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Von Wölfen und Menschen

von

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Animus

3. Oktober 2015, Toyko-3, Junior High-School

 

Die schlechte Stimmung im Klassenraum war praktisch greifbar. Es war Samstag! Und trotzdem mussten sie hier hocken. Asuka schnaubte und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Sie sah sich um: Toji, der Trottel, schlief mit dem Kopf auf dem Tisch. Seine blöde weiße Kappe hatte er weit ins Gesicht gezogen. Kensuke, der andere Trottel, spielte wie immer mit seiner Videokamera herum und gab dabei eine Menge kindischer Laute von sich. Shinji hatte sich seine Kopfhörer in die Ohren gesteckt und wirkte abwesend. Asuka gähnte. „Unterricht nachholen… bla bla bla!“, dachte sie verärgert. „Der alte Knacker redet doch eh wieder nur vom Second Impact! Also was werden wir heute lernen? Nix! Und dafür wird der Samstag verschwendet! Wenn Kaji Zeit gehabt hätte, hätte ich blaugemacht!“

 

Hikari hatte die schlechte Laune ihrer Freundin bemerkt und beugte sich zu ihr rüber. Sie schien die einzige zu sein, die fröhlich war. „Hey Asuka, ich könnte dir zur Aufmunterung in der Pause was von meinem Salat abgeben! Das Dressing ist total lecker!“, bot sie an.

 

„Ach neeee, dankeschön…“, grummelte Asuka. „Wenn, dann will ich was Süßes!“ Sie blickte auf. Rei betrat den Klassenraum und setzte sich still an ihren Platz am Fenster, so wie üblich. „Hey, First Child! Wusste gar nicht, dass du auch heute herkommst. Kein Spezialauftrag am Wochenende für das Wunderkind?“ Doch Rei reagierte nicht auf die Stichelei. Nicht, dass sie es sonst getan hätte. Aber irgendwie wirkte sie noch „entrückter“ als sonst. Sie saß auf ihrem Platz und hatte ihre offene Schultasche auf dem Schoß, die sie wie gebannt anstarrte. Asuka wollte gerade zum nächsten Spott ansetzen, als Hikari neben ihr aufstand.

 

„Aufstehen, verbeugen, hinsetzen!“, brüllte sie, als der Lehrer den Klassenraum betrat.

 

Missmutig erhob sich der Rest der Klasse.

 

***

 

Zur etwa gleichen Zeit rollte sich Janko völlig übermüdet und fluchend aus dem Bett. Er setzt sich auf die Bettkante und rieb sich die Augen. Er versuchte, die letzten Reste des Albtraumes mit heftigem Schütteln aus seinem Kopf zu kriegen. Die Bilder von Explosionen und Feuer hallten immer noch nach. Und die Schreie. Diese unerträglichen Schreie. „Jetlag und Albträume, ne großartige Kombination…“, dachte er mürrisch.

 

Er brauchte einen kurzen Moment, um sich zu orientieren. Als sein Blick durch das kleine Apartment schweifte, fing er sich wieder. Dann stand er auf und schlurfte ins Bad. Es dauerte eine Dusche und ganze drei Kaffee lang, bevor er endlich klar im Kopf wurde.

 

Janko zog sich zu Ende an und schulterte seinen Rucksack. „Dann schauen wir uns mal die Stadt an, bevor wir David beglücken“, sagte er zu sich selbst und verließ die Wohnung.

 

***

 

Der erste Pausengong ertönte und Asuka seufzte erleichtert. Viele ihrer Mitschüler sprangen direkt auf und verließen den Klassenraum. Nur Shinji und Rei blieben mit ihr zurück. Das blauhaarige Mädchen hatte wieder die Schultasche auf ihrem Schoß. Asuka konnte beobachten, wie sie eine kleine schwarze Box herauszog und vor sich auf dem Tisch abstellte.

„Seltsam, die hat doch sonst nie was zu essen dabei…“, dachte sich Asuka und ging zu Reis Platz.

 

„Hey Wunderkind, was hast du denn da Leckeres?“, fragte sie und setzte sich auf den Tisch neben ihr, der, seitdem ein guter Teil der Schüler wegen der Engelangriffe die Stadt verlassen hatte, verwaist war.

 

„Ich bin mir nicht sicher…“, antworte Rei.

 

„Wie, du bist dir nicht sicher? Du musst doch wissen, was du da eingepackt hast!“, fragte Asuka. Sie schnappte sich die Box und schaute hinein. Drei verzierte Cupcakes waren zu sehen, ebenso der kleine Zettel. „Sieh an, unsere Rei wird zur Bäckerin!“, tönte sie.

 

Shinji war neugierig geworden und gesellte sich zu den beiden Mädchen.

 

„Ich habe nicht gebacken. Diese Box stand heute Morgen vor meiner Tür“, gab Rei zurück. „Sie ist vermutlich von meinem neuen Nachbarn.“

 

Asuka zog den Zettel hervor. „Sieh an, sieh an!“, rief sie. „‘Dein Anteil‘… und ein Smiley! Hey, gibt es etwas, was du uns verschwiegen hast?“ Sie feixte.

 

Rei schaute betreten. „Ich… ich verstehe nicht ganz.“

 

Shinji nahm Asuka den Zettel aus der Hand. „Sieht ganz danach aus, als ob dir dein Nachbar eine kleine Freude machen wollte, Rei“, stimmte er ein.

 

„Ich habe ihm Zucker geliehen… Meint ihr… als Dankeschön?“, fragte sie. Man konnte sehen, dass ihr die plötzliche Aufmerksamkeit unangenehm war.

 

„Naja, wie man bei uns in Deutschland sagt: Liebe geht durch den Magen!“, sprach Asuka. „Aber ich muss zugeben, die sehen verdammt gut aus.“

 

„Wir können teilen, wenn ihr möchtet. Ich denke nicht, dass ich drei davon essen kann“, bot Rei an.

 

Kaum, dass sie diesen Satz ausgesprochen hatte, nahm Asuka den ersten Cupcake schon in die Hand und biss genüsslich hinein. „Ha, die sind gut! Sooo viel besser als der Salat, den Hikari mit mir teilen wollte! Da könntest du dir mal ein Beispiel dran nehmen, Shinji. Ich erwarte solch eine Hingabe auch von dir!“

 

Shinji nahm sich ebenfalls einen Cupcake hinaus und gab ihr die Box zurück. „Danke, Rei“, sagte er, ohne auf Asuka einzugehen. Er ging zurück zu seinem Platz. Der Gong vermeldete das Ende der Pause. Rei starrte noch ein wenig länger auf ihre Box, dann verschloss sie sie und steckte sie wieder in ihre Schultasche. Sie würde vielleicht später davon probieren. Wenn sie zuhause war.

 

„Apropos Nachbarn“, rief Shinji über den ansteigenden Lärm der wiederkehrenden Schüler Asuka zu. „Gehst du heute Abend auch auf diese Geburtstagsparty?“

 

„Ich denke schon“, antwortete Asuka undeutlich. Der halbe Cupcake war bereits verschwunden. „Kaji ist ja nicht da, was soll ich sonst an meinem freien Samstagabend tun? Und die Jungs wirkten ganz lustig.“

 

***

 

Janko hatte sein heruntergekommenes Viertel mittlerweile hinter sich gelassen. Laut „inoffiziellem“ Stadtplan, den er von Thaddäus erhalten hatte, bewegte er sich schnurstracks auf einen der Eingänge zur Geofront zu. Die Gebäude links und rechts der Straße wurden größer und moderner, je näher er dem Zentrum kam.

 

Er blickte sich um. Janko hatte schon viel vom sagenumwobenen Tokyo-3 gehört. Die Festungsstadt mit den versenkbaren Wolkenkratzern war also die letzte Verteidigungslinie zwischen den Engeln und der unterirdischen Geofront. Er spürte ein Kribbeln am ganzen Körper, wenn er daran dachte, dass sich genau unter seinen Füßen wohl einige der bestgehütetsten Geheimnisse der Menschheit befanden. „Genau hier wird sich also unser aller Schicksal erfüllen“, dachte er, als er den kleinen Kaffeestand ansteuerte, der unmittelbar vor dem abgetrennten Sicherheitsbereich lag, den er dahinter erkennen konnte. Im Schatten eines gigantischen Zaunes stand das fahrbare Café, nun abgekoppelt von dem Toyota, der ihn eigentlich zog. Mehrere Personen in khakifarbenen Uniformen standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Er bestellte einen großen Becher Kaffee to go, dann ging er weiter.

 

Als er einige Zeit später in einer ruhigen Seitenstraße angekommen war, entdeckte er tatsächlich einen kleinen Park. Er setzte sich auf eine der Bänke und öffnete seinen Rucksack. „Wird Zeit, dass ich mich mal auf den aktuellen Wissensstand bringe“, dachte er.

 

Nach einem kurzen Check, ob er auch wirklich allein war, schlug er die von Thaddäus erhaltene Dokumentenmappe auf. Er überblätterte die Berichte der letzten Kampfhandlungen. Das hatten sie von Deutschland aus sowieso mehr oder weniger live verfolgt. Er landete bei den Profilen der Children. Als er die Lebensläufe von Shinji und Asuka überflog, musste er schmunzeln. „Großes Kompliment an dich, Thaddäus. Ich kann verstehen, warum du uns entsprechend als Pilotenpaar eingeteilt hast“, dachte er bei sich. Ob seine zwei Kollegen die Dokumente auch zu sehen bekommen hatten? Er suchte weiter. Schlussendlich fand er den Teil, in dem es um Rei Ayanami ging und blätterte zu der Stelle, an der ihr Lebenslauf hätte liegen müssen.

 

Dort stand in dicker roter Stempelschrift:

 

####### SYSTEMSEITIG GELÖSCHT######

 

Janko runzelte die Stirn. Wenn Thaddäus und K2 nicht in der Lage gewesen waren, die klassifizierten Informationen zu beschaffen, dann waren sie wohl wirklich nicht mehr vorhanden. Oder sie wurden nie angelegt. Er holte seine E-Zigarette aus der Tasche und blies ein paar große weiße Wolken in die Luft, die wie frischer Morgennebel über dem kleinen Park in Bodennähe hängen blieben. „Irgendetwas ist da faul“, sagte er zu sich selbst.

 

***

 

3. Oktober 2015, Toyko-3, David und Bens Wohnung, kurz vor 19:00 Uhr

 

David giggelte wie ein Teenager, als er die zweite Flasche Korn in die Bowle schüttelte. „Das wird ein Feheeeest!“, rief er gut gelaunt. Während er sich nebenbei bereits ein Bier genehmigte und Guns N’ Roses‘ „Sweet Child O’Mine“ aus den Lautsprechern der kleinen Stereoanlage schepperte, kam Ben in die Küche. Er runzelte leicht die Stirn.

 

„Denk dran, ein Teil unserer Gäste ist minderjährig…“, gab er zu Bedenken.

 

„Keine Angst, die haben doch ihren Vormund dabei“, antwortete David.

 

Ben seufzte. „Du hast die Unterlagen, die uns Thaddäus mitgegeben hat, also noch nicht gelesen“, stellte er fest.

 

David schaute verwundert. „Hä, wieso?“

 

Es klingelte. Ben winkte ab und raunte ihm noch ein „Dann lass dich überraschen…“ zu, als er Richtung Tür ging. Als er sie öffnete, standen Misato, Shinji und Asuka im Eingang. Der Junge trug wie immer seine schwarze Hose und ein weißes Hemd, während Misato und Asuka beide ein schlichtes Kleid anhatten.

 

Nachdem sie David als Einzugs- und Geburtstagsgeschenk eine Flasche Sake überreicht hatten, was dieser fröhlich bejubelte, machten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich. Ben war derjenige, der den formellen Teil schnellstmöglich beiseiteschaffen wollte.

 

„Wenn wir jetzt schon nebeneinander wohnen, sollten wir das blöde ‚Gesieze‘ lassen“, fand er und erhob seine Bowle. Den Teenagern hatte man Limonade eingeschenkt.

 

„Einverstanden!“, schallte es von Misato herüber.

 

„Richtig!“, stimmte David ein. „Wenn man schon solche Berühmtheiten als Nachbarn hat, dann muss man das ausnutzen!“

 

Shinji runzelte die Stirn. „Wieso ‚Berühmtheiten‘?“, fragte er.

 

Asuka knuffte ihn schmerzhaft in die Seite. „Na, warum wohl?! Die haben sicherlich schon von den Heldentaten des Second Child gehört!“, grinste sie.

 

Ben schmunzelte. „Von euch allen“, antwortete er. „Ihr seid alle drei kleine Berühmtheiten in dieser Stadt. Nur tut mir einen Gefallen, ja? Ich hab die letzten Stunden hier noch vor mich hin gewerkelt. Beim nächsten Kampf gegen einen Engel bitte nicht auf unsere Wohnung treten! Sonst war alles umsonst!“

 

Shinji grinste. „Ok, ich werde mir Mühe geben“, antwortete er.

 

Misato lief mit prüfendem Blick durch das Zimmer. Sie drehte sich zu Ben und David um. „Und, wie läuft das Zusammenwohnen? Habt ihr euch schon aneinander gewöhnt?“

 

Ben lachte verächtlich. „Ganz ehrlich? Der Typ macht mich wahnsinnig!“

 

David tätschelte ihm den Kopf. „Och komm, du gewöhnst dich schon noch an mich…“

 

Der Andere zog den Kopf weg und setzte einen flehenden Gesichtsausdruck auf. „Ich könnte es, wenn du wenigstens nach dem Duschen eine Hose anziehen würdest, wenn du das Bad verlässt!“

 

Es klingelte erneut an der Tür. „Was soll ich machen?! Ich bin halt Lufttrockner!“, rief David lachend und hechtete los.

 

***

 

Einige Straßenzüge weiter saß Rei Ayanami in ihrem Apartment vor ihrem Cupcake. Den ganzen Nachmittag hatte sie überlegt, ob sie ihn essen sollte. Bis jetzt hatte noch nie jemand für sie gebacken.

 

„Ob er vergiftet ist?“, fragte sie sich. Aber Ikari-Kun und Asuka hatten ihre auch gegessen und waren anschließend lebend aus der Schule spaziert. Sie betrachtete den Zuckerguss eingehend. Sie hatte Essen bis jetzt eigentlich immer als rein notwendige Maßnahme zur Energiezufuhr betrachtet. Zwar wusste Rei, dass Menschen dies auch als soziale Komponente nutzten, aber in der Regel aß sie allein und schnell. Nur, wenn es bei NERV wieder länger dauerte, ging sie in die Kantine. Aber auch dort blieb sie meistens für sich.

 

Der Cupcake war eine Art Geschenk, das verstand sie. Aber nachdem sie ihn verspeist hätte, wäre das Geschenk weg. Andererseits wäre es mit Sicherheit auch unhöflich, ihn umkommen zu lassen. Sie schloss die Augen und führte den kleinen Kuchen zum Mund. Als sie hineinbiss, flutete die Süße ihre Geschmacksnerven.

 

Ein kleiner, überraschter Ton entwich ihr.

 

„Das… ist gut!“

 

***

 

Janko war spät dran, das wusste er. Aber da er das erste Mal ohne Stadtplan aus dem Haus gegangen war, hatte er sich prompt verlaufen. Außerdem musste er noch einen Laden finden, in dem er den Whisky besorgen konnte. Er hatte beschlossen, heute beim Einschlafen etwas nachzuhelfen. Konnte ja nur besser werden.

 

Kurz nachdem er geklingelt hatte, öffnete ihm David gut gelaunt die Türe. Sein schalkhafter Blick verriet mehr als tausend Worte. „Bist spät dran, Kollege. Warst du noch beim Sightseeing?!“ Er winkte ihn rein. Nach der Gratulation brachte Janko seine Cupcakes und den Whisky in die Küche. Neidisch musste er feststellen, dass David nicht übertrieben hatte. Die Wohnung wirkte wie ein Palast im Vergleich zu seinem Apartment.

 

Als er das Wohnzimmer betrat, war er überrascht, neben Ben auch noch drei weitere Besucher vorzufinden. Er kannte sie bereits von den Bildern in seinem Dokumentenordner. „Ah, die Kontaktaufnahme hat hier wohl auch schon begonnen“, dachte er, als er sich den anderen Besuchern vorstellte.

 

Ben drückte ihm ein Bier in die Hand. „Du siehst scheiße aus“, stellte er trocken fest. „Jetlag?“

 

Janko nahm einen tiefen Schluck. Das japanische Bier war gar nicht so schlecht, wie er erwartet hatte. „Unter anderem, könnte man sagen…“, entgegnete er.

 

„Was’n los?“ Bens fragender Blick hielt ihn fest.

 

„Besser später“, antwortete Janko und nickte Richtung Misato.

 

Asuka war wenige Augenblicke zuvor in die Küche marschiert. „MOMENT MAL, DIE KENN ICH DOCH!“, rief sie. Das rothaarige Mädchen kam zurück ins Wohnzimmer und hielt einen der Cupcakes vor sich. „Die hab ich heute Morgen doch schon mal zu Gesicht bekommen“, sagte sie.

 

„Eher ‚ins Gesicht‘ würde ich sagen“, gluckste Shinji von der Couch aus. „Du hast ihn regelrecht inhaliert!“

 

„Baka!“, schallte es herüber. Dann wandte sie sich Janko zu. „DU bist der neue Nachbar von Rei!“ Auf Jankos überraschtes Gesicht hin fuhr sie fort: „Davon hab ich heute einen abbekommen. Die sind echt lecker!“

 

„Gut kombiniert“, gab Janko zu. „Neuigkeiten machen anscheinend schnell die Runde in dieser Stadt.“

 

„Wir mussten ihr zwar wieder alles aus der Nase ziehen, aber schlussendlich hat sie erzählt, dass du ihr welche dagelassen hast.“ Sie schmunzelte. „Du hast sie ziemlich verwirrt, die gute Rei…“ Sie hockte sich zu Shinji auf die Couch, nicht, ohne ihn unsanft etwas zur Seite zu drücken.

 

Janko schaute leicht betreten. „Das… war eigentlich gar nicht meine Absicht.“ „Verdammt, war das schon zu viel?“, dachte er verärgert. „Ich sag ja… irgendwas stimmt da nicht.“

 

„Sie wird das schon verkraften. Hey Shinji, jetzt gib mir mal den Controller!“ Asuka drehte sich zum Fernseher. David hatte mittlerweile seine Spielkonsole angeschlossen und fuhr gerade gegen Shinji ein Autorennen.

 

Misato stellte sich zu Ben und Janko. Sie hatte bereits das zweite Glas Bowle intus. Ihr leicht skeptischer Blick wechselte zwischen den beiden hin und her. Dann fixierte sie Ben. „Zufälle gibt’s… Ihr zieht hier neben uns ein und euer bester Kumpel, der ebenfalls frisch in Japan ist, wohnt ausgerechnet neben der anderen Pilotin eines Evangelions.“

 

Ben hielt ihrem Blick stand. „Ja, wirklich seltsam“, antwortete er ruhig. Sein Gesicht verriet nicht einen einzigen Gedanken.

Für den Bruchteil einer Sekunde spürte Janko die wachsende Spannung, die in der Luft lag. Die Dame war clever, musste er sich eingestehen. „Naja, es wird schon einen Grund haben, dass sie diesen Posten bei NERV hat. Ihr gutes Aussehen allein wird’s wohl kaum sein.“

 

„Ach egal!“, kicherte Misato plötzlich und der Knoten platzte. „Ich bin ja gerade nicht im Dienst!“ Sie holte sich noch eine Tasse und stellte sich wieder zu ihnen. „Was macht ihr denn eigentlich beruflich?“

 

„Wir sind Piloten!“, schallte es wie aus der Pistole geschossen vom Sofa herüber. „Unser Arbeitgeber, eine Airline, hat uns nach Tokyo-3 versetzt. Wir warten quasi nur auf unsere Maschinen…“

 

„Ach echt? Wie heißt denn eure Airline? Ich hab Piloten in ihren Uniformen ja immer schon gemocht…“, fragte Misato nach. Sie ließ die Kuppe ihres Zeigefingers auf dem Tassenrand kreisen.

 

„Tu doch nicht so unschuldig…“, dachte Janko. Vielleicht war sich heute zu besaufen doch keine so gute Idee.

 

„Ähm…“ David drehte den Kopf zu ihnen und sah sie hilflos an. „Helft mir“, formten seine Lippen wortlos.

 

„Animus-Airlines“, sprang Ben ein. „Du magst noch nicht von uns gehört haben. Aber wir sind ein kleines aufstrebendes Unternehmen mit einer großen Vision.“ Ein nicht näher definierbares Lächeln umspielte seine Lippen.

 

Janko begann, sich zunehmend unwohl zu fühlen. Oder sich hemmungslos zu besaufen war vielleicht doch das einzig Richtige!

 

***

 

Zu vorgerückter Stunde stand Janko auf dem Balkon und schaute in den Nachthimmel. Die Hintergrundbeleuchtung der Stadt ließ trotz der klaren Nacht nur wenige Sterne sichtbar werden. Er blies weiße Wolken in die Luft und nippte an seinem Whisky. Er hatte aufgehört, zu zählen.

 

„Das ist nicht richtig“, dachte er. „Wir stehen trotz allem auf einer Seite. Wir sollten uns nicht anlügen müssen.“

 

Er hörte Schritte hinter sich. Misato stieg leicht wankend ebenfalls auf den Balkon.

 

„Puh, so ein bisschen frische Luft tut echt mal gut“, sagte sie und stellte sich zu ihm an die Brüstung. Janko musterte sie aus dem Augenwinkel. Er konnte nicht umhin, ihr eine gewisse Trinkfestigkeit zu attestieren. Ihre Schlagzahl war weit höher als seine.

 

Drinnen hockten Shinji und David immer noch lachend vor der Spielkonsole und droschen digital bei irgendeinem Prügelspiel aufeinander ein. Ben und Asuka hatten in der Küche Platz genommen und waren anscheinend in ein Gespräch vertieft. Es war schon seltsam, wie K2s Pläne quasi von selbst aufgingen. Abgesehen von dem seltsamen Moment vom Anfang der Party war der Abend doch ziemlich lustig verlaufen.

 

„Darf ich dich was fragen, Misato?“, eröffnete Janko eine neue Runde in dem Spiel „Wie umschiffen wir die Wahrheit?“.

 

„Klar, schieß los!“ Die Frau mit den lila Haaren leerte ihre Bierdose wieder in einem Zug. Das hatte sie heute Abend schon öfter getan. Ein kleiner Hickser entwich ihr und sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Upps, sorry…“

 

„Du arbeitest also auch für diese Organisation…. NERV…“, begann er. War das wirklich klug? Aber die Frage lag ihm schon den ganzen Abend auf der Zunge. Sie waren so jung! „Warum setzt ihr Teenager für diese Aufgabe ein? Ich meine, wir haben uns gefragt: Macht es nicht viel mehr Sinn voll ausgebildete Soldaten als Piloten zu nehmen? Leute, die Ahnung vom Töten haben, meine ich.“

 

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Ob als Annäherungsversuch oder nur, um nicht umzufallen, konnte er nicht eindeutig sagen.

 

„Das ist witzig, das frag ich mich auch manchmal“, entgegnete sie. Sie blickte in die Ferne. „Ich weiß, dass das von außen wie Wahnsinn aussieht. Und ich wünschte wirklich, dass diese Kinder etwas Anderes machen könnten. Shinji, Asuka, Rei… von ganzem Herzen. Aber es ist nunmal so, dass nur Teenager die Evangelions steuern können. Die Entwicklungsabteilung versichert mir das jedes Mal. Und es geht hier um die Rettung der Welt vor den Engeln. Da haben wir leider gar keine andere Wahl. Aber schön, dass ihr euch Gedanken um sie macht. Das find ich gut. Sie werden zu oft nur als Werkzeuge gesehen.“

 

Janko lächelte gequält ob des Komplimentes und trank den Rest seines Whiskys in einem Zug aus. Er verzog das Gesicht und spürte langsam, wie ihm der Alkohol zu Kopf stieg. Er stand einfach da und starrte in den Nachthimmel. Er stand da und ihm wurde bewusst, dass er hier gerade der lebende Beweis dafür war, dass ihre Aussage eine Lüge war.

 

***

 

Das Klackern der Controller war das einzige Geräusch, das den Raum erfüllte, als David verzweifelt versuchte, die digitale Schlagserie seines Gegenübers abzuwehren. Sein kleines Polygon-Männchen kippte jedoch nach kurzer Zeit nach hinten und verpuffte in einer Rauchwolke. „GAME OVER!!!“ erschien auf dem Bildschirm.

 

„Herrgottnochmal!“, rief er, als er den Controller weglegte und zu seinem Bier griff. „Du machst mich echt fertig, Shinji!“

 

„Training ist alles!“, antwortete der schwarzhaarige Junge zufrieden und angelte nach einer Chipstüte.

 

„Sag mal, dein Verhältnis zu Asuka ist eher… schwierig, oder?“, setzte David an. Er hatte die beiden Teenager die letzten Stunden über beobachtet.

 

„Naja… ich… weiß nicht recht.“ Shinji blickte zu Boden. „Sie ist so direkt! Manchmal verhält sie sich echt nett. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ist es, als würde plötzlich ein Vulkan ausbrechen.“

 

„Ja, die Gute scheint voller Energie zu sein“, stimmte David zu.

 

„Dann habe ich das Gefühl, sie hat was gegen mich. Dabei tu ich doch gar nichts!“ Er blickte zu dem älteren Gegenüber auf. „Glaubst du, du hast nen Tipp für mich? Ich meine, so im Umgang mit ihr.“

 

David kratzte sich am Kopf. „Puh, schwierige Frage, da ich sie nicht gut kenne. Aber manchmal hilft es vielleicht, zuerst auf sich selbst zu achten. Was andere Leute über einen denken, ändert sich sowieso ständig, weißt du? Ich hab mir irgendwann angewöhnt, weniger auf die Meinung anderer zu geben. Ein dickes Fell kriegen. Das kann durchaus helfen. Mach doch einfach mal dein Ding, ohne dich um ihre Reaktion zu sorgen. Momentan kassierst du ja eh schon Dresche.“ Er lächelte.

 

Shinji blickte nachdenklich ins Leere. Dann, ganz langsam, begann er zu nicken. „Ja, vielleicht ist das eine Idee.“

 

***

 

Ben und Asuka saßen am Küchentisch. Ihm war der Blick des Mädchens nicht entgangen, das unentwegt auf sein Bier starrte.

„Was ist los?“, fragte er. „Willst du auch eins?“

 

Überrascht von der Frage, zuckte Asuka zurück. „Meinst du, das geht?“

 

„Naja, ich kenn die japanischen Gesetze nicht, aber unter uns Deutschen: Du bist fast 15, in Deutschland darfst du Bier ab 16 trinken… Ich sag‘ mal ein Jahr ist kein Jahr.“ Er zwinkerte. „Aber sag’s nicht David, sonst wirft er mir noch Wankelmütigkeit vor.“ Asuka stand auf und ging zum Kühlschrank.  „Nur lass‘ besser die Finger von der Bowle. Bei dem was der Kerl da reingepackt hat, wird das sonst ein kurzer Abend…“

 

Sie öffnete das Bier und schaute sich verstohlen um. Weder Misato noch Shinji waren in der Nähe. Anschließend setzte sich Asuka mit ihrer Flasche zurück an den Küchentisch.

 

„Und, wie lebt es sich so mit Shinji unter einem Dach?“, fragte Ben und beobachtete das Mädchen, wie es langsam den ersten Schluck nahm.

 

„Ach, der Trottel geht mir auf die Nerven! Nie sagt er, was er will. Immer diese übertriebene Zurückhaltung!“ Sie machte einen Schmollmund. „Ich komm mit dieser japanischen Art einfach nicht klar!“

 

Ben lachte leise. „Naja, vielleicht überforderst du ihn auch nur ein wenig. Du bist auch für europäische Verhältnisse eher forsch.“

 

„Echt? Kommt mir gar nicht so vor…“ Asuka lehnte sich zurück. „Wie meinst du das genau?“

 

Ben beugte sich nach vorn und verschränkte die Hände. „Ehrlich gesagt, du kannst ne kleine Pestbeule sein!“

 

Ihr überraschtes Gesicht sprach Bände.

 

„Aber ich mag dich.“ Er stieß mit ihr an. „Nur so’n bisschen weniger ‚Holzhammer‘ würde manchmal vielleicht helfen.“

Asuka streckte ihm die Zunge raus.

 

***

 

Mitternacht war längst vorüber, als die drei Neuankömmlinge die Gäste zur Tür brachten und sie verabschiedeten. Shinji musste Misato stützen, als sie aus der Wohnung traten.

 

„Vielen Dank für den schönen Abend!“, riefen Asuka und Shinji und schoben Misato in Richtung ihrer eigenen Eingangstür. Die Frau winkte nur.

 

Als sie für sich allein waren, ließ sich Janko auf das Sofa fallen. Er stieß einen langen Seufzer aus und goss sich noch einmal nach. Die Whiskyflasche hatte er also doch leer gekriegt.

 

„Na, das ist ja alles in allem ganz gut verlaufen“, sagte Ben und warf sich in den Sessel, der neben der Couch stand. „Aber bei Misato müssen wir echt aufpassen. Sie hat’s faustdick hinter den Ohren…“

 

„Sie hat’s wohl eher faustdick hinter der Leber“, warf David ein und grinste. Er lehnte schwankend über der Rückenlehne der Couch. „Bin mir nicht sicher, ob sie morgen früh noch viel von dem Abend weiß.“

 

Im gleichen Augenblick vibrierten plötzlich ihre drei Handys. Janko zückte seins und fand eine Nachricht vor. Ohne Absender. Bei seinen Kollegen zeigte sich das gleiche Bild.

 

„06.10.2015, 14:00 UHR. GEHT HOCH HINAUS!“ war zu lesen.

 

„Dann geht’s wohl bald los“, sagte Ben. Janko glaubte, ein ganz leichtes Zittern in seiner Stimme erkennen zu können.

 



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