Der Edelig-Mord von Futuhiro (Magister Magicae 8) ================================================================================ Kapitel 1: Die Vision --------------------- Mit einem genervten "Fuck ey!" und einem groben Ruck zog Victor am Saum seines Ledermantels, mit dem er sich in einem Dornengebüsch verfangen hatte. Er war gerade einem ehemaligen Motus-Jäger auf den Fersen, befand sich auf seiner Spurensuche aber inzwischen in der tiefsten Pampa. Langsam hatte er keine Lust mehr, den Kerl noch weiter zu verfolgen. Wo in aller Namen wollte der bitte hin? Hier draußen gab es doch absolut gar nichts!? Velibor war ein eher ungewöhnlicher Fall. Er war ein ganz normaler Mensch. Dass solche Typen als Genius-Jäger arbeiteten, war untypisch, da sie den magisch begabten Genii in der Regel im Kampf nichts entgegenzusetzen hatten. Dennoch hatte sich Velibor gut auf sein Handwerk verstanden. Er hatte ein Talent dafür gehabt, Succuben zu finden und ihnen vor allem nicht auf den Leim zu gehen. Eine recht nette Gabe für den Sklavenmarkt, wo Succuben viel Geld einbrachten, mehr aber auch nicht. Nur hielten sich Succuben, soweit Victor wusste, nicht hier draußen in der Wildnis auf, wo sie gar keine Opfer fanden. Er fragte sich, was der Jäger sonst hier suchte, so fernab jeglicher Zivilisation. An sich lohnte es kaum, Velibor überhaupt zu verfolgen. Er war ein zu kleiner, unbedeutender Fisch. Er hatte es in der Motus nie zu viel Einfluss gebracht und sich auch nie durch überdurchschnittliche Skrupellosigkeit hervorgetan. Aber Victor war nicht wählerisch. Wenn er gerade nichts Besseres zu tun hatte, jagte er alle Motus-Handlanger, die ihm vor die Nase kamen, vor allem wenn sie trotz des Niedergangs der Motus heute immer noch aktiv waren. Jeder Wichser, der aus dem Verkehr gezogen wurde, war ein guter Wichser. "Ach, takoje dermo!", fluchte er ungeniert vor sich hin. "Leck mich doch am ..." Als der Gestaltwandler sich aus dem Dornengestrüpp befreit hatte und wieder nach vorn schaute, hatte er Velibor in der Ferne aus den Augen verloren, was ihn dazu veranlasste, seinen Fluch unvollendet hängen zu lassen. So ein Mist. Wohin war der so schnell verschwunden? Hier gab es zwar genug Verstecke, aber welchen Grund sollte der Kerl haben, sich zu verstecken? Er konnte unmöglich gemerkt haben, dass er verfolgt wurde. Dafür hatte Victor viel zu viel Abstand gehalten. Irgendetwas anderes musste ihn in die Deckung getrieben haben. Der schwarzhaarige Russe wollte gerade weitergehen, um Velibor zu suchen, doch als er das am Himmel kreisende Wesen bemerkte, warf er sich selbst schnell in das nächstbeste Gebüsch. Dabei war er trotz seiner Reflexe glücklicherweise noch bei genug Verstand, um sich nicht erneut für die Dornenhecke zu entscheiden. Alles weitere beobachtete er zunächst aus diesem Versteck heraus, bis er die Lage wieder besser einschätzen konnte. Victor hatte die Kreatur anhand der Form ihrer Schwingen zunächst für einen Greif oder Mantikor gehalten. Als sie näher kam, offenbarten sich jedoch eher menschliche Proportionen, woraufhin Victor kurz auf einen Tengu tippte. Das wäre unschön gewesen, denn Tengus waren als Gedankenleser im Ernstfall nicht so leicht zu übertölpeln. Doch dann sah er den langen Dämonen-Schwanz und erkannte endlich eine Succubus in dem Neuankömmling. Unglaublich, hier draußen auf eine Succubus zu treffen. Aber es erklärte, was Velibor hier wollte: der Motus-Handlanger war auf der Jagd. Velibor kam wieder aus seiner Deckung gekrochen und platzierte sich gut sichtbar auf einer Freifläche, offensichtlich um die Succubus auf sich aufmerksam zu machen. Die geflügelte Frau mit den langen, weinroten Haaren nahm auch sofort Kurs auf ihn, landete in der Nähe und begann augenscheinlich ein Gespräch mit ihm. Da sie beschäftigt und ausreichend abgelenkt schien, wagte auch Victor sich wieder aus seinem Versteck und versuchte, möglichst unbemerkt näher heranzukommen. Selbst über diese Entfernung konnte er beobachten, wie Velibor sie plötzlich packte und die schreiende, sich wehrende Frau zu Boden rang. Irgendwoher hatte er ein Seil zur Hand und begann sie grob zu verschnüren. Obwohl sie wild mit den Flügeln schlug, ließ er sie nicht mehr vom Boden hochkommen, geschweige denn abheben. Schließlich zog er sich auch noch einen Schal vom Hals, den er zuvor selbst getragen hatte, und wickelte ihn der Succubus mehrfach auf Kieferhöhe um den Kopf, um sie mundtot zu machen. Ihr Gezeter verschwand unter der dämpfenden Wolle. Victor, der inzwischen nah genug herangekommen war, um einen Waffeneinsatz zumindest endlich in Erwägung ziehen zu können, zog eine Pistole hinterrücks aus seinem Hosenbund und marschierte forschen Schrittes los. Auf Deckung achtete er von hier an nicht mehr. Stattdessen ballerte er im Vorwärtsgehen sein erstes Magazin leer. Velibor zog reflexartig seine eigene Waffe, warf sich aber angesichts des Dauerbeschusses zunächst mit eingezogenem Kopf auf den Boden und robbte auf allen Vieren davon. Victor folgte ihm, ununterbrochen weiter schießend, bis die Waffe nur noch im Leerlauf klickte. Das Magazin auszutauschen, kostete Victor lediglich zwei Handgriffe, dann schoss er weiter. Wieder klickte der Leerlauf. "jo-majo", fluchte er frustriert. Das Ding KONNTE noch nicht leer sein. Die Waffe musste aufgrund der viel zu schnellen Schussfolge, für die sie nicht ausgelegt war, wohl Ladehemmung haben. Er ließ die Pistole einfach zu Boden fallen und zog seine zweite aus dem Hosenbund. Und ballerte weiter, um seinen Gegner an Kontermaßnahmen zu hindern. Dabei bekam er den Motus-Jäger schließlich so ins Visir, dass er ihn trotz der Entfernung auch endlich traf. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, seinen Gegner mit einem einzigen, vernünftigen Schuss umzunieten. Aber das Gelände war zu unübersichtlich für einen goldenen Blattschuss, und zu voll mit Sichtschutzen. Der Gestaltwandler ging ohne viel Umschweife hin und sah nach, dass der Kerl auch wirklich tot war, bevor er sich um dessen Opfer kümmerte. "Alles okay bei dir?", wollte er stoisch wissen, während er der gefesselten Dämonin den Knebel vom Mund zog. "Ja. Danke", keuchte sie, als sie wieder reden konnte. Victor sah sich die Fesseln an, entschied, dass er jetzt keine Lust hatte, diese Knoten per Hand aufzufummeln, und kappte das Seil einfach mit seinem Taschenmesser, um sie zu befreien. „Du hast mir das Leben gerettet!“, meinte sie, vor Aufregung noch ganz außer Atem. „Wie kann ich dir das jemals danken?“ „Das musst du nicht. Wenn ich helfen konnte, reicht mir das schon“, schmunzelte Victor. Das Leben gerettet hatte er ihr vermutlich nicht, aber sie immerhin vor einem sehr unschönen Sklaven-Dasein bewahrt. Er musste sich hart am Riemen reißen, sie nicht zu genau anzuschauen. Die Frau war überwältigend sexy und betörend, wie alle ihrer Art. Succuben waren Verführer. Sie waren heiß und fesselnd. Man konnte sich ihren erotischen Reizen kaum entziehen. Diese hier war da keine Ausnahme. Auch Victor fühlte sich massiv von ihr angezogen und verlockt, kämpfte aber mit dem Verstand bewusst dagegen an, um dem von ihr ausgelösten Trieb nicht zu erliegen. „Doch, doch, ich will mich erkenntlich zeigen!" "Jetzt hör schon auf, deine Pheromone zu versprühen. Ich will wirklich nichts von dir", bat er nochmals. "Nagut", lenkte sie etwas enttäuscht ein. Tatsächlich lies Victors Begehren daraufhin nach, was ihn etwas beruhigte. Sie hatte aufgehört, ihre sexuellen Reize gewollt einzusetzen. Natürlich war sie für ihn immer noch attraktiv, aber er konnte nun wieder besser damit umgehen. "Aber ich weiß was anderes", meinte sie euphorisch. "Ich werde dir zum Dank einen Blick auf die Zukunft gewähren. Was hältst du davon? Und zwar nicht nur auf irgendeine allgemeine. Sondern auf eine, die dich auch wirklich persönlich betrifft.“ Victors Schmunzeln blieb. „Du kannst die Zukunft sehen?“ „Besser! Ich kann DICH sehen lassen!“ Ohne viel Federlesen schnappte sie nicht nur Victors Hand, sondern förmlich seinen ganzen Unterarm, als bräuchte sie möglichst viel Körperkontakt für ihre Fähigkeit. Und ehe er noch etwas einwenden konnte, geschah es auch schon. Gelassen schaute er zu, wie die Welt um ihn herum in dunkelgrauem Dunst versank. Victor hatte keine Angst vor ihr. Auch wenn Succuben als "Dämonen" betitelt wurden, waren sie keine Dämonen im theologischen Sinne, die mit irgendeiner Art Hölle oder einem Teufel in Verbindung gestanden hätten. Sie waren ganz normale Genii wie alle anderen Fabelwesen auch. Velibors Leiche und die Landschaft ringsum verschwanden. Es blieb nur knöchelhoher, träger, dunkler Bodennebel. Und mittendrin drei Personen: Ruppert Edelig und zwei Motus-Jäger. So sahen also Zukunfts-Visionen aus. Interessiert schaute Victor sich um. Er erkannte die zwei Jäger wage wieder. Es waren Cord, ein menschlicher Bann-Magier, und sein Schutzgeist Third Eye, eine Banshee. Third Eye hatte die Gabe, hinter die Maske von Genii zu schauen, die gerade in ihrer menschlichen Tarngestalt herumliefen. Das war bei der Motus eine hoch gefragte Fähigkeit gewesen und hatte ihm seinen Namen eingebracht. Beide kannte Victor nur flüchtig, und auch nur deshalb, weil Vladislav sie mal wegen irgendeines Fehltritts zusammengestaucht hatte. Sie hatten beide lange, verfilzte, blonde Haare und man brauchte kein Hellseher zu sein, um ihnen die Verbrecher-Natur anzusehen. Der Cord aus dieser Zukunfts-Vision hob eine Pistole und gab Ruppert einen Kopfschuss, was Victor und die Succubus, die noch an seinem Arm hing, gleichsam zusammenzucken ließ. Beide schauten fassungslos zu, wie Ruppert zu Boden ging. Mit einem entsetzten Keuchen brach die Dämonin die Vision ab und holte Victor ins Hier und Jetzt zurück. Auch der Russe schnappte erschüttert nach Luft. „Du hast das auch gesehen, oder?“ „Ja ...“ „Wann passiert das?“, wollte er aufgebracht wissen. „In wenigen Tagen schon.“ „Ist dieses Schicksal noch änderbar?“ Die Succubus schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein. Falls die beiden aufgehalten werden sollten, werden andere kommen und es vollenden.“ „Scheiße …“ „Es tut mir leid“, meinte sie leise und mit schlechtem Gewissen. „Ich hab vorher nicht gewusst, was wir zu sehen kriegen würden. Ich wünschte, ich hätte dir eine glücklichere Zukunft schenken können.“ „Ist schon gut. Ich danke dir trotzdem dafür“, hielt er mit etwas verbissenem Gesicht dagegen. Dabei zog er Zettel und Stift aus seiner Manteltasche und zeichnete ein Symbol auf das Papier. Dieses drückte er der verdutzten Frau mitten auf die Stirn. „Du wirst diese Vision wieder vergessen. Du hast das nie gesehen“, trug er ihr dabei auf. Es war sein bester und irreversibelster Gedächtnislösch-Zauber. Das letzte, was er brauchen konnte, war, dass sie jetzt auch noch zur Polizei ging. Das machte es nur noch komplizierter. Mechanisch und kaum ganz bei klarem Verstand stand er dann auf und ging sich um Velibors Leiche kümmern, die er wie immer spurlos verschwinden lassen musste. Er war gar nicht mehr ganz bei der Sache. In seinem Kopf überschlug sich alles. Die Succubus blieb auf dem Boden sitzen, schaute ihm zwischen verständnislos und beleidigt nach, und rieb sich die Stirn. Sie fragte sich sichtlich, was das gerade gesollt hatte. Kapitel 2: Der Deal ------------------- Es war eigentlich aussichtslos, darüber zu grübeln. Trotzdem war Victor in schweren Gedanken, als er querfeldein durch die Landschaft zurück zu seinem Auto stapfte. Er schaute nicht einmal, wohin er überhaupt ging, sondern verließ sich darauf, den Weg zurück intuitiv zu finden. Natürlich hätte er eine flugfähige Gestalt annehmen und den Weg zurück zum Auto deutlich schneller zurücklegen können. Aber er hatte sich bewusst für die Wanderung zu Fuß entschieden, denn er wollte die Zeit zum Nachdenken nutzen. Sicher hätte er es bewerkstelligen können, Cord und Third Eye noch rechtzeitig zu finden. Und er hätte sie auch aufhalten können. Aber was hätte es genützt? Die Dämonin hatte eindeutig gesagt, dass dann andere kommen würden, um Ruppert umzubringen. Andere, von denen er vorher nicht wusste, wer sie waren oder wann sie zuschlagen würden. Warum waren die überhaupt hinter Ruppert her? Seit wann jagten die ihre eigenen Leute? Seit wann jagten Motus-Mitglieder überhaupt Menschen? Dieses Kartell hatte es sich klipp und klar auf die Fahnen geschrieben, gefährliche Genii zu jagen und die Menschen vor ihnen zu schützen. Und schlimmer noch: Victor wusste, dass Cord und Third Eye in einem Konglomerat ehemaliger Motus-Aktivisten mit drinsteckten, die untereinander noch Kontakt hielten. Der Mord an Ruppert Edelig würde bestimmt vorher abgesprochen gewesen sein. Wenn Victor den Mord verhinderte, würde es schnell und unkontrolliert die Runde machen, dass er den Bankenbesitzer schützte. Sobald irgendwer spitz kriegte, dass Ruppert ihm wichtig war, blühte Ruppert Schlimmeres als der Tod. Ganz zu schweigen davon, was der alles über Victor ausplaudern könnte, wenn die Befragungsmethoden nur hart genug wurden. Ruppert würde nichtmal dem bloßen Gedanken an Folter standhalten. Und ihm, Victor, würde es keinen Deut besser ergehen. Wenn die Ruppert lebend in ihrer Gewalt hatten, konnten sie Victor zu ALLEM zwingen. Sie hätten das Druckmittel schlechthin gegen ihn in der Hand gehabt. Schon zu Motus-Zeiten hatte Victor Ruppert in seine konspirativen Machenschaften eingeweiht, immer wenn er dem Boss ins Handwerk gepfuscht hatte. Nach dem Untergang der Motus hatte Ruppert ihn sogar wochenlang versteckt und später finanziert. Aber nicht grundlos hatten Victor und Ruppert sich stets kühl und distanziert aufgeführt und die Freundschaft, die sie beide insgeheim verband, nie offen gezeigt. Er hätte sich mehr darüber erzählen lassen sollen. Die Succubus hatte gewusst, wann der Mord stattfinden würde, und dass im Bedarfsfall andere Attentäter kommen würden. Sie schien solchen Visionen mehr Informationen entnehmen zu können, als man mit dem bloßen Auge sah. Aber Victor war so geschockt und aufgebracht gewesen, dass er nichtmal nach dem Ort gefragt hatte, wo Ruppert ermordet werden würde. Die Umgebung hatte er ja nicht gesehen. Außer den drei Personen war alles dunkelgrauer Rauch gewesen. Allerdings … je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihm auch bewusst, was er ebenfalls nicht gesehen hatte: nämlich Urnue. Wo war der in dieser Vision eigentlich gewesen? Würde der gar nicht da sein, wenn es geschah? Was würde aus ihm werden? Als Victor eine gefühlte Ewigkeit später endlich im Auto saß und dieses wie in Trance durch den Straßenverkehr steuerte, kreisten seine Gedanken immer noch unaufhörlich um Urnue. Lenken, Schalten, Gas geben, Bremsen, Vorfahrt beachten, rote Ampeln und Ruppert und Urnue, es war alles eins. Ein einziger Wahrnehmungsbrei. Eine synthetische Realität ohne jeden sinnvollen Zusammenhang. Wann immer Victor in London gewesen war, hatte er dem Hause Edelig einen Besuch abgestattet. Oft genug heimlich, ohne dass Ruppert es überhaupt gemerkt hatte. Victor hatte einfach nur nach dem Rechten gesehen. Oftmals war auch alles gut gewesen. Aber bei mindestens der Hälfte seiner Besuche hatte Victor live miterlebt, wie Ruppert seinen Schutzgeist niedergemacht hatte. Eine erschreckend hohe Quote, an der Victor sich stets gestört hatte. Es war kein Geheimnis, dass Ruppert nicht sonderlich viel auf Genii hielt, am wenigsten auf seinen eigenen Genius Intimus. Urnue war als Kind zu ihm gekommen, als Ruppert selbst schon erwachsen gewesen war, und hatte ihn anfangs natürlich beileibe nicht beschützen können. Entsprechend hatte Urnue nie einen guten Stand gehabt. Ihn deshalb aber zu beleidigen, mit sinnlosen Verboten zu gängeln, ihn in Kampfsituationen ins offene Messer laufen zu lassen, oder ihn gar zu schlagen, hatte Victor immer als grausam empfunden. Meist war es nur eine Ohrfeige gewesen. Victor hatte sich in der Regel nicht eingemischt, da ihm das seiner Meinung nach nicht zustand. Rupperts Erziehungsmethoden waren Rupperts Sache. Und Urnue war in seinen Augen auch ein wenig selber Schuld, wenn er sich sowas selbst heute im Alter von 40 Jahren noch gefallen ließ. Aber Victor hatte sich die Situationen dennoch gut gemerkt. Als er gesehen hatte, wie Ruppert Urnue mit Fäusten und einem Ledergürtel verprügelt und sogar gewürgt hatte, war er dann doch irgendwann eingeschritten. Er mochte den unverdorbenen, moralisch einwandfreien, erfrischend freundlichen Wiesel-Genius einfach zu sehr, um das noch durchgehen zu lassen. Sie waren ein sonderbares Gespann, sein kühler, distanzierter, aber mächtiger Freund Ruppert, und dessen herziger Schutzgeist Urnue, der sich von Ruppert protestlos unterbuttern ließ. Victor konnte und wollte auf keinen von den beiden wirklich verzichten. Nicht nur, weil sie seine einzigen, echten Freunde waren. Sie waren in dieser ganzen kriminellen Welt aus Mord und Flucht vor dem Gesetz auch sein moralischer Anker. Victor war ein Mörder, egal wie man es drehte und wendete und schönzureden versuchte. Er rannte mit einer Knarre durch die Gegend und schoss Kriminelle über den Haufen, die er nicht der laschen Justiz überlassen wollte. Ruppert und Urnue hielten ihn davon ab, endgültig selber so zu werden wie die Motus-Typen, die er jagte. Sie führten ihm, jeder auf seine Weise, immer wieder vor Augen, was er hier eigentlich tat, und warum er das tat, und wo dieses finstere Unterfangen Grenzen haben musste. Sie erinnerten ihn daran, seine humane Seite nicht zu vergessen. Sie hielten ihn bei Verstand und sorgten dafür, dass er nicht überschnappte. Nicht über das Ziel hinausschoss. Sie waren sein Gewissen und seine Stimme der Vernunft. Victor hatte Angst, ohne die beiden den Kompass zu verlieren. Während Victor über all das nachgrübelte, kam er schließlich schweren Herzens zu einer Entscheidung. Er musste Cord und Third Eye einen Besuch abstatten, es half nichts. Auch wenn diese beiden unbedeutenden Dilettanten ihm bisher völlig egal gewesen waren und er sie aus eigenem Antrieb wohl kaum behelligt hätte, wusste er ziemlich genau, wo er sie finden würde. Cord saß am Esstisch, sein Genius Intimus drüben auf dem Sofa hinter einem niedrigen Couchtisch. Im Zimmer herrschte stumpfes Dämmerlicht und die Luft stach von Zigarettenqualm. Beide hatten einen Berg loser Patronen vor sich ausgekippt und befüllten in aller Ruhe Pistolenmagazine mit der Munition. Third Eye hatte gerade ein Stangenmagazin komplett bestückt, legte es auf die Tischplatte, und griff nach dem nächsten, leeren. Dazu grabschte er sich eine Faust voll Patronen und begann sie eine nach der anderen mit dem Daumen ins Magazin zu drücken. "Ich glaube, wir brauchen bald eine neue Bleibe", brummte Cord. "Wieso?" "Ljubomir hat so einen Kommentar fallen lassen, dass sich das Bordell nicht rentiert. Ich glaube, der Laden hier wird bald dicht machen." "Wie kann sich denn ein Puff nicht rentieren? Vielleicht sollte er sich mal um zahlende Kundschaft bemühen, und nicht immer nur mit Typen wie uns Vorlieb nehmen." "Was meinst du?", wollte Cord gelangweilt wissen, warf sein aufgefülltes Stangenmagazin auf den Tisch, lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. "Naja, du musst schon zugeben, dass das hier ne komische Beschäftigung ist, im Hinterzimmer eines Puffs zu sitzen und Patronen in Magazine zu laden", merkte Third Eye humorlos an und hielt seines dabei vielsagend hoch. "Wenn es wenigstens nur unsere eigenen wären, hätte ja keiner was gesagt. Aber ich wüsste gern mal, für wen wir die alle befüllen. Mit der ganzen Munition kann man ja eine kleine Armee ausstatten. Was sagt dir das über Ljubomirs Freundeskreis?" Der Vorhang aus Perlenschnüren bewegte sich rasselnd. Die beiden schauten fragend herum, in der Erwartung, dass Ljubomir, der Besitzer dieses Bordells, in der Tür stehen würde. Doch Cord sprang ungelenk von seinem Stuhl hoch, als er sah wer da tatsächlich gerade den Raum betrat, und stieß diesen dabei halb um. Er strauchelte beinahe mit dem Stuhl zu Boden. „Scheiße! Du!?“ Auch sein Genius Intimus riss reflexartig die Hände in die Höhe, als würde er unversehens mit einer Pistole bedroht werden. Victor Akomowarov kam gelassen und ganz selbstverständlich hereinspaziert. „Macht euch nicht die Mühe, gastfreundlich zu sein. Ich bleibe nicht lange", brachte der langhaarige Junge mit dem Ledermantel es gleich auf den Punkt und krachte einen Sack voll Goldmünzen vor Cord auf den Esstisch. Die lose herumrollenden Patronenhülsen segelten in alle Richtungen davon. "Mich führt nur ein Anliegen her.“ Der bärtige, verlottert aussehende, dürre Typ schaute überfordert zwischen ihm und dem Geld hin und her. Schon irgendwie paradox, dass sie hier auf stapelweise Munition saßen, aber keine einzige Knarre in Reichweite hatten, war sein erster Gedanke in dieser Situation. Aber langsam gewann er seine Fassung wieder und registrierte, dass der unangemeldete Besucher ebenfalls keine Waffe in der Hand hielt. Was natürlich nicht bedeutete, dass der keine bei sich getragen hätte. Kaum ein Motus-Mitglied, das Akomowarov später nochmal begegnet war, konnte noch von der Begegnung berichten. Für gewöhnlich machte der jung aussehende Kerl alles kalt, was er vor die Nase bekam. Wieso sollte es hier und heute anders sein? „Wie ich höre, wollt ihr Ruppert Edelig ermorden.“ „Ja, wollen wir", stellte Cord vorsichtig klar. Dann nahm er Haltung an und legte etwas großspuriger nach: "Und du wirst uns nicht aufhalten“ „Nein-nein, ich WILL euch gar nicht aufhalten! Ermordert Ruppert! Weg mit ihm!“, stimmte Victor mit einer wegwerfenden Handbewegung zu. „Ich hab kein Interesse an ihm. Aber sein Schutzgeist, den brauch ich noch!“ „Wie bitte?“ „Tut mir einen Gefallen und setzt ihn irgendwie außer Gefecht, ohne ihn umzubringen. Viel von meiner Arbeit wäre umsonst gewesen, wenn ihr den einfach kalt macht.“ „Hä!?“, machte Cord wenig geistreich, als könne er seinem Gegenüber nicht ganz folgen. „Was willst du mit dem?“ „Informationen“, log Victor aalglatt. Auf diese Frage war er natürlich vorbereitet. „Und ich sorge dafür, dass er keine Lust verspüren wird, auf Rachefeldzug zu gehen. Ihr braucht euch um ihn keine Sorgen machen“, versprach er ernsthaft. „Ihr werdet nie wieder von ihm hören. Und von mir übrigens auch nicht.“ Cord winkte seinen Schutzgeist näher, welcher sich jedoch nur zögerlich vom Sofa erhob und beim Näherkommen einen sehr argwöhnischen Eindruck machte. „Mir gefällt die Sache nicht. Der Typ ist spooky. Was sollen wir machen?“, raunte Cord ihm leise ins Ohr, in der irrwitzigen Annahme, der Besucher würde ihn nicht verstehen. „Ääääähm~“ Der Schutzgeist schaute nachdenklich auf den Sack Münzen. „Wenn er uns im Gegenzug wirklich von seiner Todesliste streichen will, sollten wir keine Fragen stellen und tun, was er sagt. Sonst haben wir wohl keine Gelegenheit mehr, das hier noch schnell auszugeben“, raunte Third Eye mit einem Fingerzeig auf das Gold. „Und ich meine, was soll´s? Der Genius Intimus interessiert uns doch eh nicht. Vergessen wir eben im Eifer des Gefechts, ihn noch um die Ecke zu bringen. Wenn wir´s klug anstellen, wird er nichtmal als Zeuge zu gebrauchen sein, weil er wirklich nichts gesehen hat.“ "Eins müsst ihr mir aber mal noch verraten", mischte sich Victor wieder in die Diskussion ein. "Was genau habt ihr eigentlich plötzlich gegen unseren Finanz-Chef?" Third Eye wischte sich die verlotterten, ungekämmten, blonden Haare aus dem Gesicht und zuckte dann unschlüssig mit den Schultern. "Weiß nicht. Ist nur ein Auftrag." "Von wem?" "Von so ´nem anonymen Penner. Wir haben ihn für Geheimdienst gehalten und keine Fragen gestellt, weißt du? Mit denen können wir uns Ärger nicht leisten." Victor zog ein tadelndes bis strafendes Gesicht, kommentierte das aber nicht weiter. "Habt ihr auch den ausdrücklichen Auftrag, seinen Schutzgeist mit zu beseitigen?" "Nein. Es war nur von Edelig die Rede." "Gut. Dann viel Erfolg", meinte Victor humorlos. Er deutete mit den Augen nochmals vielsagend auf den Sack Gold, um die beiden an seinen Deal zu erinnern, und ging. Er wollte hier nicht länger bleiben als unbedingt nötig. Anonyme Auftraggeber, so ein verdammter Mist. Solche Typen fand man nie wieder, egal wieviel Mühe man sich gab. Und es sah solchen Idioten wie Cord und Third Eye auch überaus ähnlich, keine Fragen zu stellen, sondern sich bestenfalls noch für die Höhe des Schecks zu interessieren. Victor war sich sicher, dass die beiden wirklich nichts über ihren dubiosen Auftraggeber wussten. Kapitel 3: Der Auftrag ---------------------- Cord und Third Eye saßen in ihrer Deckung und warteten. Cord hatte lose ein Scharfschützengewehr über dem Schoß liegen, machte aber noch nicht den Eindruck, sein Opfer sehr bald zu erwarten. Sein Genius Intimus sah das mit Blick auf die Uhr anders. Durch Akomowarovs Eingreifen hatten sie ihren Einsatz in ziemlicher Eile umplanen müssen. Wenn sie nicht gesehen werden durften, vor allem nicht von dem überlebenden Schutzgeist, dann mussten sie völlig anders agieren als angedacht. „Das wird schiefgehen“, maulte Third Eye unmotiviert. „Wieso? Wir haben ihn hier zu irgendeinem abgelegenen Anwesen auf den Orkney-Inseln eingeladen, unter dem Vorwand, es ihm verkaufen zu wollen. Was soll da schiefgehen?“ „Glaubst du, er hat sich vorher nicht schlau gemacht, wem die Bude wirklich gehört?“ „Und wenn schon“, hielt Cord dagegen. „Wir könnten doch beauftragte Immobilienmakler sein. Oder Bevollmächtigte.“ Sein Genius Intimus seufzte hinnehmend. „Wir werden sehen. Was ist eigentlich mit dem tatsächlichen Besitzer von dem Haus?“ „Ist gerade 14 Tage im Urlaub. Wir sind also ganz ungestört. Mach dir lieber Gedanken um Edeligs Schutzgeist. Über den weiß nämlich keiner was.“ „Keine Sorge. Mein Bannkreis hält jede Art von Genius auf. Ich mach mir mehr Gedanken um Akomowarov.“ Cord schaute ihn fragend an. „Wieso?“ „Hast du dich nicht gewundert, wieso er uns bezahlt, statt uns aufzuhalten? Ich kann einfach nicht glauben, dass er diesem Mord einfach tatenlos zusehen wird. Und das war echt ne Menge Holz, das er uns gestern gegeben hat. Er wollte um jeden Preis, dass wir auf seinen Handel eingehen.“ „Er ist doch selber ein Vielfach-Mörder. Wahrscheinlich nehmen wir ihm sogar noch Arbeit ab. Edelig gehörte zur Führungsetage. Würde mich nicht wundern, wenn Akomowarov selber hinter dem her war.“ Der Schutzgeist gab ein zustimmendes Brummen von sich und versank dann in dumpfes Brüten. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden. Über ihnen sang ein Vogel, um sie herum rauschten die Baumwipfel im Wind, es war alles unverschämt friedlich. "Sag mal", hob Cord irgendwann wieder ein Gespräch an. "Du kannst doch sehen, welche Art Genius du vor dir hast, auch wenn der gerade in menschlicher Gestalt rumläuft." "Für gewöhnlich", grummelte die Banshee maulfaul, ohne ihn anzusehen. "Keiner weiß, was Akomowarov wirklich ist. Die ganze Motus hat jahrelang rumgerätselt, aber keiner hat´s rausbekommen. Nichtmal der Boss. Hast du gestern gesehen, was er ist, als er bei uns am Tisch stand?" Third Eye kratzte sich unbehaglich mit einem Finger an der schlecht rasierten Wange. "Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich habe kurz was gesehen, als ich nah genug ran kam, ja." "Und? Was ist er!?", hakte Cord, sofort Feuer und Flamme, nach. "Also ICH denke, er ist ein Silant." "Ein Drachenvogel?" Third Eye nickte. "Sogar ein doppelköpfiger." "Du meinst wie das Wappentier Russlands?" "Jedenfalls sahen Silanten in den Büchern immer ziemlich so aus wie er. Aber ich hab noch nie einen echten gesehen, zum Vergleich." "Krass, Mann, die sind verdammt selten und mächtig. Kein Wunder, dass er so ein starker Magier ist und ihm keiner was kann." Third Eye änderte unwohl seine Sitzhaltung. "Hör zu, er hatte sich gut mit Magie abgeschirmt. Er wollte definitiv nicht, dass ich sehe, was er ist. Ich weiß, dass viele ein Interesse daran haben, aber du solltest mit dieser Information trotzdem nicht hausieren gehen. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dass er ein Silant ist, und du das rumerzählst, wird er uns umbringen. Und selbst wenn ich falsch liege, wird er das nicht witzig finden. Wenn Akomowarov so ein Geheimnis drum macht, was für eine Art Genius er ist, dann hat er sicher Gründe dafür." "Ein Doppelkopf, Mann", fantasierte Cord begeistert weiter. "Die haben zwei Köpfe, also zwei Gehirne. Schon das allein macht sie übermächtig. Man sagt sogar, dass jeder Kopf andere Fähigkeiten hat. Ist dir klar, dass das erklären könnte, warum der Kerl so viele verschiedene Magie-Arten beherrscht? Es kann gar nicht anders sein. Er MUSS ein doppelköpfiger Silant sein." Third Eye merkte spürbar auf. „Hörst du das Auto? Ich glaube, sie kommen", wechselte er das Thema. Cord brachte sein Scharfschützengewehr in Anschlag und bezog Position. Vor ihm erstreckte sich ein Waldweg, links und rechts von Bäumen flankiert, den er von seiner Deckung aus gut überblicken konnte. Der Waldweg machte eine Biegung. Dahinter lag der Parkplatz, und eine Schranke sorgte dafür, dass man diesen Parkplatz auch benutzte. Von dort aus ging es nur zu Fuß weiter. Edelig und sein Schutzgeist mussten um die Ecke gelaufen kommen, anders ging es gar nicht. Angespannt hörte sie zu, wie ein Automotor ausging. Wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Dann kam ein älterer, dicklicher Mann im grauen Anzug um die Ecke gelaufen. Mit einer Aktentasche in der Hand. Die Banshee ging ebenfalls in Lauerhaltung. "Hast du schonmal jemanden erschossen?" "Nein." "Soll ich?" "Nein!" "Kriegst du das hin?" "Klappe, du Nuss!" Gespannt verfolgten sie Ruppert Edeligs Weg. Third Eye wurde in seiner Deckung unruhig. „Er ist alleine“, raunte er überrascht. „Cord, er ist alleine! Was machen wir jetzt?“ Ruppert Edelig marschierte ungerührt und zielsicher den Waldweg zum Anwesen hinauf. Er kam immer näher. Cord nahm das Auge vom Zielfernrohr. „Er kann doch nicht alleine sein!? Magier sind NIE ohne ihren Schutzgeist unterwegs!“ „Na siehst du ihn denn irgendwo?“, zischte Third Eye fahrig zurück und begann sich rundherum umzusehen. „Er muss hier irgendwo in der Umgebung sein. Vielleicht haben die uns nen Hinterhalt gestellt?“ In diesem Moment glühte hinter Ruppert Edelig ein bläulich leuchtender Bannkreis auf dem Boden auf. Mit einem gepressten Laut manifestierte sich darin ein zweiter Mann in schwarzer Lederjacke und ging dann übergangslos ohnmächtig zu Boden. Sie sahen, wie Ruppert Edelig erschrocken herumfuhr und die zwei Schritte zu dem Bannkreis zurückeilte. Third Eye zog eine Augenbraue hoch. „Okay, Thema geklärt“, meinte er nüchtern. „Der Schutzgeist war einfach nur unsichtbar. Wahrscheinlich auf der Astralebene versteckt. Also denn, Cord, dein großer Auftritt. Du hast freie Schussbahn.“ Cord betrachtete sein Opfer noch einen Moment durch das Zielfernrohr. Er hatte Ruppert Edelig mit einem präzisen Schuss direkt ins Herz umgelegt. Toter ging es nicht. Und Third Eyes Bannkreis hielt ebenfalls, was er versprach. Der Genius Intimus lag drinnen und rührte sich nicht mehr. „Sauber“, kommentierte Third Eye diese gelungene Arbeit von der Seite. Mit einem Durchatmen nahm Cord das Gewehr beiseite, schaute sich suchend in der Umgebung um und musterte auch kurz die Wolken über sich. "Was hast du?" „Schon komisch. Ich dachte wirklich, Akomowarov würde es doch noch verhindern. ... Na schön. Richten wir uns hier ein und warten“, entschied er mit einer Ruhe, die einem soeben begangenen Mord in keinster Weise angemessen schien. „Warten?“, gab Third Eye ungläubig zurück. „Du willst am Tatort bleiben? Worauf warten wir denn?“ „Weiß ich noch nicht. Aber was glaubst du, was Akomowarov mit uns macht, wenn der Schutzgeist von den falschen Leuten gefunden wird?“ „Das ist mir doch egal, von wem der gefunden wird! Unser Deal war lediglich, ihn am Leben zu lassen!“ „Möglich“, nickte Cord stoisch. „Aber wenn die falschen Leute ihn finden – sagen wir mal, die Bullen zum Beispiel – wird Akomowarov nicht mehr an seine Infos kommen. Oder auch wenn er GAR NICHT gefunden wird und da drin verhungert und verdurstet.“ „Cord!“ „Nicht meine Schuld." Er legte sich das Gewehr wieder quer über den Schoß und lehnte sich bequem zurück. "Hättest du den Bannkreis eben so entworfen, dass er sich nach ein, zwei Stunden von selber wieder auflöst.“ „Das ging nicht. Das hab ich dir doch erklärt! Ich musste ihn so konstruieren, dass er erst aktiviert wird, wenn ein Genius hineintritt, sonst hätte der Schutzgeist ihn schon von weitem gespürt. Das geht nicht zusammen mit einem automatischen Ausschalter.“ „Dann geh ich kein Risiko ein und bleibe hier. Akomowarov ist nicht sehr nachsichtig. Und wenn er uns einmal gefunden hat, dann wird er uns auch wieder finden. Das nächste Mal lässt er uns wahrscheinlich nicht mehr laufen, wenn wir´s verbocken.“ Die Banshee verschränkte mürrisch die Arme, diskutierte aber nicht mehr weiter. Er sah sich förmlich die nächsten drei oder vier Tage hier sitzen. Lange mussten sie aber gar nicht warten. Nach einer reichlichen Stunde kreiste plötzlich ein Greif am Himmel und ging schließlich auf dem Waldweg zu Boden. Nur wenige Meter neben der Stelle, wo sich Ruppert Edeligs Blut verteilte. Der Greif nahm eine menschliche Gestalt an. Ein kleingeratener, zierlicher Mann mit schwarzem Ledermantel und schwarzen Haaren. Verwundert brachte Cord sein Gewehr wieder in Stellung, um durch das Vergrößerungs-Zielfernrohr zu schauen. „Sieh mal an. Da ist er.“ „Hätte nicht gedacht, dass der persönlich herkommt“, merkte Third Eye halb irritiert, halb erleichtert, an. Also zum Glück kein ungewollter Zeuge, der ebenfalls noch abgeschossen werden musste, weil er zuviel gesehen hatte. Er spähte ebenfalls gebannt aus der Deckung, ob der schmächtige Hänfling im Ledermantel auch ganz sicher kein Double war. „Alter, knall ihn ab! Freie Schussbahn, Mann!“ „Nein.“ „Warum nicht? Der Boss wäre begeistert.“ „Mit Sicherheit. Aber siehst du den grünen Schimmer, der ihn umgibt?“ „Nein!?“, erwiderte der Genius und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um vielleicht etwas besser erkennen zu können, was da passierte. „Er hat sich gerade mit einem Bann umgeben, der Kugeln an ihm vorbeileitet. Er kann im Moment nicht erschossen werden. Der Versuch würde ihn nur auf uns aufmerksam machen.“ Third Eye gab bloß einen unzufriedenen Laut von sich. „Ein nützlicher Bann. Sehr schwierig, und leider sehr kurzlebig. Er hält nur zirka 15 Minuten und lässt sich auch nicht mehr so schnell auffrischen. Aber in diesen 15 Minuten …“ Cord ließ den Satz hängen und überließ es der Fantasie seines Genius, sich vorzustellen, was man alles tun konnte, solange man kugelsicher war. Victor ging mehrere Male um den Bannkreis herum, der Urnue gefangen hielt. Er war simpel und funktional. Nicht dermaßen primitiv, dass Victor eine Falle dahinter vermuten musste, aber doch trivial genug für sein Niveau. Das Werk eines pragmatisch denkenden Praktikers. Trotzdem studierte er jedes Zeichen und jede Linie genau, um eventuell versteckte Überraschungen nicht zu übersehen. Er fand keine. Also getraute er sich letztlich, den Bannkreis aufzuheben. Urnue blinzelte mit einem müden Seufzen die Augen einen Spalt breit auf. Es fiel ihm schwer, ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Das erste, was er bewusst erkannte, war das Gesicht, das über ihm schwebte. „Dragomir?“, murmelte er verwundert. „Was tust du hier? Ist was passiert?“ „Ich hab dich gerade aus einem Bannkreis gezogen“, meinte der Russe und zog dabei ein unerklärlich elendes Gesicht. „Bannkreis?“ Urnue brauchte noch ein paar Momente, um seine Gedanken zu sortieren. Dann zuckte seine Hand plötzlich zur Herzgegend und seine Augen weiteten sich erschrocken. „Was stimmt hier nicht!?“, keuchte er, schlagartig hellwach. „Ruppert!“ Mit suchendem Blick fuhr er hoch und herum. „Urnue, bleib hier!“ Victor versuchte den Wiesel-Genius in eine Umarmung zu ziehen, um ihn aufzuhalten, aber es war zu spät. Der hatte seinen im Blut schwimmenden Schützling bereits entdeckt. „Ruppert!“, rief Urnue nochmals panisch. „Sieh nicht hin, U.!“ „Lass mich los!“, verlangte Urnue und begann wild zu strampeln. „Er ist tot. Du kannst nichts mehr tun“, versuchte Victor ihm in betont ruhigem, tröstendem Tonfall klar zu machen. Aber es half nichts. Er musste den sich wehrenden Urnue kurzzeitig freigeben, weil ihm die körperliche Überlegenheit fehlte, um ihn weiter festzuhalten. „Nein!“, schrie Urnue immer wieder. „Du darfst nichts anfassen, U.! Das hier ist ein Tatort! Du darfst die Leiche nicht bewegen!“ Victor versuchte Urnue am Jackensaum wieder wegzuzerren. „Wir müssen hier weg, hörst du? Überlass Rupperts Körper der Polizei, komm schon.“ Urnues Gestammel, wenn es überhaupt noch Sinn ergab, war so in Tränen erstickt, dass man es ohnehin nicht mehr verstand. „Komm schon. Lass uns verschwinden!“, bat Victor nochmals eindringlich. „Ruppert! Warum!?“ Der Russe zog Urnue nachdrücklich am Ellenbogen auf die Beine, aber der sackte einfach stur wieder in sich zusammen. „Wieso konnte ich es nicht verhindern?“ „Weil du bewusstlos in einem Bannkreis lagst, darum! Und jetzt komm!“ „Lass mich los!“, verlangte Urnue verzweifelt. Victor nahm seine Greifengestalt an, schnappte Urnue einfach kompromisslos um die Mitte und hob mit ihm ab, um davonzufliegen. „Na schön, Akomowarov hat, was er wollte. Können wir dann jetzt verschwinden?“, murrte Third Eye gelangweilt in seiner Deckung. „Nein.“ „Wieso denn immer noch nicht?“ „Wir können die Leiche nicht einfach da liegenlassen. Was glaubst du, was hier losgeht, wenn die Cops den finden!?“ "Wenn dieser Schutzgeist da jemals wieder auf der Bildfläche auftaucht, dann hab ich vor dem Boss mehr Angst als vor den Cops. Ich hoffe, Akomowarov hält sein Versprechen, dass man von dem nichts mehr hören wird", gab die Banshee mürrisch zurück und warf sich die langen, verfilzten, blonden Haare über die Schultern nach hinten. "Findest du, wir hätten Akomowarov sagen sollen, dass der Boss höchstpersönlich unser 'anonymer Auftraggeber' war? Das hätte ihn bestimmt interessiert." "Bist du bescheuert? Wenn der auch nur den leisesten Verdacht schöpft, dass wir mit Vladislav noch in Kontakt stehen, sind wir geliefert!", jaulte Cord hysterisch auf. Sein Genius zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Der Boss sitzt im Knast. Akomowarov weiß das. Er weiß selber, wo er den Boss findet. Dafür braucht er unsere Hilfe nicht." "Nein, aber zufällig exekutiert er alle Leute, denen er immer noch einen ausreichenden Bezug zur Motus andichtet, du Spatzenhirn. Offensichtlich hält er uns für ungefährlich, und nicht für Vladislavs verlängerte Augen und Arme außerhalb der Gefängniszelle, sonst hätte er uns wohl kaum am Leben gelassen! In diesem Glauben sollten wir ihn verdammt nochmal lassen!" Kapitel 4: Die Konsequenzen --------------------------- Victor schaute abwägend auf das Handydisplay. Das Handy war stumm geschalten und summte nur im Vibrationsalarm. Victor war gerade eher zufällig darauf gestoßen, weil es ansonsten grabesstill war. Auf dem Display stand als eingehender Anruf nur eine Nummer, kein Name. Aber wer sollte auf diesem Handy schon groß anrufen? Diese Nummer dürfte kaum jemand kennen. Nach kurzem Überlegen ging er doch ran. "Wer spricht da?", wollte er ohne jede Begrüßung oder Namensmeldung wissen. Aus einer Intuition heraus auf Englisch, da auch Urnue klassischerweise immer Englisch sprach. Am anderen Ende herrschte zunächst irritiertes Schweigen. "Ähm ... Hier ist Nyu", meldete sich dann doch noch eine junge Mädchenstimme. "Und mit wem spreche ich?" "Ah", machte Victor erkennend. Er erinnerte sich gut an die Harpyie, die der Schutzgeist von Rupperts jüngerem Sohn war. "Hier ist Akomowarov." Abermals schien die Anruferin überlegen und den Namen erst einordnen zu müssen. "Dragomir?" "Ja, so nennen Ruppert und Urnue mich wohl für gewöhnlich." "Warum hast du Urnues Telefon?", wollte Nyu verwirrt wissen. "Weil ich bei ihm bin. Er kann gerade nicht reden." "Geht es ihm gut?" Victor musterte den schlafenden Genius. Rupperts Tod lag bereits einen Tag zurück. Victor hatte sich in einem billigen Motel eingemietet, das keine blöden Fragen stellte, und sich mit Urnue in dem Zimmer verschanzt, um ihn unter Aufsicht zu halten. Den konnte man im Moment weder alleine lassen, noch auf andere Leute loslassen. Der Wiesel-Tiergeist war gestern gar nicht mehr ansprechbar gewesen und hatte sich jeglicher Kommunikation und jeglichem Essensangebot verweigert. Er hatte sich gleich in Straßenklamotten auf dem Bett zusammengekauert und den Rest des Tages einfach nur noch Rotz und Wasser geheult, bis er sich irgendwann in den Schlaf geweint hatte. Jetzt, am nächsten Vormittag, schlief er immer noch, wenn auch sehr unruhig. "Körperlich schon. Es geht so", beantwortete Victor Nyus Frage. "Was ist denn los?" "Was los ist!?", maulte Nyu verständnislos. "Das wollte ich euch fragen! Rupperts Handy ist seit gestern aus und Urnue geht auch nicht ans Telefon! Die Jungs sind in heller Aufregung!" "Das glaube ich gern." Urnue regte sich müde, offenbar geweckt von dem Gequatsche im Zimmer, blinzelte die Augen auf, entdeckte Victor mit seinem Handy, und war sofort hellwach. "He! Gib mir das scheiß Telefon wieder!", verlangte er sauer und schnappte es Victor aus der Hand. Da der drüben auf der anderen Bettseite saß, war Urnues Armreichweite dafür ausreichend. Mürrisch hielt er sich das Handy selber ans Ohr, fragte wer dran sei, und setzte das Gespräch mit Nyu dann eigenverantwortlich fort. Erstaunlich offen und unverblümt berichtete er ihr, was vorgefallen war. Er war psychisch selber noch viel zu sehr im Eimer, um auf andere Rücksicht nehmen oder schonend vorgehen zu können. Er warf Nyu eiskalt die Fakten an den Kopf und ließ sie ebenso geschockt zurück, wie er selbst sich fühlte. Danach zog er das Telefonat auch nicht mehr unnötig in die Länge, sondern würgte das Gespräch sehr schnell und konsequent wieder ab. Urnue schmiss das Telefon lieblos neben sich auf die Bettdecke, verschränkte die Arme und starrte zur Decke hinauf, als müsse er irgendwas überlegen. Victor sah ihn eine Weile besorgt an, wartete aber vergeblich darauf, dass er was sagte. "Wie geht es dir, U.?", erkundigte er sich also behutsam. Urnue schenkte ihm endlich einen - wenn auch schlecht gelaunten - Blick. "Lass die Finger von meinem Telefon." "Schon gut, das sagtest du ja bereits. Aber das war nicht meine Frage." Der Wiesel-Genius antwortete nicht. "Möchtest du was essen? Du hast seit gestern nichts me-" "Nein!", blaffte Urnue ihn genervt an. Victor beobachtete diese Stimmung mit Sorge. Gestern war Urnue noch verzweifelt und affektlabil gewesen, hatte die ganze Zeit geheult und sich gequält. Heute schien der Schmerz einer finsteren, schwelenden Laune gewichen zu sein. Sein Selbstmitleid war in eine Art Hass umgeschlagen, von der Urnue selbst noch nicht wusste, auf wen er ihn richten sollte. Darum bekam vorläufig Victor ihn ab, mangels anderer Opfer. Victor nahm es dem Wiesel-Tiergeist nicht übel. Im Gegenteil war ihm das sogar lieber, als wenn Urnue sich in Selbsthass verfranst hätte. "Wie du möchtest. ... Was wirst du jetzt machen?" „Ich schätze, ich geh zuerst mal zur Polizei. Die werden eine Menge Fragen an mich haben. Ich werde ihnen zwar kaum eine davon beantworten können, aber ich will zumindest nicht den Eindruck erwecken, untergetaucht zu sein, oder sowas.“ Victor zog kein sehr begeistertes Gesicht, nickte aber trotzdem. "Du solltest dir aber wirklich gut überlegen, was du der Polizei erzählst, und was nicht", hatte er sofort kluge Ratschläge parat. "Über die Motus, meine ich. Ich habe hart dafür gearbeitet, alle Hinweise auf Ruppert zu verschleiern. Eigentlich sollte die Polizei ihm nichts anlasten können und ihn bestenfalls gar nicht mit der Motus in Verbindung bringen können. Sieh zu, dass es dabei bleibt, ja?" "Jetzt macht´s ja auch keinen Unterschied mehr. Sie werden ihn wohl kaum einbuchten. Er ist tot." "Sicher, aber du selber lebst noch. Rate doch mal, was sie mit dir als Rupperts Schutzgeist machen werden. Sie werden unterstellen, dass du in alles mit involviert warst und genauso schuldig bist wie alle anderen auch. Es dürfte dir schwer fallen, sie vom Gegenteil zu überzeugen." Urnue schnaufte unwillig, sah ihm aber auch weiterhin nicht in die Augen. "Die Polizei wird dich fragen, ob du einen Verdacht hast, wer der Täter gewesen sein könnte. Ob Ruppert Feinde hatte. Oder ob es Gründe gab, warum jemand ihn tot sehen wollte. Lass dich einfach nicht auf Mutmaßungen über den Täter ein, egal wie sehr sie nachbohren. Du weißt nicht, wer es war, und dabei solltest du es gegenüber der Polizei auch belassen." "Sag mir nicht, was ich der Polizei erzählen darf, und was nicht, Dragomir!", schnauzte Urnue ihn giftig an. Er sprang vom Bett hoch. "Ich werde ihnen ALLES sagen, was ich weiß! Ich will schließlich, dass der Täter gefunden wird!" Er stürmte zur Tür hinaus und ließ diese krachend hinter sich ins Schloss fliegen. Seufzend fuhr Victor sich mit dem Ärmel über die Stirn. Sein Blick fiel dabei eher zufällig auf die Kommode direkt neben der Tür. Der Autoschlüssel war weg. Victor musste nicht groß rätseln, wo der war. Er hörte ja draußen den Motor starten. Wirklich unvernünftig. Er wusste genau, dass Urnue keinen Führerschein hatte. Ruppert hatte es ihm immer verboten. Victor war einfach mal gespannt, ob er seinen Wagen in einem Stück wiedersehen würde. Die Tür des kleinen Motel-Bungalows ging erst knapp 3 Stunden später wieder auf, Urnue kam hereinspaziert und die Tür fiel hinter ihm wieder zu. Deutlich leiser als beim letzten Mal. Victor sah aus seiner Tageszeitung auf. Um Magie-Sachbücher zu lesen, fehlte ihm die Konzentration. Er musterte das Gesicht seines Kameraden, um abzuschätzen, wie die Zeugenaussage bei der Polizei ihm bekommen war. Ob er nun nachdenklich oder deprimiert war, oder immer noch so ziellos wütend wie vorhin. Aber Urnues Gesicht war zu verschlossen, um irgendwas dergleichen zu erkennen. „Hey. Wie sieht´s aus?“ Auf diese Frage hin schnaubte Urnue doch abfällig. „Rupperts Leiche ist weg“, gab er bloß zu Protokoll. Etwas säuerlich, als würde er der Polizei schlampige Arbeit unterstellen. „Sie sind deinem anonymen Hinweis gestern zwar gefolgt, aber sie haben nichtmal einen Blutspritzer gefunden, geschweige denn eine Leiche. Jemand muss gründlich aufgeräumt haben, nachdem wir weg waren. Es ist alles verschwunden. Rupperts Aktentasche, sein Handy, ... Sogar sein Auto. Alles. Als wäre er nie dort gewesen.“ Das war zu erwarten, dachte Victor, sagte aber nichts. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, irgendwas über diesen Mord zu wissen. „Und was tun sie jetzt?“ „Suchen. Meine Aussage, dass ich die Leiche doch mit eigenen Augen gesehen habe, reicht ihnen nicht. Ohne Leiche können sie vorläufig nicht mehr als eine Vermissten-Suche einleiten.“ „Bist du mir jetzt böse?“, hakte Victor vorsichtig nach. „Nein. Wahrscheinlich war es ganz gut, dass du mich gleich von der Leiche weggeschleppt hast. Wären wir noch dort gewesen, als die zum Aufräumen wiederkamen, hätten sie uns sicher gleich mit beseitigt.“ Urnue kam herüber und pflanzte sich frustriert auf die Bettkante. „Die? Wie kommst du darauf, dass es mehrere waren?“ „Keine Ahnung“, seufzte Urnue und fuhr sich müde über die Augen. „Das war nur so dahingesagt. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass einer alleine all die Spuren beseitigen konnte.“ „Und wie fühlst du dich jetzt?“ „Komisch“, gab Urnue nach kurzem Überlegen zu. "Ruppert hat mich zwar in letzter Zeit etwas besser behandelt, seitdem du ihn so zusammengefaltet hast. Aber die 25 Jahre davor hat er damit bei weitem nicht wieder gutgemacht. … Um ehrlich zu sein …“, sinnierte er vor sich hin, „hab ich mich noch nie so frei gefühlt wie jetzt.“ Er überdachte das einen Moment. „Das macht mir schon ein schlechtes Gewissen. Immerhin war er ja mein Schützling. Aber sicher kommt die richtige Trauer noch, wenn ich wieder etwas zur Ruhe komme", versuchte er sich einzureden. „Du machst durchaus den Eindruck, als wäre es dir nicht egal“, gab Victor ruhig zurück. „Du siehst echt fertig und elend aus.“ „Ja, bin ich auch. Ich will sterben“, gab Urnue trübselig zu. „Aber nicht, wegen Ruppert. Sondern weil mir das Wissen so zusetzt, dass ich als Schutzgeist versagt habe. Es wäre besser gewesen, wenn ich mit gestorben wäre. Das hätte kein so schändliches Bild von mir gezeichnet, wie wenn mein Schützling stirbt und ich noch lebe.“ „Ach U., sag doch sowas nicht“, bat Victor mild. „Es könnte eine Bedeutung haben, dass du noch lebst, hm?“ „Welche denn?“, hielt Urnue zynisch dagegen und schaute Victor endlich in die Augen. „Soll ich den Mörder von Ruppert finden?“ „Ja. - Und vielleicht nicht nur den von Ruppert.“ „Soll ich etwa so werden wie du? Und Motus-Mitglieder jagen?“ Der Russe zuckte beiläufig mit den Schultern. „Warum nicht?“ „Oh Gott“, stöhnte Urnue, als wäre diese Idee das blödeste, was er je gehört hatte, und griff sich an die Stirn. Er schaute wieder weg. „Dragomir, ich hab gerade echt andere Probleme.“ „Ich sag ja nicht, dass du noch heute Nachmittag damit anfangen sollst.“ Eine Weile herrschte Schweigen. „Glaubst du denn, dass Ruppert von ehemaligen Motus-Typen umgebracht wurde?“, nahm Urnue das Thema dann doch wieder auf. „Ich weiß nicht recht. Die Motus jagt eigentlich keine Menschen.“ „Das hat nichts zu sagen", wusste der Wiesel-Genius. "Ruppert hatte auch innerhalb der Motus genug Feinde. Er saß auf dem ganzen Geld und hat es nicht rausgerückt. Erst recht nicht mehr nachdem die Motus aufgeflogen war. Ich glaub aber trotzdem nicht, dass es Motus-Leute waren. Die Jungs von der Motus hätten die Leiche nicht einfach stundenlang da rumliegen lassen. Die waren immer arg drauf bedacht, die Beweise zu beseitigen. Denn ‚ohne Leiche keine Mordanklage‘, wie das Motto immer so schön hieß.“ „Ja. Und dich hätten sie sicher auch nicht am Leben gelassen“, pflichtete Victor ihm bei. „Hör mal … Eins musst du mir aber trotzdem mal verraten“, meinte der Wiesel-Genius. Er drehte sich auf der Bettkante, wodurch er ein Bein hochlegen musste, wandte sich damit seinem Retter aber endlich ganz zu. „Was hattest DU eigentlich hier auf den Orkney-Inseln verloren?“ Victor atmete innerlich tief durch. Jetzt musste er sich zusammennehmen, um glaubwürdig zu sein. Natürlich hatte er diese Frage kommen sehen. Und er hatte wirklich lange überlegt, wie er das Urnue plausibel machen sollte. „Ein Hellseher hat mich hergeschickt. Er hatte ein komisches Gefühl. Allerdings hatte ich keine Ahnung, dass es um Ruppert gehen würde. Oder um einen Mord.“ Das klang doch plausibel, oder? Dass ein Hellseher mit im Spiel war, war ja sogar die Wahrheit. Und trotzdem war es weit genug von der Realität entfernt, um Urnue nicht zu blöden Nachfragen zu veranlassen. Urnue ließ sich nach hinten umfallen, verschränkte die Arme und setzte einen leeren Gesichtsausdruck auf. „Ich bin echt am Arsch“, fasste er seine Überlegungen zusammen. Kurz lag Stille im Raum. Dann wurde er doch noch ausführlicher: „Ich hab absolut gar nichts mehr. Ruppert hat mein Leben lang dafür gesorgt, dass ich wirklich gar nichts habe. Kein eigenes Geld, keine Familie, keinen Freundeskreis bei dem ich jetzt unterkommen könnte, keine Ausbildung mit der ich jetzt eine Arbeit finden könnte … nur eine Handvoll Klamotten im Kleiderschrank und mein nacktes Leben, das ist alles.“ „Josh und Danny werden dich doch sicher aufnehmen, oder?“ Mit Rupperts Söhnen war Urnue doch immer gut ausgekommen. „Josh wohnt in einer Studenten-WG. Und Danny ist noch minderjährig. Der wird auf direktestem Wege zurück zu seiner Mutter müssen. Die ist die nächste Sorgeberechtigte. … Ich schätze, mir bleibt nur, mich irgendwie bis nach Italien durchzuschlagen. Mit sehr viel Glück finde ich vielleicht meine Eltern wieder, wenn sie noch leben. Nach 25 Jahren Kontaktsperre …“ „Urnue“, unterbrach Victor diesen Gedankengang sanft. Der Genius sah fragend auf und hatte tatsächlich Tränenränder in den Augen. „Urnue. Bleib doch bei mir“, schlug Victor in einem um Vernunft bittenden Ton vor. „Du kannst bei mir bleiben. Es wird an nichts fehlen, das verspreche ich dir.“ Epilog: Das Netz ---------------- "Hi, Boss", machte Third Eye mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht, als sie endlich durch die Sicherheitskontrollen des Gefängnisses durch waren und Vladislav besuchen konnten. Vladislav saß hinter der Glasscheibe, die die Besucher und deren Mitbringsel fein säuberlich von den Insassen getrennt hielt, und sein Blick pendelte schweigend vom einen zum anderen. Den Gruß erwiderte er nicht, und wirkte auch sonst arg humorlos. "Was ist passiert?", verlangte er nur zu wissen. Nicht in dem Sinne, dass er ihren Besuch nicht erwartet hätte, sondern er spürte offenbar schon intuitiv, dass irgendwas im Busch war. Als Boss eines Verbrecher-Kartells musste man so eine Menschenkenntnis auch haben, um zu merken, wann man gelümmelt wurde. Man war ja fast durchweg von Figuren umgeben, die Geheimnisse hatten oder sogar logen. "Ruppert Edelig ist tot", meinte Cord. Vladislav maß ihn weiter abschätzend. "Aber?" "Nichts 'aber'." Cord zuckte mit den Schultern. "Auftrag ausgeführt." "Warum benehmt ihr euch dann so komisch?" "Wieso komisch?" Vladislavs tadelnder Blick war Antwort genug. Cord schielte kurz rückversichernd zum Gefängniswärter hinüber, ob der mithörte. Aber sie waren ganz ungestört. "Also hör mal. Ich hab vorher noch nie jemanden erschossen, okay?", verteidigte er sich dann. "Ich muss das erstmal verdauen." Vladislav schaute erneut ergebnislos zwischen den beiden hin und her, von denen sich einer betont obercool gab und der andere wie mit schlechtem Gewissen den Kopf einzog. Irgendwann seufzte er resignierend. Seine erste, echte Emotion. "Spuckt´s schon aus. Was ist schiefgegangen?" Third Eye knickte als erster ein. "Naja ... der ... der Genius ist uns leider entwischt." Vladislav rollte theatralisch mit den Augen. "Amateure", kommentierte er trocken. "Wir möchten aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass der auch gar nicht Teil unseres Auftrages war, ja!?" "Hat er euch wenigstens gesehen, damit sich´s auch richtig lohnt, dass er entkommen ist?" "Das wissen wir nicht. Wir haben ihn nicht zu Gesicht bekommen. Er war nicht da", wandte Third Eye sachlich ein. "Ja, das sieht ihm dummerweise ähnlich ...", stimmte Vladislav zu und zog Luft durch die Schneidezähne. Er kaufte den beiden Gaunern das ungesehen ab. Er wusste ja selber aus Erfahrung, dass Rupperts Genius nie irgendwo zu sehen war, sondern sich immer versteckt oder unsichtbar hielt. Vladislav hob die rechte Hand zum Mund und begann beim Nachgrübeln mit dem Daumen an seiner Unterlippe herumzuspielen. Lange Sekunden hing eine gruselige Ruhe in der Luft, die in jede erdenkliche Richtung umschlagen konnte. Was er als nächstes sagen würde, schien nicht halb so spannend wie die Frage, WIE er es sagen würde. Der Boss haderte hin und her, aber letztlich tat er die Sache doch mit einem Schulterzucken ab. "Scheiß drauf. Dann ist er eben entwischt, was soll´s. Kein Problem." "Das hoffen wir." "Ich bin gespannt, wo der wieder auftauchen wird", meinte er mit einem wissenden Schmunzeln zu seinem Schutzgeist Waleri, der neben ihm saß und sich hütete, irgendwas zur Unterhaltung beizusteuern. "Ich hab da so eine Theorie. Und ich hab das Gefühl, dass uns das ganz neue Optionen eröffnen wird." "Du denkst an Victor?", gab Waleri zurück. "Definitiv." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)