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Von Wölfen und Menschen

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Sticks and Stones

4. Oktober 2015, Toyko-3, David und Bens Wohnung
 

Janko schlug langsam auf der Couch im Wohnzimmer die Augen auf. Ein gequältes Stöhnen entwich ihm. Er setzte sich gerade hin und musterte das Chaos um ihn herum. Die leere Whiskyflasche lag auf dem Fußboden, Bierdosen und leere Knabberkram-Tüten waren im ganzen Raum verteilt. Er schaute auf sein Handy. Es war bereits Mittag. In den anderen Räumen regte sich allmählich auch wieder das Leben.
 

Janko ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Das braune Lebenselixier half sowohl ihm als auch seinen zwei verkaterten Mitstreitern, wieder auf die Beine zu kommen. Sie hatten die kryptische Nachricht in der Nacht noch einige Zeit diskutiert, bevor er, zu betrunken für die Heimfahrt, auf der Couch in den Schlaf gesunken war.
 

„Ich schätze mal, dass das unser letztes ruhiges Wochenende war“, sagte David und nahm sich den übrig gebliebenen Cupcake. „Schade eigentlich, so ein bisschen mehr bezahlter Urlaub wäre schon ganz nett.“
 

Ben putzte seine Brille. Er sah die beiden anderen Piloten an. „Also machen wir’s so. Wir treffen uns am Dienstag um 13:00 Uhr vor dem höchsten Wolkenkratzer.“ Die anderen nickten. „Mehr Infos wären aber echt gut gewesen…“
 

Janko schenkte noch einmal Kaffee nach. „Vermutlich ist das Risiko zu groß. Manchmal hab ich das Gefühl, beobachtet zu werden…“, gab er zu.
 

„Ja, mir geht’s genauso“, erwiderte David. „Würde mich auch nicht wundern. Ich meine, von diesen Kids hängt bis jetzt offiziell die Rettung der Welt ab. Wenn da kein Sicherheitsdienst ein Auge draufhat, wäre das mehr als leichtsinnig!“
 

„Belästigt worden bin ich bis jetzt aber noch nicht“, warf Ben ein. „Vielleicht hat K2 auch da Einfluss.“
 

Janko schüttelte den Kopf. „Würde mich schwer wundern. NERV-04 hat hier nichts zu melden. Aber ich gebe zu: Gesehen hab ich auch noch keinen Agenten oder ähnliches. Also entweder sind sie sehr sehr gut…“
 

„… oder sehr sehr fahrlässig“, beendete David den Satz für ihn.

 

***
 

Es war schon später Nachmittag, als Janko sich tatsächlich endlich fit genug fühlte, den Heimweg anzutreten. Er verließ die Wohnung von Ben und David und machte sich auf den Weg Richtung Ringbahn-Haltestelle. Als er den Bahnsteig betrat, fielen ihm die vielen seltsamen Zeichen auf, die hinter den Zuganzeigen aufleuchteten. Da er jedoch immer noch an den Kanjis verzweifelte, gab er es auf, weiter nachzuforschen. Er wollte einfach nur wieder ins Bett. Pünktlich fuhr die Ringbahn auch heute ein, wie er zufrieden feststellte.
 

Janko zwängte sich mit den vielen anderen Leuten in das Abteil. Sogar an einem Sonntag schien der Strom an Menschen genau so mächtig zu sein wie unter der Woche. Er bekam keinen Sitzplatz mehr, sodass er im Türbereich stehen blieb. Die frische Luft an den einzelnen Haltestellen, die hereinströmen würde, täte seinem gescholtenen Magen sicher gut.
 

Die Sonne ging am Horizont bereits unter und tauchte die Stadt in ein rötliches, friedliches Licht. Er schaute sich im Abteil um. Die Menschen wirkten fröhlich und ruhig. Schwer vorstellbar, dass auch sie in den letzten Wochen all die Kämpfe gegen die Engel aus nächster Nähe mitbekommen hatten. Es war doch mittlerweile klar, dass Tokyo-3 das Epizentrum der Gefechte werden würde. Warum blieben sie also alle hier?
 

„Vielleicht aus demselben Grund, aus dem ich hier bin“, dachte er bei sich. „Weil sie eine Aufgabe zu erfüllen haben. Eine Aufgabe, die nur hier durchführbar ist.“ Vielleicht waren es ja auch hauptsächlich NERV-Mitarbeiter, die hier wohnten, schliefen, zur Arbeit gingen. Irgendwie bewunderte er diese Japaner für ihre Unerschütterlichkeit. Eine Durchsage ließ ihn aufhorchen.
 

„Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund einer Gleisreparatur endet dieser Zug bereits an der nächsten Haltestelle. Sie werden gebeten, auszusteigen. Bitte vergewissern Sie sich, dass Sie keine persönlichen Gegenstände im Zug zurücklassen. Vielen Dank und noch einen schönen Tag.“
 

„Ah, das waren also die Ankündigungen auf den Schildern“, dachte Janko. „Das ist noch mindestens drei Stationen zu früh! Naja, vielleicht tut mir ein kleiner Spaziergang gut…“
 

Wie erwartet hielt der Zug an der nächsten Station. Janko schwamm mit dem Strom der anderen Fahrgäste und hielt sich ein wenig am Rand des Bahnsteiges auf, um einen besseren Überblick zu bekommen und sich zu orientieren. Als sein Blick über die Menschenmenge schweifte, glaubte er für einen kurzen Moment, blaue Haare zu sehen. Er stutzte.
 

„War das Rei?“, fragte er sich und setzte sich in Bewegung. Hatte sie auch mit dem Zug nach Hause fahren wollen? Er kämpfte sich durch die Menschenmassen und erreichte den Ausgang des kleinen Bahnhofes. Ihm kam es vor, als sehe er einen Teenager in Schuluniform um die nächste Straßenecke biegen, die in Richtung seines Apartments führte. Janko wartete an der Fußgängerampel, bis er loslaufen durfte. Als sie grün wurde, beschleunigte er seine Schritte.
 

Ganz langsam erkannte er sein Viertel wieder. Die Häuserwände wiesen mehr Graffiti auf, der Zustand der vor den Wohnblöcken geparkten Autos wurde auch immer schlechter. Er war auf dem richtigen Weg. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen. Die Schatten in den Häuserschluchten wurden länger, bald würden die Straßenlaternen angehen. Das Wetter wurde passenderweise zusehends schlechter. Leichter Wind kam auf und die ersten Tropfen der großen grauen Wolken, die am Himmel festzuhängen schienen, fielen auf ihn herab. Als er um die nächste Straßenecke bog, erkannte er sie. Er hatte Recht gehabt. Schätzungsweise zweihundert Meter vor ihm lief Rei. Als sie die Straßenseite wechselte, erkannte er eine vierköpfige Gruppe von jungen Männern, die sich in einen Hauseingang drängten. Als das Mädchen an ihnen vorbeiging, lösten sie sich von der Haustür und gingen ihr nach.
 

„Ich hab ein ganz mieses Gefühl dabei…“, dachte er und ging nochmals ein wenig schneller. Er musterte die Kerle. Sie trugen alte, weite Hosen und allesamt schwarze Oberbekleidung. Allem Anschein nach hatten sie die Klamotten nicht unbedingt frisch aufgetragen. Der größte von ihnen, ein Mann mit langen, schwarzen, nach hinten gegelten Haaren, stellte sich Rei in den Weg. Die anderen flankierten sie.
 

„Hey Kleine, was hast’n da in deiner Tasche? Ist da was Spannendes drin?!“, fragte der Anführer grinsend. Janko blieb gut dreißig Meter von ihnen entfernt stehen. Zu seiner Rechten befand sich eine Baustelle, der klapprige Bauzaun war an mehreren Stellen verbogen und wippte leicht im aufziehenden Wind. Er zog sich die gesamte Straßenseite entlang. Unauffällig ging Janko zu einem kleinen Berg von Schutt, der hier aufgeschüttet worden war. Die Typen schienen ihn nicht zu bemerken. Er konnte nicht hören, ob Rei antwortete. Aber den zweiten Kerl verstand er. Zwei auffällige, protzige Ketten baumelten an dessen Hals.
 

„Jetzt komm‘ schon, zeig ma‘ her!“, rief der Mann. Er griff nach Reis schwarzer Schultasche und zog kräftig daran. Das Mädchen schien Widerstand zu leisten, aber schlussendlich rutschte ihr die Tasche aus den Händen. Sie stolperte und fiel rücklings hin. Janko konnte sehen, wie sie auf dem Boden aufschlug und sich reflexhaft den rechten Arm hielt.
 

In diesem Moment, als Rei auf dem Boden landete, setzte etwas in ihm aus. Verschwommen hörte er das Gelächter der Männer. Sein Autopilot übernahm ab hier. Das erste Mal seit langer Zeit. Das erste Mal seit Sarajevo. Jankos Herzschlag beschleunigte sich, als die Flut von Adrenalin wie eine Woge durch seinen Körper raste. Als sich sein Gesichtsfeld verengte, spürte er eine Gänsehaut. Es war, als konzentriere sein Körper alle verfügbaren Energiereserven im Zentralbereich. Er konnte plötzlich leichter atmen, die dröhnenden Kopfschmerzen waren mit einem Mal verschwunden.
 

Janko griff sich einen am Rand des Schuttberges liegenden Pflasterstein und rannte los. Noch zwanzig Meter.
 

„Sag ma‘, wie geht’n das Ding auf?!“, fragte der Kerl, der Rei die Tasche entrissen hatte. Auch auf die Entfernung konnte Janko das alkoholgeschwängerte Lallen hören. Noch zehn Meter.
 

Einer der anderen Männer, die sich seitlich von Rei positioniert hatten, drehte sich zu ihm um. Noch fünf Meter.
 

Und dann war er da. In vollem Lauf rammte er dem ihm am nächsten stehenden Mann den Pflasterstein ins Gesicht. Er konnte das Knacken der Knochen hören, dicht gefolgt von einem erbärmlichen Schmerzensschrei. Wie ein abgesägter Baum fiel sein erstes Opfer zu Boden. Blut spritzte durch die Luft und sprenkelte den Asphalt mit kleinen roten Punkten. Janko kam zum Stehen und zielte. Er warf den Stein auf den Typen mit der Tasche. Dieser riss überrascht die Arme hoch und ließ seine Beute fallen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie Rei sich aufrappelte.
 

„REI, LAUF!“, schrie er. Sie schnappte nach ihrer Schultasche und war binnen Sekunden verschwunden. Janko packte den Kopf des Mannes, der auf der anderen Seite des Mädchens gestanden hatte. Mit einer gut getimten Drehung seines Oberkörpers gewann er genug Rotation, um den Kopf des Anderen in die Seitenscheibe eines geparkten Autos zu drücken. Das Glas zersplitterte in einer Fontäne aus kleinen Kristallen, direkt im Anschluss heulte die Alarmanlage los. Mit den Händen vor dem Gesicht ging der Mann schreiend in die Knie. Janko setzte mit einem Tritt nach und sein Gegenüber kippte nach hinten.
 

Dann jedoch war das Überraschungsmoment vorbei. Janko wollte sich gerade zu den übrigen zwei Männern umdrehen, als ihn etwas Hartes an der linken Schläfe traf. Er wurde durch die Wucht des Treffers herumgeschleudert und landete bäuchlings im Dreck. Blut schoss direkt in sein Auge, er konnte auf dieser Seite nichts mehr sehen. Schlieren bildeten sich vor seinem Gesichtsfeld, als sich die rote Flüssigkeit mit den Regentropfen vermischte, die immer stärker vom Himmel prasselten. Als der Kerl, der ihn erwischt hatte, näherkam, zog Janko sein linkes Bein an und trat ihm mit voller Kraft gegen die Kniescheibe. Ein wütendes Knurren signalisierte ihm, dass er getroffen hatte. Dennoch prasselten weitere Schläge des gezogenen Teleskopschlagstockes sowie einige Tritte auf seinem Rücken ein. Janko stöhnte schmerzerfüllt, dann schaffte er es irgendwie, sich aufzurappeln. Er riss die Arme hoch und wehrte im Rückwärtsgang die ersten Schläge des vierten Mannes ab. In der ersten kurzen Pause nach der Schlagserie schubste Janko seinen Gegner in den klapprigen Bauzaun. Er erkannte die Lücke, die sich ihm nun bot. Er sprang über den Typen mit den Glassplittern im Gesicht hinweg und rannte davon. Der Anführer mit dem Teleskopschlagstock brüllte ihm wütend etwas hinterher.
 

Erst nachdem er mehrere Straßenecken zwischen sich und diese Gang gebracht hatte, kam er atemlos zum Stehen und lehnte sich mit dem Rücken an eine schäbige Hauswand. „Scheiße, das war knapp!“, dachte er und befühlte seine linke Augenbraue. Noch immer hielt der Blutstrom an, er schien sich einen ziemlichen Cut eingefangen zu haben. Sein anderer Arm umklammerte seinen Brustkorb. Es fühlte sich an, als seien auch zwei Rippen gebrochen. Der Rücken brannte ebenfalls wie Feuer. Er zog ein Taschentuch hervor und presste es auf die Verletzung im Gesicht. Dann begann er, nach Hause zu humpeln. Rei war nirgends zu sehen.

 

***
 

Wenige Straßenblocks entfernt war das blauhaarige Mädchen vor ihrer Wohnungstür angekommen. Sie war den Rest der Strecke gerannt und entsprechend außer Atem. Rei schloss auf und trat ein. Als die Tür hinter ihr zufiel, lehnte sie sich an den Türrahmen. Sie umklammerte noch immer ihre schwarze Schultasche und atmete einige Male tief durch, bis sich ihr Kreislauf wieder beruhigt hatte. Sie war völlig verwirrt.
 

„Warum hat er das getan?“, fragte sie sich. „Wo kam er her?“ Es war alles so schnell gegangen. Diese vier Männer hatten sie umstellt und angefangen, auf sie einzureden. Dann riss der erste an ihrer Tasche und sie fiel. Und dann war Janko dagewesen. Er hatte geschrien, dass sie laufen solle. Seine Stimme hatte so anders geklungen. „War er… in Sorge um mich?“ Und wo war er jetzt? War er verletzt? Sie blieb am Türrahmen stehen und entschied sich, zu warten und zu lauschen.

 

***
 

Janko humpelte mittlerweile fluchend durch das schummrige Treppenhaus. Er hatte wieder genug Luft zum Atmen gefunden, aber sein Rücken ließ keine schnellen Bewegungen zu. Er drückte das zwischenzeitlich dritte Taschentuch auf die Augenbraue, aber es hörte einfach nicht auf zu bluten. Zum Glück hatte er seine Erste-Hilfe-Ausrüstung in der Wohnung. Auf einen Besuch in der Notaufnahme konnte er an diesem Sonntag verzichten.
 

Als er den vierten Stock erreicht hatte, machte er sich auf zu seinem Apartment. In dem Moment, als er Reis Wohnungstür passierte, trat das Mädchen auf den Flur. Sie schien auf ihn gewartet zu haben. Sie stand einfach da vor ihrer Tür und sah ihn mit großen Augen an. Offensichtlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
 

„Hallo Rei… Geht’s… geht’s dir gut?“, fragte er und musterte sie. Sie schien unverletzt.
 

„Ja. Es ist nichts weiter passiert“, antwortete sie leise. Sie hielt noch immer ihre Schultasche mit der linken Hand. Ihren rechten Arm führte sie an ihrem Rücken vorbei und ihre rechte Hand umklammerte ihre linke Armbeuge. Unruhig hatte sie einen Fuß ein wenig auf die Zehenspitzen gestellt. Ihr Gesicht blieb jedoch ausdruckslos wie immer.
 

„Das ist gut“, sagte Janko. Er versuchte, ein kleines Lächeln aufzusetzen. „Wenn du mich entschuldigst, ich laufe immer noch ein wenig aus… Ich versuch‘ mal, mich zusammenzuflicken.“ Janko drehte sich zu seinem Apartment und schloss die Tür auf. Als er eintrat, merkte er, dass sie ihm wortlos folgte. „Willst… willst du mit reinkommen?“
 

Rei nickte stumm.
 

Janko betrat seine Wohnung und marschierte zu seinem Koffer, der immer noch nicht ausgepackt war. Nach wenigen Sekunden hatte er das kleine rote Erste-Hilfe-Päckchen gefunden. Mit einer Hand (die andere drückte immer noch das Taschentuch auf die Wunde) öffnete er das Bündel und zog einen kleinen, runden Handspiegel, Desinfektionsmittel, Verbandszeug sowie eine Ampulle mit Wundkleber hervor. Er setzte sich mit seinen Utensilien auf das Bett. Nach einem letzten Tupfer warf er das blutige Taschentuch in den bereitstehenden Mülleimer. Rei betrachtete ihn. Sie sah, wie er ungeschickt versuchte, den Spiegel zu halten, den ersten Lappen mit Desinfektionsmittel zu beträufeln und anschließend die Wunde zu bestreichen. Sie setze sich zu seiner Linken und nahm ihm wortlos den Spiegel ab. Dann ergriff sie den Lappen und machte sich daran, den Cut zu desinfizieren.
 

„Nein, du brauchst nicht…“, setzte Janko an.
 

„Doch“, antwortete das Mädchen mit fester Stimme. „Du hast eine Hand zu wenig.“
 

Mit einem Seufzen ließ Janko sie gewähren. Geschickt strich sie das Desinfektionsmittel auf die Verletzung und begann, die kleine Flasche mit dem Wundkleber aufzudrehen. Janko betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Ihre Unsicherheit schien verflogen. Mit konzentriertem Gesichtsausdruck begutachtete sie seine Augenbraue.
 

„Du scheinst ruhiger zu werden, sobald du etwas zu tun hast“, dachte Janko. „Geht mir genauso.“
 

Rei träufelte den Kleber auf die Verletzung. Vorsichtig drückte sie die Wunde ein wenig zusammen. Ein kleines Schnauben entwich Janko.
 

„Es ist gleich vorbei“, sagte Rei leise. Nach einigen Sekunden ließ sie los. Ihre Blicke trafen sich. Zum ersten Mal konnte er ihre ungewöhnlichen, roten Augen aus der unmittelbaren Nähe betrachten. Für einen kurzen Augenblick kam es Ihm vor, als könne er eine tiefe, seit langem anhaltende Traurigkeit in ihrem Blick erkennen. Sie wandte sich als Erste ab. Der Moment ging vorüber. Rei schaute auf das große Pflaster, das zwischen ihnen lag und griff nach ihrer Schultasche. Das Mädchen legte einige Gegenstände aus der Tasche auf den Fußboden, holte anschließend eine Schere heraus und passte das Pflaster der Wunde entsprechend an. Anschließend klebte sie es auf. Einige weitere Sekunden der Stille vergingen, bevor sie aufstehen wollte.
 

„Warte“, sagte Janko und griff nach ihrem Arm. Gerade war ihm die große Schürfwunde an ihrem rechten Ellenbogen aufgefallen. Rei musste sie sich bei dem Sturz zugezogen haben. Er blickte zuerst darauf, dann schaute er sie wieder an. „Darum sollten wir uns aber auch noch kümmern.“
 

Rei blickte teilnahmslos auf ihren Arm. Als sie den Mund aufmachen wollte, kam ihr Janko zuvor. „Keine Widerrede. Eine Hand wäscht die andere.“ Sie setzte sich wieder. Er drehte ihren Arm ein wenig, damit er die Stelle besser erreichen konnte. Ihm fiel auf, wie kalt sich ihre Haut anfühlte. Nachdem er die Stelle großflächig gereinigt und desinfiziert hatte, klebte er den restlichen Teil des Pflasters darauf und strich es vorsichtig glatt. Falls es wehtat, zeigte sie keinerlei Regung.
 

„Kannst du mir mal verraten, wo der NERV-Sicherheitsdienst eben war? Haben die sonntags alle frei, oder was?!“, fragte er ärgerlich. Ihre Augen weiteten sich ein wenig vor Überraschung. Janko setzte ein freundlicheres Gesicht auf. Das hatte härter geklungen, als es eigentlich sollte. „Na komm schon, ihr seid recht bekannt in dieser Stadt. Ich weiß, dass du die Pilotin eines Evangelion bist.“
 

Sie nickte leicht, so als verstünde sie. Dann erhob sie sich und nahm ihre Tasche. „Es gibt keine durchgängige Überwachung. Jedenfalls… nicht für mich“, antwortete sie. Rei ignorierte seinen fragenden Gesichtsausdruck und machte sich auf dem Weg zur Tür.
 

Erst jetzt fiel Janko auf, dass er vom Regen völlig durchnässt war. Als er sah, dass das Mädchen auf dem Weg nach draußen war, zog er sein T-Shirt aus und ging zu seinem Koffer. An der Tür drehte sich Rei plötzlich noch einmal um. Eine Frage erstarb auf ihren Lippen. Ihre Augen richteten sich überrascht auf seine Schulter, dann schaute sie auf seine Hüfte.
 

Janko bemerkte ihren Blick. „Wie du siehst, alles halb so schlimm. Ich hab schon einige andere Andenken gesammelt. Da kommt’s auf eine Narbe mehr oder weniger auch nicht an.“ Er versuchte es mit einem beruhigenden Lächeln.
 

Rei wandte den Blick ab und öffnete die Tür des Apartments. Sie blickte sich nicht mehr um. „Danke“, sagte sie kaum hörbar, als sich die Tür hinter ihr schloss. Mit dem frischen Oberteil in der Hand schaute Janko ihr nach, bis das Schloss mit einem leisen „Klack“ einrastete.

 

***
 

Der Vollmond war aufgegangen und warf mittlerweile sein blasses Licht in die Straßenschluchten von Tokyo-3. Der Regen hatte die Schwüle der vergangenen Tage aus der Luft gewaschen und die Wolken hatten einer sternenklaren Nacht Platz gemacht. Janko hatte sich einen Stuhl auf den kleinen Balkon gestellt und dort Platz genommen. Seine Füße hatte er auf dem Geländer abgelegt. Irgendwie versuchte er, mit dem schmerzenden Rücken in eine angenehme Haltung zu kommen. Das Nikotin flutete seinen Körper, als er den beruhigenden Dampf in die Abendluft blies.
 

Er dachte über die zurückliegenden Stunden nach. Hatte er zu krass reagiert? Immerhin wollten sie nur ihre Tasche rauben, sie hatten nicht versucht, sie zu vergewaltigen oder gar zu töten. Das war eine Gruppe fertiger Alkoholiker gewesen, kein Team von trainierten Attentätern. Aber als er Rei hatte stürzen sehen, hatte etwas in ihm die Kontrolle übernommen, was seit Jahren nicht zum Vorschein gekommen war. Nicht einmal, wenn er im EVA saß.
 

Und was hatte sie gemeint, als sie sagte, dass es für sie keine durchgängige Überwachung gäbe? War sie nicht im Moment eine von drei Piloten, an denen das Schicksal der gesamten Menschheit hing? Warum ließ man sie in diesem abbruchreifen Hochhaus wohnen, umgeben von Perspektivlosigkeit, Frustration und Alkoholmissbrauch? Waren die im NERV-Hauptquartier eigentlich wahnsinnig?
 

Was hatte ihn dazu gebracht, seine schlechteste und brutalste Seite rauszulassen? Rei war zwar gestürzt, aber wirklich gewalttätig war es erst nach seiner Intervention geworden. Er war im Nachhinein froh, dass Thaddäus und Phil es abgelehnt hatten, ihnen ihre Pistolen mitzugeben. Er hätte sie definitiv heute eingesetzt. Und dann noch wesentlich mehr Ärger am Hals gehabt.
 

Er pustete eine weitere Wolke in die Nachtluft und rieb sich das Gesicht. Er zuckte leicht zurück und grunzte, als er versehentlich auf die Verletzung drückte. Er würde noch viel nachdenken müssen.

 

***
 

Ein Apartment weiter hockte Rei Ayanami auf ihrem Bett und lauschte. Der Abend war schon weit fortgeschritten, aber trotzdem wollte sich keine Müdigkeit einstellen. Immer und immer wieder hatte sie das große Pflaster auf ihrem Ellenbogen betrachtet. Sie war in ihrem Leben schon sehr häufig verarztet worden, das letzte Mal nach dem missglückten Aktivierungsversuch vor einigen Monaten. Aber da waren es immer ausdruckslose Gesichter gewesen, versteckt hinter OP-Masken. Im Gesicht ihres Nachbarn jedoch hatte sich ernste Sorge ausgebreitet, als er ihren Arm gesehen hatte.
 

„Warum ist ihm das wichtig gewesen?“, grübelte sie. Und warum hatte sie ihm geholfen? Sie verstand nicht, was sie dazu verleitet hatte. Es war einfach so über sie gekommen. Rei hatte gesehen, wie ungeschickt er sich angestellt hatte. Aber warum interessierte es sie? Warum scherte es sie, was mit ihm war?
 

„Weil er sich auch um mich gekümmert hat“, sagte eine kleine Stimme in ihr. „Weil er bereit gewesen war, verletzt zu werden. Damit ich weglaufen konnte.“
 

„Aber warum tut er das?“, fragte eine andere Stimme skeptisch.
 

Seine Hände hatten sich warm angefühlt, als er ihren Ellenbogen verbunden hatte. Die letzten Male, als sie einen anderen Menschen berührt hatte, waren schon Monate her. Damals, als Ikari-Kun sie aufgefangen hatte, als sie während des Angriffs des dritten Engels aus dem Krankenbett gefallen war. Und diese seltsame Sache, als er ihr die neue Zugangskarte vorbeibringen wollte. Berührungen, menschliche Nähe. Unbekanntes Terrain. Sie hatte in so langer Zeit so wenig davon erfahren.
 

Rei legte sich auf ihr Kopfkissen und zog die Bettdecke bis an ihr Kinn.
 

„Danke“, dachte sie. „Ein Ausdruck von Dankbarkeit. Ich habe diese Worte noch nie benutzt. Nicht einmal bei Commander Ikari…“
 

Sie rollte sich auf die Seite und starrte in die Dunkelheit. Es würde noch Stunden dauern, bis der Schlaf sich einstellen würde.



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