Beautiful Behavior von Varlet ================================================================================ Kapitel 7: Eine neue Spur ------------------------- Zusammen mit der älteren Frau betrat Shuichi das Haus. Eigentlich wollte er wieder zurück in das Büro fahren, die bisherigen Ergebnisse auswerten und anschließend weiteren Spuren nachgehen. Doch der Blick der alten Dame und ihr erneutes Angebot, ihm Bilder von Jodie zu zeigen, hatten ihn zu zwei Schlüssen kommen lassen. Entweder wusste die Frau etwas und wollte unbedingt reden oder sie war einsam und wollte reden. Vielleicht sogar Beides. Shuichi blickte sich um Flur um. Auf der kleinen Kommode standen Fotos der Familie Kyle – jung, alt, zusammen, alleine. Vor etwas mehr als einer Stunde hatte er hier mit einer anderen Frau gesprochen. Es konnte sich um ihre Tochter oder Enkelin gehandelt haben. Das würde er noch erfahren. „Hier entlang“, sagte die ältere Dame mit einem Lächeln auf den Lippen. „Meine Familie hat das Haus umgestaltet, damit ich einen eigenen Bereich habe.“ Akai nickte verstehend. „Mrs. Kyle…“ „Janice, nennen Sie mich Janice“, entgegnete sie und brachte ihn in ihr kleines Wohnzimmer. „Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Tee? Ich trinke um diese Uhrzeit immer Tee. Früher haben sich meine Enkelkinder zu mir gesetzt und ich habe ihnen Geschichten erzählt. Soll ich Ihnen auch eine Geschichte erzählen?“ Jetzt wusste Shuichi, dass die Frau einfach nur jemanden zum Reden brauchte. Vermutlich kamen ihre Enkelkinder nicht mehr so oft zu Besuch wie früher. Vielleicht war sie aber auch ein wenig verwirrt. Er setzte sich. „Wenn Sie Kaffee da haben, würde ich einen Kaffee nehmen, ansonsten komme ich auch mit Tee zurecht. Sie können mir in der Zwischenzeit schon einmal das Fotoalbum geben.“ „Das Fotoalbum? Ach ja, die Bilder von früher, die ich Ihnen zeigen wollte.“ Janice ging an den Schrank und holte mehrere Alben heraus. Sie legte diese auf den Tisch. „Ich weiß leider nicht, welches das Richtige ist. Jetzt wo alles nur noch über dieses online geht, ist alles so viel anders geworden. Meine Enkel haben versucht mir diese Cloud zu erklären, aber das ist alles so neumodisch und ich schau mir die Bilder doch so gerne an. Warum sollte ich sie irgendwo verschieben wollen. Ah, Tee, ich wollte Tee kochen“, entgegnete sie und verließ den Raum. Shuichi seufzte. Das würde noch ein langer und anstrengender Tag werden. Der Agent nahm eines der Alben und blätterte darin rum. Und im nächsten. Und im nächsten. Bis er endlich das richtige fand, kam Janice mit dem Tee zurück. Sie beobachtete den jungen Mann und blickte auf das Album. „Da waren die Kinder noch so klein.“ Akai nickte und betrachtete das Bild. „War Jodie gut mit Ihren Enkelkindern befreundet?“ „Mit Leslie.“ Sie setzte sich. „Die beiden waren immer ein Herz und eine Seele. Als Jodie von hier weggezogen ist, haben sich die beiden Mädchen nur noch selten gesehen. Es hat mir das Herz gebrochen. Danach war es nie mehr wie früher.“ Shuichi runzelte die Stirn. „So etwas kann passieren, wenn ein Umzug stattgefunden hat. Wissen Sie, wann die beiden Frauen das letzte Mal Kontakt hatten?“ Die alte Dame dachte nach. „Das war…“ „Grandma.“ Leslie kam in das Wohnzimmer ihrer Großmutter und starrte Shuichi mit aufgerissenen Augen an. Sie hatte ihn erkannt und gelauscht, als er ihre Mutter über Jodie befragte. „Leslie, Schatz, wir haben gerade über dich gesprochen. Erinnerst du dich noch an die kleine Jodie? Er sucht nach ihr.“ Janice sah zu Akai. „Da fällt mir ein, ich weiß gar nicht, wie Sie heißen…“ „Akai“, antwortete er. „Ich bin ein Freund von James, Onkel James.“ „Onkel James“, murmelte Leslie. „Ich erinnere mich an ihn. Er hat früher oft mit uns gespielt.“ Sie räusperte sich. „Sie waren heute schon bei meiner Mutter und haben nach Jodie gefragt. Warum?“ „Jodie ist vor drei Jahren weggezogen und James würde sie gerne wiedersehen. Deswegen wollte ich versuchen, sie ausfindig zu machen. Wann hatten Sie das letzte Mal mit ihr Kontakt?“ „Ist schon lange her“, antwortete sie. „Ich möchte Sie bitten, dass Sie jetzt gehen. Sie werden sicher verstehen, dass es mir komisch vorkommt, dass Sie bei den Nachbarn rumfragen. Sollte sich Jodie bei uns melden, sage ich ihr, dass Sie sie gesucht haben. Ob sie sich meldet oder nicht bleibt ihr überlassen.“ Sie wusste etwas. Aber Shuichi konnte sich denken, dass es nichts brachte, sie zu bedrängen. Er stand auf. „Entschuldigung, ich wollte nicht aufdringlich sein.“ „Aber nicht doch, Jungchen. Meine Enkelin macht sich immer so viel Sorgen um mich.“ „Grandma!“ Shuichi lächelte. „Sie haben ja meine Nummer. Scheuen Sie sich nicht, mich zu kontaktieren.“ Leslie entgegnete nichts mehr und brachte ihn nach draußen. Als sie zurück ins Wohnzimmer ihrer Großmutter kam, blickte sie sie streng an. „Grandma, ich hab dir doch schon oft genug gesagt, dass du nicht immer wildfremden Menschen glauben oder ihnen vertrauen sollst. Wer weiß, warum er Jodie in Wahrheit sucht. Du weißt doch, was damals passiert ist.“ Sie seufzte. Die ältere Dame nickte. „Du hast ja Recht, mein Schatz. Es ist so schade, um den heißen Tee.“ „Den trink ich mit dir, Grandma. Ich hol uns noch ein paar Kekse dazu“, gab Leslie von sich und ging in die Küche. Sie nahm ihr Handy heraus und tippte eine Nachricht. Jemand sucht nach dir. Pass auf dich auf. Nachdem Shuichi am Nachmittag ins Büro kam, begann er eine Datei anzulegen. Er schrieb alles nieder, was er in den letzten beiden Tagen in Erfahrung gebracht hatte. Wirkliche Anhaltspunkte hatte er nicht. Dennoch würde er es noch einmal am Grab ihrer Eltern versuchen. Alleine schon aufgrund der Tatsache, dass bald der Geburtstag ihrer Mutter anstand. Akai tippte nachdenklich mit den Fingern auf dem Tisch, als es an der Tür klopfte. „Herein.“ Ein junger Agent betrat das Büro. „Mir wurde gesagt, dass Sie nach mir gesucht haben“, begann er. „Ich bin Agent Roy Tripton.“ „Agent Tripton.“ Shuichi lächelte. „Bitte, setzen Sie sich.“ Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Roy setzte und blickte seinen Kollegen an. „Ehrlich gesagt, ist mir noch nicht ganz klar in welcher Angelegenheit Sie mich sprechen wollten. Ich bin zuständig für Wirtschaftskriminalität und Sie…naja nicht…“ Akai musterte den Agenten. Alterstechnisch unterschieden sie sich nur in einigen Jahren und ihre Erfahrung war von ihrem Aufgabengebiet abhängig. „Ich arbeite gerade mit Agent Black an einem Fall. Er wirkte etwas unkonzentriert und so konnte ich in Erfahrung bringen, dass vor 20 Jahren sein bester Freund – ebenfalls ein FBI Agent – getötet wurde und dessen Tochter seit drei Jahren verschwunden ist.“ Shuichi hatte sich dazu entschieden, den Fall der Organisation auch innerhalb des FBIs als streng vertraulich zu behandeln. Zudem konnte er nicht ausschließen, dass eine weitere Gefahrenquelle dazu führen würde, dass sich Jodie auch weiter versteckt hielt. „Deswegen stelle ich derzeit ein paar Nachforschungen an.“ „Und…und was habe ich damit zu tun?“ „Ich habe mich in die Akten eingelesen. Bevor Jodie vor etwa drei Jahren verschwunden ist, kam sie regelmäßig her und versuchte sich Zugang zu den Akten ihres Vaters zu verschaffen. Sie wollte seinen Tod aufklären und den Mörder finden. Ich weiß, dass sie damals mit mehreren Kollegen ins Gespräch gekommen ist. Das ist natürlich kein Problem. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Kommilitonen verschwand sie auf einmal. Und da kommen Sie ins Spiel, Agent Tripton. Ich weiß, dass Sie mit Jodie Kontakt hatten.“ „Wie Sie schon sagten, hatten viele Agenten mit ihr…Kontakt.“ „Das stimmt“, nickte Shuichi. „Diese habe ich auch schon befragt. Sie wissen doch, dass jeder Besuch im Büro dokumentiert wird. Jodie war oft hier und in den zwei Jahren bevor sie verschwunden ist, hatte Sie immer nur Sie besucht.“ Agent Tripton runzelte die Stirn. „Das habe ich auch Agent Black erzählt. Wir sind bei einem ihrer Besuche ins Gespräch gekommen und ich bot ihr an, dass ich ihr gerne zuhören, wenn sie jemanden zum Reden braucht.“ „Ja, das sagten Sie“, gab Akai ruhig von sich. „Aber wissen Sie, was mich an der ganzen Sache verwundert?“ „Was?“ „Sie ist einfach so untergetaucht und seit drei Jahren scheitert jeder daran, sie zu finden. Was glauben Sie wohl, wie sie das angestellt hat?“ Tripton schwieg. „Ich glaube, sie hatte Unterstützung. Von einer Person, die genau weiß, wie das System funktioniert und wie man untertauchen kann, ohne gefunden zu werden. Ich glaube, dass ihr jemand geholfen und alle Spuren beseitigt hat. Und natürlich muss es jemanden gegeben haben, der dafür sorgte, dass ihr Agent Black nicht auf die Schliche kam. Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Agent Tripton.“ „Sie glauben, dass ich…“ Shuichi lehnte sich nach vorne. „Ich glaube es nicht nur. Ich weiß es. Ich weiß, dass Sie für Jodie hier die Strippen gezogen haben“, log er. „Und jetzt möchte ich, dass Sie mir alles erzählen, was passiert ist. Oder ich sorge dafür, dass Sie wegen Behinderung der Justiz für die nächsten Jahre nur noch Schreibtischarbeit leisten werden.“ Roy Tripton schluckte abermals. „Ich…verstehe nicht, was Sie meinen. Ich habe keine Ermittlungen behindert und nichts verschleiert.“ „Das kommt darauf an“, begann Shuichi ruhig. „Noch sieht es so aus, als würde Jodie nicht gefunden werden. Aber wenn alle bisherigen Versuche sie zu finden, scheiterten, können wir das alles auch aus als Entführungsfall hochspielen, rückwirkend natürlich. Und wenn Sie bei den bisherigen Befragungen etwas gewusst und verschwiegen haben, zählt das als Behinderung. Also, Agent Tripton, möchten Sie etwas Sagen oder soll ich die Unterlagen fertig machen und Sie erhalten Post von anderer Stelle?“ Roy seufzte leise auf. „Ich hätte wissen sollen, dass es mich in Schwierigkeiten bringt. Gut, Agent Akai, ich sage Ihnen alles was ich weiß. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie sie finden.“ „Versuchen wir es.“ Shuichi lächelte. Er liebte es, wenn ein Bluff zum gewünschten Erfolg führte und bei Agent Tripton hatte er an der Körperhaltung erkannt, dass er mehr wusste. „Ich habe Jodie Starling vor viereinhalb Jahren kennengelernt. Sie kam her, um Einsicht in die Akten ihres Vaters zu bekommen, besonders die Akte von seiner Ermordung. Sie wurde aber immer wieder weggeschickt. Ich traf sie vor dem Büro, sie saß auf den Treppenstufen und weinte. Ich war gerade erst seit einigen Wochen im Dienst und empfand es als meine Pflicht ihr zu helfen. Wir sind ins Gespräch gekommen und sie hat mir alles über ihren Vater erzählt. Ich versprach, mich umzuhören. Als ich das tat, bekam ich aber auch einen Maulkorb verpasst. Seit jeher spendete ich ihr Trost und…“ Er wurde etwas verlegen. „…wir kamen uns näher. Dann ist das mit ihrem Kommilitonen passiert und Jodie war am Boden zerstört. Ich schlug ihr vor, irgendwo anders ein neues Leben anzufangen und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich wollte sogar mit ihr gehen, aber…dann kam alles anders.“ „Was meinen Sie damit?“ Tripton seufzte. „Sie wusste, dass sie nicht einfach so weggehen konnte, gerade wegen Agent Black. Also hab ich das alles für sie organisiert und sie auf alles vorbereitet. Sie wusste, wie sie unbemerkt aus der Stadt kommt und wie sie sich danach verhalten muss.“ „Wo haben Sie sie hingeschickt?“ „Nach London“, antwortete Roy ruhig. „London?“ Er lächelte. „Nicht das London in England. Das in Ohio.“ „Ich verstehe“, gab Akai von sich. „Sie wählen einen Ort der nicht eindeutig bestimmt werden kann. Gut, sie ist also in London, Ohio.“ „Nein“, entgegnete der Agent und seufzte. „Wir hatten ein ganzes Jahr noch regelmäßig Kontakt und ich fuhr sie oft besuchen. Aber dann brach sie die Verbindung zu mir ab. Als ich dort war, war sie weg, die Wohnung und ihre Arbeitsstelle gekündigt. Es gab nur einen Brief und bevor sie fragen, nein, ich habe ihn nicht aufgehoben. Sie hat sich bei mir bedankt und entschuldigte sich für die Probleme, die sie mir bereitet hat. Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen. Ich war auch in den anderen namensgleichen Städten, aber…“ Er schüttelte den Kopf. Shuichi verschränkte die Arme vor der Brust. „Deswegen haben Sie mir jetzt also alles erzählt. Sie wussten, dass ich Jodie nicht finden würde, weil sie selbst nicht wissen wo sie ist.“ Roy nickte. „Es tut mir wirklich leid wegen Agent Black, aber ich kann Ihnen nicht helfen.“ Er räusperte sich. „Gut“, murmelte Shuichi. „Unter welchem Namen hat Jodie in London gelebt?“ „Als Jodie Maria Saintemillion. Maria ist ihr Zweitname, den wir als ihren Rufnamen angaben und Saintemillion ist der Nachname einer Identität aus dem Zeugenschutzprogramm. Als Kind hat sie mitbekommen, wie Agent Black darüber sprach, ob eine Pflegefamilie oder das Zeugenschutzprogramm das Richtige für sie wäre. Ich dachte, es sei so offensichtlich, dass man keinen Zusammenhang erkennt. Und es hat ja auch geklappt. Wir haben ihr Aussehen verändert, Haarfarbe, Augenfarbe und ihr einen Job besorgt, wo man keine Fragen stellt.“ „Ich verstehe. Wo hat sie gearbeitet?“ „In einem kleinen Diner in Wilmington, Ohio, es liegt eine dreiviertel Stunde von London entfernt. Deswegen hatten wir auch keine Angst, dass sie über die Sozialversicherungsnummer gefunden wird. Ärzte wären kein Problem gewesen, aufgrund der Schweigepflicht. Allerdings hatten wir geplant, dass sie deswegen nach Dayton, Cincinnati oder Indianapolis fahren sollte. Unter normalen Umständen dürfen Behörden oder Ärzte weder Daten noch Hinweise an Außenstehende herausgeben und da Jodie nicht vermisst gemeldet werden konnte, waren wir recht sicher. Jeder FBI Agent hat gewisse Kontakte, das hat sehr geholfen, als Agent Black mit der Suche anfing.“ Akai nickte verstehend. „Also haben Sie seit zwei Jahren nichts mehr von Jodie gehört“, fasste er zusammen. „Das ist korrekt. Und jetzt hätte ich gerne die Beweise, die Sie gegen mich haben. Und bitte, Black darf von meinem Zutun nichts erfahren.“ „Es gibt keine Beweise“, antwortete Shuichi ruhig. „Aber Sie sagten doch…“ „Ich habe nie von Beweisen gesprochen“, sprach Akai ruhig. „Ich habe lediglich erwähnt, dass ich weiß, dass Sie ihr geholfen haben. Es war ein Bluff und Sie sind darauf reingefallen.“ Agent Tripton schluckte. „Aber…wie…Sie konnten doch nicht wissen, dass…“ „Hätten Sie mir glaubhaft versichert, nichts damit zu tun gehabt zu haben, hätte ich Ihnen geglaubt. Aber Ihre Körpersprache hat eine ganz andere Sprache gesprochen. Als FBI Agent sollten Sie eigentlich wissen, wie man sich nicht verrät. Sie wissen doch, ein guter Lügner ist auch ein guter Schauspieler, der seine Lüge bis ins kleinste Detail einstudiert hat und souverän erzählen kann. Als ich das Thema mit Jodie ansprach, haben Sie den Blickkontakt vermieden. Außerdem sind Sie auf dem Stuhl hin und her gerutscht und zögerten. Als wir dann auf Jodies aktuellen Aufenthaltsort kamen, waren Sie souveräner. Daher weiß ich, dass Sie dabei nicht gelogen haben.“ „Körpersprache, aber natürlich. Deswegen bin ich auch auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert. Und…was machen Sie jetzt?“ „Ich werde Jodie weiter suchen.“ Er lehnte sich nach hinten. „Sie müssen sich wegen Black keine Sorgen machen. Von mir wird er nichts erfahren. Sie werden es ihm selbst erzählen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)