Der Edelig-Mord von Futuhiro (Magister Magicae 8) ================================================================================ Kapitel 2: Der Deal ------------------- Es war eigentlich aussichtslos, darüber zu grübeln. Trotzdem war Victor in schweren Gedanken, als er querfeldein durch die Landschaft zurück zu seinem Auto stapfte. Er schaute nicht einmal, wohin er überhaupt ging, sondern verließ sich darauf, den Weg zurück intuitiv zu finden. Natürlich hätte er eine flugfähige Gestalt annehmen und den Weg zurück zum Auto deutlich schneller zurücklegen können. Aber er hatte sich bewusst für die Wanderung zu Fuß entschieden, denn er wollte die Zeit zum Nachdenken nutzen. Sicher hätte er es bewerkstelligen können, Cord und Third Eye noch rechtzeitig zu finden. Und er hätte sie auch aufhalten können. Aber was hätte es genützt? Die Dämonin hatte eindeutig gesagt, dass dann andere kommen würden, um Ruppert umzubringen. Andere, von denen er vorher nicht wusste, wer sie waren oder wann sie zuschlagen würden. Warum waren die überhaupt hinter Ruppert her? Seit wann jagten die ihre eigenen Leute? Seit wann jagten Motus-Mitglieder überhaupt Menschen? Dieses Kartell hatte es sich klipp und klar auf die Fahnen geschrieben, gefährliche Genii zu jagen und die Menschen vor ihnen zu schützen. Und schlimmer noch: Victor wusste, dass Cord und Third Eye in einem Konglomerat ehemaliger Motus-Aktivisten mit drinsteckten, die untereinander noch Kontakt hielten. Der Mord an Ruppert Edelig würde bestimmt vorher abgesprochen gewesen sein. Wenn Victor den Mord verhinderte, würde es schnell und unkontrolliert die Runde machen, dass er den Bankenbesitzer schützte. Sobald irgendwer spitz kriegte, dass Ruppert ihm wichtig war, blühte Ruppert Schlimmeres als der Tod. Ganz zu schweigen davon, was der alles über Victor ausplaudern könnte, wenn die Befragungsmethoden nur hart genug wurden. Ruppert würde nichtmal dem bloßen Gedanken an Folter standhalten. Und ihm, Victor, würde es keinen Deut besser ergehen. Wenn die Ruppert lebend in ihrer Gewalt hatten, konnten sie Victor zu ALLEM zwingen. Sie hätten das Druckmittel schlechthin gegen ihn in der Hand gehabt. Schon zu Motus-Zeiten hatte Victor Ruppert in seine konspirativen Machenschaften eingeweiht, immer wenn er dem Boss ins Handwerk gepfuscht hatte. Nach dem Untergang der Motus hatte Ruppert ihn sogar wochenlang versteckt und später finanziert. Aber nicht grundlos hatten Victor und Ruppert sich stets kühl und distanziert aufgeführt und die Freundschaft, die sie beide insgeheim verband, nie offen gezeigt. Er hätte sich mehr darüber erzählen lassen sollen. Die Succubus hatte gewusst, wann der Mord stattfinden würde, und dass im Bedarfsfall andere Attentäter kommen würden. Sie schien solchen Visionen mehr Informationen entnehmen zu können, als man mit dem bloßen Auge sah. Aber Victor war so geschockt und aufgebracht gewesen, dass er nichtmal nach dem Ort gefragt hatte, wo Ruppert ermordet werden würde. Die Umgebung hatte er ja nicht gesehen. Außer den drei Personen war alles dunkelgrauer Rauch gewesen. Allerdings … je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihm auch bewusst, was er ebenfalls nicht gesehen hatte: nämlich Urnue. Wo war der in dieser Vision eigentlich gewesen? Würde der gar nicht da sein, wenn es geschah? Was würde aus ihm werden? Als Victor eine gefühlte Ewigkeit später endlich im Auto saß und dieses wie in Trance durch den Straßenverkehr steuerte, kreisten seine Gedanken immer noch unaufhörlich um Urnue. Lenken, Schalten, Gas geben, Bremsen, Vorfahrt beachten, rote Ampeln und Ruppert und Urnue, es war alles eins. Ein einziger Wahrnehmungsbrei. Eine synthetische Realität ohne jeden sinnvollen Zusammenhang. Wann immer Victor in London gewesen war, hatte er dem Hause Edelig einen Besuch abgestattet. Oft genug heimlich, ohne dass Ruppert es überhaupt gemerkt hatte. Victor hatte einfach nur nach dem Rechten gesehen. Oftmals war auch alles gut gewesen. Aber bei mindestens der Hälfte seiner Besuche hatte Victor live miterlebt, wie Ruppert seinen Schutzgeist niedergemacht hatte. Eine erschreckend hohe Quote, an der Victor sich stets gestört hatte. Es war kein Geheimnis, dass Ruppert nicht sonderlich viel auf Genii hielt, am wenigsten auf seinen eigenen Genius Intimus. Urnue war als Kind zu ihm gekommen, als Ruppert selbst schon erwachsen gewesen war, und hatte ihn anfangs natürlich beileibe nicht beschützen können. Entsprechend hatte Urnue nie einen guten Stand gehabt. Ihn deshalb aber zu beleidigen, mit sinnlosen Verboten zu gängeln, ihn in Kampfsituationen ins offene Messer laufen zu lassen, oder ihn gar zu schlagen, hatte Victor immer als grausam empfunden. Meist war es nur eine Ohrfeige gewesen. Victor hatte sich in der Regel nicht eingemischt, da ihm das seiner Meinung nach nicht zustand. Rupperts Erziehungsmethoden waren Rupperts Sache. Und Urnue war in seinen Augen auch ein wenig selber Schuld, wenn er sich sowas selbst heute im Alter von 40 Jahren noch gefallen ließ. Aber Victor hatte sich die Situationen dennoch gut gemerkt. Als er gesehen hatte, wie Ruppert Urnue mit Fäusten und einem Ledergürtel verprügelt und sogar gewürgt hatte, war er dann doch irgendwann eingeschritten. Er mochte den unverdorbenen, moralisch einwandfreien, erfrischend freundlichen Wiesel-Genius einfach zu sehr, um das noch durchgehen zu lassen. Sie waren ein sonderbares Gespann, sein kühler, distanzierter, aber mächtiger Freund Ruppert, und dessen herziger Schutzgeist Urnue, der sich von Ruppert protestlos unterbuttern ließ. Victor konnte und wollte auf keinen von den beiden wirklich verzichten. Nicht nur, weil sie seine einzigen, echten Freunde waren. Sie waren in dieser ganzen kriminellen Welt aus Mord und Flucht vor dem Gesetz auch sein moralischer Anker. Victor war ein Mörder, egal wie man es drehte und wendete und schönzureden versuchte. Er rannte mit einer Knarre durch die Gegend und schoss Kriminelle über den Haufen, die er nicht der laschen Justiz überlassen wollte. Ruppert und Urnue hielten ihn davon ab, endgültig selber so zu werden wie die Motus-Typen, die er jagte. Sie führten ihm, jeder auf seine Weise, immer wieder vor Augen, was er hier eigentlich tat, und warum er das tat, und wo dieses finstere Unterfangen Grenzen haben musste. Sie erinnerten ihn daran, seine humane Seite nicht zu vergessen. Sie hielten ihn bei Verstand und sorgten dafür, dass er nicht überschnappte. Nicht über das Ziel hinausschoss. Sie waren sein Gewissen und seine Stimme der Vernunft. Victor hatte Angst, ohne die beiden den Kompass zu verlieren. Während Victor über all das nachgrübelte, kam er schließlich schweren Herzens zu einer Entscheidung. Er musste Cord und Third Eye einen Besuch abstatten, es half nichts. Auch wenn diese beiden unbedeutenden Dilettanten ihm bisher völlig egal gewesen waren und er sie aus eigenem Antrieb wohl kaum behelligt hätte, wusste er ziemlich genau, wo er sie finden würde. Cord saß am Esstisch, sein Genius Intimus drüben auf dem Sofa hinter einem niedrigen Couchtisch. Im Zimmer herrschte stumpfes Dämmerlicht und die Luft stach von Zigarettenqualm. Beide hatten einen Berg loser Patronen vor sich ausgekippt und befüllten in aller Ruhe Pistolenmagazine mit der Munition. Third Eye hatte gerade ein Stangenmagazin komplett bestückt, legte es auf die Tischplatte, und griff nach dem nächsten, leeren. Dazu grabschte er sich eine Faust voll Patronen und begann sie eine nach der anderen mit dem Daumen ins Magazin zu drücken. "Ich glaube, wir brauchen bald eine neue Bleibe", brummte Cord. "Wieso?" "Ljubomir hat so einen Kommentar fallen lassen, dass sich das Bordell nicht rentiert. Ich glaube, der Laden hier wird bald dicht machen." "Wie kann sich denn ein Puff nicht rentieren? Vielleicht sollte er sich mal um zahlende Kundschaft bemühen, und nicht immer nur mit Typen wie uns Vorlieb nehmen." "Was meinst du?", wollte Cord gelangweilt wissen, warf sein aufgefülltes Stangenmagazin auf den Tisch, lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. "Naja, du musst schon zugeben, dass das hier ne komische Beschäftigung ist, im Hinterzimmer eines Puffs zu sitzen und Patronen in Magazine zu laden", merkte Third Eye humorlos an und hielt seines dabei vielsagend hoch. "Wenn es wenigstens nur unsere eigenen wären, hätte ja keiner was gesagt. Aber ich wüsste gern mal, für wen wir die alle befüllen. Mit der ganzen Munition kann man ja eine kleine Armee ausstatten. Was sagt dir das über Ljubomirs Freundeskreis?" Der Vorhang aus Perlenschnüren bewegte sich rasselnd. Die beiden schauten fragend herum, in der Erwartung, dass Ljubomir, der Besitzer dieses Bordells, in der Tür stehen würde. Doch Cord sprang ungelenk von seinem Stuhl hoch, als er sah wer da tatsächlich gerade den Raum betrat, und stieß diesen dabei halb um. Er strauchelte beinahe mit dem Stuhl zu Boden. „Scheiße! Du!?“ Auch sein Genius Intimus riss reflexartig die Hände in die Höhe, als würde er unversehens mit einer Pistole bedroht werden. Victor Akomowarov kam gelassen und ganz selbstverständlich hereinspaziert. „Macht euch nicht die Mühe, gastfreundlich zu sein. Ich bleibe nicht lange", brachte der langhaarige Junge mit dem Ledermantel es gleich auf den Punkt und krachte einen Sack voll Goldmünzen vor Cord auf den Esstisch. Die lose herumrollenden Patronenhülsen segelten in alle Richtungen davon. "Mich führt nur ein Anliegen her.“ Der bärtige, verlottert aussehende, dürre Typ schaute überfordert zwischen ihm und dem Geld hin und her. Schon irgendwie paradox, dass sie hier auf stapelweise Munition saßen, aber keine einzige Knarre in Reichweite hatten, war sein erster Gedanke in dieser Situation. Aber langsam gewann er seine Fassung wieder und registrierte, dass der unangemeldete Besucher ebenfalls keine Waffe in der Hand hielt. Was natürlich nicht bedeutete, dass der keine bei sich getragen hätte. Kaum ein Motus-Mitglied, das Akomowarov später nochmal begegnet war, konnte noch von der Begegnung berichten. Für gewöhnlich machte der jung aussehende Kerl alles kalt, was er vor die Nase bekam. Wieso sollte es hier und heute anders sein? „Wie ich höre, wollt ihr Ruppert Edelig ermorden.“ „Ja, wollen wir", stellte Cord vorsichtig klar. Dann nahm er Haltung an und legte etwas großspuriger nach: "Und du wirst uns nicht aufhalten“ „Nein-nein, ich WILL euch gar nicht aufhalten! Ermordert Ruppert! Weg mit ihm!“, stimmte Victor mit einer wegwerfenden Handbewegung zu. „Ich hab kein Interesse an ihm. Aber sein Schutzgeist, den brauch ich noch!“ „Wie bitte?“ „Tut mir einen Gefallen und setzt ihn irgendwie außer Gefecht, ohne ihn umzubringen. Viel von meiner Arbeit wäre umsonst gewesen, wenn ihr den einfach kalt macht.“ „Hä!?“, machte Cord wenig geistreich, als könne er seinem Gegenüber nicht ganz folgen. „Was willst du mit dem?“ „Informationen“, log Victor aalglatt. Auf diese Frage war er natürlich vorbereitet. „Und ich sorge dafür, dass er keine Lust verspüren wird, auf Rachefeldzug zu gehen. Ihr braucht euch um ihn keine Sorgen machen“, versprach er ernsthaft. „Ihr werdet nie wieder von ihm hören. Und von mir übrigens auch nicht.“ Cord winkte seinen Schutzgeist näher, welcher sich jedoch nur zögerlich vom Sofa erhob und beim Näherkommen einen sehr argwöhnischen Eindruck machte. „Mir gefällt die Sache nicht. Der Typ ist spooky. Was sollen wir machen?“, raunte Cord ihm leise ins Ohr, in der irrwitzigen Annahme, der Besucher würde ihn nicht verstehen. „Ääääähm~“ Der Schutzgeist schaute nachdenklich auf den Sack Münzen. „Wenn er uns im Gegenzug wirklich von seiner Todesliste streichen will, sollten wir keine Fragen stellen und tun, was er sagt. Sonst haben wir wohl keine Gelegenheit mehr, das hier noch schnell auszugeben“, raunte Third Eye mit einem Fingerzeig auf das Gold. „Und ich meine, was soll´s? Der Genius Intimus interessiert uns doch eh nicht. Vergessen wir eben im Eifer des Gefechts, ihn noch um die Ecke zu bringen. Wenn wir´s klug anstellen, wird er nichtmal als Zeuge zu gebrauchen sein, weil er wirklich nichts gesehen hat.“ "Eins müsst ihr mir aber mal noch verraten", mischte sich Victor wieder in die Diskussion ein. "Was genau habt ihr eigentlich plötzlich gegen unseren Finanz-Chef?" Third Eye wischte sich die verlotterten, ungekämmten, blonden Haare aus dem Gesicht und zuckte dann unschlüssig mit den Schultern. "Weiß nicht. Ist nur ein Auftrag." "Von wem?" "Von so ´nem anonymen Penner. Wir haben ihn für Geheimdienst gehalten und keine Fragen gestellt, weißt du? Mit denen können wir uns Ärger nicht leisten." Victor zog ein tadelndes bis strafendes Gesicht, kommentierte das aber nicht weiter. "Habt ihr auch den ausdrücklichen Auftrag, seinen Schutzgeist mit zu beseitigen?" "Nein. Es war nur von Edelig die Rede." "Gut. Dann viel Erfolg", meinte Victor humorlos. Er deutete mit den Augen nochmals vielsagend auf den Sack Gold, um die beiden an seinen Deal zu erinnern, und ging. Er wollte hier nicht länger bleiben als unbedingt nötig. Anonyme Auftraggeber, so ein verdammter Mist. Solche Typen fand man nie wieder, egal wieviel Mühe man sich gab. Und es sah solchen Idioten wie Cord und Third Eye auch überaus ähnlich, keine Fragen zu stellen, sondern sich bestenfalls noch für die Höhe des Schecks zu interessieren. Victor war sich sicher, dass die beiden wirklich nichts über ihren dubiosen Auftraggeber wussten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)