Beautiful Behavior von Varlet ================================================================================ Kapitel 19: Erste Hilfe ----------------------- Der Sanitäter betrat die Wohnung. Wie bei einem normalen Einsatz ließ er die Wohnungstür offen. Als er zu Jodie ins Wohnzimmer kam, seufzte er. Eigentlich wollte er Arzt werden, so wie sein Vater. Um aber auch während des Studiums Erfahrungen zu sammeln, arbeitete er als Sanitäter. Und das alles auch noch in einem anderen Bundesstaat. Bis vor einigen Wochen war sein Leben nahezu perfekt. Familie, Freundin, gute Noten, nette Kollegen. Leider hatte er dann erfahren, dass ein paar zwielichtige Männer seine Familie im Visier hatten und sein Vater ihnen etwas schuldete. Nun forderten sie jenen Gefallen – so nannten sie es – ein und sie Beide mussten nach New York kommen. Er als Sanitäter und sein Vater als Arzt. Vieles hatten sie für die Beiden organisiert. Falsche Identitäten und angepasste Dienstpläne. Wenigstens konnte man sie dadurch nicht so schnell identifiziert, sollte das alles auffliegen. Er stellte die Tasche mit den wichtigsten Utensilien auf den Boden und holte eine Schere sowie Verbandsmaterial heraus. Es war nicht nur wichtig die Blutung zu stillen, sondern auch eine Wirbelsäulenverletzung auszuschließen. Er überprüfte Jodies Vitalwerte sowie die Beweglichkeit ihrer Arme und Beine. Da er nicht wusste, was alles zwischen der Frau und den anderen Personen stattgefunden hatte, legte er ihr sicherheitshalber eine Halskrause an. Langsam drehte er Jodie auf die Seite. „…mh…n…g…h…“, stöhnte Jodie vor Schmerzen. „Ich bin Matt“, murmelte er. „Ich kümmere mich um dich. Du musst…keine Angst haben“, fügte er hinzu und schob ihr Oberteil nach oben. Er drückte ein paar Kompressen gegen die Wunde am Rücken und fixierte sie. Dann drehte er Jodie wieder auf den Rücken. Sie tat ihm leid, aber er hatte genaue Anweisungen. Auch wenn er die ganze Situation nicht verstand, sollte er sich nicht verdächtig verhalten und alles tun, um die junge Frau am Leben zu halten. Außer das Schicksal meinte es anders mit ihr. Langsam schnitt er ihr Oberteil auf und drückte dann eine Kompresse gegen die Wunde am Bauch. Es war nicht das erste Mal, dass er eine Schussverletzung versorgen musste, weswegen er in seinem Kopf den Text durchging, den man ihm in einem Script mitteilte. Wer auch immer für all das verantwortlich war, er hatte es bis ins kleinste Detail geplant. Es gab sogar Alternativen, wenn die Gespräche in eine andere Richtung gingen. Außerdem wollte man sichergehen, dass er nicht das Falsche sagte, wenn die Polizei oder das andere Rettungsteam kam. Normalerweise vergingen die Minuten in Windeseile, aber jetzt geschah genau das Gegenteil. Alles lief in Zeitlupe ab, so als wäre er ein Angehöriger. Matt atmete tief durch. Er hoffte, dass der Krankenwagen – von dem sie behauptete, ihn gerufen zu haben – tatsächlich auf dem Weg war. Andernfalls hätte sie wirklich keine Chance. Nie hatte er sich so sehr gewünscht, dass einer seiner Patienten überlebte, auch wenn sie vermutlich auf ewig eine Zielscheibe auf dem Rücken tragen würde. Außer es sollte ihr eine Warnung sein. „…ng…“ Er wechselte die Kompresse und drückte diese weiter auf ihre Verletzung. „Ich weiß, es tut weh, aber es wird bald besser. Halte…bitte…durch…“ Als er Schritte hörte, spiegelte sich Erleichterung in ihm wider. Aber dann fiel ihm auf, dass die Schritte zu einem Rettungsteam nicht passten. Er hoffte, dass es nicht seine Auftraggeber waren, sondern neugierige Nachbarn. Mit denen konnte er besser umgehen, auch wenn sie die Privatsphäre der Patienten nicht respektierten und die Wege blockierten oder versuchten Informationen zu bekommen. Reporter waren am schlimmsten. „…hm…ng…“ „Ich weiß, ich weiß“, wisperte er leise. „Du schaffst das…“ Er wechselte erneut die Kompresse und drückte eine andere auf ihre Wunde. Die Verletzung machte es ihm nicht leicht. Würde die Kugel in ihrem Körper stecken, hätte er es bei weitem einfacher. Aber es handelte sich um einen Durchschuss und das Blut trat auch auf der anderen Seite der Wunde aus. Zwei Männer kamen in die Wohnung gestürmt. Als Ed Jodie blutend am Boden liegen sah, wurde er bleich. Während seiner gesamten Laufbahn hatte er schon vieles gesehen. Mord und Tod gehörten dazu. Aber jetzt hatte es eine Person getroffen, die er kannte und die einen Platz in seinem Herzen hatte. Eine Person, die wie eine Tochter für ihn war. Seine Beine wurden weich und er glaubte, das Gleichgewicht zu verlieren. Von einem Moment auf den Nächsten war er um Jahre gealtert. Er fühlte sich schuldig, aber was viel schlimmer war, in seinem Kopf herrschte Leere. Absolute Leere. Normalerweise hätte er gewusst, was zu tun war, wie er hätte helfen können, aber es war nichts mehr da. Nichts. Schwärze. Er hätte nicht einmal seinen Namen gewusst, wenn man ihn in diesem Moment danach gefragt hätte. Ed machte einige Schritte nach hinten und stieß gegen die Wand. Shuichi hingegen reagierte anders. Er hatte sich binnen weniger Sekunden mit dem Raum vertraut gemacht. Dennoch konnte er nicht abschätzen, ob nicht doch irgendwo Angreifer in der Nähe waren. Aber das war egal. Jodie war in diesem Augenblick wichtiger. Der Agent blickte zum fremden Mann und kniete sich zu den Beiden. „Der Rettungswagen ist auf dem Weg“, sagte Matt leise. „Ich bin Sanitäter und…kümmere mich um sie. Meine Kollegen haben im anderen Rettungswagen das andere Opfer mitgenommen.“ Akai verengte die Augen. „Wie heißen Sie?“ „Matt…Matt Browning.“ Eine Lüge. Aber er hatte sich mittlerweile an den Namen gewöhnt und sogar geübt, auf ihn zu reagieren. Shuichi nickte. Er würde sich den Namen merken und später überprüfen. „Was ist hier passiert?“ „Ich weiß es nicht. Wir wurden gerufen, weil es zwei Opfer mit Schussverletzungen gab. Ich saß im ersten Krankenwagen. Als wir hier ankamen, waren beide Frauen kaum ansprechbar. Es sah so aus, als wäre die andere Frau schwerer verletzt, deswegen wurde sie sofort in den Rettungswagen und ins Krankenhaus gebracht. Ich bin hiergeblieben und kümmere mich um das andere Opfer. Es hat sich allerdings gezeigt, dass ihre Verletzungen auch ziemlich schwerwiegend sind. Anfangs gingen wir noch davon aus, dass die Kugel in ihrem Körper steckt. Das hätte uns die Arbeit erleichtert und ihr mehr geholfen.“ „Aber das ist nicht der Fall?“, wollte Akai wissen. „Durch den Durchschuss tritt auf beiden Seiten ziemlich viel Blut aus und ich versuche seit einer Weile die Blutung zu stoppen. Der zweite Krankenwagen müsste auch gleich hier sein. Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.“ Shuichi sah zu den Blutspuren am Boden und folgte ihnen mit seinem Blick. „Wieso wurden Sie hiergelassen und nicht der Arzt?“ Der Sanitäter schluckte. „Wie gesagt…die erste Prüfung hat ergeben, dass ihre Verletzungen nicht so schlimm sind, wie bei der anderen Frau. Ich habe schon einiges an Erfahrung und weiß, wie ich mit Patienten umgehen soll, die angeschossen wurden. Gehören Sie zur Polizei?“ „FBI“, antwortete Shuichi und zog sein Handy heraus. Er würde sich auch die Uhrzeit merken und versuchen die Tat zu rekonstruieren. „Lassen Sie mich…meine Arbeit machen. Die nächsten Minuten werden entscheidend sein, ansonsten…“ „Ansonsten?“, wollte Akai wissen. Ed hingegen verstand sofort und ließ sich auf den Boden heruntergleiten. Er kämpfte mit den Tränen. „Oh, Gott, Jodie…“ Shuichi blickte zu Ed. „Geht’s? Brauchen Sie auch einen Arzt?“ „Geht…schon…“, murmelte der Ermittler. „Ich…komm klar…“ „Dann kommen Sie her und reden Jodie gut zu. Sie muss wissen, dass Sie nicht allein ist. Eine vertraute Stimme kann helfen, nicht wahr?“ Der Sanitäter nickte. „Ja, das ist eine gute Idee.“ Ed versuchte sich langsam aufzurichten, schaffte es aber nicht. Deswegen kroch er schließlich auf allen vieren zu Jodie. „Jodie…“, murmelte er und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Haut war grau. „Halte durch…bitte…du darfst nicht…sterben.“ Akai stand auf und machte mit dem Handy Bilder vom Tatort. Außerdem sah er sich die Beweisstücke an, ohne sie zu berühren. Er fand zwei Patronenhülsen und eine Kugel. In seinem Kopf lief bereits die Szene ab, aber trotzdem hatte er das Gefühl, dass irgendwas nicht zusammenpasste. Der Agent sah zum Tisch. Neben den beiden japanisch Lernbüchern, fand er ein Notizbuch. Er runzelte die Stirn und gerade als er ein paar Handschuhe aus der Jacke ziehen wollte, kamen das Rettungsteam und zwei Polizisten. Der Mediziner und die Sanitäter eilten sofort zu Jodie. „Was ist passiert?“, wollte der Arzt wissen und kniete sich zu Jodie hin. „Ihre Vitalwerte sind so weit stabil“, erklärte Matt ruhig. „Bewegung scheint nicht eingeschränkt zu sein, dennoch habe ich ihr sicherheitshalber eine Halskrause angelegt. Verletzungen an der Wirbelsäule kann ich nicht ausschließen. Es handelt sich allerdings um einen Durchschuss. Ich habe Probleme, die Blutung zu stoppen und musste bereits mehrfach die Kompressen wechseln. Sie verliert weiterhin viel Blut. Im Krankenhaus sollte ein Bluttransfusion für sie bereitstehen. Das zweite Opfer wurde bereits im Krankenwagen wegtransportiert.“ Der Arzt runzelte die Stirn. Es war ungewöhnlich, dass man ein Opfer mit diesen Verletzungen zurückließ und nur einen Sanitäter dafür abstellte. „Informieren Sie das Presbyterian. Kennen wir Ihre Blutgruppe?“ Matt schaute zu den beiden Männern. Sie schüttelten den Kopf. „Nein.“ „Gut, sorgen Sie dafür, dass im Krankenhaus 0 negativ vorbereitet ist.“ Die Blutgruppe 0 negativ bezeichnete man auch als Universalspender. War eine Blutgruppe nicht bekannt und hatte man keine Zeit für einen entsprechenden Test, gab man einem Patienten Blut dieser Gruppe. „Sie schafft das…“, murmelte Matt. Anschließend tauschten sie weitere fachliche Ausdrücke aus und behandelten Jodies Wunde. Ganz langsam wurde sie auf eine Trage gehievt und für den Transport runter zum Rettungswagen vorbereitet. „…ng…ng…“, gab sie erneut schmerzerfüllt von sich. In der Zwischenzeit hatten die Polizisten damit begonnen, die Beweismittel zu sichern und ebenfalls Fotos zu machen. Sie sahen zu, wie Jodie auf der Trage aus der Wohnung geschoben wurde und als Ed Anstalten machte, ihnen zu folgen, stellten sie sich ihm in den Weg. „Sir? Bitte warten Sie. Wir müssen erst einmal Ihre Aussage aufnehmen oder sind Sie mit dem Opfer verwandt?“ Shuichi schob sich dazwischen. „FBI! Special Agent Shuichi Akai.“ Als er ihre Aufmerksamkeit hatte und sich sicher war, dass sie ihre Waffe nicht gegen ihn zücken würden, zog er seinen Dienstausweis heraus. Beide Polizisten schienen nicht erfreut zu sein. Das war auch kein Wunder, immerhin konnte ihnen das FBI jeden Fall aus den Händen reißen. So wie jetzt. „Ed, Sie fahren im Krankenwagen mit. Ich komme nach. Ihre Aussage machen Sie später. Jodie ist wichtiger, sie sollte jetzt nicht allein sein.“ Ed nickte und ging an den beiden Polizisten vorbei. Er würde Jodie nicht von der Seite weichen, höchstens dann, wenn sie in den OP geschoben wurde. „Bitte warten Sie, ich fahre mit“, rief er und folgte dem Rettungsteam. Als sie unten ankamen, wurde Jodie in den Rettungswagen verfrachtet. Der Mediziner und die Sanitäter stiegen ebenfalls ein. Ed nahm auf einem Sitz platz und musste sich anschnallen. Matt hingegen ging nach vorne und setzte sich auf den Beifahrersitz. Er war froh, dass alles so lief, wie in dem Script beschrieben. Jetzt mussten sie nur noch am Krankenhaus ankommen und dann konnte er verschwinden. Matt lehnte sich nach hinten und hoffte, dass er nun wieder seinem ruhigen Leben nachgehen konnte. Er hatte seine Pflicht getan. Shuichi sah die Polizisten an und reichte ihnen seine Visitenkarte. „Die Frau ist Zeugin in einem unserer Fälle. Wir übernehmen die weiteren Ermittlungen. Selbstverständlich halten wir Sie über alles auf dem Laufenden. Bitte übergeben Sie mir all Ihre Beweismittel und senden mir alles, was Ihnen ansonsten noch bekannt ist.“ Der Polizist – Pearson war sein Name – runzelte die Stirn und nahm die Karte entgegen. „Sie wollen…alles, was uns noch bekannt ist?“ „Damit meine ich die Angabe über den Eingang des Notrufs, wann Sie rausrückten, wann der Krankenwagen rausrückte und…und…und… Natürlich brauche ich auch die Informationen über das andere Opfer.“ Das war wichtig. War es tatsächlich Sharon Vineyard, wie er vermutete, oder vielleicht doch eine andere Person? Vielleicht ein Mitglied der Organisation? Und nur weil überall Blut in der Wohnung war, hieß es nicht, dass das andere Opfer auch verletzt war. Pearson nickte. „Natürlich. Wir stellen Ihnen alles zusammen.“ Er reichte Akai das Notizbuch, welches sich bereits in einer Tüte befand. „Das wollen Sie bestimmt auch.“ Der Agent nickte. „Danke.“ „Die Fotos schicke ich Ihnen nachher. Vermutlich wurde das andere Opfer ebenfalls in das Presbyterian gebracht. Das können wir aber auch gerne überprüfen.“ „Ich bitte darum“, entgegnete Shuichi. Er sah sich erneut in der Wohnung und ballte die Faust. Sie waren nur um wenige Minuten zu spät gekommen. Er verfluchte sich selbst dafür. Es wäre nicht passiert, wenn er den Privatermittler sofort auf Jodies Adresse festgenagelt hätte. Und jetzt war er hier und musste die Scherben aufsammeln. Außerdem musste er noch seinen Wagen vom Friedhof holen. „Sichern Sie die Wohnung. Ich möchte nicht, dass Nachbarn oder Reporter hereingestürmt kommen. Und behandeln Sie das alles hier streng vertraulich. Keiner Interviews. Sprechen Sie mit niemanden, außer mit mir.“ Die beiden Polizisten sahen einander an und nickten. „Danke“, entgegnete Shuichi leise. Er ging in Richtung des Balkons und sah nachdenklich aus dem Fenster. Hier stimmte eindeutig etwas nicht und er würde herausfinden, was ihn so sehr störte. Aber erst hatte er einen anderen schweren Weg vor sich. Akai blickte auf sein Handy und wählte die Nummer von James Black. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)