Die Sonne scheint für alle von MariLuna ================================================================================ Kapitel 4: ----------- IV.   Fünfundsechzigtausend Yen und ein paar unangenehme Erfahrungen reicher, stolpert Lucifer die Treppe zur Wohnung hinauf. Es ist sechs Uhr morgens, am Horizont geht gerade die Sonne auf und er hofft inbrünstig, dass Mao und Alciel noch schlafen. Um ihre neugierige Nachbarin Kamazuki Suzuno macht er sich weniger Gedanken. Sie ist zwar verdammt schnell mit ihrem mannsgroßen Hammer der Gerechtigkeit zur Hand, aber mit ihr kann man noch diskutieren, während Mao und Alciel ihm schon gar nicht mehr zuhören. Er hat noch im Love Hotel geduscht, aber sauberer fühlt er sich dadurch nicht. Und das ist seltsam. Er ist es nicht gewohnt, dass ihn etwas derart quält. Wie kommt es, dass er knöcheltief im Blut seiner Feinde waten kann, aber bei dem hier fühlt er sich so schrecklich, dass er sich übergeben könnte? Dabei dachte er, es würde diesmal leichter werden. Aber nein, er musste sich regelrecht dazu zwingen. Niemand hat sich beschwert, also hat er seine Sache wohl gut gemacht, aber es kostete ihn so viel Überwindung, und diese Überwindung hat ihn mehr erschöpft als alles andere. Aber die Magie, die er währenddessen sammelte, reichte aus, um seine inneren Wunden zu heilen und es blieb sogar noch etwas übrig. Sogar sehr viel. Wenn das so weitergeht, braucht er vielleicht nur noch eine Nacht, um wieder richtig fliegen zu können. Dann wird er auf den höchsten Punkt in dieser Stadt steigen, die Flügel ausbreiten und sich die Freiheit zurückerobern. Einmal um die Erde mit Mach drei und hoch hinauf bis in den Orbit. Oder doch zumindest so weit, wie es die dünner werdende Luft zuläßt. Er wird fliegen, bis er vor Erschöpfung zusammenbricht. Er wird die Wolken durchstoßen und unter ihm wird sich das Land in verwaschene Farben von Grün und Braun verwandeln und der Ozean wird tiefblau schimmern. Genau so, wie er es im Internet gesehen hat. Dieser Planet hat so viel mehr geografische Abwechslung zu bieten als sein Geburtsort oder die Dämonenwelt oder Ente Isla und er kann es kaum erwarten, dies alles mit eigenen Augen zu sehen. Das ist es, wofür er das alles hier auf sich nimmt, nicht die fünfundsechzigtausend Yen oder die Hunderttausend von gestern. Nicht, dass er sich nicht dennoch etwas dafür kaufen wird. Zu Anfang wäre ein neuer, modernerer Laptop eine gute Idee, gefolgt von ein paar Extras. Ein paar neue Spiele? Vielleicht eine neue Konsole? Und selbst dann bleibt noch genug übrig, was er Mao und Alciel in den Rachen stopfen kann, damit ihn diese zumindest für den restlichen Monat nicht mehr nerven. Stell dich also nicht so an, Lucifer. Er weiß, dass es sich als Fehler herausstellen könnte, aber er kann nicht widerstehen. Und so lässt er seine Flügel aus seinem Rücken ploppen, sobald er oben im Korridor steht. Ah, es fühlt sich so gut an, sie wieder zu spüren. Auch wenn er sie aufgrund der Enge nicht ausbreiten kann, aber selbst, wenn er sie zusammenfaltet, fühlt es sich großartig an. Wenn die Spitzen seiner Schwungfedern so ganz sachte über den Boden schleifen, sendet das ein aufregendes Kribbeln über seine Wirbelsäule und erinnert ihn an das elektrisierende Gefühl, wenn er in einen Gewittersturm hineinfliegt. Vor der Tür mit der Nummer 201 zieht er sich die Schuhe aus – er will keine unnötige Zeit verschwenden, denn je länger er außerhalb seines Schrankes verbringt, desto größer ist die Gefahr von störenden Geräuschen und des Erwischt-werdens. Mit den Schuhen in der Hand öffnet er so leise wie möglich die Tür und tritt über die Schwelle. Eine Sekunde später stockt ihm der Atem und ihm sträuben sich die Federn. Shit. Shit. Sie sind wach. Beide. Und – noch schlimmer – sie scheinen auf ihn gewartet zu haben. Hilfe. Alciel steht wie immer in der Küche. Hinter ihm dampft der neue Reiskocher und auf dem Herd ein Topf. Es riecht nach Misosuppe und Fisch. Doch anstatt sich voller Inbrunst dem Essen zu widmen wie sonst, hat sich Alciel ihm voll zugewendet und starrt ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen und mit in die Hände gestützten Fäusten an. Hochgewachsen, in der typisch stolzen Haltung steht er in seiner Küchenschürze vor ihm. Beeindruckend wie immer. Und wie stets fühlt sich Lucifer dadurch eingeschüchtert. (Aber das ist nur natürlich, immerhin ist Alciel zwei ganze Köpfe größer als er). Wie immer lässt sich Lucifer das aber nicht anmerken. Als er seinem ersten Dämonen begegnete, lernte er, sich eine unerschrockene Gleichgültigkeit anzutrainieren. Einem Raubtier gegenüber zeigt man seine Angst nicht. Niemals. Schon gar nicht, wenn dieses sich davon nähren kann. Mao sitzt am Tisch, vor sich eine Teetasse und wirkt sehr kühl und beherrscht. Aber jeder, der ihn kennt, weiß, dass das viel gefährlicher sein kann als ein schlichter Wutanfall. Wow. In diesem Moment wirken sie wirklich wie gewalttätige Eltern, deren ungehorsamer Teenager zu lange unterwegs war. „Wir wissen, was du getan hast“, platzt es aus Alciel heraus. Oh. Oh. Na, dann... Sorgfältig stellt er seine Chucks in den Schuhschrank, zieht den Anteil der beiden aus seiner Hosentasche und drückt Alciel das Geld wortlos in die Hand. Er erwartet keinen Dank und er bekommt auch keinen. Nur wieder diesen bösen Blick. Was er aber erwartet, ist eine Standpauke, seinen Anstand betreffend. Eventuell auch darüber, welch eine Schande er mal wieder ist. Und ob er sein Geld nicht mit ehrlicher und vor allem harter Arbeit verdienen kann wie Mao-sama. Deshalb trifft ihn Maos Frage auch so unvorbereitet. „Ich kann sie riechen. Wo hast du soviel Magie her?“ Ha? Unwillkürlich zieht er seine Flügel enger an seinen Körper heran. „Von allen Dingen, fragst du mich das?“ Es ist doch nicht viel. Missgönnt man dem Bettler wirklich seinen Kanten Brot? Hassen sie ihn wirklich so sehr? „Was hast du getan?“ anklagend erhebt Alciel die Stimme. „Wieviel Furcht hast du dafür unter die Menschen gebracht?“ „Huh? Ich glaube, du mißverstehst da etwas...“ „Was hast du getan?“ Innerhalb eines Augenblicks steht Mao vor ihm und drängt ihn an die nächstbeste Wand. Zu nah. Zu nah. Viel zu nah. Selbst in seiner menschlichen Gestalt ist er größer als Lucifer und der Griff um seine Kehle ist verdammt eisern. Lucifers Flügel senden Blitze sengenden Schmerzes an sein Gehirn, als sie so brutal zwischen ihm und der Wand eingequetscht werden. Mit zunehmender Panik, aber auch grenzenloser Verwirrung, starrt Lucifer in Maos rot glühende Augen, aus denen ihm nichts als Wut und Verachtung entgegenleuchtet. Ehrlich gesagt, versteht er die Welt nicht mehr. Was genau hat er getan, dass Mao jetzt derart ausrastet? Das Geld sollte ihn doch eigentlich milde stimmen, oder? „Wieviele arme Menschen hast du dafür verletzt?“ will Alciel aus dem Hintergrund wissen. „Wieviele getötet? Wieviel Schaden hast du dafür angerichtet?“ „I-ich...“ aber sie wollen gar keine Antwort, das erkennt er in dem Moment, als Maos Griff um seine Kehle noch ein kleines bisschen präsenter wird. Er drückt nicht zu, er schnürt ihm nicht die Luft ab, aber das muss er auch gar nicht. Allein das Gefühl von etwas um seinen Hals lässt sein Herz durchdrehen. Es ist eine uralte Angst, die ihm anscheinend in die Wiege mitgegeben wurde. Schon als Engel hat er seinen Hals mit hohen Kragen immer besonders geschützt. Und als Dämon kam zu dem hochgeschlossenen Mantelkragen noch ein breiter Metallring dazu. Und dann spürt er es. Er spürt, wie sich Mao an seiner Furcht vor ihm nährt. Wie er genau das mit ihm macht, was sie ihm vorwerfen. Als erstes verschwinden seine Flügel, aber damit gibt sich Mao nicht zufrieden. Es tut weh. Das hier ist mehr eine Vergewaltigung als das, was er in den letzten Stunden erlebt hat. Das tat er sich immerhin freiwillig an. Aber das hier... Mao saugt mit voller Absicht jedes bißchen Magie aus ihm heraus. Bis kein Tropfen davon mehr übrigbleibt. Es tut weh! Es läßt ihn leer, schwach und nutzlos zurück. Macht ihn schwächer als ein Neugeborenes. Er kann kaum noch atmen! Vor seinen Augen tanzen schon schwarze Punkte. Sein Herzschlag dröhnt ihm so laut in den Ohren, dass er Alciels Gezeter im Hintergrund gar nicht mehr hören kann. Erst als seine Beine unter ihm nachgeben, lockert Mao seinen Griff um seine Kehle und tritt einen Schritt zurück. Keuchend ringt Lucifer nach Luft. Er muss hier raus! Irgendwie. Egal wie. Nur raus hier! Voller Panik huschen seine Augen in der Einzimmerwohnung hin und her. Ein Fluchtweg muss her. Die Tür – unmöglich, er kommt nie unbeschadet an Alciel vorbei. Und direkt vor ihm lauert Mao. Bleibt nur – Lucifer zögert keine Sekunde und macht das Einzige, was ihm übrigbleibt. Er sammelt seine letzten Kräfte, täuscht einen Angriff nach vorne an, weicht dann aber im letzten Moment zur Seite aus, stürzt zum offenen Fenster und - springt.     In jenem Moment, wo er sich instinktiv dreht, als hätte er seine Flügel noch und sich sein Sturz nicht verlangsamt, als er stattdessen weiter wie ein Stein zu Boden fällt, weiß er, dass sowohl diese Drehung als auch dieser Sprung an sich ein riesengroßer Fehler war. Ihm bleibt nicht viel Zeit, das zu bedauern. Das letzte, was er hört, bevor seine Welt in Dunkelheit versinkt, ist ein lautes, vernehmliches „knack“.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)