Von Wölfen und Menschen von Watanabe999 ================================================================================ Kapitel 12: Gutes Timing ------------------------ 07.Oktober 2015, früh morgens, Ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland Helga Martinsen rannte, nein, sie flog förmlich durch die unterirdischen Gänge von NERV-04. Sie passierte die große Halle mit den drei „Höllenmaschinen“, wie sie die EVAs im Geheimen immer nannte, ließ den Verwaltungskomplex links liegen und stieß schlussendlich die Tür zur Kantine auf. Sämtliche Anwesenden drehten sich zu ihr um, als sie schlitternd zum Stehen kam. Die Gespräche waren mit einem Mal verstummt, nur der gurgelnde Kaffeevollautomat in der Ecke arbeitete beharrlich vor sich hin. Die junge Technikerin bekam einen hochroten Kopf, als sie sich der Aufmerksamkeit bewusstwurde, die sie erregt hatte. Dann begann sie jedoch zu strahlen und riss das Dokument in die Höhe, welches sie vor wenigen Minuten ausgedruckt und überflogen hatte. „Freigabe!“, rief sie atemlos. „Hier ist die Anforderung vom NERV-Hauptquartier! Sie haben die Erlaubnis zur Überführung erteilt, inklusive des gesamten angebotenen Personals!“ Der Saal explodierte förmlich. Die anwesenden Techniker begannen, jubelnd auf den Tischen zu trommeln, während Phil von seinem Stuhl aufsprang und auf den Tisch kletterte. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er in die Gesichter seiner Leute blickte. Sie hatten so lange so hart für diesen Moment gearbeitet. Mit einer Handbewegung brachte er die Crew zum Schweigen. „Männer und Frauen von NERV-04, ihr habt es gerade gehört. Ich hoffe, dass ihr eure Zähne geputzt und eure Unterhosen gebügelt habt, denn jetzt lassen wir die Grenzen dieser Einrichtung hinter uns und gehen dorthin, wo die Zukunft der Menschheit entschieden wird. Die nächste Zeit wird hart werden, macht euch da keine Illusionen! Wir werden kämpfen, wir werden bluten und vielleicht werden viele von uns sogar sterben. Ich kann euch nicht versprechen, dass eure Bemühungen gewürdigt werden. Ich kann auch keinen Erfolg dieser Mission garantieren. Aber eines kann ich euch sagen: Wenn ihr in einigen Jahren auf diese Zeit zurückblickt, dann werdet ihr mit Stolz euren Kindern und Enkeln sagen können, dass ihr euch mit jeder Faser eures Seins gegen die hereinbrechende Dunkelheit gestemmt habt! Dass ihr bereit wart, euer Leben zu geben, damit die Menschheit als solche eine Zukunft hat! Auf der anderen Seite der Erde wird sich das Schicksal dieses Zeitalters erfüllen. Dort stoppen wir die Apokalypse! WIR GEHEN NACH JAPAAAAAAN!!!“ Die Crew von NERV-04 riss es von den Stühlen. Im anbrandenden Jubeln lagen sich Sicherheitsteams, Techniker und Brückencrew in den Armen und reckten die Fäuste gen Himmel. „Japan! Japan“-Sprechchöre hallten immer noch durch die Anlage, als jedes Mitglied zu seinem Platz zurückeilte, um die finalen Arbeiten vor dem Aufbruch in den fernen Osten zu erledigen.   *** 07. Oktober 2015, 20:32 Uhr Ortszeit, Tokyo-3, Amüsierviertel Die Kellnerin brachte die zweite Runde Cocktails, als die Laternen angingen und offiziell den Abend einläuteten. Es war zwar unter der Woche, aber die Straßen waren voll von Menschen. Es schien, als feiere ganz Tokyo-3 den nächsten Sieg gegen einen Engel. Oder einfach nur, wider Erwarten noch am Leben zu sein. Janko, David und Ben saßen an einem Außentisch einer Cocktailbar und sahen sich um. Von drinnen erklangen die schiefen Stimmen einiger Leute, die sich an Karaoke versuchten. Das ein oder andere alkoholische Getränk hatte wohl schon geholfen, ihre Skrupel zu überwinden und japanische Volkslieder nun mit voller Inbrunst zu schmettern. „Auf die Freigabe!“, rief David und stieß mit den anderen an. Natürlich hatten sie die Neuigkeiten aus Deutschland erhalten. Wenn auch wieder kryptisch über eine verschlüsselte Nachricht auf ihren Smartphones. „Meint ihr, die finden die Ursache des Stromausfalls heraus?“, fragte Janko leise. Er hielt die ganze Aktion immer noch für sehr riskant. „Kann ich mir nicht vorstellen. Es geht weniger darum, ob sie uns verdächtigen. Mehr, in welche Richtung man blickt. Sie werden kaum eine ihrer eigenen Niederlassungen dahinter vermuten.“ Ein schelmisches Grinsen zeigte sich in Bens Gesicht. „Es war ein notwendiges Risiko“, ergänzte David. „SEELE muss sich von Gegnern umzingelt fühlen, um alle ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu nutzen. Wie heißt es so schön? ‚Stehe nah bei deinen Freunden, aber noch näher bei deinen Feinden‘.“ Er zwinkerte verschwörerisch. „Mach dir keinen Kopf, Janko.“ Ben wuschelte ihm durchs Haar. „Bald wird hier richtig die Post abgehen, da wird überhaupt keine Zeit sein, zurückzublicken.“ „Na, ob das jetzt ne erstrebenswerte Aussicht ist…“, antwortete Janko mürrisch. Dann weiteten sich seine Augen. „Seht mal, sind das da hinten nicht Misato und unser Kontaktmann, dieser Kaji?“, fragte er und zeigte in die Menschenmenge. „Ich glaub, du hast Recht!“, meinte David. „Ich glaube, ich lad sie mal an unseren Tisch ein, wird sicher lustig!“ Bevor die anderen etwas erwidern konnten, war er schon über den kleinen Zaun der Bar gehüpft und lief schnurstracks auf die zwei Neuankömmlinge zu. „Meine Güte, jetzt spiel mal nicht den Trauerkloß! Endlich kommt Bewegung in die ganze Sache. Dafür wurden wir ausgebildet, Mann!“ Ben lächelte Janko an und schüttelte dabei mit dem Kopf. „Normalerweise bin ich derjenige mit den größten Bedenken, mach mir bloß nicht meinen Ruf streitig!“ David hatte Misato mittlerweile erreicht. Janko konnte nicht verstehen, was sein Kollege ihnen sagte, aber nach kurzer Diskussion setzten sich die Frau und der Mann zu ihnen an den Tisch. Nachdem sich Kaji den anderen unverbindlich vorgestellt hatte, man wollte ja die offizielle Linie, dass sie sich nicht kannten, aufrechterhalten, bestellte David für alle eine Runde Shochu. Sie verzogen alle leicht das Gesicht, als der japanische Schnaps ihre Kehlen herunterlief. „Boah, seeeehr nussig“, hustete David und spülte mit seinem Cocktail nach. „So, jetzt aber nochmal offiziell: Herzlichen Glückwunsch zu den Operationen gestern! Erst ein Engel und dann noch ein anderes Monster an einem Tag, das will schon was heißen!“ Misato lächelte. „Naja, da müsst ihr eher den Children gratulieren als mir.“ Sie schaute in die Runde, dann zog sie eine Augenbraue hoch. „Aber woher wisst ihr von dem zweiten Kampf?!“ „Ach komm schon, wir leben in Zeiten des Internets! Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass eine Nachrichtensperre fürs Fernsehen die Leute daran hindert, mitzukriegen, dass hier ein tonnenschwerer Koloss in irgendeiner Stadt randaliert…“, gab Ben zurück. Misato stand auf. „Schätze, ihr habt Recht… So, ich geh mir mal mein Näschen pudern, bin gleich zurück!“ Als sie Richtung Toilette verschwunden war, schaute Kaji die drei Piloten an. „Dann hat es tatsächlich funktioniert, wie ich erfahren habe. Eure Leute machen sich also gerade auf den Weg…“ „Das kannst du laut sagen“, antwortete David. „Brillant ausgeführt, möchte ich betonen.“ Der Mann mit dem Pferdeschwanz zog die Stirn in Falten. „Macht nicht den Fehler, das Komitee zu unterschätzen. SEELE wird wegen der ganzen Sache ziemlich in Aufruhr sein. Die werden jetzt noch einen genaueren Blick auf NERV werfen, soviel ist sicher.“ Er zündete sich eine Zigarette an, bevor er fortfuhr. „Die alten Männer werden nervös, wenn sie eine Abweichung von ihrem Szenario feststellen. Und für dieses ‚Kaiju‘ ist der Begriff ‚Abweichung‘ wohl maßlos untertrieben…“ „Es ist ja alles gut gegangen“, wand Ben ein. „Und sobald unsere EVAs hier sind, werden wir schon dafür sorgen, dass die Kaijus nicht zu viel Ärger machen.“ „Sofern uns das gelingt“, dachte Janko. Nicht einmal der Schnaps hatte seine Laune heben können. Er lehnte sich zurück und betrachtete die Menschen, die an der Cocktailbar vorbeizogen. Die Stimmung war ausgelassen, sie lachten und freuten sich des Lebens. Doch warum freute er sich nicht? Ein weiterer Engel war vernichtet worden, auch den neuen Feind schien man besiegen zu können. „Weil ich mich nicht damit abfinden kann, nur Zuschauer zu sein“, sagte er zu sich selbst. „Solange unsere Evangelions nicht hier sind, bleibt uns nur die Rolle der Beobachter. Und wir verlassen uns drauf, dass die Teenager das schon schaffen werden. Egal, wie es ihnen dabei geht.“ Er nahm sich vor, nachher noch einmal bei Rei vorbeizuschauen. Er hatte sie heute den ganzen Tag noch nicht nebenan gehört. Vielleicht war sie ja heute Abend zuhause. Die Kellnerin kam erneut an den Tisch und nahm eine weitere Bestellung auf. Kaji schaute sich einmal um, von Misato war immer noch nichts zu sehen. „Und, wie ist der erste Eindruck von Asuka?“, fragte er. „Naja, sie scheint ein ziemlicher Wirbelwind zu sein“, gab Ben zurück. „Allerdings, da ist Musik drin…“, pflichtete David bei. Er spielte mit dem leeren Cocktailglas und seinem Schirmchen. Kaji grinste kurz, dann wurde er wieder ernst. „Das mag sein, aber lasst euch von ihrem Auftritt nicht blenden. Sie ist getrieben davon, stark und unabhängig zu wirken. Tief drin hat sie jedoch Angst davor, dass jemand ihre Unsicherheit erkennt. Hab das bitte auf dem Schirm.“ Ben nickte ruhig. „Ja, sowas hab ich mir schon gedacht… Und jetzt Themawechsel, die Dame des Abends rückt an…“   *** Als Janko kurz vor Mitternacht in seinen Wohnkomplex zurückkehrte, hielt er unschlüssig vor Reis Tür. Von drinnen hörte er das erste Mal seit dem gestrigen Kampf Geräusche. Sie schien noch wach zu sein. Er gab sich einen Ruck und klopfte. Als sich die Wohnungstür nach wenigen Augenblicken öffnete, schien sie überrascht zu sein, Janko hier vorzufinden. Sie trug noch immer ihre Schuluniform. Zumindest schien sie unverletzt aus den Einsätzen gekommen zu sein. „Hallo Rei“, sagte Janko. Er lehnte leicht am Türrahmen, der Shochu zeigte doch seine Wirkung. Jedenfalls der vierte oder fünfte. „Hallo“. Sie blinzelte leicht. „Ich… ich wollte dir nur kurz gratulieren. Das war echt gut gestern. Zwei Einsätze an einem Tag sind wirklich nicht zu unterschätzen.“ Er lächelte. „Das war… unerwartet, ja. Ich habe nur getan, von mir verlangt wird.“ Sie schien unruhig zu werden, so als wisse sie nicht, wie sie mit diesem Kompliment umgehen solle. Sie scharrte mit dem rechten Fuß ein wenig auf dem Boden. „Trotzdem war das gute Arbeit, ganz ehrlich.“ Er blickte an ihr vorbei. Er konnte die zugezogenen Vorhänge und das Chaos in dem kleinen Apartment erkennen. „Von Ordnung hält sie wohl nicht viel“, dachte er bei sich. Dann wendete er sich ihr wieder zu. „Ich wollte dir noch sagen, dass wir heute offiziell die Freigabe erhalten haben. Mein Team setzt sich in diesen Minuten in Bewegung. In wenigen Tagen sind unsere Evangelions hier.“ „Das ist gut.“ Sie nickte. Ihr Gesicht blieb jedoch weiterhin unbewegt. „Das heißt, dass du demnächst nicht mehr alleine in den Einsatz musst. Ich freu mich jedenfalls drauf, mit dir zusammen da raus zu gehen.“ Janko machte Anstalten, zu gehen. „Warte“, sagte Rei leise. „Ja?“, fragte er überrascht. Er drehte sich wieder zu ihr um. Ein Moment der Stille folgte, nur ausgefüllt vom ewigen Zirpen der Zikaden. Sie umfasste ihren linken Ellenbogen mit ihrer rechten Hand und blickte zu Boden. Sie schien die richtigen Worte zu suchen. „Ich… ich habe es niemandem erzählt“, stellte sie fest. „Aber… ich weiß nicht, warum…“ Janko setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. „Ja, das hab ich mir schon fast gedacht. Wir haben Misato in der Stadt getroffen, sie hätte sonst mit Sicherheit etwas erwähnt.“ Janko schob die Hände in die Hosentaschen. „Manchmal will man einfach nichts sagen. Meistens ist ein Bauchgefühl, das einen von bestimmten Dingen abhält.“ Er musste lächeln. „Zumindest geht es mir so. Ich kann das dann auch oft nicht genau erklären.“ Sie blickte ihn fragend an. „Warum freust du dich, dass du bald kämpfen kannst?“ Jetzt war es Janko, der nach den richtigen Worten rang. Er spielte mit dem Schlüsselbund in seiner Hand. Langsam drehte er die einzelnen Schlüsselringe zwischen seinen Fingern. Das Metall fühlte sich kalt an. Er blickte auf. „Weil… weil ich nicht will, dass dir da draußen etwas passiert, Rei. Die sollten von euch nicht verlangen können, euch den Engeln entgegenzustellen. Das ist nicht richtig. Und wenn ich meinen Teil dazu beitragen kann, dass das aufhört, dann werde ich das mit Freuden tun. Besser ich als du.“ Mit diesen Worten schloss er auf und betrat sein Apartment. Rei blickte ihm nach und sah, wie die Tür zufiel. „Du tust es… für mich?“   *** 10. Oktober 2015, 11:41 Uhr, NERV-Hauptquartier, Kommandozentrale Misato war soeben in die Kommandozentrale gestürmt. „Bericht!“, brüllte sie über den schellenden Alarm hinweg. „Ein unbekanntes Objekt ist soeben in einer hohen Umlaufbahn um die Erde aufgetaucht!“, antwortete Hyuga. „War ja klar, dass heute Probleme auftauchen. Gerade jetzt, wo Commander Ikari und Vizecommander Fuyutsuki nicht da sind…“, dachte sie mürrisch. „Zwei Beobachtungssatelliten kommen in Reichweite. Ich stelle auf den Hauptbildschirm durch“, sprach Aoba. Der Mann mit den schulterlangen Haaren drückte einige Knöpfe, dann erschien die Projektion. Die gesamte Crew der Brücke erschrak, als sie auf den Bildschirm blickten. Eine gigantische, amöbenartige Lebensform erschien dort, gelblich-orange mit einem riesigen Auge in der Mitte. „Um Himmels willen, das Ding ist ja riesig!“, sagte Ritsuko. Die Wissenschaftlerin stellte sich neben Misato und vergrub die Hände in den Taschen ihres Kittels. „Ist das ein Engel?“ Auf einmal erschien ein leichtes Flimmern auf der Projektionswand, dann brach die Videoaufzeichnung ab. „War das ein AT-Feld?“, fragte Misato. „Positiv. Und er setzt es als Waffe ein. Die MAGI melden: Wellenmuster blau, es ist definitiv ein Engel! Und das AT-Feld blockt alle Funksprüche ab! Wir können den Commander nicht erreichen!“ Maya hatte alle Hände voll zu tun, die Daten auszulesen, mit denen die MAGI ihre Monitore fluteten. Sie betrachtete die Ergebnisse, dann berichtete sie weiter. Bilder mehrerer großer Einschlagskrater tauchten auf dem Hauptbildschirm auf. „Einzelne Teile haben sich vom Engel gelöst und sind Richtung Erde gerast. Sie sind ebenfalls von einem AT-Feld geschützt. N²-Minen haben keine Wirkung gezeigt.“ „Es scheint, als halte der Engel Zielübungen ab“, sprach Ritsuko, halb zu sich selbst. „Als er das erste Mal Land getroffen hat, hat er damit aufgehört.“ „Ritsuko, folg mir in den Besprechungsraum!“, ordnete Misato an. Zum Rest der Brückencrew sagte sie: „Zeichnen Sie alles weiter auf. Ich will, dass Evakuierungsplan 44 A für alle Zivilisten im Umkreis von 50 Kilometern ausgeführt wird. Der Engel kommt hier her, soviel ist sicher!“   *** „Das Ding ist eine riesige, lebende Bombe. Er wird sich vermutlich auf das Hauptquartier herabstürzen wollen…“ Ritsuko lehnte an der Kante des Tisches und pustete leicht auf den dampfenden Kaffee in ihrer Hand. „Und bei seiner Größe ist es nicht einmal wichtig, dass er uns direkt trifft. Selbst wenn er uns kilometerweit verfehlt, reicht die Wucht des Einschlags noch aus, um Tokyo-3 komplett zu vernichten.“ Sie blickte ihre langjährige Freundin an. „Was sollen wir tun? Du hast im Moment das Kommando. Evakuieren wir das Hauptquartier, Major?“ „Nein, eine Sache will ich noch ausprobieren“, gab Misato schmunzelnd zurück. „Ruft die Kinder herbei…“   *** „WAS?! Wir sollen das Ding mit bloßen Händen auffangen?!“ Asuka war außer sich. Sie standen in der großen Halle vor Commander Ikaris Büro und das rothaarige Mädchen starrte auf ihre Hände. Alle Piloten trugen bereits ihre Plugsuits. „Richtig. Wir haben die Hoffnung, dass eure AT-Felder es erlauben, den Engel aufzufangen, bevor er den Boden berührt. Um einen möglichst großen Radius abzudecken, werden wir euch an drei verschiedenen Standorten rund um Tokyo-3 positionieren.“ Misato tat ihr Bestes, um ruhig zu wirken. Dabei wusste sie nur zu gut, wie der „Plan“ auf die drei Teenager wirken musste. Er schien nicht nur verzweifelt, er war es auch. „Und worauf beruht die Auswahl der Startpositionen?“, hakte Asuka nach. „Sagen wir: Weibliche Intuition“, antwortete Misato. Sie konnte ein Grinsen, so unangebracht es auch in der jetzigen Situation war, nicht unterdrücken. „Na toll, das ist ja wie ein Lotteriespiel“, stellte Shinji mit verschränkten Armen fest. Dann blickte er auf Asuka. „Darin hat sie noch nie Glück gehabt…“ „Das hört sich ja nach einem großartigen Plan an!“ Die Pilotin von Einheit 02 stampfte mit dem Fuß auf. Misato gewann ihre Fassung wieder. „Das Protokoll sieht vor, dass ihr drei ein Testament macht. Habt ihr das schon erledigt?“ „Nein! Ich habe nämlich noch nicht vor, zu sterben!“, gab Asuka wütend zurück. „Ich wüsste auch gar nicht, was ich hineinschreiben sollte…“, stimmte Rei ein. „Zuckerbrot und Peitsche, versuchen wir’s damit…“, dachte Misato und setzte neu an. „Passt auf, ich weiß, dass das alles nach Wahnsinn klingt. Aber es ist der beste Plan, den wir haben. Eure EVAs und ihre AT-Felder werden euch vor der Explosion schützen. Es gibt keinen Ort, an dem ihr sicherer sein könntet. Und wenn das Ganze hier vorbei ist, dann lade ich euch drei zu einem riesengroßen Steak ein, na wie klingt das?“ „Echt, toll!“, gaben Asuka und Shinji wie aus einem Mund zurück. Nur Rei blieb stumm. „Na seht ihr, wir kriegen das schon hin“, antwortete Misato zufrieden und drehte sich um. „Ich werde zurück in die Kommandozentrale gehen. Ihr macht euch jetzt mal auf zu euren EVAs.“ Mit diesen Worten ging die Frau mit den lila Haaren aus dem Raum. Zurück blieben drei Teenager, die ihr verwirrt hinterher schauten. „Hat sie gerade wirklich versucht, uns mit einem Stück Fleisch zu ködern?“, fragte Asuka irritiert. „Irgendwie ist diese Second-Impact-Generation seltsam…“ Sie zog eine Schnute.   „Naja, damals gab es so etwas nicht mehr. Sie glaubt wohl tatsächlich, dass das für uns etwas Besonderes ist. Du hast aber wirklich erfreut geklungen…“ meinte Shinji. „Ich wollte nur, dass sie sich bestätigt fühlt. Du hast aber auch gut geschauspielert. Fast hätte ich’s dir abgenommen!“ Asuka grinste ihn an. „Quatsch. Ich wollte nur, dass sie sich nicht schlecht fühlt.“ Shinji beobachtete, wie Asuka ein gefaltetes Papier aus der Tasche zog. „Dann lasst uns doch mal das beste Restaurant von Tokyo-3 raussuchen, damit sie auch wirklich ihr Gewissen beruhigen kann. Je teurer, desto besser… Was ist mit dir, First Child? Kommst du auch mit?“ „Ich denke nicht“, antwortete Rei. „Ich habe nicht besonders viel übrig für Fleisch…“   *** Kurze Zeit später hatten die Teenager in ihren Evangelions die vorgeschriebenen Positionen bezogen. Als der Engel seine Umlaufbahn verließ und gen Boden schwebte, fiel der Startschuss. Die Roboter machten sich bereit. „Ok, die MAGI können euch bis auf 10.000 Meter an das Ziel heranführen“, gab Ritsuko über Funk durch. „Dann müsst ihr euren Augen vertrauen.“ „Evangelions, START FREI!“, rief Misato. Und dann spurteten die Einheiten los. Sie übersprangen Hügel, Stromtrassen, Flüsse und Schnellstraßen, als sie ihren Blick gen Himmel hielten und versuchten, zu antizipieren, wo der Engel niedergehen würde. Das gigantische Biest war schon in großer Höhe mit bloßem Auge zu erkennen. Rotglühend trat es in die Erdatmosphäre ein, bereit, sein todbringendes Werk zu vollenden. Es entfaltete seine Seiten, die sich wie Federn während des Sturzfluges leicht nach hinten bogen. „Schneller!“, dachte Shinji, als er auf das Objekt zuraste. Er hatte eine kleine Erhöhung vor sich als Ort ausgemacht, an dem er den Feind abfangen konnte. Die lila Einheit beschleunigte ihren Lauf nochmals, gigantische Erdklumpen flogen hinter ihr in die Luft. „Baue AT-Feld auf!“, rief er, als er den Fuß des Hügels erreichte. Oben angekommen riss er die Hände hoch. Ein kratzendes Geräusch erklang, als sich die beiden Felder berührten. Mit aller Macht stemmte Shinji die Handflächen des Evangelions gegen das Feld des Engels. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass sein EVA mehrere Meter tief im Boden versank. Seine Arme brannten vor Anstrengung und er biss die Zähne zusammen. „Einheit 02, wo ist dein AT-Feld?!“, rief Rei, als sie mit ihrer Einheit ebenfalls den Hügel erreicht hatte. Sie sprang die letzten Meter nach vorn und stemmte sich ebenfalls gegen den Engel. „Baue es gerade auf!“, schrie Asuka und erreichte den Kampfplatz. Gemeinsam schafften sie es, den Engel wieder ein Stück nach oben drücken. Unter größter Anstrengung gelang es, den Sinkflug zu stoppen. Wie eine erstarrte Feder hing der Engel über ihnen in der Luft. Einheit 00 fuhr ihr Prog-Messer aus. Als Asuka neben Shinji zum Stehen gekommen war, stach Rei mit voller Wucht auf das AT-Feld ein. Ein erster kleiner Riss bildete sich, gerade groß genug, um die Fingerkuppen hindurchzuschieben. „Bereit?“, fragte sie die Pilotin von Einheit 02. „Kann losgehen!“, rief Asuka angestrengt zurück. Einheit 00 riss mit voller Kraft an dem Feld, das nach kurzem Widerstand nachgab. Der Kern des Engels kam ungeschützt darunter zum Vorschein. „JETZT FAHR ZUR HÖLLE!“, schrie Asuka und rammte ihr Prog-Messer mitten in die rötliche Kugel. Es kam ihnen vor, als stünde für einen kurzen Moment die Zeit still. Blut schoss aus den Armen von Einheit 01, als sie unter dem Gewicht des Engels nachgaben. Dann brach der Kern mit einem lauten Knacken auf, es klang nahezu wie splitterndes Glas. Der tote Engel sank langsam auf die drei Evangelions herab und bedeckte sie vollständig. Dann hörten sie mit einem Mal ein lautes Fiepen, bevor der Feind in einer gigantischen Explosion verdampfte. Ein riesiges Loch entstand, wo eben noch der Hügel gestanden hatte. Asche, Erde und verbrannte Bäume prasselten auf die Kinder nieder, aber die Evas hielten stand. Sie konnten spüren, wie die Wucht der Explosion ihre Panzerungen zerfetzte und durch die AT-Felder drang. Die Teenager kamen in ihren Maschinen inmitten des riesigen Kraters zum Liegen. Rei blinzelte und schüttelte leicht benommen den Kopf. Die Anzeigen des Cockpits zeigten mehrere Schäden im Brust und Schulterbereich ihres Evangelions an. Aber sie war am Leben, ebenso die anderen Piloten.   *** Die Crew des Hauptquartiers jubelte auf, als der Feind explodierte. Misato atmete aus und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Puh, das war knapp“, dachte sie. Dann wandte sie sich an ihre Mitstreiter. „Bericht!“ Aoba meldete sich zuerst. „Der Feind wurde vernichtet. Die EVAs haben diverse Schäden, da werden sich die Techniker wieder über Überstunden freuen. Aber den Piloten geht es gut.“ „Ausgezeichnet. Sendet Rettungsteams aus und bringt die Kinder zurück. Ich will, dass ab sofort Doppelschichten gefahren werden, damit die Einheiten schnellstmöglich wieder einsatzbereit sind.“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Commander Ikari wird mich vermutlich umbringen, wenn er von den Schäden erfährt“, ging ihr durch den Kopf.   *** Als die Teenager wieder das Kommandozentrum betraten, kam Misato freudestrahlend auf sie zu. „Das war eine großartige Leistung, ich wusste, dass ihr es schaffen würdet. Im Gegensatz zu einigen anderen hier!“ Sie warf Ritsuko einen bösen Blick zu. Diese lächelte die Spitze einfach weg. „Die Kommunikationsverbindungen funktionieren wieder. Commander Ikari ist von der Antarktis aus in der Leitung.“ Misato nahm Haltung an. Als die Verbindung geöffnet wurde, sprach sie als Erste. „Commander, ich übernehme die volle Verantwortung für diesen Einsatz. Die Evangelions sind unter meiner Aufsicht allesamt beschädigt worden.“ Die Stimme des Commanders blieb ruhig. „Die Aufgabe der Evangelions ist es, die Engel zu bekämpfen. Dass sie dabei in Mitleidenschaft gezogen werden, ist unvermeidlich. Die Mission wurde erfolgreich beendet, das ist ihr Verdienst.“ Misato öffnete überrascht den Mund. Dann sprach Gendo weiter. „Ist der Pilot von Einheit 01 anwesend?“ Shinji riss vor Überraschung die Augen auf. „J-Ja, ich bin hier“ antwortete er. „Ich habe den Bericht gelesen. Gut gemacht, Shinji.“ Der Junge wusste nicht, was er sagen sollte. „Das war das erste Mal, dass er mich gelobt hat“, schoss ihm durch den Kopf. „D-Danke, Vater.“ Rei warf ihm verstohlen einen Blick von der Seite zu. Dann wandte Gendo sich wieder an das Führungspersonal. „Major Katsuragi, Dr. Akagi, wir befinden uns mit der Fracht auf dem Rückweg und werden in schätzungsweise fünf Tagen wieder in Tokyo-3 eintreffen. Sie übernehmen die Koordination der Reparaturen.“ „Verstanden, Commander“, gaben beide wie aus einem Mund zurück. Dann schloss sich die Verbindung. Ritsuko wandte sich wieder den Technikern zu, die auf weitere Befehle warteten. Misato wollte die Teenager gerade nach draußen begleiten, als sich Hyuga meldete. „Oh mein Gott, Aktivität im pazifischen Ozean! Die MAGI registrieren Bewegung im Riss!“ Er rieb sich die Augen, aber die Ergebnisse blieben die gleichen. „Ein… Oh Scheiße! Nein, ZWEI Wesen sind soeben an dieser Anomalie aufgetaucht. Sie bewegen sich geradewegs Richtung Japan!“ „WAS!?“ Misato schrie nahezu. Sie wandte sich zu ihren überraschten Schützlingen um. „Schätze, unser Abendessen muss ausfallen… Was ist bis jetzt bekannt?“ „Nicht viel“, gab Maya zurück. „Wellenmuster wieder violett! Sie scheinen aber schneller und schwerer als das vorherige zu sein.“ Ihre Stimme wurde panisch. „Aber die Panzerungen der EVAs müssen getauscht werden, sie sind so nicht einsatzfähig! Außerdem wurden sie noch nicht einmal aus dem Krater geborgen!“ Misato wurde blass. Sie wandte sich an Ritsuko, deren geweitete Augen genauso aussahen, wie sie sich gerade fühlte. „Können wir sie trotzdem einsetzen?“ Die blonde Wissenschaftlerin schüttelte energisch den Kopf. „Gegen zwei von diesen Biestern? Nein, mit den bestehenden Schäden ist das absolut unmöglich…“ Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Aoba registrierte weitere Aktivität auf dem Bildschirm. „Unbekannte Flugobjekte haben soeben japanischen Luftraum erreicht. Sie rufen uns!“ „Durchstellen“, sprach Misato mit verschränkten Armen. Wer war das denn jetzt schon wieder? Konnte es etwa noch schlimmer kommen? Gekrächze kam aus den Lautsprechern, als die Verbindung hergestellt wurde. „Verdammtes Mistding… Wie geht denn das?! Ah! Thaddäus, jetzt mach mal Platz!“ Wütendes Geklopfe war zu hören. Nach einigen Augenblicken hatte sich die Stimme wieder gefangen. „So… Hallo, können Sie mich hören? Mein Name ist Phil Sammons, Leiter der taktischen Abteilung bei NERV-04 und gerade im Direktflug nach Tokyo-3! Was dagegen, wenn wir ab hier übernehmen?“ „Sie sind da!“, entfuhr es Rei lauter als üblich. Asuka und Shinji starrten sie überrascht an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)