Von Wölfen und Menschen von Watanabe999 ================================================================================ Kapitel 6: Zucker ----------------- 2. Oktober 2015, Tokyo-3   Quietschend hielt die Ringbahn an der vorgesehenen Haltestelle. Janko schulterte seine Reisetasche und stieg, mit einem Stadtplan in der Hand, aus dem stickigen Abteil. Die Mittagssonne brannte auf ihn herab und er kniff unweigerlich die Augen zusammen. Nur wenige andere Passagiere schienen hier den Zug verlassen zu wollen. Als Janko auf dem Bahnsteig zum Stehen kam und einen Blick auf die nähere Umgebung warf, wurde ihm klar warum. „Großartig, man hat mich in den Slums einquartiert!“, dachte er missmutig. Mehrere Bauruinen begrüßten ihn und zeigten ihm das hässliche Gesicht des mit Abstand heruntergekommensten Teils des ach-so-modernen Tokyo-3. In der Ferne hörte er große Baumaschinen, die sich durch Betonwände arbeiteten. Sie übertönten sogar noch das ewige Zirpen der Zikaden. Als er sich orientiert hatte, sank seine Laune noch ein wenig weiter. „Da vorne muss ich hin?! Das Ding sieht aus wie ein umgedrehter Bunker!“   Janko nahm die Treppe, die ihn ins Untergeschoss führte. Die Scheiben des daneben angebrachten Aufzugs waren zerbrochen und ein „Defekt“-Schild baumelte traurig klappernd an seiner Kette. Jedenfalls vermutete er diesen Schriftzug darauf. Japanisch im Wort hatte man ihm seit seinem ersten Arbeitstag bei NERV bis zum Erbrechen eingetrichtert, sodass er, hätte er es für eine Bewerbung im Lebenslauf einordnen müssen, seine Kenntnisse durchaus als ‚fließend‘ bezeichnet hätte. Bei den Schriftzeichen haperte es jedoch immer noch. Es waren einfach zu viele! Er verließ die Unterführung und bewegte sich auf die Ansammlung von Hochhäusern zu, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu erkennen waren.   Im Schatten der Wolkenkratzer hatte er zumindest ein wenig Schutz vor der Sonne. Er ging vorbei an einem verrottenden Spielplatz und mehreren heruntergekommenen Imbissbuden, aus denen ihn die müden Augenpaare von Menschen anstarrten, die schon lange nicht mehr auf der Sonnenseite des Lebens standen. Er erregte hier als Europäer Aufsehen, das gefiel ihm ganz und gar nicht. „Ich schätze, alle anderen Ausländer hier in Tokyo-3 sind hochbezahlte Fachkräfte…“, ging ihm durch den Kopf. „Scheint ungewöhnlich zu sein, dass sich einer wie ich in so eine Gegend verirrt.“   Nach wenigen Minuten fand er das richtige Hochhaus. Die überquellenden Mülltonnen begrüßten ihn mit ihrem ganz eigenen Geruch. Er wühlte in der Reisetasche nach dem Wohnungsschlüssel und schloss die große Glastür auf, die ins Treppenhaus führte. Immerhin war es hier angenehm kühl. Der Klang seiner Schritte halte von den Wänden wider, als er bis in den vierten Stock lief und in den seitlichen Korridor einbog. „Apartment 403. Das scheint es wohl zu sein“, dachte er, als er die schlecht lesbaren Nummern betrachtete, die über jeder Eingangstür angebracht waren. Die weiße Farbe war auf dem dunkelgrauen Beton kaum noch zu erkennen. Er hatte Mühe, den Schlüssel im Schloss zu drehen. „Auf die Einkaufsliste: Schmieröl!“, sagte er zu sich. Quietschend schwang die Tür nach innen. „Was für ein Drecksloch!“, schimpfte Janko, als er eintrat und die Tür hinter sich schloss. Die Reisetasche ließ er zu Boden gleiten. Er schaltete das Licht an und sah sich um. In dem kleinen Eingangsflur, in dem er sich befand, sah er zu seiner Rechten direkt eine Küchenzeile, bestehend aus einem kleinen Stück Arbeitsplatte, einem Spülbecken, 2 Herdplatten, einem Backofen und ein paar Hochschränken. Immerhin war auch schon ein kleiner Kühlschrank vorhanden. Links von ihm befand sich das kleine Bad mit Toilette, Dusche und Waschbecken. „Nicht mal ein Badezimmerspiegel!“, grummelte er. Hinter dem Flur befand sich nur noch ein anderer Raum, vielleicht vier mal vier Meter groß. Eine Wandseite war mit seinen Umzugskartons vollgestellt worden. Wie er das alles hier vernünftig unterbringen sollte, war ihm jedoch noch ein Rätsel. Eine Standardmatratze lehnte davor, ein Tisch und zwei Stühle standen ebenfalls schon bereit. Das Bett jedoch…   „Ok, im NERV-Lieferservice scheint der Aufbau nicht enthalten zu sein“, sagte er und begutachtete die zwei großen Pakete, die auf dem Fußboden lagen. „Dann hab ich immerhin gleich noch was zu tun.“   Janko ging durch den Raum und zog die schweren, fleckigen Vorhänge zur Seite, die die hintere Wand bedeckten. Dahinter befand sich eine große Fensterfront, an der rechten Seite war eine Glastür eingelassen. Er öffnete sie und trat auf den kleinen Balkon. „Immerhin ne gute Aussicht!“, stellte er erfreut fest. Er lugte nach links. „Dann wird das hier wohl der Balkon von Fräulein Ayanami sein…“, überlegte er. Der Vorbau wirkte unbenutzt, Laub und Dreck lagen in kleinen Haufen auf dem vielleicht 2 Quadratmeter großen, umgitterten Bereich. Er konnte nicht viel mehr erkennen, die Vorhänge des Nachbarapartments waren zugezogen. „Sie scheint sich nicht besonders oft hier raus zu verirren.“   Sein Handy klingelte. Als er es aus der Hosentasche kramte, erkannte er die Nummer. „Mahlzeit, Kollege! Wie ist die Lage? Bereits eingelebt?“, fragte David, nachdem er rangegangen war.    „Lass es mich so sagen: Es würde mich nicht wundern, wenn die hier nachts um brennende Mülltonnen herumtanzen…“, gab er ernüchtert zurück. Er ließ den Blick über den Horizont schweifen. Eine Reihe von künstlichen Seen hielt seinen Blick fest. „Immerhin hab ich nen Balkon. Und das Dach scheint dicht zu sein.“   „Tja, wärst du besser mit zu uns gekommen. Ben und ich sind gestern eingezogen. Die Wohnung ist ja mal der Oberhammer! 5 Zimmer, großer Balkon, ne top ausgestattete Küche und ein riesiges Bad! Ich will hier morgen meinen Geburtstag feiern. Sei bloß pünktlich!“, rief David über schwer definierbaren Werkzeuglärm hinweg. „Ben und ich richten gerade den letzten Krempel ein. Also, Morgen ab 19 Uhr! Und bring ja Schnaps mit! Solange Phil, Thaddäus und die anderen noch nicht hier sind, gönnen wir uns noch ein paar entspannte Tage!“   Das war ja wieder klar gewesen! Die Herren residierten in einem Palast und er musste zusehen, dass er seine wenigen Habseligkeiten überhaupt in diesem Schuhkarton untergebracht bekam! „Ach Scheiße, der Geburtstag!“, schoss ihm durch den Kopf.   ***   Es war später Nachmittag, als die Tests und Nachbesprechungen im NERV-Hauptquartier für diesen Tag zu Ende waren. Rei Ayanami hatte wie immer die Ringbahn bis zu der Haltestelle genommen, an der vor einigen Stunden ein gewisser Neuankömmling ebenfalls ausgestiegen war. Sie marschierte zu ihrem Wohnblock, ohne den Zustand des Viertels groß wahrzunehmen. So war es für sie schon immer gewesen, seitdem sie vor mehr als einem Jahr aus dem Hauptquartier hier hingezogen war, ungewöhnlich früh für ein Mädchen ihres Alters. Aber was war bei ihr schon normal?   Rei öffnete die große Glastür und betrat das Treppenhaus. Die wenigen noch intakten Lampen warfen ihr schummriges Licht über die Wände, als sie in den vierten Stock hochstieg. Als sie den Korridor betrat, der zu ihrer Wohnung führte, sah sie zum ersten Mal seit Tagen einen anderen Menschen in diesem Hochhaus. Sie blieb mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand wie angewurzelt stehen. Der Kerl trug eine schwarze Schiebermütze und ein Polohemd sowie eine Jeans und unauffällige Sneakers. Er balancierte mehrere Einkaufstüten in seinen Händen, während er gleichzeitig versuchte, die Wohnungstür zu öffnen. Ihre Wohnungstür.   „Jetzt geh schon auf, du verdammtes Mistding!“, hörte sie ihn leise vor sich hin fluchen, als sie langsam auf ihn zuging. „Muss in dieser Ruine denn eigentlich alles klemmen?!“ Einige Konserven fielen aus den Tüten und kullerten über den Fußboden. Unter weiteren Flüchen stellte er seine Fracht ab und begann, die über den Fußboden verstreuten Einkäufe wieder einzusammeln. Eine Dose, Suppe, dem Etikett nach zu urteilen, kam genau vor Reis Füßen zum Liegen. Als er danach griff, bemerkte er, dass er nicht mehr allein war. Seine Hand hielt in der Luft inne und er blickte erstaunt auf. „Oh, ähhh… Hi!“, sagte er und richtete sich auf. Er musste ungefähr 1,80m groß sein und war von recht schlanker Statur. Er schien um die 30 Jahre alt zu sein. Schwarzes Haar kam an den Seiten der Schiebermütze zum Vorschein. Für einen kurzen Moment kam es ihr vor, als entglitten seine Gesichtszüge. Einen Augenblick später jedoch setzte er ein kleines Lächeln auf. „Entschuldigung für das Chaos, das ich hier angerichtet habe, aber meine blöde Wohnungstür weigert sich irgendwie, den Schlüssel zu akzeptieren!“   Rei schaute mit nichtssagender Miene von ihm zum Eingang ihrer Wohnung. „Das ist meine Wohnungstür“, sagte sie leise.   Der Mann fasste sich überrascht an den Hinterkopf. „Was? Äh… ok, das erklärt natürlich alles.“ Ein kleines Glucksen entwich ihm. „Diese blöden Nummern sind so verwittert, die kann man ja kaum noch erkennen. Ich bin übrigens Janko Freytag. Ich bin gerade hier eingezogen. Es scheint, als seien wir Nachbarn!“ Er beugte sich noch einmal herab, um die letzte Dose aufzuheben. Rei starrte ihn schweigend an, wie er sie erneut in seine Tüte packte. „Wie heißt du denn?“, fragte er anschließend.   „Mein Name ist Rei Ayanami“, antwortete das blauhaarige Mädchen leise.   „Es freut mich, dich kennen zu lernen, Rei Ayanami“, antwortete der Mann und lächelte sie an. Er begab sich nun zu seiner Wohnungstür und schloss sie auf. Diesmal funktionierte es reibungslos. „Na dann mal auf gute Nachbarschaft, würde ich sagen!“ Er begann, die Tüten in die Wohnung zu packen. Als er alles hineingetragen hatte, steckte er noch einmal den Kopf aus der Tür. „Solltest du einmal Milch oder Salz brauchen, zöger‘ nicht mich zu fragen!“ Und mit diesen Worten schloss er den Eingang.   Rei blieb noch einige Augenblicke nach dem leisen Schließgeräusch regungslos stehen, bis sie selbst in ihre Wohnung ging.   ***   Als Janko die Einkaufstüten abgestellt und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich mit einem tiefen Schnaufen gegen sie fallen und rutschte langsam bis zum Boden herab. Er schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Nach einer Weile beruhigte sich sein Puls.   „Heilige Scheiße, DAS hab ich nicht erwartet!“, dachte er und schaute auf seine Hand. Ganz langsam hörte das Zittern auf. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie angekommen war. Bereits als sie den Korridor betreten hatte, hatte er ihre Präsenz gespürt. Dennoch war er geschockt davon, wie stark die Überraschung gewesen war, als er ihr das erste Mal ins Gesicht geblickt hatte. Das Passbild, das er noch im Flugzeug angeschaut hatte, hatte nichts davon erahnen lassen. Die Statur, die Haltung, der Blick ihrer Augen. ALLES erinnerte ihn an das Mädchen. Das Mädchen von Sarajevo.   „Ich hoffe, ich habe nicht zu viel Bullshit von mir gegeben“, dachte er verzweifelt und fuhr sich durch die Haare. Die Schiebermütze plumpste neben ihm zu Boden. „Hoffentlich hat sie nichts gemerkt. Die ganze Sache ist wohl noch mal um einiges komplizierter geworden.“ Er kämpfte sich hoch und begann, seine Einkäufe zu verstauen. Er wusste bereits jetzt, dass die Albträume heute Nacht wiederkommen würden. Und dabei hatte er jetzt doch tatsächlich mal ein paar Nächte durchgeschlafen!   ***   Eine Wohnung weiter saß eine nicht minder verwirrte Rei auf ihrem Bett und starrte an die Wand. Ihre Beine baumelten von der Bettkante. Langsam streifte sie ihre Schuhe ab. Ihr fiel erst jetzt auf, wie dünn die Wände in diesem Hochhaus tatsächlich waren. Bis heute hatte sie quasi alleine auf dieser Etage gewohnt, sodass eh niemand nebenan war, der Geräusche verursachen konnte. Jetzt hörte sie jedoch gedämpft durch die Wände ihren neuen Nachbarn, wie er mutmaßlich seine Einkäufe wegpackte. Ihre Gedanken rasten.   „‘Es freut mich, dich kennen zu lernen, Rei Ayanami‘ hat er gesagt und gelächelt. So etwas hat noch niemand zu mir gesagt“, dachte sie. Sie legte sich auf den Bauch, mit dem Blick in Richtung Fußende des Bettes. Ihr Kinn ruhte auf ihren Armen. „Freude… Eine Emotion. Eine Emotion, die ich auslöse? Warum? Was ist das? Freude…“ Ein Lächeln konnte Freude auslösen, hatte sie gelesen. So wie Ikari-Kun sie angelächelt hatte, kurz nach dem Kampf gegen den fünften Engel. Hatte sie sich daraufhin gefreut? Sie wusste es nicht mehr. Die Momente, nachdem sie den Partikelstrahl des Engels mit dem Evangelion abgewehrt hatte, kamen ihr im Nachhinein vor wie ein Fiebertraum. Und Freude konnte wiederum ein Lächeln hervorrufen. „Freut er sich… wegen mir?! Aber wieso tut er das?!“   ***   Einige Straßenzüge entfernt kam Misato mit zwei schlechtgelaunten Teenagern im Schlepptau vor ihrer Wohnung an. Die beiden stritten seit Ende des Synchronisationstests unablässig. Irgendwann während der Autofahrt hatte sie aufgehört zuzuhören. Alles, was sie jetzt noch wollte, war ein kaltes Bier und eine warme Dusche.   „Bist du blöd, oder was?“, keifte Asuka ihren männlichen Mitbewohner an. „Natürlich sind meine Harmonix-Werte weiterhin besser als deine! Und das werden sie auch immer sein! Schließlich bin ich eine fertig ausgebildete Pilotin! Nicht so ein Anfänger wie du!“   „Aber meine steigen in einer schnelleren Rate als deine es jemals getan haben! Das hat Ritsuko doch eindeutig gesagt!“, gab Shinji erbost zurück. „Warum kannst du nicht einmal akzeptieren, dass neben dir auch andere Menschen mal Erfolg haben!?“   Misato seufzte leise und suchte nach dem Wohnungsschlüssel. Sie wollte gerade aufschließen, als ein lautes „ACHTUNG!“ zu ihrer Linken sie aufschreckte. Sie fuhr herum, ebenso ihre zwei Mitbewohner. Zwei Männer quetschten sich, eine gigantische Couch auf den Schultern, an ihnen vorbei. Der vordere von beiden, der mit der Brille, balancierte mit der einen Hand das vordere Ende des Möbelstücks auf seiner Schulter, während der hintere Mann versuchte, Schritt zu halten.   „Danke fürs Durchlassen!“, rief der Hintere. „Kannst du wenigstens Bescheid sagen, wenn du losmarschierst?!“, knurrte er schlechtgelaunt. „Jedes Mal flutscht mir dieses Riesending fast durch die Finger!“   „Jaja, hör auf zu flennen wie ein Mädchen. Wir sind ja fast da. Und abstellen auf drei! Eins, zwei, drei!“ Mit einem leichten Rumms landete die Couch auf dem Boden. Die beiden blickten sich um und sahen sich kurz an.   Der Fülligere der Beiden ergriff wieder das Wort. „Oh, cool, jetzt sieht man sich ja mal. David Reimann, hallo zusammen!“, sagte er und hielt seinen Nachbarn seine verschwitzte und dreckige Hand hin. Dies fiel ihm eine Sekunde später dann auch auf, sodass er sie wieder zurückzog. „Nee, so besser nicht. Wie dem auch sei, wir sind gerade neben Ihnen eingezogen.“   Der andere Mann mit der Brille schaltete sich ebenfalls ein. „Ben Jessel mein Name. Herzlichen Glückwunsch, neben Ihnen richtet sich soeben die Chaos-WG ein.“ Ein wütender Blick traf seinen Mitbewohner. „Sorry für den lautstarken Tumult gestern, aber die Möbel bauen sich nicht von alleine auf.“ Er stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn Kollege Reimann hier dann zur Abwechslung auch mal mithilft, sollten heute Abend alle Arbeiten abgeschlossen sein.“   „Freut mich, Misato Katsuragi“, gab die Frau mit den lila Haaren zurück und setzte ein Lächeln auf. Nachdem sich auch Shinji und Asuka vorgestellt hatten, sagte sie: „Wir haben uns schon gefragt, was hier los ist. Das Gepolter war nicht zu überhören.“ Das Lächeln behielt sie bei, sodass die neuen Nachbarn sehen konnten, dass es anscheinend nicht allzu schlimm gewesen war.   „Dann sind wir ja beruhigt. Und jetzt entschuldigen Sie bitte, ich möchte diese Schlafcouch noch vor Einbruch der Dämmerung in die Wohnung kriegen. Ich schlafe KEINE weitere Nacht neben diesem Sägewerk hier!“ Ben zeigte mit spitzen Fingern auf David. „Unser Arbeitgeber war tatsächlich der Meinung, wir sollten uns ein Schlafzimmer teilen!“ Er schüttelte in übertriebener Dramatik den Kopf.   Sein Gegenüber verdrehte die Augen. Dann aber blickte David wieder auf die Drei und sagte: “Da fällt mir ein: Morgen habe ich Geburtstag. Wir wollten abends ein wenig feiern. Kommen Sie doch mal rüber. Dann stoßen wir auf gute Nachbarschaft an!“   Asuka und Shinji blickten skeptisch auf Misato. Diese jedoch zeigte sich begeistert: „Ja, warum eigentlich nicht? Mit Bier kriegt man mich immer geködert!“ Kurz darauf waren die zwei Raufbolde von nebenan diskutierend in ihrer Wohnung verschwunden. Misato schloss ebenfalls die Tür auf. „Na das klingt doch mal nach netter Gesellschaft. Jetzt lasst uns auch mal reingehen. Und Shinji: Hör auf, auf dem Harmonix-Thema rumzureiten! Und du, Asuka: Jetzt stell dich mal nicht so an! Mal gewinnt man, mal verliert man! Ihr habt beide heute einen guten Job gemacht. Und ihr habt jetzt noch einen weiteren: Ihr seid mit Abendessen dran!“   Grummelnd verzogen sich die Streithähne mit ihr in die Wohnung.   ***   Es hatte zwar einige Zeit gedauert, aber schlussendlich hatte Janko alle Einkäufe verstaut und sogar schon sein Bett aufgebaut. Anschließend war er direkt den Inhalt der Schränke durchgegangen und hatte erfreut festgestellt, dass alles, was er an Gerätschaften für die Geburtstagsvorbereitungen brauchte, vorhanden war. David war jedes Mal total aus dem Häuschen, wenn er die Cupcakes nach dem Rezept seiner Tante backte. Warum also nicht auch für morgen? Er holte die entsprechenden Formen und Zutaten aus den Schränken.   Als er begann, den Zucker mit der Butter zu verrühren, wurde er kurz skeptisch und hielt inne. Fragend betrachtete er die Packung. Er steckte den Finger hinein und probierte die weiße, kristalline Substanz. „Scheiße, das ist Salz!“, grummelte er und spuckte ins Spülbecken. Er schaute auf die Uhr. „Mist, zu spät. Die Läden haben auch schon zu…“ Doch dann kam ihm eine Idee. Er setzte sich auf sein Bett und dachte kurz nach. Ein kleines Grinsen huschte über sein Gesicht.   ***   Die Räum- und Baugeräusche nebenan hatten vor einiger Zeit aufgehört. Rei fand es immer noch befremdlich, so viel Aktivität in ihrer Umgebung mitzubekommen. Normalerweise war dieser Hochhauskomplex still wie ein Friedhof. Wenn nicht gerade der Lärm der Baumaschinen, die ihre monotonen Arbeiten in der Nähe verrichteten, an ihr Ohr drang, kam ihr die Anwesenheit in ihrem kleinen Apartment oft so vor wie die regelmäßigen Aufenthalte in dem Tank voll mit LCL tief unten im Central-Dogma. Ein stummes Dahingleiten, durch nichts unterbrochen, was die Stille und Schwerelosigkeit störte. Wie ein Schweben, losgelöst von den Stürmen und Irritationen dieser Welt. Rei hielt gerade eines ihrer Bücher über Genetik in der Hand, als sie ein neues, ungewohntes Geräusch vernahm.   *poch* *poch* *poch*   Was war das?   *poch* *poch* *poch*   Klopfte es etwa an der Tür?   *poch* *poch* *poch*   Sie legte das Buch weg und stand von ihrem Bett auf.   *poch* *poch* *poch*   Tatsächlich, das Geräusch kam von draußen. Sie ging zur Tür und hielt kurz inne. Durch den schmalen Spalt im Boden der Tür konnte sie einen Schatten ausmachen. Dort stand Jemand. Langsam drückte sie die Türklinke herunter und öffnete. Ihr neuer Nachbar stand wieder vor ihrer Tür.   „Hallo Rei“, sagte er und verzog die Mundwinkel in einer eigentümlichen Art und Weise, die sie nicht ganz einordnen konnte. Die Sonne ging langsam draußen unter und schien hinter seinem Rücken zu verschwinden. „Zwar hab ich dir eben meine Hilfe im Falle eines Mangels angeboten, aber ich schätze, jetzt muss ich direkt auf dich zukommen.“ Er zog leicht die Schultern hoch.   „H…hallo“, erwiderte sie kurz.    „Ich bin noch nicht besonders gut darin, japanische Schriftzeichen zu entziffern. Nach dem Einkauf dachte ich, dass ich für alles gerüstet bin, aber irgendwie ist da was schiefgegangen…“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Jedenfalls bin ich jetzt stolzer Besitzer von sechs Kilo feinstem japanischem Salz, aber es fehlt mir an Zucker. Und die Läden haben schon zu… Meinst du, du kannst mir was borgen?“ Er machte eine eigentümliche Geste mit den Händen.   „Zucker?“, fragte sie irritiert. Ihre linke Hand spielte leicht mit der Türklinke, so als wisse sie nicht, ob sie festhalten oder loslassen solle.   Er lächelte wieder. „Ja, ein guter Freund von mir hat morgen Geburtstag und wartet sehnsüchtig auf meine Cupcakes. Du würdest mir damit echt helfen, sonst kann ich mir morgen den ganzen Tag sein enttäuschtes Genörgel anhören.“   Rei drehte sich um und ging zu ihren Schränken. Wenige Wimpernschläge später hielt sie ihm ein Paket hin.   „Oh, vielen Dank! Du hast mir echt den morgigen Tag gerettet!“ Er nahm ihr das Paket aus den Händen und ging zu seiner Wohnung. Er drehte sich noch einmal kurz um. „Hast was gut bei mir!“   Und damit war er auch schon wieder verschwunden.   ***   3. Oktober 2015 Reis Nacht war unruhig gewesen. Es waren nun weniger die Geräusche, die sie aus dem üblichen Trott brachten, als vielmehr das Wissen, dass jemand da war. Nebenan. Und dort lebte. Dinge tat, fluchte, wenn etwas nicht funktionierte (so wie es anscheinend bei seiner Backaktion gewesen war) oder er etwas herunterwarf (zumindest hatte sie das zweimalige Scheppern entsprechend interpretiert). Sie spürte keine Angst, vielmehr war es … ungewohnt. Mit neuen und unvorhersehbaren Ereignissen hatte sie noch nie besonders gut umgehen können. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, war ihr Leben eigentlich immer bestimmten Ritualen gefolgt. Projekt E. Tests. Schule. Wieder Projekt E. Wieder Tests. Gendo Ikari. Projekt E … Aber nun änderte sich ständig alles. Auf einmal waren da die Engel. Die neuen Piloten. Jetzt dieser Nachbar! Es erinnerte sie an eine Lawine, die einen Abhang herunterrollte. Am Anfang war es nur ein kleiner Stein, doch dieser löste schließlich anderen Schutt. Und ganz am Ende war da eine mächtige Front, die ins Tal donnerte und alles veränderte. Straßen, Landschaften, Menschen und deren Schicksale.   „Schlussendlich auch… mich?“, fragte sich Rei, als sie ihre Schuluniform anzog und ihre Schultasche nahm, um die Wohnung zu verlassen. Zwar war Samstag, aber aufgrund des ausgefallen Unterrichts durch die Engelangriffe war, zumindest einmalig, wie es hieß, Unterricht für diesen Tag angesetzt worden. Und da kein anderweitiger Befehl vorlag, hatte sie entschieden, hinzugehen. Als sie die Wohnungstür aufzog und nach draußen ging, trat sie mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Dort auf dem Boden stand eine kleine, schwarze Box. Ein Zettel klebte daran. Sie beugte sich herab und nahm den Zettel in die Hand.   „Dein Anteil ;)“ stand in schnörkelloser Handschrift darauf geschrieben. Und diese zwei seltsamen Zeichen waren am Ende des Satzes zu sehen. Zwar konnte sie sich keinen wirklichen Reim darauf machen, aber dennoch hob sie die Box an. Als sie den Deckel zurückschob, kamen drei runde, braune, tassengroße Kuchen zum Vorschein. Weißer Zuckerguss bedeckte sie. Sie legte den Zettel dazu in die Box und verschloss sie wieder. Sie musste dringend los, sonst würde sie nicht, wie sonst üblich, absolut pünktlich sein. Rei verstaute die Box in ihrer Schultasche und machte sich auf den Weg.   Dieser Tag schien noch seltsamer zu werden als der Letzte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)