Zum Inhalt der Seite

Von Wölfen und Menschen

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Farewell

28. September 2015, Geofront, Japan, Büro des Commanders

 

Gendo Ikari hatte seine übliche Pose eingenommen und blickte starr vor sich hin. Die getönten Gläser seiner Brille ließen nicht im Ansatz erahnen, worauf seine Augen gerichtet waren. Kozo Fuyutsuki stand am Rande des großen Schreibtischs und betrachtete ihn. Wie immer war es nahezu unmöglich herauszufinden, ob der Commander erfreut oder verärgert war. Seine Körpersprache änderte sich nahezu nie.

 

Durch die schiere Weite des Büros fühlte sich Fuyutsuki jeden Tag aus Neue unbehaglich. Es schien als habe man bei der Erbauung des NERV-Hauptquartiers irgendwann nicht mehr gewusst, wie man die oberste Ebene nutzen sollte. Also hatte man praktisch alle Zwischenwände herausgerissen und eine gigantische Halle errichtet, nur befüllt mit einem Schreibtisch, etwas Hardware und einem Bürostuhl. Und es war kalt hier, verdammt kalt.

 

Dennoch blieb die Stimme des Vize-Commanders entspannt. „Ich bin mir nicht sicher, ob SEELE richtig entschieden hat. Der Kampf gegen Israfel hat gezeigt, wie schnell zwei unserer Evangelions außer Gefecht gesetzt werden können, wenn es schlecht läuft. Die alten Männer hätten das Angebot aus Deutschland nicht einfach so wegwischen sollen.“

 

„Nein, ich stimme dem Komitee zu“, antwortete Gendo. „Wir wurden vorher nicht ausreichend über den Fortschritt beim Bau der Evangelion-Einheiten in Deutschland bei NERV-04 in Kenntnis gesetzt. Weder liegen uns genaue Daten über deren technische Spezifikationen noch über deren Piloten vor. Ich lasse nicht zu, dass eine fremde Truppe hier einfach so hereinspaziert.“

 

„Sind es die fehlenden Informationen in den Schriftrollen von Qumran, die Sie so beunruhigen?“, fragte Fuyutsuki.

 

„Nein, ich bin nicht beunruhigt. Adam ist zu uns zurückgekehrt. Die Engel erscheinen genau in der vorhergesagten Reihenfolge. Es gibt keine Abweichung vom Szenario. NERV-04 hat mit viel Geld unsere Erkenntnisse beim Bau der EVAs ebenfalls erfolgreich umgesetzt, mehr nicht.“ Gendo stand auf. „Außerdem ist das Komitee im Moment recht zufrieden mit unserem Fortschritt. Ich werde Ihnen keine weitere Angriffsfläche bieten, indem ich gegen Ihre Entscheidung protestiere. Es würde sowieso nichts nützen.“ Zusammen traten sie an die riesige Glasfront, die einen ausgezeichneten Blick über die Geofront zuließ.

 

„Und was ist mit dieser Warnung bezüglich des pazifischen Feuerrings? Dr. Akagi hielt es jedenfalls nicht für unmöglich.“ Aber noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, wusste der Vize-Commander bereits die Antwort.

 

„Nichts als lächerliches Gerede einer Gruppe Emporkömmlinge, die versuchen, ihre eigene Existenz zu rechtfertigen. Man hätte niemals so viel Geld nach Deutschland pumpen sollen. Die Geofront hat sich als extrem widerstandsfähige Festung erwiesen. Ich werde in dieser mir bekannten Gleichung keine unbekannten Variablen einführen, solange es nicht absolut notwendig ist.“

 

„Dann hoffen wir, dass das auch so bleibt“, antwortete Fuyutsuki.

 

Gendo zeigte keinerlei Regung.

 

***

 

NERV-04, ehemaliger Tagebau Nochte, Oberlausitz, Deutschland

 

Janko Freytag verstaute gerade die letzten Gegenstände aus seinem Büro in Umzugskisten. Zwar würde er nicht besonders viel davon in Japan brauchen, aber allein aus nostalgischen Gründen wollte er nichts hier in Deutschland zurücklassen. Wenn sich alles so entwickelte, wie Thaddäus es angekündigt hatte, würden sie sowieso nicht mehr zurückkehren. Die Anlage wurde aufgegeben, bis auf eine zurückbleibende Rumpfbesatzung, die noch einen kleinen Teil der Forschungsprojekte zu Ende bringen würde, brach eh jeder Mitarbeiter hier die Zelte ab. Also was sollten seine Sachen noch hier?

 

„Ich hab immer noch keine Vorstellung davon, wie sie die Erlaubnis zur Übersendung der Einheiten nach Japan einholen wollen“, dachte Janko. „Aber Befehl ist Befehl. Und es hieß nun mal: Lasst nichts zurück, was Rückschlüsse auf eure Arbeit zulässt. Dann sei es so.“

 

Er starrte auf den Kram, den er in die vorbereiteten Behältnisse packte: Bilder von den ausgearteten Weihnachtsfeiern mit Ben und David, seine Notizblöcke und die Bücher über psychische Grenzerfahrungen, von denen er gedacht hatte, dass sie ihm als Vorbereitung für seinen Drift helfen könnten. Aber nichts hätte ihn darauf vorbereiten können. Die kleinen Andenken, die er aus seinen vorherigen Einsätzen mitgebracht hatte: Hauptsächlich Sand und Steine, hübsch drapiert in kleinen Gläsern, jeweils beschriftet mit Ort und Datum. Er hatte sich immer wieder gefragt, warum er sie aufbewahrt hatte. Was hatten ihm diese Einsätze gebracht außer Verletzungen und Schmerz? „Einen Beitrag zu Frieden und Sicherheit in der Welt leisten“, hatte in den Werbemappen der UN gestanden, als er sich als Soldat eingeschrieben hatte. „Werden Sie Teil der neuen Stabilität! Sorgen Sie für Recht und Ordnung!“ Janko schnaubte verächtlich.

 

„Nein, dieses Kapitel endet jetzt“, sagte er zu sich und nahm die Gläser wieder aus den Umzugskisten. Er betrachtete die angeklebten Schildchen: Darfur, Kiew, Kairo, Sarajevo. Vier Einsätze voller Hoffnung auf eine bessere Welt. Vier „robuste humanitäre Interventionen“. Vier Fehlschläge. Vier Mal zerstörte Hoffnungen, verwüstete Städte, Aufstände und Rückschläge. Und jede Menge Tote. Er warf die Gläser in den Mülleimer.

 

Nur das fünfte Glas behielt er. Jenes mit dem blutgetränkten Sand, den er, kurz bevor er den Einsatzort mit Thaddäus, Ben und David im Schlepptau verlassen hatte, noch schnell in den Behälter geschaufelt hatte. Alice Springs, ein verblassendes Mahnmal. Eine letzte Erinnerung an sein Leben vor EVA. Vor NERV. Vor GEIST. Auch wenn es ihm bis jetzt schwerfiel, sich einzugestehen, dass sie alle Wölfe im Schafspelz waren. Aber genau das mussten sie sein. Die Zeit der Vorbereitung würde nun enden. In Japan würde sich ihr Schicksal offenbaren. Und auch, ob sie ihre Mission erfüllen würden. Oder kläglich bei dem Versuch untergehen. So oder so, die Tür hinter ihm schloss sich. Es gab nur noch den Weg nach vorn.

 

***

 

Janko durchschritt ein letztes Mal den Verwaltungskomplex und erreichte schlussendlich die gigantische unterirdische Halle, in der die Ausrüstung und ihre drei Evangelions gelagert wurden. Hier im ehemaligen Tagebau Nochte, der nach dem Ende der Kohleverstromung aufgegeben worden war, hatte es mehr als genug Platz gegeben, um diesen weitläufigen Komplex unter der Erde zu errichten. Die verschandelte Landschaft an der Oberfläche, die die Kohlebagger hinterlassen hatten, waren das ideale Testgebiet für diese neuartigen Waffen gewesen.

 

Er ging auf einem der metallenen Stege weiter, die auf dem See aus Kühlflüssigkeit schwammen, in dem die EVAs standen. Vor ihm tauchte Einheit X auf, den man intern „Puriel“ getauft hatte. Ein passender Name, wie Janko fand. Dieser schlummernde Gigant, der ihn fast umgebracht hätte. Und das sollte nun im Tandem mit einem Teenagerpiloten besser werden? Der schwarze Riese mit den roten Streifen stand starr in seinem Rückhaltekäfig und blickte ins Nichts. Er erschien wie ein Soldat, der Haltung angenommen hatte. Janko blickte zu ihm hoch. „Das letzte Mal hast du mich beinahe gekillt, du verdammter Mistkerl“, dachte er. „Ich hoffe für uns beide, dass du beim nächsten Einsatz wieder spurst. Sonst wird das ein verdammt kurzes Abenteuer in Japan.“

 

Janko hatte die ursprünglichen Evangelions in Japan bis jetzt nur in Filmaufnahmen gesehen, doch er erkannte, dass sich die Baureihen auch äußerlich unterschieden. Die Pylonen ihrer eigenen Einheiten waren etwas nach innen gebogen und der Torso wirkte ein wenig breiter und bulliger. Statt einzelner Augenpaare bestand die Sichtpartie aus einem durchgehenden Visier. Am auffälligsten an Einheit X waren jedoch die relativ dicken Unterarme. Seine Einheit war für den unmittelbaren Nahkampf konzipiert worden, so war es also nicht verwunderlich, dass sich an jedem Unterarm ein ausfahrbares Schwert befand. Die hatten ihm im Kampf schon gute Dienste geleistet. „Naja, jedenfalls im Simulator“, dachte Janko bei sich.

 

Rechts neben Puriel befand sich Einheit Y, auch Asmodeus genannt. Der blau-gelbe Koloss wirkte ebenso so starr wie sein schwarzrotes Gegenstück, hielt aber bereits sein berüchtigtes Multitool in der Hand. Diese seltsame Lanze war der ganze Stolz jener Forschungsabteilung, die für die Instandhaltung und Weiterentwicklung der Waffen zuständig war. „Ganz großes Tennis!“, rief David und trat neben ihn. „Na, immer noch neidisch auf das Spielzeug? Auf Knopfdruck Axt, Hammer oder Lanze… Ich freu mich schon, damit bald richtig auf nen Engel einzuprügeln.“

 

Azrael – Einheit Z – hatte zu Puriels linker Seite Stellung bezogen. Auf der dunkelgrünen Panzerung spiegelten sich die Deckenleuchten, die die Halle mit ihrem bläulichen Neonschein überzogen. Auch Ben war hergekommen, um sich von seinem Evangelion zu verabschieden. „Macht ihr euch mal da vorne die Hände schmutzig“, sagte er, „Ich bleib lieber auf Abstand.“

 

„Wenn die Kaijus und Engel dich lassen…“, gab Janko zurück.

 

Die drei Piloten hörten Schritte hinter sich. Thaddäus ging langsam auf sie zu, die Hände in den Taschen seines Kittels vergraben. „Ich hoffe, dass der Abschiedsschmerz nicht zu groß für euch wird.“

 

„Das hängt ganz davon ab, wie lange es bis zum nächsten Wiedersehen dauert“, antwortete Ben.

 

Thaddäus kramte in seinen Taschen und holte drei neue Reisepässe hervor. Er verteilte sie. „Damit wird es keine Probleme am Flughafen geben. Die alten Pässe waren computerseitig mit der Arbeit hier bei NERV verknüpft, sodass ihr damit an den Grenzen schneller vorangekommen wärt. Da wir aber weiterhin so wenig Aufsehen wie möglich erregen wollen, haben diese Pässe hier keine Verknüpfung mehr. Ihr seid ab jetzt offiziell Piloten.“

 

„Piloten? Aber das sind wir doch jetzt schon…“. David schaute verwirrt.

 

„Zivile Piloten, David. Falls ihr gefragt werdet, was ihr in Japan macht: Ihr seid Mitarbeiter einer neuen Airline, die demnächst von dort aus fliegt und wartet auf eure Maschinen. Hier sind eure ‚Arbeitsverträge‘, die Flugtickets und die Visa.“

 

„Ihr habt tatsächlich an alles gedacht“, gab David anerkennend zurück und blickte auf das Ticket. „Upps! Ich sollte jetzt wohl auch mal meine letzten Sachen packen. Mein Flug geht in weniger als 12 Stunden…“ Und mit diesen Worten verschwand er schnell Richtung Bürokomplex. Auch Ben verabschiedete sich kurze Zeit später.

 

Thaddäus war die nachdenkliche Miene, mit der Janko vor sich hinstarrte, nicht entgangen. „Was ist los, Kollege?“

 

Sie gingen ein Stück den Korridor entlang, der sie schlussendlich in den Aufenthaltsraum führte. Janko zog sich einen Kaffee am Automaten. „Ich weiß nicht, Thaddäus… Das ist ein ziemliches Wagnis, das wir hier eingehen.“

 

„Nur dafür wurde diese Organisation geschaffen. Alles, was wir in den letzten Jahren erarbeitet haben, wird nun in Japan seine Feuertaufe erleben.“

 

Janko kramte in seinen Hosentaschen und fand schließlich, wonach er suchte. Die E-Zigarette gluckerte leicht, als er den ersten tiefen Zug nahm. Weiße Dampfwölkchen umhüllten ihn und hingen schwer in der Luft. Sie passten zu seiner Stimmung. „Und dieses Mädchen, Rei Ayanami… Du denkst, dass sie den Drift mit mir schaffen kann? Denn wenn das nochmal schiefgeht, weiß ich nicht ob noch was von meinem Verstand übrigbleibt. Und ihr würde ich so eine Erfahrung auch gerne ersparen.“

 

„Diesmal wird es funktionieren. Wir haben euch ‚Pilotenpaare‘ nach ganz bestimmten Überlegungen zusammengestellt. Ihre medizinischen Daten und ihr psychologisches Profil sind vielversprechend. Im Nachhinein ist uns klargeworden, dass Ben und David mit dir gar nicht kompatibel sein konnten. Ihr seid zu ähnlich: Alter, Erfahrung, Lebenslauf, Verhalten. Es ist schwer zu beschreiben, aber für Drift-Kompatibilität scheinen zu große Ähnlichkeiten zu Problemen zu führen.“

 

„Na schönen Dank auch… Hättet ihr da nicht draufkommen können, bevor ihr diesem Biest mein Hirn auf nem Silbertablett serviert?“, stänkerte Janko, als er sich in eine neue Wolke hüllte.

 

„Ich werde dir die Unterlagen vor deiner Abreise noch zusammenstellen. Dann hast du auf dem Flug was zu lesen.“ Thaddäus machte Anstalten zu gehen. „Und tut mir ja einen Gefallen: Bleibt unter dem Radar, solange ihr allein in Japan seid! Fallt nicht auf! Geht es mit den Children langsam an.“

 

„Naja, bei mir brauchst du dir da keine Sorgen machen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob David mit ‚nicht auffallen‘ umgehen kann.“ Beide mussten lachen.

 

Janko umarmte den Doc noch einmal zum Abschied. „Wir sehen uns dann wohl, sobald ihr die Freigabe für Japan habt… Wenn ihr es denn tatsächlich schaffen solltet, dass SEELE seine Meinung ändert.“

 

Thaddäus rückte seine Brille zurecht. Ein belustigter und dennoch eisiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Oh, die werden wir bald bekommen, sei unbesorgt. Sie werden schon bald geradezu um Verstärkung betteln. Und wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe mich noch um die Verladung von ungefähr 35.000 Tonnen Material zu kümmern. Alleine eure dicken Spielezeuge wiegen zusammen knapp 10.000 Tonnen! Wo soll ich nur so viele Umzugshelfer herkriegen?!“ Mit einem Grinsen drehte er sich um und war verschwunden.

 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück