Die Sonne scheint für alle von MariLuna ================================================================================ Kapitel 8: -----------   VIII   „Urushihara, wir gehen jetzt.“ Es ist kurz vor elf Uhr vormittags, Mao ist auf dem Weg zu seiner Schicht und Alciel begleitet ihn noch bis zum Supermarkt an der Ecke. „Urushihara?“ Mao wirft er noch einen Blick zu dem gefallenen Engel hinüber. Der hängt mit dem Oberkörper auf dem niedrigen Tisch wie ein Schluck Wasser und starrt aus halbgeschlossenen Augen vor sich hin. „Hmmm...“ kommt es nur unbestimmt zurück. „Kein Internet“, warnt ihn Alciel aus reiner Gewohnheit heraus. „Und Finger weg von deiner Spielekonsole. Sonst muss ich sie dir wieder wegnehmen.“ „Ey Alter“, protestiert Lucifer schwach, „ich kann kaum was sehen, wie soll ich da Zombies töten?“ Mao mustert ihn einen Moment, während Alciel schon nach draußen geht - er muß hier raus, er erträgt diesen Anblick einfach nicht mehr. Dieses blasse Gesicht, diese blauen Flecken und die dunkelrot leuchtenden Schrammen, ganz zu schweigen von dem geschienten Arm... „Ruf uns an, wenn es dir schlechter geht. Ashiya ist in einer Stunde wieder da. Und wir bitten Suzuno, nach dir zu sehen.“ „Hmmmm...“ macht Lucifer nur und vergräbt das Gesicht in den Armen. Mao seufzt nur und verläßt dann die Wohnung. Er fühlt sich nicht wohl dabei, ihn allein zu lassen. Wenigstens wird Lucifer in diesem Zustand keinen Unsinn anstellen.     Als Alciel zurückkommt, hat sich nicht viel verändert. Außer, dass Crestia Bell bei Lucifer am Tisch sitzt und einen ihrer dicken Wälzer liest. Sie klappt das Buch zu, sobald sie ihn sieht und erhebt sich mit den ihr typischen, geschmeidigen Bewegungen. „Willkommen zurück, Alciel", begrüsst sie ihn. Lucifer dagegen gibt keinen Laut von sich. Alciel runzelt missbilligend die Stirn, verzichtet vor Crestia aber auf eine Zurechtweisung. Er bedankt sich bei ihr und bringt sie höflich zur Tür. Da sie ihm nichts sagt, geht er davon aus, dass nichts Nennenswertes in seiner Abwesenheit geschehen ist. Das beunruhigt ihn ein wenig. „Urushihara, lebst du noch?" Keine Antwort. Alciel erstarrt und betrachtet die auf dem Tisch zusammengesackte Gestalt etwas genauer. Als er dann aber sieht, wie sich Rücken und Schultern unter leichten Atemzügen heben und senken, ist er beruhigt. Nachdenklich geht er in Küche, holt den Rest der Misosuppe, die es heute zum Frühstück gab, heraus und füllt die Brühe in eine Extraschale ab. Lucifer hat heute noch nichts gegessen und Alciel hofft, dass er sich wenigstens zu Flüssignahrung überreden lässt. Während sie in der Mikrowelle erhitzt wird, wandern seine Gedanken unwillkürlich zum gestrigen Tag zurück. Für einen kurzen Moment, als er Lucifer da im Hof liegen sah, ganz verdreht und die Knochen weiß und blutig aus seinem Arm ragten, da blieb ihm fast das Herz stehen und er dachte, sie hätten ihn umgebracht. So etwas hatte er noch nie zuvor empfunden. Die fünf Sekunden, bis sie bei ihm waren und seinen Puls überprüfen konnten, waren fast die längsten in seinem ganzen Leben. Ob ein Dämon tot ist oder nicht, erkennt man schon lange, bevor man es richtig nachprüfen kann, weil er dann nämlich keine schwarze Energie mehr verströmt. Aber Lucifer hatte schon vorher keine Magie mehr, er war völlig leer, so wie jetzt... Und dann später im Auto, diese Worte, die er sagte, vor allen dieses ich hasse euch... Alciel bekommt noch heute eine Gänsehaut, wenn er daran denkt. So hat Lucifer noch nie geredet. Noch nie. Er benutzt dieses Wort in anderen Zusammenhängen wie „warum hasst ihr mich so“ oder „ihr müsst mich wirklich hassen“, aber dieses Wort, dieses Gefühl so auf sich gerichtet zu sehen, das verursacht ihm eine gewisse Beklemmung. Das Kling der Mikrowelle reißt ihn aus seinen düsteren Gedanken. „Urushihara." Er nimmt die Schale heraus und geht mit ihr hinüber zum gefallenen Engel. „Du musst etwas zu dir nehmen, sonst dehydrierst du." Er legt die Schale auf den Tisch, doch als er immer noch keine Reaktion erhält, setzt er sich zu ihm. „Urushihara?" Zögernd streckt er die Hand aus und berührt seinen Nacken. Immer noch keine Reaktion. Er kann nicht einmal sagen, ob Lucifer nur so tut als ob er schläft, wirklich schläft oder das Bewusstsein verloren hat. „Lucifer", murmelt Ashiya, streichelt durch diesen violetten Haarsträhnen und wundert sich, wie weich sich das doch anfühlt. Von hier kann er ganz deutlich die Naht am Hinterkopf sehen; die Ärzte haben sich viel Mühe gegeben, die Haare nur unmittelbar um die Wunde herum wegzurasieren. Eine zehn Zentimeter lange, aggressiv und dunkelrot leuchtende Naht. Und anders als andere Narben wird diese nicht spurlos abheilen. „Ich wünschte, ich könnte dir deine Magie zurückgeben. Natürlich nicht alles, aber ein bisschen. Soviel, damit du heilst, aber ... Das geht nicht. Wir haben es versucht." Das ist frustrierend. Mao-sama und er können sich einfach keinen Reim darauf machen, warum das nicht funktioniert. Letztendlich war das der Grund, wieso sie dazu gezwungen waren, einen Krankenwagen zu rufen. Lucifers Finger zucken. Es sind die seines gebrochenen Arms und sie sehen so blaß – fast schon bläulich - aus in dieser dunkelroten Schiene. „Lucifer? Komm schon, du musst etwas zu dir nehmen." „Alciel", seine Stimme ist schwach, fast nur ein Wispern, „geh weg... Du bist zu laut..." Sofort spürt dieser wieder die altbekannte Wut in sich aufbrodeln - wie kann er es wagen? - doch dann atmet er einmal tief ein, um sich zu beruhigen. Nein, dafür hat er nicht die halbe Nacht lang wachgelegen, nachgedacht und dann beschlossen, geduldiger zu sein. „Tut dir dein Kopf noch weh?" Er hat davon gehört, dass manche bei Migräne geräuschempfindlich werden, vielleicht ist das bei einer Gehirnerschütterung ja genauso. „Soll ich dir in deinen Schrank helfen? Da ist es ruhiger und dunkler." Lucifer murmelt etwas. Es klingt verwaschen und undeutlich. Alciel versteht nur Bruchstücke. „... G'sellschaft... aus 'n Augen aus 'm Sinn... Hätt'ste wohl gern..." Alciel benötigt ein paar Sekunden, um das zu verstehen, doch dann zieht er einmal scharf die Luft ein. Fassungslos starrt er auf die zusammengesunkene Gestalt vor sich. Ärgerte ihn soeben noch diese respektlose Haltung, sieht er jetzt die Erschöpfung und die Einsamkeit dahinter. Glaubt Lucifer etwa, dass er ihnen gleichgültig ist? Wieder holt Alciel einmal tief Luft. Er sortiert seine Gedanken gründlicher als je zuvor, und als er dann zu sprechen beginnt, wählt er seine Worte mit sehr viel Bedacht. „Du bist eine Nervensäge und ich ärgere mich täglich über dich, aber ich will trotzdem nicht, dass dir etwas passiert. Mao-sama ist ein guter König und als solcher fühlt er sich für dich verantwortlich, wie für jeden anderen auch, ob nun ein einfacher Untertan oder General. Und als seine rechte Hand ist es bei seiner Abwesenheit meine Pflicht, diese Verantwortung mit zu übernehmen. Also nein", fügt er stolz hinzu, „ich hätte es nicht gerne, wenn dir etwas zustößt." Lucifer dreht den Kopf etwas und wirft ihm einen undeutbaren Blick aus trüben, violetten Augen zu. Dann vergräbt er das Gesicht wieder in seinen Armen. Ein richtiges Lebenszeichen! Stolz schiebt Alciel die Schale noch ein paar Zentimeter näher an ihn heran. „Trink etwas“, fordert er ihn auf. Aber zu seiner großen Enttäuschung rührt Lucifer keinen Muskel. „Undankbarer Nichtsnutz“, zischt Alciel nun doch verärgert, steht auf und geht hinüber in die Küche, denn dafür hat er jetzt wirklich weder die Geduld noch die Zeit. Er muss das Abendessen für Mao-sama zubereiten und da ein richtiges Mahl schon mal ein paar Stunden dauert, will er möglichst früh damit anfangen. Während er die Zutaten zusammensucht und auf der Anrichte sortiert, hört er hinter sich Geräusche – ein leises Schnaufen, das Rascheln von Stoff und wie sich die Schranktür öffnet und dann leise wieder zugeschoben wird. Er muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sich Lucifer wieder in sein Refugium zurückgezogen hat. Ohne auch nur einen Schluck zu trinken. Alciels Miene verdüstert sich, doch diesmal will er es ihm noch durchgehen lassen.     Lucifer greift sich eine Decke, zieht sie sich über seinen Kopf und rollt sich zusammen. Sie ist nur ein schwacher Ersatz für seine Flügel, aber sie ist alles, was er hat. Er bereut es, überhaupt aus seinem Schrank herausgekommen zu sein. Jetzt versteht er gar nicht mehr, wieso er sich so sehr nach Gesellschaft sehnte. Während ihm Crestias Gegenwart wenigstens noch ein klein wenig gut tat – sie strahlt diese gewisse Ruhe aus und kann stundenlang still sitzen und vor allem quatscht sie ihn nicht voll oder verlangt irgend etwas von ihm – hat Alciel alles, jedes bißchen inneren Frieden, das er gefunden hatte, wieder zerstört. Wieso konnte er nicht einfach schweigen und ihn in Ruhe lassen? Wieso muss er ihm ständig unter die Nase reiben, wie unwichtig er ist? Ächzend vergräbt er den pochenden Kopf in seinen Armen. Er sollte versuchen, etwas zu schlafen, solange es noch geht. Wenn Mao zurückkommt, stehen bestimmt auch bald wieder Emi oder Chiho vor der Tür wie fast jeden Abend. Die beiden brauchen dringend ein eigenes Privatleben! Er seufzt einmal leise auf. Vielleicht hat er Glück und er kann wieder richtig sehen, wenn er aufwacht. Mit dieser verschwommenen Sicht kann er ja nicht einmal im Internet surfen. Wegen seines Arms muss er auch schon auf die Konsole verzichten. Das ist hart. Sehr hart. Denn ohne die Möglichkeit in eine dieser aufregenden Online-Welten abzutauchen, bleibt ihm nur seine eigene Fantasie. Und dann träumt er unweigerlich vom Fliegen. Und der Schmerz über den Verlust seiner Flügel, wenn er wieder in der Realität landet, quält ihn mehr als sein Kopf und der Arm zusammengenommen. Urgh. Wenn mein Kopf wieder einigermaßen in Ordnung ist, lade ich meinen Magiekern wieder auf. Der gebrochene Arm wird wohl kaum ein Problem darstellen, schließlich ist es nicht seine Fingerfertigkeit, wofür die Kerle ihn bezahlen. Aber diesmal wird er vorsichtiger sein. Er wird nicht hierher zurückkehren, bis er einmal um die Welt geflogen ist. Und vielleicht nicht mal dann. Wenn... wenn seine Flügel überhaupt zurückkehren. Aber wenn nicht, hat er garantiert keinen Grund mehr, hierher zurück zu kehren. Denn dann gibt es keinen Grund mehr für irgend etwas. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)