer Mutter gesehen, mit denen sie ihr einen Brief aus dem Zaubereiministerium überreicht hatte. Die Unzufriedenheit in ihrer Stimme war offenkundig gewesen, als sie gefragt hatte, warum sie sich auf das Stellenangebot der Strafverfolgungsbehörde noch nicht gemeldet hatte. Und schlussendlich hatte Minerva die Trauer in der Umarmung gespürt, mit der ihre Mutter ihr versichert hatte, dass sie stolz auf sie war, egal welchen Weg sie einschlagen würde. Es wäre der perfekte Moment gewesen, um ihr zu sagen, dass sie sich mit Dougal verlobt hatte. Dass dies der Weg war, den sie wählen wollte. Vermutlich hätte ihre Mutter sich sogar gefreut. Immerhin hatte sie selbst Minervas Vater in jungen Jahren geheiratet, gegen den Widerstand ihrer Familie. Und sie liebte ihn, trotz allem, daran zweifelte Minerva nicht. Aber all das änderte nicht, dass ihre Mutter jedes Jahr am Gleis 9 ¾ weinte, voller Unglück in ihrem Glück. Und diese Liebe änderte ebenfalls nichts an dem Schmerz im Blick ihres Vaters, wenn er seine Frau in die Arme schloss und hilflos über ihren Rücken strich. Nein, Minerva konnte Dougal nicht das Gleiche antun – genauso wenig wie sich. Die Erkenntnis hatte sie beim Abendessen getroffen wie ein Schockzauber in den Rücken, wie es jetzt auch Dougals Worte taten. »Warum, Minerva?« Ihr – nun ehemaliger – Verlobter schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. »Warum hast du gestern nichts gesagt? Ich dachte, das mit uns ... Ich dachte, es wäre dir ernst!« Oh, wie ernst es ihr war. Wie sehr sie ihn liebte. Genug, um diese Trennung ebenso ernst zu meinen. »Ich glaube nicht, dass Heiraten das Richtige für uns ist, auch wenn ich Zeit brauchte, um es zu erkennen. Ich hätte deinen Antrag nie annehmen dürfen und das tut mir sehr leid, Dougal.« Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Pergament, das sie im Laufe der Nacht beschrieben hatte. Sie musste es nur vorlesen. Die für ihn nachvollziehbaren Gründe, warum ihre Verlobung nach nicht einmal 24 Stunden der Geschichte angehörte. »Wir sind noch so jung und haben noch so viel zu entdecken, zu erleben –« »Was spricht dagegen, es gemeinsam zu tun?« Dougal griff nach Minervas linker Hand. Er zog sie bestimmt von ihrem Oberarm und umfasste sie sanft mit seinen rauen, warmen Fingern. Das silberne Ringband drückte sich kalt in ihre Haut. Es kostete Minerva jede Anstrengung, nicht automatisch wieder die Faust um den Ring zu schließen. »Wir hatten doch so viel vor ... ich würde sogar mit dir nach London gehen, wenn es das ist, was du willst. Ich muss nicht den Hof meiner Eltern übernehmen!« »Nein, Dougal, das wäre nicht richtig. Das hier ist dein Leben. Welches Recht hätte ich, dir das zu nehmen? In London würdest du nicht glücklich werden –« »Du klingst wie meine Großmutter, wenn du so etwas sagst. Und überhaupt, wer behauptet denn, dass ich nicht in der Stadt leben könnte? Nur weil ich ein dämlicher Farmersohn bin?« Verbitterung mischte sich in Dougals Worte, doch der flehentliche Ausdruck in seinen Augen blieb. »Minerva, wo ist deine Risikobereitschaft geblieben? So bist du sonst nicht!« Fast hätte Minerva laut aufgelacht. Vielleicht kannte Dougal sie schlechter, als sie angenommen hatte. Was kein Wunder wäre, nach nur einem gemeinsamen Sommer. Niemand von ihren ehemaligen Klassenkameraden hätte sie als risikofreudig beschrieben – höchstens auf dem Quidditchfeld. Aber abseits davon war sie als Vertrauensschülerin und später Schulsprecherin für ihre strikte Haltung bekannt gewesen (Nicht, dass es keine Ausnahmefälle gegeben hätte. Hin und wieder musste eine Regel gebrochen werden – aber niemals leichtfertig!). Die Schulleiterin in spe, so hatte es ihre Freundin Pomona gerne ausgedrückt. Minerva presste die Lippen so fest zusammen, dass kein Laut herausdrang, nicht einmal ein kleines Schnauben. Sie atmete tief ein, ehe sie wieder den Mut fand, in Dougals dunkle Augen zu sehen. »Das Risiko hört für mich da auf, wo es anderen schadet. Und ich werde nicht zulassen, dass du den Preis bezahlst, weil ich deinen Antrag leichtfertig angenommen habe. Glaub mir, diese Entscheidung habe ich nicht leichtfertig getroffen. Immerhin ... liebe ich dich trotz allem.« Dougal senkte die Lider und biss sich auf die Unterlippe. »Du liebst mich, aber nicht genug, um mich zu heiraten?« »Ich liebe dich – genug, um dich nicht zu heiraten.« Minerva drehte ihre Hand und der Verlobungsring glitt zurück in Dougals Handfläche. Sie schloss seine Finger darüber und konnte sich nur wundern, wie ruhig ihre Bewegungen waren. Nie zuvor hatten ihr Herz und Kopf zwei so unterschiedliche Dinge gewollt. Und trotzdem rang sie sich ein Lächeln ab. »Du wirst die Eine finden, die dich glücklich macht. Glücklicher, als ich es je könnte. Das verspreche ich dir, auch wenn du es jetzt nicht verstehst. Bewahr dir den Ring für sie auf.« »Du lässt dich nicht umstimmen, oder?« Hundert kleine Nadeln stachen in Minervas Brust, als sie Luft holte und den Kopf schüttelte. »Es tut mir so leid, Dougal. Unendlich leid. Ich wäre wirklich gerne deine Frau geworden. Aber es geht einfach nicht.« Ich will meine Magie nicht aufgeben. »Ich werde dich nicht heiraten.« Aber immer nur dich lieben.   Der Weg zurück fiel Minerva schon leichter als der Hinweg. Sie hatte es geschafft und ihre Verlobung aufgelöst – ohne in Tränen auszubrechen. Selbst jetzt, alleine auf dem Feldweg, wollten sie nicht kommen. Es war ihr nur recht. Von hier aus konnte es nur besser werden. Man sagte schließlich, dass die Zeit alle Wunden heilte. Und Zeit, davon hatte sie ab sofort genug für sich. Sobald sie zuhause war, würde sie eine Eule an das Ministerium schicken, mit ihrer Zusage für die Stelle in der magischen Strafverfolgung, die man ihr nach einem Schulabschluss ohnegleichen angeboten hatte. Dann könnte sie bereits am ersten September ihrem Heimatdorf – und damit Dougal McGregor – den Rücken kehren. Wenn sie ihm nicht mehr tagtäglich begegnete, würde sie ihn hoffentlich verdrängen können. Vergessen, das sicher nicht. Hätte es in Minervas Macht gestanden, sie wäre drauf und dran gewesen, alles umzukehren; zurück auf Anfang. Wie schön wäre es, wenn sie den Zauberstab schwingen, »Reverti« sagen und den Lauf der Dinge ändern könnte. Denn beim zweiten Mal würde sie von vornherein die richtigen Entscheidungen treffen. Sie würde bei dem Scheunenfest im Juni nicht Dougals Einladung zum Tanz annehmen. Ihn nicht nach der Sonntagsmesse wiedersehen. Keine ausgedehnten Spaziergänge über die Felder mit ihm unternehmen. Sich nicht in seinen sanften braunen Augen verlieren. Und vor allem nicht ihr Herz an ihn verschenken. Doch diese Kluft konnte nicht einmal Magie überbrücken. Selbst wenn Dougal sie mit einem Obliviate vergessen würde, der Schaden bliebe angerichtet, tief in ihr. Dagegen war kein Kraut gewachsen, nicht mal ein magisches. Ihre beste Chance auf neues Glück lag in London. Weit, weit weg von den schottischen Highlands.   Der erste September 1957 war schließlich ein strahlend schöner Tag. Perfekt für einen Neuanfang, wenn man denn auf derartige Vorzeichen vertraute (was Minerva nicht tat). In London waren watteweiche Schäfchenwolken an den blauen Himmel gemalt und die Stadt zeigte sich in der goldenen Morgensonne von ihrer besten Seite – ganz wie Minerva selber. Die Nervosität hatte sie schon um fünf aus dem Bett gescheucht und somit war mehr als genug Zeit geblieben, ihre Haare hochzustecken und ein dezentes Make-Up aufzulegen. Für den ersten Arbeitstag sollte alles stimmig sein. Auf keinen Fall wollte sie einen schlechten Eindruck machen oder gar als ‚das Mädchen vom Lande‘ abgestempelt werden. Bei dem letzten Blick in den Flurspiegel ihres Elternhauses hatte sie dann wirklich geglaubt, dass ihr eine rundum glückliche, neue Minerva entgegensah. Ihre Augen waren nicht länger rotgeweint gewesen und die Spuren des Schlafmangels vom Puder verborgen. Davon bestärkt hatte sie sich zugelächelt und war voller Zuversicht mit ihren Brüdern disappariert. Doch hier, bei ihrem Zwischenstopp auf Gleis 9 ¾, wurde ihr bewusst, dass ihr die größte Veränderung erst noch bevorstand. Sie trug zwar keine Schuluniform mehr, fühlte sich aber trotzdem nicht wie die Erwachsene, die sie in ihrem brandneuen Ministeriumsumhang darstellte. Am liebsten wäre sie ein weiteres Mal in den Zug gestiegen, dessen Ziel Sicherheit versprach. Voller Wehmut sah sie zu, wie Robbie seinen Schulumhang zum ersten Mal vor der Brust verschloss. Noch fehlte ihm das Hausabzeichen, aber Minerva hatte keine Zweifel, dass er es Malcolm gleichtun und nach Ravenclaw kommen würde. »Sieht gut aus, Bruderherz. Richtig erwachsen.« Das Kinn hocherhoben, stemmte Robbie die Arme in die Seiten und streckte sich. »Ich bin ja auch schon groß!« Malcolm kicherte, dabei war es nicht unbedingt eine Lüge – für einen Elfjährigen war Robbie erstaunlich groß. Als Minerva ihn in die Arme zog, stellte sie mit Bedauern fest, dass sie sich kaum noch zu ihm herunterbeugen musste. Nicht mehr lange und ihr kleiner Bruder würde sie überragen. »Mina ... du schreibst mir doch, oder?« »Na klar. Jede Woche, wenn du willst.« »Super! Ich will alles wissen von den Verbrechern, die du hinter Gitter bringst!« Minerva schmunzelte und stupste Robbies Brille, die mal wieder schief hing, zurück auf seine Nase. »Stell dir da bloß nicht zu viel vor. Ich werde schließlich keine Aurorin. Aber ich kann dir bestimmt schreiben, wie die Aussicht von meinem Schreibtisch ist.« Hinter ihnen erwachte die rote Dampflokomotive mit einem Zischen zum Leben. Die verbliebenen Kinder drängten in die Waggons und überall wurden Abschiedsrufe laut. Malcolm winkte Minerva rasch, ehe er in Begleitung seiner Freunde ebenfalls auf den Zug zuhielt. »Bis Weihnachten!« Eine dicke Kröte blockierte Minervas Hals. Sie konnte nicht widerstehen, Robbie erneut fest an sich zu drücken, wobei sie sich ihrer Mutter unangenehm ähnlich vorkam mit den Tränen, die in ihren Augenwinkeln brannten. Sie wusste schon, warum ihre Mutter die Gelegenheit ergriffen hatte, den Abschied in diesem Jahr nach Hause zu verlegen und nur Minerva die Jungs zum Zug bringen zu lassen. Robbie zog die Nase kraus und rieb sich die Augen hinter der Brille, sodass diese wieder schief saß. »Ich wünschte, du könntest mitkommen«, murmelte er. »Das wird schon. Malcolm ist ja noch da.« Minerva zerstrubbelte Robbie das Haar und lächelte. »Und wenn er mal wieder vergisst, wie es für ihn war, ein Erstklässler zu sein, dann schreibst du mir.« Das entlockte ihrem Bruder ein kleines Grinsen. Ehe sie sich versah, hüpfte er in einen der Wagen, gerade rechtzeitig, bevor die Tür hinter ihm zuschlug. Minerva sah noch, wie er winkte, dann setzte sich der Hogwartsexpress in Bewegung. Mit einem lauten Pfeifen verließ der Zug den Bahnhof und ließ sie alleine mit ihrem Neuanfang zurück. Um sie her knallte es, als die Eltern der anderen Kinder disapparierten oder aber sich auf den Rückweg durch die magische Barriere machten. Alle hatten ein Ziel, wussten etwas mit sich anzufangen, nur Minerva hatte das Gefühl, Herbstlaub auf einem windgepeitschten See zu sein; ohne festen Halt. Bevor der Eindruck sie überwältigen konnte, drehte sie sich ebenfalls auf der Stelle, den Eingang zum Ministerium vor Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)