Battle for the Sun von rokugatsu-go ================================================================================ Prolog: I wouldn't know where to begin – I asked the kings of medicine ---------------------------------------------------------------------- „I wouldn't know where to begin I asked the kings of medicine“   Placebo, „Kings of medicine“   Der große, strahlend weiße Fisch drehte einsam seine Runden im Aquarium. Je länger man ihn beobachtete, desto mehr konnte man meinen, dass er die zahlreichen anderen Fische im Aquarium mied. Die meisten anderen waren in Gruppen oder wenigstens in Paaren unterwegs, lediglich dieser eine strahlend weiße Fisch drehte ganz allein Runde um Runde durch das Wasser. Nur hin und wieder näherte er sich einem kleineren, orange-gefleckten Fisch, der wohl zu seiner Art gehören musste, denn sie sahen sich – von ihrer Größe und Farbe abgesehen – durchaus sehr ähnlich. Allerdings näherte er sich dem kleineren Fisch auf keine besonders freundlich wirkende Weise. Urplötzlich schien er immer mal wieder Anlauf zu nehmen und den Kleinen zu rammen, als wollte er ihn ärgern. Dann verzog er sich von neuem in eine andere Ecke des Aquariums und blieb wieder für sich. Ein Skalar? Nannte man diese Fische Skalare? Atsushi war der Meinung, dies mal in einer Zeitschrift gelesen zu haben, aber er konnte sich nicht daran erinnern, was für eine Zeitschrift das gewesen sein sollte und ob er sich vollkommen richtig an den Artikel erinnerte. Dieser Junge damals, den Kunikida als seinen Informanten vorgestellt hatte, er hatte sich Fische gehalten, er hätte wahrscheinlich gewusst, was genau da alles vor ihm herumschwamm. Rokuzo. Rokuzo war sein Name gewesen. Aber dieser Junge war tot. Er konnte ihm seine Fragen nicht mehr beantworten. Atsushi erstarrte bei diesem Gedanken und für einen Augenblick spürte er wieder das Zittern seiner Arme und Beine, das Beben seines ganzen Körpers. Bevor die in ihm aufsteigende Panik ihm die Luft zum Atmen nehmen konnte, zwang er sich, seinen nur dürftig fokussierten Blick weiter auf das Aquarium vor sich zu richten. Ein kleiner, dunkler, fast schwarzer Fisch, der entfernt Ähnlichkeit hatte mit einem Miniatur-Piranha, wagte einen neuen Versuch, in die Nähe des strahlend weißen Skalars zu schwimmen. Er hatte dies schon mehrmals versucht, aber jedes Mal, wenn er dem Objekt seiner Begierde näher kam, hielt er inne. Dann drehte der Skalar sich in seine Richtung um und der Mini-Piranha erschrak und suchte hastig das Weite. Dieses Mal war es nicht anders. Obwohl Atsushi ein wenig über das Verhalten des kleinen, dunklen Fisches den Kopf schüttelte, empfand er auch Mitleid und Achtung für das winzige Geschöpf. Sein Ziel schien in ungreifbarer Ferne zu sein, doch immerhin weigerte er sich, aufzugeben. Einzig ein kleiner, schwarz-weiß gestreifter Skalar schaffte es, am längsten neben dem strahlend weißen Fisch herzuschwimmen. Es wirkte beinahe, als würde der Größere dies dem Kleineren erlauben – für einen kurzen Moment zumindest. Dann beschleunigte der weiße Skalar so stark, dass das gestreifte Tier nicht mehr hinterherkam und der große Skalar wieder allein war. Der gestreifte Fisch blieb immer verdattert zurück, als hätte er wahrhaftig keine Ahnung, was gerade geschehen war. Doch ähnlich wie der dunkle Mini-Piranha versuchte er es immer und immer wieder. Atsushis Mitleid für die Tiere wuchs. Sie suchten so sehr die Nähe von jemandem, der unerreichbar war. Würde er dies für immer bleiben? Warum begriff der große, strahlend weiße Skalar nicht, dass er seine Runden nicht einsam drehen musste? Der Junge musste sich zurückhalten, um nicht gegen das Glas der Scheibe zu schlagen und den einsamen Fisch darin anzuschreien. Das Zittern. Das Beben. Das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. „Atsushi“, drang es dumpf, wie aus weiter Ferne, zu ihm hindurch. „Atsushi, setz dich.“ Der Angesprochene drehte sich langsam zu der Stimme um, die ihn nachdrücklich, aber behutsam aufgefordert hatte, Platz zu nehmen. Kunikida sah ihn von seinem Sitzplatz auf den ungemütlich aussehenden Plastikstühlen aus an. Sein Blick war bemüht streng, die Erschöpfung und der Schock über das Geschehene machten es ihm sichtlich schwer, seine ruhige, aufrechte Haltung zu bewahren. Es war ein seltsames Bild, wie er dort ganz alleine saß, obwohl dort so viele Sitzgelegenheiten waren. Aber niemand saß um ihn herum. Die vielen anderen Leute, die hier warteten, zogen es vor, Abstand zu ihnen zu halten. Wer konnte es ihnen verdenken? So wie sie aussahen. Kunikida war von oben bis unten blutverschmiert und Atsushi konnte nicht einmal sagen, ob irgendetwas davon das Blut des Blonden war oder nicht. Es war in seinen Haaren, auf seiner Kleidung, auf seinen Händen, in seinem Gesicht. Es widersprach den Gesetzen der Schwerkraft, dass seine in zwei Teile gebrochene Brille noch auf seiner Nase blieb. Atsushi konnte nur erahnen, dass er selbst ähnlich aussehen musste. Das Blut hatte den Großteil seines einst weißen Hemdes tiefrot gefärbt und der Gestank ließ in ihm enorme Übelkeit aufsteigen. Ob es für andere auch so schlimm roch? Oder ob dies seiner feinen Tigernase geschuldet war? Vielleicht lag der Grund für seine Übelkeit auch darin, dass er über eine Sache grausame Gewissheit hatte: Nur sehr wenig davon war sein eigenes Blut. Seine Wunden waren zum Großteil bereits verheilt, hier und da zwickte und pochte es noch, aber nichts davon war eine gravierende Verletzung. Langsam, sehr langsam setzte sich Atsushi auf den Stuhl neben Kunikida. Schweigend starrte der junge Detektiv den Boden zu seinen Füßen an. Es war seltsam, sich so einsam zu fühlen, wenn man gar nicht alleine war. Und doch riss ihm der bekannte Schmerz der Einsamkeit gerade mit voller Wucht den Brustkorb auf und zerrte an seinem Herzen, als wäre dieses nur noch ein untauglich gewordener Gegenstand, für den er keine Verwendung mehr hatte. Nein. Nein, das war nicht der ihm bekannte Schmerz. Dieser hier war eintausend Mal schlimmer. „Du musst langsamer atmen. So hastig wie du nach Luft schnappst, kann die Luft überhaupt nicht bis in deine Lunge kommen“, ermahnte Kunikida ihn, während er ihn von der Seite besorgt-prüfend betrachtete. Angestrengt versuchte Atsushi, dem Rat zu folgen und begann, langsamere, tiefere Atemzüge zu nehmen. „Kunikida“, sagte er nach einer Weile, in der sie weiter geschwiegen hatten und der Junge seine Panik ein wenig unter Kontrolle bekommen hatte, „es wird doch alles wieder gut werden, nicht wahr? Es wird alles gut werden … nicht wahr?“ Ängstlich wandte er sich dem Kollegen neben sich zu. Kunikida stockte, sichtlich überfordert mit der Frage des Jüngeren und dem traurigen, verängstigten Ausdruck in seinen großen Augen. Eine halbe Ewigkeit verging, bevor er ihm etwas antwortete. „Atme weiter, Atsushi.“ Als hätte der Blondschopf ihm gerade das Ende der Welt verkündet, wurde Atsushis Miene für einen Moment lang von völliger Verzweiflung übermannt, ehe er abwesend nickte und seinen Kopf zurück in die Richtung des Aquariums drehte. Der strahlend weiße Skalar haute gerade wieder einmal mit lächerlich hoher Geschwindigkeit vor dem gestreiften Skalar ab. Atsushi schaffte es endgültig nicht mehr, den Lärm um sich herum auszublenden. Leute schrien durcheinander, Leute schrien vor Schmerzen, Leute schrien anderen Anordnungen zu. Die Sirenen von draußen, das eilige Rennen durch die Flure. Irgendwo weinte jemand. Eine Durchsage wies irgendeinen Arzt an, sofort in Behandlungsraum drei zu kommen, die nächste beorderte eine Ärztin umgehend in OP vier. Es klang wie ein heilloses Durcheinander, aber vermutlich waren dies alles nur Geräusche eines ganz gewöhnlichen Tages in einem Krankenhaus – an einem für viele Menschen ganz gewöhnlichen Freitag. Atsushi wollte auch losrennen, wollte auch losschreien, aber weil ihm bewusst war, dass nichts davon helfen würde, tat er nichts dergleichen. Alles, was er tun konnte, war, in diesem Wartebereich zu warten. Ein Gefühl von bleischwerer Hilflosigkeit riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Wie hatte es dazu kommen können? Wie hatte all dies nur geschehen können? Es war gerade erst einmal zwei Tage her, dass dieses Drama in der Detektei – seinem Zuhause, seiner vertrauten und liebgewonnenen Umgebung – seinen Anfang genommen hatte. Atsushi stockte der Atem, als er an die Detektei dachte. Würde es dort je wieder so sein wie früher? Ein unaufhörlicher Strom aus bitteren, heißen Tränen erschwerte ihm mit einem Mal die Sicht auf das Aquarium. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)