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Von Wölfen und Menschen

von

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Das Schokotrauma

21. September 2015, Tokyo-3

 

Shinji Ikari war früh auf den Beinen an diesem Montag. Die Zikaden zirpten noch lauter als üblich an diesem Morgen. Oder kam es ihm nur so vor? Noch etwas müde, aber von dem anschwellenden Konzert mehr genervt als üblich stand er auf, um Frühstück zu machen. In der Küche wartete bereits Pen-Pen auf ihn, nachdem er sich angezogen hatte.

 

„WUAAAGH!“, schallte es herüber.

 

„Guten Morgen, Kleiner“, begrüßte ihn Shinji. „Du hast sicher Hunger, was?“

 

Der kleine Pinguin schlug seine Flossen zusammen, als applaudierte er dem Menschen für seine schnelle Auffassungsgabe. Ungeduldig wartete er darauf, dass Shinji die aufgetaute Sardinenbüchse öffnete. Wenige Minuten später schlang er auch schon sein Frühstück herunter, während Shinji es sich mit einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch gemütlich gemacht hatte. Er wollte gerade nach der Zeitung greifen, als er Schritte Richtung Küche hörte.

 

„Hey, Third Child, willst du der siegreichen Kämpferin nicht mal Frühstück machen?!“, schallte es herüber.

 

Shinji seufzte, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Er warf die Zeitung wieder an ihren angestammten Platz und stand auf. Seit ihrem Sieg bei dem Kampf gegen den Engel im Inneren des Vulkans vor vier Tagen hatte Asuka nicht mehr aufgehört, von sich selbst wahlweise als „Killer Queen“, „siegreiche Kämpferin“ oder „einzig würdige Pilotin“ zu sprechen. Shinji sparte sich Ausführungen zu seinem herabgeworfenen Prog-Messer, welches ihr schlussendlich den Sieg beschert hatte. Immerhin war sie recht gut gelaunt seitdem, was seiner körperlichen und mentalen Gesundheit bis jetzt ganz guttat.

 

Er ging hinüber zum Kühlschrank. „Es ist noch genug von gestern da, ich werde uns schnell etwas für die Schule vorbereiten“, gab Shinji zurück. Ein leichtes Stöhnen kam von Asuka.

 

„Och, müssen wir wirklich wieder dahin? Ich kann doch eh nur die Hälfte der Aufgaben lesen…“

 

„Misato hat mich gestern extra noch einmal darauf hingewiesen, dass unser ‚Engel-Sonderurlaub‘ heute endet. Wir müssen also wieder zum Unterricht“, antwortete Shinji, während er die Reste des Abendessens aus dem Kühlfach holte und in ihre Boxen packte.

 

„Warum müssen wir überhaupt dahin? Ich meine, die Rettung der Welt liegt auf unseren Schultern. Wieso dann sowas Profanes wie Schule?!“ Asuka lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete, wie Shinji alles verstaute. Der kleine Pinguin hatte unterdessen sein Mahl beendet und watschelte zurück zu seinem Kühlschrank.

 

„Damit ihr ein Stück Normalität leben könnt, ganz einfach“, warf Misato ein und quetschte sich an Asuka vorbei, als sie die Küche betrat. „Es ist wichtig, dass ihr auch einen normalen Rhythmus habt, damit ihr nicht ganz den Bezug zur Außenwelt verliert. Nur bei NERV rumzuhängen ist nicht gut für euch. Und das ist keine Bitte, sondern ein Befehl. Also los, anziehen und Abmarsch!“

 

Grummelnd verzog sich Asuka ins Bad. Shinji richtete seinen Blick auf die ältere Mitbewohnerin. „Danke für deine Unterstützung, Misato-San. Ich hatte schon befürchtet, sie ganz alleine überzeugen zu müssen.“

 

Misato lächelte. „Kein Problem, Shinji-Kun. Ich bin schließlich sowas wie eure Erziehungsberechtigte, und das nehme ich durchaus ernst. Und jetzt geh weg vom Kühlschrank, mein Morgenbier wartet!“

 

***

 

Asuka lief wieder gut zwei Meter hinter Shinji, als sie die ersten Straßenkreuzungen auf dem Weg zur Schule hinter sich gelassen hatten.

 

„Das ist anstrengend, Asuka!“, beschwerte sich Shinji zum wiederholten Male. „Lauf doch bitte einfach neben mir!“

 

„Damit du mir lüstern auf den Hintern gucken kannst?! Vergiss es, Hentai!“, schallte es von hinten. Asukas Stimmung an diesem Morgen hatte sich immer noch nicht wirklich gebessert.

 

Shinji seufzte. Würde das jemals enden? Er wusch ihre Wäsche, bügelte ihre Klamotten und, verdammt noch mal, wohnte mit ihr zusammen. Er hatte über den Tag verteilt wohl mehr als genug Gelegenheiten, sie anzustarren. Wenn er es denn wollte. Was jetzt nicht so ganz fernab der Realität war, obwohl er es, schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus, kaum zugeben würde. Er versuchte es mit einem Themawechsel.

 

„Hast du’s schon gehört? Unsere Nachbarn ziehen wohl aus“, versuchte er erneut ein Gespräch in Gang zu bringen.

 

„Ach echt? Ne, das ist mir neu… Warum, das übliche ‚Stadt-als-Schlachtfeld‘-Argument?“, fragte Asuka.

 

Treffer. Tatsächlich ein anderes Thema!

 

„Ich weiß es nicht, Misato hat es mir gestern Abend kurz erzählt. Wohl ein Todesfall in der Familie, mit der Möglichkeit, ein Haus in der Nähe von Tokyo-2 zu erben“, antwortete Shinji. Er blieb an der Fußgängerampel stehen und drückte den Knopf. Asuka hielt neben ihm an.

 

Er schielte zu ihr rüber. Ein rüdes „Trotzdem Augen nach vorne, Baka!“ folgte sogleich.

 

„Naja, wenn ich auf einmal zu Geld kommen würde und keine Aufgabe hätte, würde ich auch von hier wegziehen“, sagte Shinji. „So toll ist Tokyo-3 nun auch wieder nicht.“

 

„Ach Quatsch! Die Stadt ist doch super! Alle paar Wochen machen wir ein paar Straßenzüge bei einem Kampf mit ‘nem Engel platt und dann entsteht schon wieder was Neues. Es wird also nie langweilig hier!“ Sie fummelte mit ihren Fingern in ihrer Schultasche herum. Ein kleiner Seufzer folgte. „Wobei ich zugeben muss, ein wenig mehr Geld könnte nicht schaden… Ich bin schon wieder pleite. Wann kommt NERV denn eigentlich mal auf die Idee, uns zu bezahlen? Ich würd‘ mir nachher gern was aus dem Schulautomaten ziehen.“ Ein Geistesblitz erhellte ihr Gesicht. „Third Child, du hast doch immer ein paar Reserven übrig. Was hältst du davon, wenn du der unumstrittenen Nummer Eins einen ausgibst?!“

 

Shinji verdrehte innerlich die Augen. „Naja, äh, ich denke, da lässt sich was machen…“

 

„Sehr gut. Und wenn Misato sich wundert, sag ihr einfach, ein brutaler Schulhofschläger hätte dir dein Essensgeld abgenommen!“ Die Ampel schlug um auf grün und die beiden setzten sich wieder in Bewegung.

 

„Ich denke, ich wohne schon mit der größten Gefahrenquelle der Schule zusammen. Das lässt sich kaum noch toppen“, dachte er bei sich.

 

***

 

Einige Blocks entfernt machte sich Rei Ayanami ebenfalls fertig für den Schultag. Auch wenn sie bei dem letzten Einsatz nicht mit zum Vulkan geflogen war, hatte sie die Schule nicht besucht. Ihre Klassenkameraden hatten den Schulausflug zwar bereits vor einigen Tagen beendet, aber ohne expliziten Befehl hatte sie keine Notwendigkeit gesehen, in den Klassenraum zurückzukehren. Es war ohnehin nicht von Belang. Erst die Anweisung, die sie gestern Abend erhalten hatte, bewog sie zu diesem Schritt.

 

Rei zog ihre Schuluniform an und schaute noch einmal in den Badezimmerspiegel. Sie starrte für einige Sekunden in die Augen ihres Gegenstückes.

 

„Spiegelbild… Ein Abbild eines Menschen…“, dachte sie. „Und doch nicht mehr.“

 

Sie zog die Tür des kleinen Apartments hinter sich zu. In der Ferne waren bereits so früh am Morgen die Baumaschinen zu hören. Bagger und Walzen ebneten einen anderen alten Wohnblock in der Nähe ein. Der Staub der nahegelegenen Baustelle wehte immer mal wieder als feiner Film an die Wände ihrer Unterkunft und sorgte für noch weniger Lichteinfall, als es die kleinen Fenster sowieso schon taten. Zumindest wäre ihr dies aufgefallen, hätte sie jemals die Vorhänge zur Seite gezogen. Wäre sie auf ihren kleinen Balkon getreten, der, entgegen der Hässlichkeit des sonstigen Gebäudekomplexes, einen malerischen Blick auf Tokyo-3 ermöglichte, so hätte sie sogar die neu entstandenen künstlichen Seen erkennen können, die sich allmählich mit Wasser füllten. Doch Rei interessierte sich nicht für derlei Dinge. Niemand hatte ihr je gezeigt, was die Schönheit der Landschaft in einem Menschen auslösen konnte. Niemand hatte ihr je irgendetwas gezeigt, was nicht unmittelbar mit den EVAs und der Erfüllung ihrer Mission zu tun hatte.

 

Sie ging den Außengang des Apartmentkomplexes in Richtung Treppenhaus entlang, ihre Schultasche über der Schulter.

 

„403… 404… 405…“ Sie schaute auf die abblätternden Nummern über den einzelnen Wohnungseingängen. Zahlen mochte sie. Sie waren vorhersehbar. Planbar. Rational. Eine folgte auf die Andere, nahm man wieder Zwei weg, so wusste man schon vorher das Ergebnis. Menschen waren nicht so einfach. Sie verhielten sich… unvorhersehbar. Der Umgang mit ihnen fiel ihr schwer.

 

Auf ihrer Etage wohnte außer ihr schon längst keiner mehr. Auch im Treppenhaus begegnete sie niemandem. Sie hatte mal einzelne Leute auf die zweite und dritte Etage gehen sehen. Aber schlussendlich lebte in diesem abbruchreifen Komplex jeder alleine vor sich hin.

 

Als sie den Bürgersteig betrat, fügte sie sich schnell in den zunehmenden Verkehr ein. Wie ein Fisch im Schwarm glitt sie mit Pendlern, Joggern und anderen Schulkindern den bekannten Weg entlang. Sie schaute auf die Uhr der Apotheke, die an der Straßenkreuzung auftauchte. In ihrem Kopf dividierte sie die noch notwendigen Schritte zur Schule durch die Anzahl der Schritte, die sie pro Minute lief. Ihren Berechnungen nach würde sie absolut pünktlich sein. Das war ausnahmsweise etwas, was ihr Vergnügen bereitete.

 

***

 

Als der Schulgong für diesen Tag zum letzten Mal ertönte, machten sich Asuka und Shinji auf zum NERV-Hauptquartier. Die Sonne schien und tauchte Tokyo-3 in ein friedliches, spätsommerliches Licht. Auch wenn sich die Jahreszeiten nach dem Second Impact immer noch nicht vollständig wieder eingependelt hatten, so kam es den Bewohnern der Stadt zumindest vor, als schwanke die Intensität und Dauer des Lichts leicht im Jahresrhythmus. Weder Shinji noch seine Begleiterin wollten die verbleibende Stunde bis zum nächsten Synchronisationstest in den stickigen Abteilen der Ringbahn verbringen, sodass sie sich für den Fußweg entschieden. Asuka kaute an einem Schokoriegel, den ihr Shinji nach Schulende noch aus dem Automaten in der Cafeteria geholt hatte. Sie verzog leicht das Gesicht, als sie hineinbiss.

 

„Ist da Reis drin?“, fragte sie mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck. „Müsst ihr Japaner das Zeug eigentlich überall reinfüllen?“

 

„Naja, ehrlich gesagt hätte dir das vorher klar sein können. Da ist Reis auf der Packung abgebildet…“, gab Shinji zurück.

 

Sie warf ihm den Riegel zu, als sie um die nächste Straßenecke bogen. „Hier, iss das Ding doch selbst! Ein Verbrechen sowas… Reis in Schokolade packen…“ Sie stöhnte auf. „Hach, was gäbe ich jetzt nur für ein ordentliches Snickers (™)!“

 

Shinji fing den Riegel auf und schüttelte innerlich den Kopf. „Das war das letzte Mal, dass ich ihr was gekauft hab!“, dachte er.

 

Plötzlich tauchte Rei neben ihnen auf. Oder war sie die ganze Zeit schon da gewesen? Sie hatte schließlich den gleichen Weg wie sie. Asuka erschrak leicht.

 

„Musst du dich so anschleichen, Wunderkind?!“, blaffte sie in leicht gespielter Erregung. Rei blieb stumm, so wie meistens.

 

Schweigend setzen sie ihren Weg zu dritt fort, während Shinji nun an dem Riegel kaute. Als er fertig war, warf er das zerknüllte Papier in einen am Straßenrand stehenden Mülleimer. Er versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen.

 

„Sagt mal, wie viele weitere Evangelions sind eigentlich noch im Bau?“, fragte er in die Runde. Rei reagierte nicht, Asuka schien kurz nachzudenken.

 

„Keine Ahnung“, gab sie zurück. „Ich hab‘ bei NERV-03 in Hamburg keine weiteren gesehen, bevor ich hier hin versetzt wurde. Es gibt aber noch eine weitere Niederlassung irgendwo in Ostdeutschland, soweit ich weiß. Was auch immer die da treiben…“

 

„Es wird so viele geben, wie notwendig sind“, sprach Rei, kaum hörbar.

 

„Was soll das denn heißen, hmm?“, fragte Asuka. „Notwendig sind sowieso keine weiteren, jetzt wo mein vollständig einsatzbereiter Evangelion hier ist. Und bloß nicht noch mehr Piloten, um die ich mich dann im Gefecht auch noch kümmern muss!“ Sie verzog das Gesicht.

 

„Naja, aber es macht schon Sinn, oder? Damit Ersatz da ist, falls mal mehrere unserer Einheiten schwer beschädigt werden. Man weiß ja nie, was die Engel als Nächstes anstellen“, meinte Shinji. 

 

„Aber jetzt, wo du’s sagst, kam mir die zweite Niederlassung in Ostdeutschland immer schon seltsam vor. Es hieß immer: ‚Da wird geforscht…‘ Aber wirkliche Ergebnisse haben wir nie präsentiert bekommen. Mein EVA wurde jedenfalls vollständig in Hamburg gebaut!“

 

„Das Hauptquartier hat Platz für fünf weitere Einheiten.“ Rei starrte weiter geradeaus, als sie sich dem ersten Checkpoint näherten und sie mit ihren Fingern in der Tasche nach ihrem Ausweis suchte.

 

„Du scheinst dich ja besonders gut auszukennen, Rei“, meinte Shinji anerkennend.

 

Sie blickte zu Boden. „Naja, ich bin schon wesentlich länger hier als ihr beide. Ich habe vom Bau der Anlage mehr mitbekommen.“

 

„Wie lange bist du eigentlich schon hier?“, fragten Shinji und Asuka fast zeitgleich.

 

Doch eine Antwort auf die Frage erhielten sie nicht.



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