Beautiful Behavior von Varlet ================================================================================ Kapitel 5: Vergangenheit ------------------------ Aus dem Gespräch mit James hatte Shuichi einige wichtige Informationen erhalten. Es hatte ihm auch klar gemacht, dass er umso strukturierter an die Sache herangehen musste. Und ganz am Anfang stand die Recherche. Er musste alles was damals passiert war, aufarbeiten. Durch das Bild, welches er nun von Jodie gewonnen hatte, wusste er, dass sie bereits viel durchmachen musste: der Verlust ihrer Eltern, das Gespräch mit ihrem Mörder, die Pflegefamilie, der Streit mit dem Kommilitonen, der Unfall und den Ärger danach. Aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass ihr Verschwinden von langer Hand geplant war. Die Frage war nur, ob es Jodies Idee war oder ob nicht doch die Organisation ihre Finger im Spiel hatte. Als Shuichi sein Büro betrat, war Camel in seine Recherchen vertieft. Es war gut, denn momentan wollte er sich nicht mit seinem Kollegen austauschen. Akai setzte sich auf seinen Platz, legte das Foto von Jodie auf den Tisch, entsperrte den Computer und rief die Archiv-Software auf. Zuerst öffnete er die Akte von der Mordnacht vor 20 Jahren. Wie Decker versprochen hatte, hatte er nun Zugriff auf diese Akten. Shuichi lies sich die Unterlagen durch. Den Großteil kannte er bereits, da es darum in dem Meeting mit den anderen Agenten und in seiner Unterredung mit Black ging. Trotzdem irritierten ihn zwei Dinge. Das Blut auf Jodies Nachthemd konnte eindeutig ihren Eltern zugeordnet werden, aber es gab keinen Verweis darauf, dass Jodie nach genug bei ihnen war. Das und die Tatsache, dass sich das kleine Mädchen immer wieder entschuldigte, wurde vom Therapeuten, vom Arzt und von anderen Agenten auf einen Schockzustand geschoben. Und dann gab es noch das Einschussloch im Kopf des Agenten. Alles deutete darauf hin, dass Starling aus nächster Nähe und von unten erschossen wurde. Möglicherweise hatte die Schauspielerin etwas damit zu tun, aber es gab keine Hinweise, dass der Agent gefesselt war oder sich irgendwie wehren musste. Jeder vermutete, dass er mit dem Leben seiner Familie bedroht wurde und deswegen bei dem perfiden Spiel mitmachte. Dennoch hatte Shuichi das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Und letzten Endes waren Vermutungen nur Schall und Rauch. Sie waren weder Wahrheit noch Lüge. Akai machte sich ein paar Notizen und schloss die Akte. Anschließend begann er mit der Akte von Jodies Verschwinden. Black hatte viel Zeit in die Suche von Jodie investiert. Eine Handschriftenanalyse bestätigte, dass der Abschiedsbrief von Jodie geschrieben wurde. Es gab außerdem Belege, dass sich keine versteckten Botschaften in dem Brief befanden. Sicherheitshalber hatte dies Shuichi ebenfalls überprüft. Die Agenten hatten damals nichts unversucht gelassen, um Jodie zu finden, doch die junge Frau blieb wie vom Erdboden verschwunden. Das bestätigte Akai in seiner ersten Annahme und dennoch suchte er auch noch nach anderen Hinweisen. Glücklicherweise hatte ihm James seine privaten Unterlagen zur Suche bereits geschickt. Shuichi merkte, dass sie ihm viel bedeutete. Er hatte sogar sein Privatvermögen für die Suche flüssig gemacht und tat, was er konnte. Aber auch wenn James keine Spur zu Jodie aufbauen konnte, waren seine Taten nicht vollkommen nutzlos. Seit einigen Jahren kam Jodie regelmäßig ins Büro und versuchte Zugang zu den Akten ihres Vaters zu bekommen sowie zu der Akte von der Todesnacht. Dabei war sie mit mehreren Kollegen ins Gespräch gekommen; einige alte Hasen aber auch jene, die ihre Ausbildung gerade erst beendet hatten. Shuichi leckte sich über die Lippen. Würde an seiner Theorie, dass Jodie eine Kontaktperson beim FBI hatte, etwas wahr sein, musste er nur mit diesen Kollegen sprechen. Er notierte sich die Namen und rief einen nach dem anderen an. Sie erzählten alle das gleiche: Immer wenn Jodie nach den Akten fragte, wurde sie entweder nach Hause geschickt oder an James verwiesen. Nur einen Agenten – Roy Tripton – konnte er nicht erreichen. Agent Tripton befand sich bei einem Außeneinsatz. Aber das würde Shuichi nicht aufhalten, er würde das Gespräch einfach an einem anderen Tag führen. Der Agent fuhr seinen Computer runter und nahm das Bild von Jodie. Er blickte noch einmal zu Camel, der nun erst seine Anwesenheit bemerkte. „Ich arbeite den Rest des Tages außerhalb.“ „Eh…ja ist gut“, murmelte Camel irritiert und blickte seinem Kollegen nach. Shuichi ging in den Keller, wo sich das Team von der Technik ein Monopol aufgebaut hatte. Er mochte die Kollegen, den sie versuchten immer zu helfen und machten das Unmögliche möglich. Zu einigen von ihnen hatte er ein gutes Verhältnis, denn er wollte immer verstehen, was sie taten und welchen Hintergrund die Technik hatte. Akai klopfte an die Tür und trat ein. „Hey Maddie“, grüßte er die junge Agentin. „Akai, was treibt dich hier nach unten?“, wollte sie wissen. Maddie Wilson arbeitete früher für einen großen IT-Konzern und war vor fünf Jahren zum FBI gekommen. Neben ganz normalen Fällen kümmerte sie sich um alles, wozu die anderen Agenten einen Computer brauchten. Sie sah sich Datenbanken an, baute Systeme nach und versuchte Taten am Computer zu rekonstruieren. „Ich brauch deine Hilfe.“ Er schob das Bild von Jodie über den Tisch. „Ich suche diese junge Frau. Sie wurde vor drei Jahren erkennungsdienstlich behandelt und ist einige Monate danach verschwunden. Prüf bitte, ob sie in den letzten drei Jahren irgendwelche Probleme hatte.“ Akai verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem benötige ich eine Auswertung von der Gesichtserkennungssoftware. Ich möchte wissen, wo sie in den letzten drei Jahren gesehen wurde. Sie kann sich nicht die ganze Zeit versteckt halten. Überprüf bitte auch alle Bilder wo sie eine Mütze oder eine Maske getragen haben könnte.“ Maddie sah ihn irritiert an. „Eine Maske? Du glaubst, sie wär mit einer Maske nicht aufgefallen?“ „Es geht nicht um die Art von Maske, die du dir gerade vorstellst. In Japan ist es üblich, dass man einen Mundschutz trägt, wenn man eine Erkältung hat. Es gibt auch Prominente, die sich dadurch verstecken wollen. Auch hier habe ich schon einige Asiaten gesehen, die den Mundschutz tragen. Wenn sie es auch mal gesehen hat, könnte sie es sich zu Nutze gemacht haben.“ Die Agentin dachte nach. „Jetzt versteh ich. Ich schicke dir dann die Ergebnisse per Mail.“ „Danke. Und jetzt komm ich zu meiner komplizierteren Bitte.“ Er schmunzelte. „Ich habs geahnt“, murmelte Maddie. „Na los, was brauchst du?“ „Wie bereits erwähnt, diese Frau ist verschwunden, wir schließen Fremdverschulden aus…“ „Ich ahne übles…“, „…deswegen brauche ich Bilder von ihr mit einer anderen Haarfarbe, langhaarig, mit anderen Haarschnitten, ohne Brille, mit Leberflecken und Sommersprossen und alles andere, was dir einfällt. Vielleicht zauberst du ihr auch ein paar Pfunde ins Gesicht und lässt sie etwas abnehmen. Ich brauche alle möglichen Variationen“, erklärte der Agent. Maddie seufzte leise auf. „Auch wenn ich vieles mit Automatismen laufen lasse, dauert es alle notwendigen Einstellungen vorzunehmen. Besonders dann, wenn du so viele verschiedene Variationen willst. Ich kann dir alles bis morgen Abend fertig machen.“ „Der Fall hat höchste Priorität. Du kannst dir das von Agent Decker bestätigen lassen.“ „Von Decker?“, entgegnete Maddie leise. „Gut, wenn das so ist, kriegst du alles spätestens heute Abend.“ Shuichi lächelte. „Danke, ich verlass mich auf dich. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, melde dich bei mir.“ „Als ob ich Probleme bekommen würde.“ Shuichi schmunzelte. „Also dann…“, er hob zum Abschied die Hand und verließ das Gebäude. Draußen blickte der Agent in den Himmel. Er würde alles tun, was er konnte, um Jodie zu finden. Auch dann, wenn es aussichtslos aussah. Niemand würde ihm vorwerfen können, dass er die Aufgabe auf die leichte Schulter nahm oder zu wenig dafür tat. Und auch wenn jemand nicht gefunden werden wollte, Spuren würde es trotzdem immer geben. Akai stieg in seinen Wagen, schnallte sich an und startete den Motor. Unter Beachtung des Tempolimits fuhr er zum NYPD – dem New York Police Department. Viele Polizisten mochten das FBI nicht, denn FBI Agenten konnten ihnen immer die Fälle entziehen oder als ihre Vorgesetzten fungieren. Andererseits waren auch die Agenten nicht immer von der Polizeiarbeit überzeugt und stellten die Arbeit oftmals in Frage. Trotzdem hatte sich Shuichi entsprechende Kontakte aufgebaut und war sich nicht zu schade, diese um Hilfe zu bitten. Viele Kontakte zu haben, konnte nur von Vorteil sein. Shuichi parkte seinen Wagen und stieg aus. Er betrat das NYPD und wurde von den dortigen Polizisten kritisch beäugt. Ohne eine Jacke oder eine Mütze, die ihn als FBI Agenten auswies, konnte er auch als grimmiger Japaner bezeichnet werden. Am Empfang versuchte er ein Lächeln aufzusetzen. „Akai, ich möchte mit Detective Pollard sprechen.“ Die Dame musterte ihn. „Haben Sie einen Termin?“ „Nein, aber er wird mich trotzdem gern empfangen. Rufen Sie ihn bitte an.“ „Warten Sie bitte einen Moment“, sagte sie und nahm den Hörer des Telefons in die Hand. Während sie die Nummer wählte, stellte sich Akai ein wenig abseits. „Detective Pollard, hier ist ein junger Mann, der Sie sprechen möchte. Er sagt, sein Name sei Akai und dass Sie ihn empfangen würden.“ „Schicken Sie ihn durch. Er kennt den Weg.“ „Ja, Detective“, murmelte sie und legte auf. Die Empfangsdame sah wieder zu Akai. „Sie können durchgehen, der Detective erwartet Sie.“ „Danke“, entgegnete Shuichi und ging zu dessen Büro. Er klopfte an die Tür und trat ein. „Detective Pollard“, begann er. „Agent Akai.“ Pollard beugte sich nach vorne. „Was verschafft mir die Ehre? Es muss ja dringend sein, wenn Sie sogar persönlich vorbei kommen.“ „Sie kommen natürlich gleich zur Sache.“ Shuichi lächelte und setzte sich. „Ich benötige die Akte zu einem Fall, der vor drei Jahren stattgefunden hat. Es ging dort um eine junge Frau; Jodie Starling. Sie war wohl in einen Unfall verwickelt. Ich brauche Einblick in die Unterlagen.“ Pollard seufzte. „Wie kritisch ist es?“ „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich muss nur etwas überprüfen. Und bevor Sie fragen, nein, ich kenne nicht die Aktennummer.“ Der Polizist runzelte die Stirn und tippte Jodies Namen in den Computer. „Mhm…da haben wir es ja…“ „Ja?“ Shuichi beobachtete ihn. „Was haben Sie gefunden?“ „Vor drei Jahren gab es auf einer Studentenfeier ein Handgemenge bei dem ein junger Mann stürzte. Er wurde sofort ins Krankenhaus gebracht und bekam eine Hirnblutung diagnostiziert. Eigentlich hatte er Glück, denn dort konnte er behandelt werden und nach einigen Wochen auch nach Hause entlassen werden. Diese Jodie Starling wurde allerdings angezeigt und bekannte sich auch schuldig. Sie hatte einen guten Anwalt, aber es kam nie zu einer Anklage.“ „Wieso nicht?“ „Die Anwälte haben sich geeinigt. Starling musste ein hohes Schmerzensgeld zahlen. Und das war es auch schon. Es gab keinen Verweis von der Uni und auch keine anderen Konsequenzen für sie. Vermutlich weil alles als Unfall eingestuft wurde.“ Shuichi nickte verstehend. „Können Sie mir die Akte schicken?“ „Agent Akai, Sie wissen doch, dass die Akten das NYPD nicht verlassen dürfen. Auch nicht per E-Mail an eine nicht autorisierte Adresse. Ich könnte Ihnen maximal die entsprechenden Passagen ausdrucken.“ „Gut, das würde mir auch reichen“, entgegnete er. „Könnten Sie auch überprüfen, ob Starling in den letzten drei Jahren sonst noch irgendwo involviert war?“ „Jetzt wird es interessant“, gab Pollard von sich und druckte einen Auszug aus der Akte aus. Anschließend setzte er die Suche nach Jodies Namen im System fort. „Ein paar Monate darauf gab es eine Vermisstenanzeige von James Black. Der Fall wurde aber eingestellt, als er uns den Brief übergab. Es war eindeutig, dass sie aus freien Stücken ging. Danach haben wir nichts mehr.“ Pollard stand auf und holte den Zettel aus dem Drucker. Er reichte ihn an Akai und verschränkte die Arme vor der Brust. „Verstehe. Danke für Ihre Hilfe.“ Shuichi stand auf. „Sie suchen die junge Frau, nicht wahr?“ Akai nickte. „Wenn Sie nicht gefunden werden will, werden Sie es schwer haben.“ „Das mag sein, aber das gehört zu meinem Job.“ Shuichi lächelte. „Ich habe bereits einen Plan, um sie zu finden. Ach ja, machen Sie sich keine Sorgen, sie ist in keine Machenschaften involviert; keine Zeugin, keine Täterin. Mein Boss möchte nur das ich sie finde und nach Hause bringe.“ „Wenn Sie trotzdem Hilfe brauchen…“ „Danke für das Angebot“, sagte Shuichi ruhig. „Wenn es notwendig ist, melde ich mich“, fügte er hinzu und verließ das Büro. Nachdem er schon einige Punkte auf seiner imaginären Liste abhacken konnte, war es Zeit gewesen zwei weitere Orte aufzusuchen: den Friedhof und Jodies ehemalige zu Hause. Akai war schon gespannt, was er dort herausfinden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)