A thousand words or less von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 5: 05. ring without a gem (Decays) ------------------------------------------ ring without a gem   Ataru würde sich selbst nicht als übermäßig rührseligen Menschen bezeichnen. Sicher, auch sie hatte ihre sentimentalen Momente. Solche, in denen man mit rosaroter Brille auf die Vergangenheit sah und sich fragte, ob früher nicht doch alles besser war. Im Gegensatz zu vielen anderen konnte sie diese Frage allerdings mit einem eindeutigen und durchaus positiv gemeinten „Nein.“ beantworten.    Es mochte Momente geben, die sie vermisste, wie jeder andere Mensch auch, aber genauso hatte sie die Gewissheit, dass in ihrem Leben heute alles so war, wie es sein sollte. Vielleicht nicht so, wie sie es sich mit vierzehn oder fünfzehn gewünscht hätte, aber das lag daran, dass sie sich nicht hatte vorstellen können, ein Leben zu führen, dass sie so erfüllte, wie es heute der Fall war.   Und genauso wenig, wie sie Zeit damit verbrachte, unnötig in Erinnerungen zu schwelgen, mochte sie es, an Traditionen festzuhalten, nur um diejenigen zufriedenzustellen, die sie irgendwann einmal erfunden hatten. Denn welchen Wert hatten Bräuche, wenn sie zur reinen Pflicht verkamen und keinerlei Erfüllung gewährten? Stattdessen hatte sie schon als Kind beschlossen, dass es weitaus sinnvoller war, einfach eigene Traditionen zu schaffen. Solche, an denen man ehrliche Freude haben konnte.   Man mochte also über sie sagen, was man wollte – übermäßige Gefühlsduselei konnte man Ataru nicht vorwerfen. Und vielleicht war genau das der Grund dafür, dass sie diejenigen Dinge, die sie mit aufrichtig empfundener Wärme an besondere Momente erinnerten, umso mehr wertschätze, so klein und unbedeutend sie auch wirken mochten.    Und diese Tatsache wiederum führe auf direktem Wege dazu, dass sie in an Tradition grenzender Regelmäßigkeit einmal im Monat einen Nachmittag damit verbrachte, ihre sorgsam zusammengetragene Sammlung an Edelsteinen und Mineralien zu pflegen, um den Kleinoden die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdienten. Jeder der Steine hatte seinen festen Platz in ihrer Wohnung, jeden nahm Ataru einzeln in die Hand, um ihn zu entstauben oder zu reinigen, so es nötig war. Ihre Reihenfolge änderte sich nur, wenn sie nach einem wichtigen Ereignis in ihrem Leben eine weitere Kostbarkeit hinzufügte.   Den Anfang aber machte immer ein ungeschliffener Zitrin, der heute gut in ihre Handfläche passte, aber so groß wie ihre Faust gewesen war, als ihre Großmutter ihr den Stein zur Einschulung geschenkt hatte. Atarus Finger zeichneten die kleinen Ecken und glatten Kanten nach, folgten den Farbverläufen von fast weißen Zitronenfaltergelb hin zu einem kräftigen Ton, der beinahe an Löwenzahn erinnerte. Sie hatte diesen Stein so oft in ihrem Leben einfach gehalten, dass sie nicht mehr hätte sagen können, wie oft es gewesen sein mochte.   Auf ihn folgte ein kleines, unscheinbares Stück Hämatit, das mit seiner metallisch grauen Oberfläche und überraschenden Schwere fast wie das Gegenteil seines Vorgängers erschien. Für Ataru war es ein bittersüßes Monument, das sie auch heute noch mit harter Deutlichkeit an das erste Mal erinnerte, dass ein Mädchen ihr das Herz gebrochen hatte. Gekauft hatte sie ihn von ihrem Taschengeld auf einem Schulausflug, nur wenige Stunden, bevor sie ihrer Klassenkameradin ihre Gefühle gestanden hatte. Auch jetzt noch lag ein melancholisches Lächeln auf ihren Lippen, als die den dunklen Stein akkurat wieder an seinen Platz legte.   Und so aufwühlend die Erinnerungen auch sein mochten, sie wurden nicht ganz zufällig vom nächsten Stück ihrer Sammlung wieder besänftigt: ein oval geschliffenes Stück Aventurin, das in Aussehen und Größe nicht unähnlich der Eier war, die die Zwerghühner ihrer Großmutter legten. Der tiefgrüne Ton hatte für sie seit jeher etwas Beruhigendes ausgestrahlt, was vielleicht der Grund war, warum sie ihn vor ihren Universitätsprüfungen einfach hatte kaufen müssen, nachdem sie ihn in einem Schmuckladen gesehen hatte. Seitdem war der Stein ein ständiger Begleiter zu Gelegenheiten, die einen Neubeginn bedeuten konnten. Für den Moment jedoch fand er wieder seinen festen Platz auf dem hellen Holz des Regals.   Atarus Fingerspitzen wanderten langsam weiter, strichen fast schon ehrfürchtig über die warm glänzenden Perlen der Bernsteinkette, ehe sie sie vorsichtig an sich nahm und wieder und wieder durch ihre Hände gleiten ließ. Der Farbverlauf der kleinen, rund geschliffenen Steine würde sie wohl immer faszinieren, egal, wie oft sie die Kette ansah oder zu seltenen Gelegenheiten trug. Wann immer der Bernstein auf ihrer Haut zu liegen kam, erinnerte sie sich an die Reise nach Myanmar, die sie nach ihrem Studium mit einigen Freunden unternommen hatte. Das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Zeit außerhalb Japans verbracht hatte. Damals war es ihr wie das größte Abenteuer erschienen, auf das sie hätte gehen können.   Die nächste Erinnerung erschien erneut wie ein Gegenteil ihres Vorgängers: rau, ungeschliffen, tiefblau und damit so ganz anders als der Anlass, zu dem sie ihn als Geschenk an sich selbst gekauft hatte. Als Erinnerung daran, dass es sich manchmal lohnte, mutig zu sein. Das klare Indigo der Oberfläche wurde von kleinen golden glimmenden Pyrit-Flocken durchzogen, ließ sie an einen endlosen Nachthimmel im Hochsommer denken. Der Himmel, unter dem Toshiya sie nach einem viel zu langen Abend zum ersten Mal geküsst hatte. Selbst jetzt noch konnte sie die Wärme in ihren Wangen fühlen, wenn sie daran dachte.   Der Amethyst, dem sie sich nach längerem Verharren zuwandte, war merklich größer, als alle seine Vorgänger und wirkte doch beinahe unscheinbar. Mit seinen unbearbeiteten, fliederfarbenen Kristallen erweckte er beinahe den Eindruck, als hätte man ihn gerade erst aus der Erde geborgen. Für Ataru jedoch war er ein Stück zu Hause, im wahrsten Sinne des Wortes: Solang sie sich erinnern konnte, hatte er eine Kommode im Haus ihrer Eltern geschmückt. Als sie schließlich ausgezogen war, hatten sie ihn ihr als Einzugsgeschenk für ihre erste eigene Bleibe überlassen.   Vor dem letzten und neuesten Stück auf diesem Regal verharrte sie länger, um den nur halb geschliffenen Granat eingehend zu betrachten. Sie mochte sein ‘unfertiges’ Aussehen, es fühlte sich an, als stünden ihm und ihr noch alle Möglichkeiten offen, die Zukunft so zu gestalten, wie sie es wollte. Und es hätte kaum ein besseres Valentins-Geschenk geben können als dieses, das Die ihr am Anfang ihrer Beziehung überreicht hatte. Damals, als sie noch nicht wussten, wohin all das führen würde, was heute ein fester Bestandteil ihres Lebens war.   Und, das stellte sie wieder einmal fest, bei Dingen, die solche Erinnerungen festhielten, konnte ein bisschen Sentimentalität so falsch nicht sein.   Hosted by Animexx e.V. 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