Advanced Attraction von Varlet ================================================================================ Kapitel 1: Nervosität --------------------- Nervös und voller Unbehagen saß Angela auf dem Sofa in ihrem Hotelzimmer und starrte auf ihre Hände. In ihrem Magen rumorte es, obwohl sie seit Stunden nichts mehr zu sich nehmen konnte. Die Sorge um ihren Mann trieb sie nahezu in die Verzweiflung, aber sie musste stark sein. Für sich und für ihre Familie. Sie schloss ihre Augen und dachte an das erste Treffen mit ihrem Mann vor vielen Jahren. Dabei lächelte sie. Zu jener Zeit arbeitete Angela in Vollzeit als Krankenschwester in einem der hiesigen Krankenhäuser von New York. Sie liebte ihre Arbeit über alles und kümmerte sich aufopferungsvoll um all ihre Patienten. Wenn es aber notwendig wurde, konnte sie auch sehr streng mit ihnen sein. Allerdings bevorzugte sie es, mit den Patienten liebevoll und auf Augenhöhe umzugehen. Seit ihrer Kindheit war es ihr Traum mit Menschen zusammen zu arbeiten und ihnen zu helfen. Daher passte die Arbeit als Krankenschwester auch perfekt zu ihr. Mit einigen Patienten versuchte sie sogar weiterhin in Kontakt zu bleiben – auch wenn dies vom Krankenhaus eher ungern gesehen wurde – oder verfolgte den weiteren Lebensweg ihrer Patienten. So las sie einige Bücher erst deswegen, weil sie von ihren Patienten geschrieben wurden. Durch die Größe und Bekanntheit des Krankenhauses wurden auch Polizisten, CIA- und FBI-Agenten behandelt. Es kam oft vor, dass nur bekannte Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger zur Behandlung dieser Personen angefordert wurden. Und so lernte Angela auch einen ganz besonderen FBI Agenten kennen. Er wurde während eines Schusswechsels schwer verletzt und musste auf der Fahrt ins Krankenhaus reanimiert werden. Danach kämpfte er um sein Leben und als er auf der Trage durch den Flur des Krankenhauses geschoben wurde, konnte sie nicht anders als zu helfen. Dabei lernte sie auch James Black kennen. Solange es ging, blieb der Agent an der Seite seines Partners. Danach hatte sie diesen Part übernommen und die Hand des Agenten erfasst. Auf dem gesamten Weg zum Operationssaal hatte sie ihm Mut zugesprochen. Andauernd sagte sie, dass er überleben würde, dass er bald wieder nach Hause konnte und dass er bald wieder seine Familie sehen würde. Agent Starling hatte sie dabei mit sanften, aber auch schmerzerfüllten Augen angesehen. Nachdem die Operation abgeschlossen war, der Agent auf ein privates Zimmer der Intensivstation gebracht wurde und sie James endlich beruhigen konnte, erfuhr sie die Wahrheit über die Familie ihres Patienten. Agent Starling stammte aus einer Familie von lauter Einzelkindern. Er hatte weder Geschwister noch Cousinen oder Cousins. Seine Großeltern verstarben bereits als er ein kleiner Junge war und mit seinen Eltern hatte er ein ähnliches Glück. Sein Vater wurde während eines Amoklaufs im Supermarkt erschossen und seine Mutter zerbrach daran. Sie gab sich dem Alkohol hin und erlag zwei Jahre später ihrem Schmerz. Seit jener Zeit war der Agent auf sich selbst gestellt und dennoch zu einem starken Mann geworden. Bereits sein erster Blick zog sie in ihren Bann. So war es auch kein Wunder, dass sie sich nach seiner Operation oft in seinem Krankenzimmer befand. Sie lauschte gerne seinen Geschichten – auch wenn er nur das Preis gab, was er durfte – und erfuhr dabei immer mehr über ihn. Aber auch sie fing damit an, über sich zu erzählen, was sie normalerweise bei ihren Patienten vermied. Obwohl sie einander kaum kannten, hatte sie das Gefühl, dass er ihr Seelenverwandter war. Auch wenn es ihr nicht gut ging, konnte sie mit ihm sprechen und als er aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, war sie traurig. Natürlich wünschte sie ihm Gesundheit, aber es würde komisch werden, wenn sie ihn nicht mehr täglich sehen konnte. Und dann gab es da noch ein weiteres Problem: Sie traute sich nicht den ersten Schritt zu machen und ihm seine Gefühle zu gestehen. Sie konnte ebenso wenig einfach bei ihm anrufen oder im Büro des FBIs auftauchen. Außerdem wusste sie nicht, was der Agent für sie empfand…ob er etwas für sie empfand. Und selbst wenn, er hatte sicherlich andere Prioritäten als eine Frau. Trotzdem war sie in den nächsten Tagen immer wieder in sein ehemaliges Zimmer gegangen und hatte sich nach ihm gesehnt. Sie versuchte ihre Gefühle zu unterdrücken und arbeitete weiter, als wäre nichts gewesen. Doch einige Tage später wartete er vor dem Krankenhaus auf sie. Als Angela ihn sah, wusste sie nicht was sie tun sollte. Aber ihre Beine machten sich selbstständig. Zuerst war sie ganz langsam auf ihn zugegangen, dann lief sie zu ihm und im nächsten Moment hatte sie ihn stürmisch geküsst. Danach waren sie zusammengekommen, heirateten ein Jahr später und bekamen ein weiteres Jahr danach ihr erstes Kind. Jodie war ihr kleiner Sonnenschein und hatte eine Ausdauer, die jeden fertig machte. Nach drei Jahren war Angela ins Krankenhaus zurückgekehrt, arbeitete aber nur noch halbtags. Sie versuchte sich die Schichten nach dem Dienstplan ihres Mannes einzuteilen, sodass immer jemand zu Hause bei Jodie bleiben konnte. Und obwohl es nicht immer einfach war, wünschte sich das Paar noch mindestens zwei weitere Kinder. Aber die Zeit hatte vieles verändert und die Arbeit ihres Mannes wurde nicht gerade einfacher oder sicherer. Sie wusste wie er sich fühlte, wenn er das Haus verließ. Sie selbst war stets in Sorge um ihn und malte sich, wenn sie Zeit zum Nachdenken hatte, die verschiedensten Szenarien aus oder sah ihn wieder im Krankenhaus liegen. Wenn er sich mal verspätete oder keine Nachricht schickte, glaubte sie bereits, dass der schlimmste Fall eingetreten war. Doch für Jodie versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen. Deswegen lächelte sie auch häufig. Allerdings hatte sie ihren Mann mehrfach darum gebeten, kürzer zu treten oder sich zur normalen Büroarbeit versetzen zu lassen. Leider war ihr Ehemann anderer Meinung und fand, dass er im aktiven Dienst mehr ausrichten konnte. Er hatte ja recht, doch sie wollte ihn einfach nicht verlieren. Wenigstens hatte sie ihrem Mann ein Versprechen abringen; sobald sie ihr zweites Kind erwarten würden, würde er etwas an seinem Arbeitsalltag ändern. Leider gab es bis dahin noch mehrere gefährliche Aufgaben für ihn. Er erzählte ihr nie die gesamte Wahrheit über seine Arbeit, doch allein die Art und Weise wie er es tat, gab ihr genug Einblick. Als sie von seinem aktuellen Auftrag erfuhr, hörte sie die Gefahr aus seiner Stimme heraus und seine Mimik und Gestik verrieten ihr den Rest. Es würde sogar so gefährlich werden, dass sich auch seine Familie in Gefahr befand. Sie und Jodie. Deswegen blieb er für die gesamte Dauer seines Auftrages in einer anderen Wohnung und lebte so, als hätte er nie eine Familie gegründet. Sie hatten auf gegenseitige Besuche verzichtet und sich ihrer Sehnsucht nicht hingegeben. Doch als er vor einigen Wochen wieder in ihrem gemeinsamen Haus auftauchte, wusste sie, dass irgendwas schief gegangen war. Sie hatte es sofort gespürt, als sie ihn und seinen Umgang mit Jodie erblickte. Und sie sollte recht behalten. Während sie weiterhin versuchte ein sorgloses Leben zu führen, hatte sich ihr Mann bei einer Organisation eingeschlichen und war dort als Leibwächter tätig. Die Person auf die er aufpassen sollte, war hinter seine wahre Identität gekommen und keiner wusste, wie sie es geschafft hatte. Anstatt das sie den Agenten auslieferte oder umbrachte, hatte sie ihm einen Deal vorgeschlagen. Sie würde mit ihm und dem FBI kooperieren, wollte dafür aber ihre Freiheit. Das FBI war auf ihren Vorschlag eingegangen, was zeigte wie wichtig es war, die Organisation zu zerschlagen. Einige Tage später saß die Schauspielerin dann bei ihr im Wohnzimmer. Sie hatte sich als FBI Agentin und Kollegin ihres Mannes ausgegeben, die einige Einzelheiten mit ihr besprechen wollte. Erst als ihr Mann am Abend nach Hause kam, weil auch er die letzten Einzelheiten mit ihr besprechen wollte, sah er schockiert in das Gesicht der Schauspielerin. Angela hatte sofort verstanden, was dies zu bedeuten hatte: Sharon Vineyard wollte von Anfang an klar machen, dass sie am längerem Hebel saß. Und da Jodie oben in ihrem Kinderzimmer spielte, musste das Paar bei diesem perfiden Spiel mitmachen. Mit der Zeit hatte Angela die Schauspielerin ein wenig näher kennengelernt und verstanden, warum diese für ihre Freiheit kämpfte. Allerdings suchte Sharon immer häufiger den Kontakt mit ihr. Es war fast so, als wollte sie unbedingt eine Freundin haben. Dennoch war Angela auch ein wenig eifersüchtig, immerhin verbrachte die Schauspielerin viel Zeit mit ihrem Mann. Die Zeit verging immer schneller und vor drei Tagen hatte ihr Mann verkündet, dass sie nun alles beisammen hatten, um die Organisation endgültig zu Fall zu bringen. Ihr war schlecht geworden, auch wenn sie wusste, dass der Zeitpunkt irgendwann kommen musste. Zur Sicherheit wurden sie und Jodie in ein Hotel geschickt und überwacht. Leider führte das dazu, dass Angela nur nervöser wurde. Sie war umringt von einer Gruppe fremder Menschen und bekam auf Fragen keine Antwort. Sie konnte nur warten, bis sich ihr Mann meldete. „Mama, Mama!“ Jodie riss Angela aus ihren Gedanken. Die Krankenschwester blickte liebevoll zu ihrer kleinen Tochter. „Was ist denn, mein Schatz?“, wollte sie wissen. „Ich möchte nach Hause.“ „Ja, ich weiß, aber wir können noch nicht. Die Renovierungsarbeiten dauern nicht mehr lange und dann holt uns Papa ab.“ Jodie schmollte. „Wieso ist Papa jetzt nicht bei uns?“ Angela hasste es, wenn sie ihre Tochter anlügen müsste. Aber sie konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, stattdessen erzählte sie ihr, dass ihr Haus renoviert wurde. Außerdem glaubte Jodie, dass ihr Vater jeden Tag lange arbeitete und so spät nach Hause kam, dass sie sich nur selten sahen. „Der Papa muss die Handwerker beaufsichtigen. Das ist ganz wichtig.“ „Mhm…“, murmelte Jodie leise. „Dann will ich ihm dabei helfen.“ „Nicht mehr heute, Mausi. Es ist schon spät und wenn wir jetzt zu Papa fahren, wird er dich nur fragen, warum du nicht schläfst.“ Jodie rümpfte die Nase. „Ach so…“, gab sie traurig von sich. Angela nahm ihre Kleine auf den Schoss und strich ihr über den Rücken. „Jetzt schau nicht so. Ich les dir gleich eine Gute-Nacht-Geschichte vor und dann wird geschlafen, ja?“ „Na gut“, entgegnete das Mädchen. „Ich will eine Geschichte über Papa hören. Oh und weißt du was, Mama? Wenn ich mal groß bin, möchte ich so werden wie du und dann gehe ich wie Papa zum FBI und rette die Welt“, erzählte sie. Jodie liebte alle Geschichten in denen es um ihren Vater ging. Jeden Abend wartete sie darauf, dass ihr jemand seine neusten Abenteuer erzählte. „Du willst das Gleiche machen wie dein Vater?“ „Ja“, nickte Jodie. „Oder wenn das nicht geht, dann arbeite ich auch im Krankenhaus, genauso wie du Mama.“ Angela lächelte. „Wenn du groß bist, kannst du alles werden was du willst. Papa und ich unterstützen dich dabei.“ „Das ist toll.“ Die Krankenschwester hoffte allerdings inständig, dass Jodie nicht zum FBI ging. Es reichte, wenn es eine Person in ihrer Familie gab, die sich dauernd in Gefahr befand und um die sie sich Sorgen machen musste. Mit Jodie das gleiche durchzumachen, war viel zu brutal. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Entweder lief die Zeit so langsam, dass sie das Ticken jede Sekunde hörte oder die Zeit lief so schnell, dass ihre Sorgen immer schlimmer wurden. Am liebsten hätte sie ihren Mann angerufen, allerdings kannte sie die Nummer seines Wegwerf-Handys nicht und sie wollte ihn auch nicht stören. „Na gut, ich les dir jetzt die Gute-Nacht-Geschichte vor und dann wird geschlafen.“ Jodie überlegte. „Papa hat mir schon lange keine Geschichte vorgelesen. Dabei hat er mir das doch versprochen.“ „Dein Papa wird dir sehr bald eine Geschichte erzählen.“ „Meinst du wirklich, Mama?“ „Ja“, nickte Angela und hoffte, dass sie ihre Tochter nicht anlog. Gemeinsam mit Jodie stand sie auf und brachte das Mädchen in den Nebenraum. Sie legte sie ins Bett und setzte sich daneben. Jetzt wollte sie Jodie keine Chance mehr geben, um länger wach zu bleiben. „Kann Papa mich morgen zur Schule bringen?“ Der Krankenschwester wurde schwer ums Herz. Konnte sie Jodie so viel versprechen? „Ich rede mit Papa“, sagte sie und nahm ein Buch vom Nachttisch, welches sie von zu Hause mitbrachte. „Und jetzt machst du die Augen zu und dann wird geschlafen.“ „Ja, Mama“, lächelte Jodie und schloss ihre Augen. Auch wenn es keine Geschichte über ihren Vater war, lauschte Jodie ihr und schlief ein. Als sich Angela sicher war, dass Jodie nicht wach werden würde, wenn sie aufstand, schlich sie sich ins andere Zimmer und sah auf ihr Handy. Sicherheitshalber überprüfte sie alle Nachrichten und Anrufe. Die Nervosität hatte sie ein weiteres Mal erfasst und die erlösende Nachricht kam erst zwei Stunden später. Aber Angela hatte ein komisches Gefühl, denn eigentlich hatte er ihr Versprochen, sie anzurufen. Und allein deswegen würde sie ihn rügen. Sofort überkam sie aber auch das Gefühl, dass die Nachricht von einer anderen Person geschrieben wurde. Mit zittrigen Händen wählte sie die Nummer. Die Erleichterung durchströmte sie, als sie seine Stimme hörte. Er musste ihr mehrfach versichern, dass es im gut ging und er nur mit leichten Blessuren und Wunden davon gekommen war. Auch wollte er am Morgen ins Hotel kommen und seine Familie in die Arme schließen. An seiner Stimme erkannte sie aber auch, dass irgendwas nicht stimmte und so hatte er ihr auch gestanden, dass ihr Haus verwüstet und zerstört wurde. Doch damit konnte sie leben, am wichtigsten war, dass ihren zwei liebsten Menschen nichts passiert war. Kapitel 2: Hiobsbotschaft ------------------------- Wehmütig blätterte Angela in einem alten Fotoalbum der Familie und sah sich die Bilder von Jodie an. Ob man das Fotoalbum tatsächlich als alt bezeichnen konnte, war Ansichtssache. Sie hatten das Album vor etwa zehn Jahren neu begonnen, nachdem ihr gesamtes Hab und Gut zerstört wurde. Aber viel wichtiger war, dass ihre Familie überlebt hatte. Dennoch würde es Angela immer schade finden, dass die Babyfotos von Jodie nicht mehr existierten. Einige Bilder, die sie verschickt hatten, konnten sie zurückbekommen, aber es fehlte noch so viel. Allerdings würde sie sich immer sehr gut an Jodies kleine Fingerchen, die Zehen, ihr Lachen, die vollen Windeln und an jede andere Kleinigkeit, die in dem jungen Leben ihrer Tochter geschehen war, erinnern. Sie wusste, dass ihr keiner diese Erinnerungen je nehmen konnte und da Jodie ihr einziges Kind blieb, hatten sie in kurzer Zeit viele neue Fotos aufgenommen. Es waren so viele Bilder entstanden, dass sie mehrere Fotoalben füllen konnten. Aber auch diese Zeit ging vorbei. Jodie wurde viel zu schnell erwachsen und verhielt sich irgendwann auch wie ein ganz normaler Teenager. Sie wurde bockig, testete ihre Grenzen aus und dachte, dass sich die gesamte Welt gegen sie verschworen hatte. Doch all das gehörte zum Erwachsenwerden dazu und für die Eltern war es am schlimmsten, als sich Jodie für Jungs interessierte. Und die Jungs für sie. Manchmal vermisste Angela die vergangene, unbeschwerte Zeit und trauerte ihr ein wenig nach. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn alles ganz anders gekommen war? Aber es war nun einmal nicht zu ändern. Dabei war Angela froh, dass sie die schlimmste Zeit in ihrem Leben überstanden hatten. Es war so schlimm, dass die ganze Familie in Gefahr schwebte und sie zusammen mit Jodie in ein Hotel musste. Zu diesem Zeitpunkt war auch Sharon Vineyard in ihr Leben getreten und es hatte sich vieles verändert. Sie hatten Jodie schon immer nicht viel über die Arbeit ihres Vaters erzählt oder Dinge beschönigt, aber damals mussten sie sie anlügen. Am Ende stellte sich die Lüge aber als eine andere Art der Wahrheit heraus. Während des Einsatzes ihres Mannes wurde ihr Haus in Flammen gesteckt und brannte bis auf die Grundmauern nieder. Danach kam die Familie bei James unter, während sie ihr altes zu Hause neu aufbauten. Es dauerte zwei Jahre, ehe sie dort wieder einziehen und ihr Leben wie gewohnt fortführen konnten. Wäre da nicht Sharon Vineyard. Sie hatte sich in das Leben der Familie geschlichen, gab sich sogar anfänglich als Kollegin ihres Mannes aus und zeigte ihnen, dass sie am längeren Hebel saß. Die ganze Zeit über hatte Angela Angst gehabt, dass Sharon ihren Mann verführen würde oder dass sie Jodie etwas antat. Deswegen versuchte sie den Kontakt der Beiden so lange wie möglich zu unterbinden. Aber auch das hatte sich irgendwann geändert. Je mehr Zeit vergangen war, desto näher lernten sich Angela und Sharon kennen. Angela verstand sogar, warum Sharon für die Organisation arbeitete und warum sie ihr entkommen wollte. Trotzdem blieb immer ein komisches Gefühl, wenn sie die Schauspielerin traf. Sie redete sich ein, dass es am Talent der Frau lag und irgendwo auch an der Eifersucht die sie verspürte, wenn sich Sharon mit ihrem Mann traf. Sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte, allerdings kannte sie auch Sharons Fähigkeiten. Sie hatte ihre Filme gesehen und machte sich immer mehr Sorgen um ihre kleine Familie. Irgendwann hatte Sharon ihr versichert, dass sie kein Interesse an einem verheirateten Mann hatte und Angela wollte ihr glauben. Mit der Hoffnung, dass die Schauspielerin schon sehr bald aus ihrem Leben verschwinden würde, hatte sie sich sogar auf diese komische Freundschaft eingelassen. Es war ein Fehler, denn dies führte dazu, dass Sharon den Kontakt mit der Familie beibehielt und sich auch mit Jodie anfreundete. Sharons Interesse an der Familie wurde immer größer und schon sehr bald ging sie dort ein und aus. Als sie Jodie das erste Mal traf, hatte sich das kleine Mädchen sehr gefreut und sofort in der Schule mit der bekannten Schauspielerin geprahlt. Es wunderte Angela, da Jodie vorher immer nur von ihrem Vater und seiner Arbeit – besonders von den Geschichten über die Rettung der Welt – erzählte. Erst viel später erfuhr sie von den Lehrern, dann von Jodie, dass es Probleme in der Schule gab. Je älter Jodie und ihre Mitschüler wurden, desto häufiger wurde das Mädchen von den gemeinsamen Aktivitäten ausgeschlossen. Angela und ihr Mann waren schon immer darüber besorgt, schließlich hatten FBI Agenten in Amerika einen gewissen Ruf. Natürlich würde er alle illegalen Aktivitäten erkennen und verhindern oder Partys auflösen lassen. Auch Alkohol und Zigaretten würde er von den Minderjährigen fernhalten. Und genau das war es, was dazu führte, dass sich Jodie von ihren Mitschülern immer weiter entfernte. Jeder glaubte, dass das Mädchen sofort zu ihrem Vater ging, ihm alles erzählte und dieser für Ärger sorgen würde. Allerdings wusste keiner außerhalb der Familie, dass der Agent sämtliche Klassenkameraden, andere Schüler, Lehrer, die Eltern und andere Verwandten überprüfen ließ, nur um sicher zu gehen, dass Jodie nichts passierte. FBI Agenten hatten immer Feinde und waren stets in Gefahr. Um einen Agenten am meisten zu verletzen, verletzte man seine Familie. Deswegen war Agent Starling immer auf der Hut und um die Sicherheit seiner Familie besorgt. Die Bekanntschaft zu Sharon machte es nicht einfacher. Als Person der Öffentlichkeit musste auch die Schauspielerin geschützt werden. Dennoch wollte sie Jodie helfen und kam zu den Treffen mit den Klassenkameraden. Während Jodie die Hoffnung hatte, dass sich alles zum Guten wenden würde und sie bald wieder Spielkameraden haben würde, sah es bei ihren Mitschülern anders aus. Sie nutzten Jodie aus und wollten nur der Schauspielerin näher kommen. Einige erhofften sich sogar, für Rollen in Filmen entdeckt zu werden. Erst als Sharon angab, dass sie keine Vetternwirtschaft betreiben würde, war Jodie wieder alleine. Fast. Ihre beste Freundin war ihr geblieben und stand immer an ihrer Seite. Beste Freundinnen waren etwas Besonderes und Angela hoffte, dass diese Freundschaft auch in Zukunft hielt. Aber sie wusste wie schwer es werden würde, wenn ihnen die Liebe dazwischen kam oder wenn beide Mädchen einen anderen Lebensweg beschritten würden. „Was machst du da?“ Die Angesprochene sah nach oben. „Ich schau mir alte Fotos an“, begann sie. „Von Jodie, von uns beiden und von uns dreien.“ Agent Starling nickte verstehend. „Es ist schon so viel Zeit vergangen.“ „Das kannst du laut sagen“, entgegnete sie ruhig. „Unser Leben war ein auf und ab. Als ich dich kennenlernte, hatte ich nie gedacht, dass ich mir irgendwann solche Sorgen machen würde, wie damals. Ich bin froh, dass wir diese schwere Zeit überstanden haben und immer noch zusammen sind.“ Starling setzte sich auf das Sofa. „Hast du gedacht, wir würden uns trennen?“ „Nein, aber…ich hatte immer Angst, dass du im Dienst schwer verletzt wirst und stirbst.“ Sie lehnte sich an ihn. „Ich bin froh, dass es das Schicksal so gut mit uns meint.“ Er strich ihr über den Rücken. „Ich auch.“ Der Agent warf einen Blick in das Album. „Das sind die Bilder vom Shooting, oder? Ich bin heilfroh, dass Jodie weder Model noch Schauspielerin werden will.“ Er seufzte erleichtert auf. Jodie hatte in ihrer Kindheit bereits in das Modelleben schnuppern dürfen, auch wenn er sich dieses Leben nicht für seine Tochter wünschte. Doch Sharon hatte sie damals dazu überredet. Eines Tages stand sie aufgelöst vor der Tür der Familie. Das Agentenpaar hatte zu der damaligen Zeit bereits geahnt, dass etwas im Argen lag. Sie erzählte auf theatralische Art und Weise, dass sie für einen Werbeclip gebucht wurde, das Kind, welches ihre Tochter spielen sollte, aber krankheitsbedingt ausfiel und es keinen Ersatz gab. Sharon hatte Jodie vorgeschlagen und die Eltern stimmten schließlich zu. Wie hätten sie auch nicht, immerhin war Jodie im Zimmer und freute sich bereits. Nach Jodies kleinem Werbeclip folgten einige Fotoaufnahmen und Gespräche mit verschiedenen Agenturen. Da Jodie jeden Job mit einem großen Lächeln durchführte, sich immer freute, stimmten ihre Eltern schließlich zu. Außerdem versprach Sharon, dass sie immer an Jodies Seite bleiben würde. Es gab viele Menschen die glaubten, dass Jodie eine große Karriere vor sich hatte, doch ihre Eltern wollten nur, dass sie ihr kindliches Leben beibehielt. Jodie sollte nicht hungern, nur um irgendwelchen Idealen zu entsprechen. Sie sollte nicht ihre Haltung verändern oder Dinge lernen, die ein Mädchen nicht wissen musste, stattdessen sollte sie spielen und unbeschwert sein. Als sich Jodie dann aus freien Stücken entschied, nicht mehr als Kindermodel tätig zu sein, war ihnen ein Stein vom Herzen gefallen. Sharon hingegen war enttäuscht und hatte dies Jodie auch gezeigt. Immer wieder versuchte sie das Mädchen zu der Arbeit zu überreden, hörte aber auf, nachdem der Agent ein Machtwort sprach. „Geht mir auch so. Wäre es wirklich ihr Traum, würde ich sie selbstverständlich unterstützen.“ Angela schloss ihre Augen. „Wie können wir Jodie nur helfen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete der Agent ehrlich. Jodie hatte ihr Ziel im Leben verloren oder anders gesagt, sie hatte keines mehr. Früher war sie ein offenes Mädchen. Als kleines Kind war Jodie oft mit ihrer Mutter im Krankenhaus und sah ihr und den anderen Krankenschwestern bei der Arbeit zu. Danach wollte sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten, hatte sich aber dagegen entschieden, als sie realisierte, wie viel man für die Arbeit lernen und wissen musste. Außerdem hatte sie sich in den Kopf gesetzt zum FBI zu gehen und zusammen mit ihrem Vater zu arbeiten – die Welt zu retten. Das Elternpaar war nicht begeistert, da die Arbeit beim FBI gefährlich war. Glücklicherweise hatte Jodie viel Zeit und es gab auch gewisse Anforderungen, die sie noch erfüllen musste. Sie würde zwar immer bessere Chancen haben, da sie die Tochter eines Agenten war, aber dennoch musste sie sich Mühe geben. Und Angela wusste, dass ihr Mann ein klein wenig stolz auf Jodies Berufswunsch war. Die Bekanntschaft zu Sharon Vineyard hatte Jodies Berufswunsch allerdings geändert. Auf einmal wollte sie Schauspielerin werden und stellte diverse Fragen zu diesem Beruf. Sharon hingegen sah sie eher als Model und verhalf ihr zu vielen Kampagnen. Je mehr Aufträge Jodie bekam, desto stressiger wurde ihr Leben. Am Anfang machte sie kleinere Fehler, dann häuften sie sich und schließlich wurde sie von den Regisseuren oder Fotografen angeschrien. Sie nahmen Jodie die Lust an der Arbeit und nachdem Jodie aufhörte, stand sie ohne Perspektive da. Es fehlte ihr an der Begeisterung für eine andere Arbeit und Jodie wusste nicht, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Sie lebte nur noch in den Tag hinein und glaubte, dass sich eines Tages alles ergeben würde. Während ihre Mitschüler ihrem Plan fürs Leben folgten, genauso wie ihre beste Freundin, hatte Jodie immer noch keine Ahnung, was ihr Traum war. Agent Starling sah wieder zum Fotoalbum. „Ich wünschte, ich könnte unserer Kleinen helfen.“ „Du hast ihr doch geholfen“, warf Angela ein. „Du bist mit ihr zu jedem Berufsvorbereitungskurs gegangen, bist das Vorlesungsverzeichnis mit ihr durchgegangen und hast versucht sie für bestimmte Berufe zu begeistern. Früher oder später wird sie wissen, was sie machen will. Sie braucht nur etwas mehr Zeit.“ „Sie hat jetzt ihren Schulabschluss gemacht und sich weder für ein Studium beworben noch für eine Arbeitsstelle. Ihre beste Freundin studiert und…“ Er brach ab. „Bevor Jodie den ganzen Tag nur zu Hause herumsitzt, könnte sie ein paar Kurse besuchen.“ Er hatte auch an Work and Travel gedacht, doch es würde ihm schwer fallen, seine kleine Tochter ziehen zu lassen. „Sie könnte auch ein Praktikum machen.“ „Ich kann im Krankenhaus nachfragen. Sie muss keine Krankenschwester werden, es gibt auch genügend andere Tätigkeiten und wenn sie mit Menschen arbeitet, begeistert sie sich vielleicht wieder für etwas.“ Die Haustür wurde zugeschlagen und Jodie kam aufgeregt in das Wohnzimmer gelaufen. „Mom! Dad!“ Angela schlug das Fotoalbum zu und legte es auf den Tisch. „Jodie? Was ist passiert? Ist irgendwas vorgefallen?“ Jodie rang nach Atem. Agent Starling verengte die Augen. Im Kopf ging er jede Option durch was passiert war. „Du kannst uns alles sagen, Schatz.“ Jodie kramte ein Ticket aus ihrer Tasche hervor, ehe sie diese auf den Boden fallen ließ. „Hier, schaut mal.“ Sie lächelte. „Das ist mein Flugticket.“ „Dein Flug…ticket?“, fragte der Agent verwundert. Nie hätte er damit gerechnet. „Ich fliege nach London. Übermorgen schon“, entgegnete das Mädchen. „Ich fliege zu Liam. Wir ziehen zusammen.“ Kapitel 3: Ankunft in London ---------------------------- Jodies Leben hatte sich in eine Richtung entwickelt mit der keiner gerechnet hatte – vor allem das junge Mädchen nicht. Als Kind hatte sie so viele Träume und Wünsche, wollte Krankenschwester werden, dann FBI Agentin und anschließend Schauspielerin. Kurzzeitig konnte sie sogar erste Erfahrung im Schauspiel machen, als sie von Sharon für einen Werbeclip vorgeschlagen wurde. Danach folgten weitere Aufträge, allerdings eher als Model. Entgegen der Erwartungen ihrer Eltern wurde sie oft gebucht. Doch mit der Zeit wurde ihr das Leben als Model zu trostlos und die Anforderungen zu hoch. Andauernd wurde ihr gesagt was sie tun sollte, wie sie aussehen sollte, wie viel sie essen durfte und welchen Sport sie treiben sollte. Unter dem ganzen Druck fing sie an Fehler zu machen. Am Anfang war das Team nett zu ihr, aber je mehr Fehler sie machte, desto ungehaltener wurden die Menschen in ihrer Umgebung. Jodie weinte immer häufiger und hatte keinen Spaß mehr an der Arbeit, sodass sie ihr irgendwann den Rücken kehrte. Zum Leidwesen von Sharon nahm sie wieder ihr kindliches Leben auf. Ihre Eltern hingegen waren über diese Entscheidung erleichtert. Doch die schwarze Wolke über ihrem Leben breitete sich weiterhin aus. Seit Jahren fühlte sich Jodie verloren. Sie war jung und eigentlich stand ihr das Leben noch vollkommen offen, aber trotzdem fehlte ihm ein Sinn. Als Tochter eines FBI Agenten hatte es Jodie noch nie einfach gehabt und je älter sie wurde, desto einsamer war sie. Während all ihre Klassenkameraden häufig ins Kino gingen, abends feierten und tranken, saß sie meistens zu Hause, las, schaute fern oder wartete einfach auf den nächsten Tag. Zwar hatte Jodie eine beste Freundin - Allison, aber es änderte nichts am Verhalten ihrer Mitschüler. Außerdem konnten die beiden Mädchen nicht jeden Tag aufeinander hocken, zumal Jodie ihr auch nicht im Weg stehen wollte, wenn es um andere Freundschaften ging. Mittlerweile war Jodie froh gewesen, dass sie Allison genügend Freiraum gab, da sie ansonsten Liam nicht kennen gelernt hätte. Allison war schon immer künstlerisch begabt und strebte ein Studium an einer Kunsthochschule an. In ihren letzten Sommerferien besuchte sie einen Kunstkurs und meldete Jodie ebenfalls dafür an. Die Schülerin war zwar wenig begeistert – vor allem weil sie selbst kein künstlerisches Talent besaß – ließ sich aber überreden. Kurz nachdem die beiden Mädchen den Raum betreten hatten, sah sie ihn. Liam starrte auf ein weißes Blatt Papier, blickte aber für einen Moment auf. Seine kurzen blonden Haare umspielten sein Gesicht perfekt. In diesem Augenblick sahen sie einander an und konnten den Blick nicht abwenden. Es war beinahe wie im Film und hätte Allison sie nicht zu zwei freien Plätzen gezogen, hätte Jodie noch länger dort gestanden und in die blauen Augen gestarrt. Während der gesamten Kursdauer hatte Jodie ihm heimliche Blicke zugeworfen und jedes Mal, wenn er zu ihr sah, schaute sie verlegen weg. Ihr Herz pochte wie wild. Als der Unterricht beendet war und Jodie bemerkte, dass der Junge auf sie zukam, verabschiedete sie sich schnell von Allison und lief nach draußen. Sie war nicht bereit gewesen mit ihm zu sprechen, was sie im nächsten Moment allerdings bereute. Sie fühlte sich kindisch und hoffte, dass ihr Verhalten keine Auswirkungen auf Liams Sichtweise über sie hatte. Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgedreht und ihr Verhalten geändert. Allison war nicht dumm und als beste Freundin hatte sie selbstverständlich das Knistern zwischen Beiden gespürt. Sofort hatte sie beschlossen, dass sie ihnen den Schubs in die richtige Richtung geben musste. In den darauffolgenden Wochen lud sie Liam bei jeder Gruppenaktivität in ihre Gruppe ein oder sorgte dafür, dass sie in seiner Nähe – wenn nicht sogar neben ihm – saßen. Ein paar Wochen vor Ende des Kurses veranstaltete Allison eine kleine Feier bei sich zu Hause und lud mehrere Kursteilnehmer ein. Sie hatte Snacks sowie Getränke, unter denen sich auch Alkohol befand, besorgt. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sich Jodie zuerst Mut antrinken wollte und sich irgendwann nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Trotzdem wurde es nach und nach immer lustiger in der Runde. Nachdem sich zu später Stunde fast alle Gäste verabschiedet hatten, saß Jodie im Badezimmer und liebäugelte mit der Toilette. Da sie nicht mehr laufen konnte, übernachtete sie bei Allison und wollte am nächsten Morgen im Erdboden versinken. Sie erinnerte sich an alles und wusste, dass sie Liam lallend ein halbes Liebesgeständnis gemacht hatte. Bevor es allerdings noch peinlich wurde, wurde sie von Allison ins Badezimmer geschickt. Dem Jungen schien es hingegen nichts ausgemacht zu haben, da er am nächsten Morgen wieder vor der Tür stand und den Mädchen ein kleines Katerfrühstück vorbereitete. Jodie war diese Situation mehr als unangenehm, doch sie konnte nicht einfach verschwinden. Da Allison in der dritten Etage wohnte waren Fenster oder Balkon keine Option und wenn sie versuchte mit ihm zu sprechen, würde es im Stottern ausarten. Dennoch hatte diese Nacht das Eis zwischen ihnen endgültig gebrochen und sie gingen miteinander aus. Jodie schwebte auf Wolke sieben, als sie zu Beginn ihres nächsten Schuljahres ihren ersten Kuss mit ihm teilte. Ihr Glück hielt nicht lang. Ein halbes Jahr später zog Liam – der bereits seinen Schulabschluss gemacht hatte – nach London um zu studieren. Zwar hatte er auch in Erwägung gezogen in New York zu bleiben, doch Jodie hatte ihn dazu bekräftigt seinen Traum nicht aufzugeben. Spontan hatte sie sich ebenfalls entschlossen nach London zu gehen, doch ihre Eltern schoben diesem Plan einen Riegel vor. Zunächst redeten sie ihr ins Gewissen und handelten dann einen Deal mit ihr aus. Machte Jodie ihren Schulabschluss in New York und besuchte ein paar Berufsvorbereitungskurse, würden sie ihr nicht im Wege stehen, wenn sie danach nach London gehen wollte. Jodie hatte sich nur darauf eingelassen, weil auch Liam darauf bestand, dass sie zunächst ihren Schulabschluss machte. Doch jetzt war es soweit. Ohne vorher irgendwas mit ihren Eltern oder Liam zu besprechen, hatte Jodie heimlich alles vorbereitet. Aufgeregt kam sie in das Wohnzimmer gelaufen. „Mom! Dad!“ Angela schlug das Fotoalbum zu und legte es auf den Tisch. „Jodie? Was ist passiert? Ist irgendwas vorgefallen?“ Jodie rang nach Atem. Agent Starling verengte die Augen. Im Kopf ging er jede Option durch was passiert war. „Du kannst uns alles sagen, Schatz.“ Jodie kramte ein Ticket aus ihrer Tasche hervor, ehe sie diese auf den Boden fallen ließ. „Hier, schaut mal.“ Sie lächelte. „Das ist mein Flugticket.“ „Dein Flug…ticket?“, fragte der Agent verwundert. Nie hätte er damit gerechnet. „Ich fliege nach London. Übermorgen schon“, entgegnete das Mädchen. „Ich fliege zu Liam. Wir ziehen zusammen.“ Das Paar blickte Jodie schockiert an. „Jodie, was meinst du damit? Hast du dir das auch gut überlegt?“ „Natürlich“, nickte das Mädchen. „So hatten wir das doch besprochen. Ich mache meinen Schulabschluss und gehe zu den Berufsvorbereitungskursen und danach kann ich zu Liam fliegen. Ihr habt damals gesagt, dass ihr mir das nicht ausreden werdet.“ Agent Starling musterte sie. „Was wird aus deiner Zukunft?“ „Ach Dad, ich kann mir auch in London eine Zukunft aufbauen. Wir wissen doch alle, dass ich bisher keine Pläne für mein Leben hab, außer dass ich bei Liam sein will. Er studiert nun mal in London und vielleicht tut mir dieser Tapetenwechsel auch gut. Vielleicht finde ich in London die Antwort auf die Frage, was ich beruflich machen will. Außerdem habt ihr mir versprochen, dass ich nach dem Abschluss machen kann, was ich will. Und deswegen fliege ich zu Liam.“ Jodie stemmte die Hände in die Seiten und schaute ihre Eltern an. „Das lasse ich mir nicht ausreden.“ „Deinen Starrsinn hast du von mir.“ Agent Starling seufzte. „Du hast gut argumentiert und uns mit unseren eigenen Waffen geschlagen.“ „Wann kommst du wieder nach Hause?“, wollte Angela wissen. „Es ist ein One-Way-Ticket“, antwortete Jodie. „Aber das heißt nicht, dass ich gar nicht nach Hause zurückkehre. Und natürlich werde ich euch vermissen, wir werden ganz oft telefonieren und uns Nachrichten schreiben. Bitte freut euch für mich.“ Für ihr neues Leben hatte Jodie lediglich einen Koffer mit Kleidungsstücken, Hygieneartikeln und wichtigen Unterlagen eingepackt. Alle weiteren Dinge würde sie sich in London kaufen und von sämtlichen Unterlagen existierten im Hause ihrer Eltern Kopien. Es konnte nichts schief gehen. Ihre Eltern fuhren sie zum Flughafen und machten ihr den Abschied nicht gerade leicht. Während ihr Vater einen gefassten Eindruck zeigte, konnte Angela ihre Tränen nicht zurückhalten und drückte Jodie mehrfach an sich. Die Trennung von ihrer Familie war auch für Jodie nicht einfach. Es war das erste Mal, dass sie von ihrer Familie getrennt leben würde. Natürlich war sie für ein Fotoshooting immer mal wieder in eine andere Stadt gependelt, allerdings war Sharon meistens an ihrer Seite. Und wenn es nicht Sharon war, kam ihre Mutter mit. Nun auf eigenen Füßen zu stehen – auch wenn sie Liams Unterstützung haben würde – war sowohl beängstigend als auch aufregend zugleich. Aber Jodie war alt genug und sie musste diese Erfahrung machen. Jodie gab ihren Koffer auf und passierte anschließend die Sicherheitskontrolle. Noch einmal drehte sie sich um und winkte ihrer Familie zum Abschied zu. Mit gemischten Gefühlen stieg sie in das Flugzeug und setzte sich auf ihren Sitzplatz. Mehrere Stunden später war sie endlich in London angekommen. Sie wartete bis die Passagiere nicht mehr hektisch aus dem Flugzeug stiegen und machte sich dann ebenfalls auf den Weg. Sobald Jodie das Gate verlassen hatte, zog sie ihr Handy aus der Handtasche, schaltete es an und schickte sowohl Liam als auch ihren Eltern eine Nachricht. Danach holte sie ihren Koffer vom Band und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Jodie freute sich ihren Freund nach einem halben Jahr wieder persönlich zu treffen. Aufgeregt ging sie weiter und blieb stehen, als sie ihn erblickte. Er hatte sich die blonden Haare etwas länger wachsen lassen, was ihm aber genauso gut stand und seine blauen Augen nur noch mehr betonte. Sofort lächelte sie und lief im nächsten Moment auf ihn zu. Jodie umarmte ihren Freund und hielt sich an ihm fest. „Liam.“ „Jodie.“ Er drückte sie an sich und strich ihr über den Rücken. „Es ist schön dich zu sehen.“ Sie nickte. Endlich konnte sie damit beginnen ihre gemeinsame Zukunft zu planen. Niemand stand ihnen jetzt noch im Weg. „Jetzt bin ich bei dir. Ich hab dich so vermisst.“ „Dabei haben wir doch täglich miteinander geschrieben und mindestens einmal die Woche telefoniert“, entgegnete er ruhig. Anschließend gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Nachdem er sich von ihr löste, strich er ihr über die Wange. „Ich bin glücklich“, sagte er und ging zu ihrem Koffer. „Den sollten wir nicht so lange unbeaufsichtigt stehen lassen“, fügte er schmunzelnd hinzu. „Na komm, lass uns zu mir nach Hause fahren.“ Nach Hause. Diese zwei Worte klangen wie Musik in ihren Ohren und konnten nur durch ein Ich liebe dich übertroffen werden. Wann er es ihr sagte? Oder sollte sie den ersten Schritt machen? Vielleicht würde sie sich bald trauen, aber jetzt war es noch nicht soweit. Jodie hakte sich bei ihm ein und folgte ihm nach draußen. „Wie war dein Flug?“ „Ganz gut“, antwortete das Mädchen. „Planmäßig gestartet und planmäßig angekommen. Und heil bin ich auch. Meinen Eltern hab ich auch schon eine Nachricht geschickt, damit sie sich keine Sorgen machen. Sie würden dich sicherlich sonst in einer halben Stunde anrufen. Allerdings glaube ich, dass mein Vater die Flugdaten regelmäßig überprüft und bereits weiß, dass das Flugzeug gelandet ist.“ „Das klingt gut“, sprach Liam. „Du hast vermutlich Jetlag, du kannst dich in der Wohnung ein wenig hinlegen. Oder möchtest du lieber etwas essen? Ich kenne ein paar gute Restaurants oder wir bestellen uns etwas.“ „Mom hat mir Essen für den Flug eingepackt. Ich bin gesättigt…ich hab sogar ein paar Reste mitgebracht“, gab sie von sich. „Aber müde bin ich schon ein wenig.“ Der Student nickte. „Dann legen wir uns direkt hin. Ich muss morgen früh zur Vorlesung, aber ich hab meine Schicht in der Boutique, wo ich arbeite, getauscht. Du kannst morgen also ausschlafen und wenn ich zurück bin, zeige ich dir London. Wie klingt das?“ „Großartig.“ Jodie lächelte. „Ich weiß, ich hab dich mit meiner Reise überrumpelt, aber ich hab dich so vermisst. Zu meiner Verteidigung, wir haben immer darüber gesprochen, dass ich nach meinem Schulabschluss herkomme.“ Liam nickte. „Haben wir. Ich hatte nur nicht gedacht, dass du so früh kommen würdest und ich hätte mir ein wenig mehr Vorbereitungszeit gewünscht. Meine Wohnung ist klein und ich möchte, dass du dich dort wohl fühlst. Außerdem läuft das Semester noch, weswegen du häufig alleine sein wirst.“ „Das macht mir nichts“, entgegnete Jodie. „Hauptsache wir sind zusammen.“ Kapitel 4: Harte Worte ---------------------- Seit Jodies Ankunft in London waren drei Wochen vergangen. An ihrem ersten Abend inspizierte sie die Wohnung ihres Freundes, obwohl sie diese aus den vielen Videochats bereits kannte. Da Liam seine Vorlesungen an der Universität nicht einfach schwänzen konnte – zum einen gab es in gewissen Kursen die Anwesenheitspflicht und zum anderen stand er vor einer Zwischenprüfung – und auch nicht alle Schichten in der Boutique tauschen konnte, war Jodie die größte Zeit über alleine in der Wohnung. Sie verstand, dass es einige Dinge gab, die wichtiger waren, aber dennoch hatte sie sich die Zeit mit ihrem Freund anders vorgestellt. Und auch sie selbst hatte sich ihren Alltag in London ganz anders ausgemalt. Sie wollte nicht eine von den Frauen werden, die nur zu Hause herumsaßen, putzten und auf ihren Partner warteten. Aber es war genau das, was sie seit jeher tat. Sie stand morgens auf, machte ihm Frühstück und wartete dann den ganzen Tag auf seine Rückkehr. Zwischendurch kümmerte sie sich um seine Wohnung, die Wäsche und das Abendessen. Ab und an wagte sie sich nach draußen, besorgte Lebensmittel und andere Utensilien für den Haushalt. Eher selten ging sie spazieren und sah sich die Gegend an. Mittlerweile konnte sie sogar behaupten, dass sie sich innerhalb der Straße gut zu Recht fand. Ohne eine wirkliche Perspektive zu haben, war ihr Leben trostlos geworden. Dennoch verspürte sie eine minimale Aufregung, wenn sie daran dachte, dass Liam nach einem langen Tag in Vorlesungen oder nach seiner Arbeit in der Boutique nach Hause kam. Teilweise war es Freude ihn zu sehen, aber es gab auch diesen zweiten Aspekt in ihrer Beziehung. Jedes Mal fragte er nach ihrem Tag und sie antwortete ehrlich. An seinem Gesichtsausdruck wusste sie, dass er nicht darüber erfreut war, dass sie sich bislang noch nicht um ihre Zukunft gekümmert hatte. Doch sie wollte nicht damit beginnen, ihn über ihren Tag anzulügen. Durch ihren Vater wusste sie, dass jede Lüge irgendwann aufflog. Allerdings konnte Jodie Liams Problem nur teilweise verstehen. Sie war noch gar nicht so lange in London und hatte natürlich andere Prioritäten als sich mit ihrer Zukunft auseinanderzusetzen. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie sich auch das Zusammenleben mit Liam ganz anders vorgestellt. Aber vermutlich war das normal, wenn man sich als Paar nur selten sehen konnte und auf einmal aufeinander hockte. Jodie war sich sicher, dass sie sich erst wieder aufeinander einstimmen mussten. Und mit der Zeit würden sie eine Beziehung haben wie die ihrer Eltern. Schweigend nahm Jodie einen Bissen vom Abendessen. Sie war weder eine gute noch eine schlechte Köchin. Ihre ersten Versuche hatte sie damals in den Sand gesetzt, ihr Vater hatte sie scherzhaft als Mordanschlag betitelt. Aber nachdem sie viel mit ihrer Mutter geübt und auch einen Kochkurs besucht hatte, konnte sie zumindest die einfachsten Gerichte zubereiten. Trotzdem war sie immer nervös, wenn Liam den ersten Bissen nahm und sie mit nichtssagendem Blick ansah. Genau so wie jetzt. Er beobachtete sie. „Was hast du heute den ganzen Tag gemacht?“ Da war sie, die Frage, die darüber entschied, wie der Abend zu Ende ging. Jodie versuchte ihre Worte mit Bedacht zu wählen. „Ich…“, murmelte sie. „…hab mich zuerst ein wenig um die Wohnung gekümmert und danach bin ich nach draußen gegangen. Ich mag die Gegend hier, so viele kleine Geschäfte und ganz viel zu sehen.“ An Liams Gesichtsausdruck hatte sich nichts verändert. Jodie ahnte, dass ihre Antwort zu Ärger führen würde. Er seufzte. „Jodie, das ist…wirklich nett von dir und ich schätze es auch, dass du dich um die Wohnung kümmerst, für mich kochst und auch, dass du wegen mir nach London gekommen bist. Aber…wir hatten doch ausgemacht, dass du nicht nur den ganzen Tag zu Hause sitzen sollst und das Heimchen am Herd spielst. Ich möchte nicht, dass du in einigen Jahren zurück blickst und deine Entscheidungen bereust“, begann er ruhig. „Du brauchst einen Plan für dein Leben und du musst dir überlegen, was du in der Zukunft machen willst. Es muss doch kein Studium sein und wenn du nicht direkt mit einer Vollzeitstelle anfangen willst, dann kannst du auch erst mit einem Teilzeitjob anfangen. Ich weiß, du hast es gehasst, dass dir deine Eltern vorgeschrieben haben, dass du neben deinem Schulabschluss noch Vorbereitungs- oder Orientierungskurse besuchen sollst, allerdings solltest du dir überlegen, ob du das hier nicht auch machen willst.“ Und Liam wusste, dass er nun genau das gleiche sagte, wie ihre Eltern. Aber es musste sein. Denn er teilte ihre Meinung. „Das weiß ich doch alles“, murmelte Jodie. „Und ich möchte auch nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen und darauf warten, dass du nach Hause kommst. Ich bin doch noch nicht so lange in London und ich dachte…wir gönnen uns erst einmal ein paar Tage Ruhe und Erholung. Daran ist doch nichts auszusetzen.“ Er musterte sie. „Das wollte ich dir auch nicht vorwerfen. Ich bin mit der Uni und der Arbeit in der Boutique so beschäftigt, dass wir am Abend nur zu Hause sitzen und essen. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich danach noch lerne oder Hausarbeiten schreibe. Wir kommen auch am Wochenende nicht dazu, viel zu unternehmen. Wenn du…wenigstens mal was alleine unternehmen würdest…“ „Ich bin in einer fremden Stadt…und einem fremden Land, natürlich möchte ich dann nicht alleine irgendwo unterwegs sein“, warf sie ein. „Das war bei mir damals doch nicht anders. Jodie, es bringt nichts, wenn du nur zu Hause rumsitzt. Du musst auch für dich selbst einstehen.“ Er schüttelte den Kopf. „Entschuldige, ich wollte nicht so harsch sein. Ich will doch nur dein Bestes. Wenn du zu lange zu viel Zeit vergeudest, kann es zu spät sein. Der Arbeitsmarkt ist hart umkämpft und wenn du nichts vorweisen kannst… Bitte versprich mir, dass du wenigstens versuchst, etwas zu finden was dir Spaß macht. Ich werde dir nicht im Weg stehen. Und…wenn du dich entscheidest, dass du wieder nach New York fliegst, könntest du es bereuen, wenn du die Zeit hier nicht genutzt hast.“ Jodie schluckte. Sie sollte wieder zurück? Aber warum? „Dir stehen so viele Möglichkeiten offen. Du bist eine großartige Person und ich will, dass du dir auch ein Leben ohne mich aufbaust. Man weiß nämlich nie, was passiert.“ Jodie wirkte niedergeschlagen. Ein Leben ohne ihn? Ging er davon aus, dass sie sich früher oder später trennen würden? Nein! Das wollte sie nicht. Aber was war die Alternative? Sollte sie ihm ganz spontan einen Heiratsantrag machen? Jodie schüttelte den Kopf. Dafür war es definitiv noch zu früh gewesen, auch wenn sie manchmal davon träumte eine Braut zu sein. „Ich…ich verstehe, was du meinst“, murmelte sie leise. „Ich möchte…dir nicht zur Last fallen, Liam. Und ich verspreche dir, dass ich nicht nur zu Hause herumsitzen werde. Ich werde mir einen Job suchen und…mir das Vorlesungsverzeichnis ansehen…und….“ Liam rückte an sie heran. Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. „Es ist kein Vorwurf, Jodie. Ich hab einfach nur Angst, dass du…mich irgendwann hassen wirst, wenn ich dir jetzt nicht in den Hintern trete.“ Er versuchte zu lächeln. „Dein Essen schmeckt im Übrigen gut. Vielleicht wäre Koch was für dich?“ „Danke. Meine Mom hat mir einiges gezeigt und ich hab zu Hause auch einen Kochkurs besucht. Meine Eltern hatten mich auch schon deswegen gelöchert…aber nein, ich kann mir nicht vorstellen das Kochen zum Beruf zu machen.“ „Mhm…verstehe“, entgegnete Liam und strich ihr über den Rücken. „Hast du überlegt, ob du das mit dem Modeln hier wieder angehen willst?“ „Hm?“ Jodie sah ihn überrascht an. „Das hab ich doch nur als Kind gemacht und ich war froh, als ich es aufgeben konnte. Oder möchtest du mich mit fremden Männern teilen?“ Liam verzog das Gesicht. „Sag doch so was nicht.“ Jodie kicherte. „Ich mein ja nur. Als Model sehen mich viele Menschen und auch wenn meine Bilder als Kind jugendfrei waren, so glaube ich nicht, dass es jetzt auch noch so wäre. Sex sells. Wahrscheinlich müsste ich auch mal im Bikini Fotos machen oder andere freizügige Bilder.“ „Vergessen wir das modeln“, entgegnete der junge Mann. „Ich bin der einzige Mann der dich so sehen darf.“ Jodie schmunzelte. „Das wollte ich hören. Und jetzt iss auf, sonst wird das Essen noch kalt.“ „Ja, Ma’am.“ „Das klingt ja, als wäre ich voll alt.“ Liam kicherte. „Tut mir leid. So war das nicht gemeint.“ „Dann will ich mal nicht so sein und deine Entschuldigung annehmen“, sagte Jodie ruhig. Sie lächelte. „Liam?“ „Ja?“ „Jetzt wo ich hier bin…also deine Wohnung…mir ist aufgefallen, dass du dich zum Lernen oft im Schlafzimmer verschanzt und wenn…ich nach dir wach bin, bleibe ich noch länger dort, damit du morgens im Wohnzimmer genügend Zeit für deine Aufgaben hast. Versteh mich nicht falsch, ich mag deine Wohnung, aber…ich glaube sie ist für uns zwei zu klein.“ Liam nickte verstehend. „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Noch geht es, aber je mehr Zeit wir hier zusammen verbringen, desto schneller könnte es passieren, dass wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen wollen. Keiner hat hier seinen Freiraum und bei einem Streit…naja du weißt schon…“ „Ich bin froh, dass du das auch so siehst“, gab die junge Frau von sich. „Trotzdem bin ich nur Student und muss neben den Studiengebühren auch andere Kosten tragen. Eine kleine Wohnung macht da am meisten Sinn und ich bin oft nicht zu Hause.“ „Ich kann ab morgen mal im Internet nach einer Wohnung schauen. Solange sie bezahlbar ist und mehr Zimmer hat, haben wir Beide unseren Freiraum.“ Liam lächelte. „Gute Idee. Ich denke, es ist auch für unsere Beziehung besser, wenn wir erst einmal getrennt voneinander wohnen. Wir hatten von Anfang an einen schlechten Start. Kaum kamen wir zusammen, bin ich nach London und danach hatten wir eine Fernbeziehung. Direkt zusammenzuziehen wäre bestimmt in einer Katastrophe geendet. Wir sollten uns erst einmal aneinander gewöhnen und uns näher kennenlernen. Ich bin froh, dass du das auch so siehst.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Jodie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Eigentlich wollte sie ihm das Gegenteil vorschlagen und sich auf die Suche nach einer größeren Wohnung machen. Für sie beide. Aber stattdessen hatte er sie komplett falsch verstanden und seine eigenen Schlussfolgerungen gezogen. Natürlich hatte er recht mit seiner Aussage, doch sie war nur seinetwegen nach London gekommen und sollte wieder von ihm getrennt werden. „Ja, ich…ich kümmer mich darum. Aber…mach dir nicht zu viele Hoffnungen, dass ich schnell was finde. Eine Wohnung zu finden, dauert seine Zeit und ich hab…noch keinen Job.“ Er legte seine Hand auf ihren Kopf und strich ihr über das Haar. „Ich will dich nicht loswerden, falls du das glauben solltest. Und natürlich weiß ich, dass man eine Wohnung nicht von heute auf morgen findet. Mach dir darüber nicht zu viele Gedanken. Wenn es wegen dem Geld ist, das kriegen wir schon hin. Wenn es nicht anders geht, fragen wir deine Eltern oder meine Eltern, wenn dir das lieber ist.“ „Schon gut.“ „Ach Jodie“, wisperte Liam. „Ich seh es in deinem Gesicht. Du bist traurig, aber das musst du nicht sein.“ Sie lehnte sich an ihn. „Das weiß ich doch. Ich hab nur nicht gedacht, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich mir eine eigene Wohnung suche.“ „Natürlich macht es mir was aus. Was meinst du, was in meinem Kopf vorgeht? Du bist neu in der Stadt und kennst dich hier nicht aus. Ich habe Angst, dass ein Vermieter deine Gutgläubigkeit ausnutzen wird oder dass du mit deinen zukünftigen Nachbarn nicht auskommst oder du in eine komische Gegend ziehst…mir geht so viel durch den Kopf, aber ich versuche es nicht zu zeigen. Ich weiß nämlich, dass du nicht auf den Kopf gefallen bist und die richtige Entscheidung treffen wirst. Genau so weiß ich, dass es für uns Beide so am besten ist. Wer weiß, wann bei uns Mord und Todschlag herrscht. Irgendwann muss ich mir noch ein Alibi suchen.“ „Mhm?“ Sie blickte zu ihm hoch. „Wer sagt denn, dass ich das Opfer bin?“ Liam war überrascht. „Naja…ich kann mir nicht vorstellen, dass du mir was antust.“ Er schmunzelte. „Aber du weißt doch, dass Frauen sehr eifersüchtig und rachsüchtig werden können.“ Jodie kicherte. „Und außerdem bin ich die Tochter eines FBI Agenten. Ich weiß, was ich tun muss, um ungeschoren davon zu kommen.“ „So ist das also. Du wirst es mir nicht einfach machen.“ „Wer kann, der kann“, entgegnete sie. Zunächst blickten sie einander streng an, danach begannen sie aber herzhaft zu lachen. Kapitel 5: Arbeiten und wohnen ------------------------------ Bei der Suche nach einer Arbeitsstelle war Jodie zwiegespalten und agierte auch dementsprechend. Sie wusste immer noch nicht, was sie irgendwann in der Zukunft mal tun wollte oder in welche Richtung sich ihr Leben entwickeln sollte. Einerseits wollte sie arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen, wollte dass sowohl Liam als auch ihre Eltern stolz auf sie waren – und endlich Ruhe gaben. Andererseits würde es mit einem Arbeitsvertrag einfacher werden eine eigene Wohnung zu finden und auszuziehen. Damit würde sie Liam viel weniger sehen als bisher, besonders wenn keiner von Beiden am Abend noch in der Lage sein würde, etwas gemeinsam unternehmen zu wollen. Für einen kurzen Moment hatte Jodie sogar daran gedacht, in der Boutique wo Liam arbeitete nach einer Stelle zu fragen. Sie hatte die Idee allerdings sehr schnell verworfen, schließlich hatte er ihr vor Augen geführt, dass es besser war auch getrennte Wege zu gehen. Trotzdem war es nicht einfach gewesen, eine Stelle zu finden. Viele Geschäfte wollten Arbeitskräfte mit Erfahrung. Und auch wenn Jodie nur wenig Ansprüche hatte, wollte sie nicht jeden x-beliebigen Job annehmen. Da sie erst einmal von ihren Ersparnissen Leben würde, durfte die Arbeitsstelle nicht zu weit weg sein, schließlich sollte das Geld nicht für eine Fahrkarte vergeudet werden. Außerdem hieß eine weite Arbeitsstelle, dass sie abends nur noch später nach Hause kommen würde und daher noch weniger Zeit für Liam hätte. Außerdem hatte sie für sich entschieden, dass eine Stelle im Supermarkt nicht in Frage kam. Täglich die gleichen Waren ein- oder ausräumen, sich von Kunden herum schubsen lassen, schwere Gegenstände heben oder nur an der Kasse zu sitzen, fühlte sich nicht richtig an. Da sich Jodie von den vielen Stellenanzeigen im Internet überfordert fühlte, beendete sie ihre Suche vorerst und ging nach draußen. Eigentlich wollte sie die Gegend wieder ein wenig erkunden. Spontan fragte sie in einem Blumenladen sowie einer Bäckerei, ob gerade eine Aushilfe gesucht wurde. Wie es sich Jodie gedacht hatte, erhielt sie direkt eine Absage. Erst als sie in den kleinen Buchladen ging, hatte sie Glück. Der Inhaber – ein älterer Mann – suchte eigentlich keine Aushilfe, hatte aber dennoch für Jodie ein offenes Ohr. Am Anfang unterhielten sie sich über die vielen Bücher, Jodies Träume und Wünsche sowie ihr Gespräch mit Liam. Letzten Endes hatte er Mitleid mit Jodie und ihr eine Stelle angeboten, durch die sie täglich zwischen 10 und 15 Uhr im Laden aushelfen konnte. Sie würde zwar nicht viel Geld verdienen, aber es war ein Anfang und erste Berufserfahrung würde sie auch sammeln. Ihre Suche nach einer eigenen Wohnung hatte das Ausmaß angenommen, welches Jodie sich bereits denken konnte. Natürlich bekam sie auf ihre Bewerbungen Absagen, schließlich war sie zu jener Zeit noch arbeitslos und konnte sich die Miete nicht wirklich leisten. Wie Jodie mitbekam, akzeptierten Vermieter auch nicht, dass man die Unterstützung des Freundes oder der Eltern hatte. Dabei war sich Jodie sicher, dass sie selbst mit ihrem ersparten für einige Monate über die Runden kommen würde. Allerdings war es auch ein Vorteil. Sie konnte sogar vor Liam belegen, dass sie auf der Suche war und ihre Bewerbungen für die Wohnungen abgelehnt wurden. Und dass Liam sie nicht einfach so rauswerfen würde, war sicher. Möglicherweise konnte sie ihn auch im Laufe der Zeit davon überzeugen, dass ein Zusammenleben am besten war. Trotzdem musste sie weitermachen. Mit ihrem Arbeitsvertrag standen die Chancen auf eine Wohnung schon viel besser, allerdings würde sie auch damit vermutlich nicht alles bezahlen können. Dennoch würde der Vermieter sehen, dass sie nicht nur faul zu Hause herumsaß. Und wenn Jodie auszog, wollte sie in Liams Nähe bleiben, allerdings lagen die meisten bezahlbaren Wohnungen in Gebieten, wo keiner gern wohnen wollte. Oder die Wohnungen waren heruntergekommen. Es gab auch Momente an denen Jodie von den Menschen enttäuscht wurde. Es gab viele männliche Vermieter, die scheinbar nur an jungen Mädchen interessiert gewesen waren. Sie machten anzügliche Bemerkungen und hin und wieder erhielt sie sogar ein eindeutiges Angebot. Jene Gespräche hatte Jodie augenblicklich beendet. Doch irgendwann hatte sie im Internet eine Wohnung gefunden, die eigens an Studenten und Geringverdiener Zimmer vermietet wurden. Die junge Frau hatte sich keine Hoffnungen gemacht, schließlich war sie nicht die Einzige, die eine Wohnung suchte. Als sie bei der offenen Wohnungsbesichtigung war, hatte sie viele Mitbewerber gesehen und die Hoffnungen auf die Wohnung verworfen, auch wenn diese nahezu perfekt war. Es gab einen großen Eingangsflur und einen Wohnbereich. Rechts davon war eine Nische mit der Küche und dem Zugang zum Balkon. Links lagen Badezimmer und Schlafzimmer. Die Fenster waren groß und ließen helles Licht rein. Sie hatte bei der Wohnung von Anfang an ein gutes Gefühl und das nicht nur, weil es nur zehn Minuten von Liams Wohnung entfernt lag. Auch wenn ihre Chancen gering waren, gab Jodie das Bewerbungsformular mit einer Kopie ihres Arbeitsvertrages und einem Nachweisschein vom Meldeamt ab. Zum Glück hatte sie von Liam gewusst, was sie alles für eine eigene Wohnung vorab an Nachweisen beantragen musste. Als Jodie nach etwas mehr als zwei Wochen die Zusage für die Wohnung erhielt, traute sie ihren Ohren kaum. Warum ausgerechnet sie? Dennoch hinterfragte sie die Entscheidung des Vermieters nicht und bereitete mit Liam alles für ihren Umzug vor. Da Jodie nicht viele Sachen mitgebracht hatte, hielten sich die Vorbereitungen in Grenzen. Im Vergleich zu ihr hatte Liam auch gute Laune, als sie in der darauffolgenden Woche in die Wohnung zog. Die Wohnung war bereits bezugsfertig und möbliert, sodass sich die weiteren Ausgaben in Grenzen halten würden. Ihre Erstausstattung würde Jodie nach und nach kaufen und es sich im Laufe der Zeit heimisch in der Wohnung machen. Der Tag schien perfekt für einen Umzug zu sein. Die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Liam trug eine Kiste mit ein paar Kleinigkeiten von Jodie, während die junge Frau den Griff ihres Koffers festhielt. Zusammen sahen sie an der Fassade des Mietobjektes hoch. „Da oben, dort liegt meine Wohnung“, sagte Jodie und zeigte mit dem Finger auf einen Balkon in der dritten Etage. „Von dort oben sieht man die Straße gut ein. Ich kann dich also vor jedem deiner Besuche von dort beobachten.“ Liam lächelte. „Als du mir erzählt hast, dass du in ein Wohnhaus ziehst, welches für Studenten und Geringverdiener angedacht ist, hatte ich mir etwas…Heruntergekommeneres vorgestellt. Aber das hat meine Erwartungen übertroffen.“ „Dann will ich hören, was du sagst, wenn wir die Wohnung betreten“, entgegnete Jodie. „Ich muss dir aber zustimmen, als ich die Anzeige im Internet gelesen hab, hab ich auch etwas anderes erwartet. Der Vermieter hat mir erzählt, dass es seine Tochter damals sehr schwer hatte eine Wohnung zu finden. Deswegen hat er sich entschieden hier nur Menschen in einer ähnlichen Situation wohnen zu lassen. Warte, ich mach dir die Tür auf“, fügte sie hinzu und öffnete unten die Haustür. „Danke“, murmelte der Student. „Bitte sag mir, dass es hier einen Fahrstuhl gibt.“ „Ja, den gibt es“, lächelte Jodie. „Hast du etwa geglaubt, ich würde dich mit der Kiste Treppen steigen lassen?“ „Vielleicht“, antwortete Liam und ging zum Aufzug. Jodie drückte den Knopf und als sich die Türen öffneten, stieg sie ein. Gemeinsam fuhren sie nach oben und gingen zu ihrer Wohnungstür. Mit einem Hauch von Stolz strich sie über das Namensschild an ihrer Klingel. „Deine erste eigene Wohnung“, entgegnete der Junge. Jodie nickte. „Es ist irgendwie schon was Besonderes“, sprach sie und öffnete die Haustür. „Hereinspaziert.“ Liam trat ein und stellte die Kiste mit Jodies Sachen in den Flur. Dann sah er sich in der Wohnung um. „Hier lässt es sich lange aushalten.“ „Und weißt du, was ein weiterer Vorteil ist? Wenn du dich mal entscheidest, dass deine Wohnung zu klein ist, könntest du zu mir kommen.“ Jodie lächelte. „Die Wohnung wäre groß genug, damit wir uns aus dem Weg gehen können.“ „Mhm?“ Liam blickte sich weiter um. „Irgendwann wäre es wahrscheinlich möglich.“ „Brauch ich noch weitere Vorteile?“, wollte die junge Frau wissen. „In der Nähe gibt es sogar einen Supermarkt, eine Apotheke, eine kleine Boutique, einen Blumenladen, Buchhandel und auch eine Bank. Außerdem ist ein Park nicht so weit entfernt, genauso wie die U-Bahn. Die Gegend gefällt mir jetzt schon.“ „Du zählst wirklich viele Vorteile auf. Ich hab fast das Gefühl, du willst, dass ich so schnell wie möglich hier einziehe.“ „Oder ich will dich einfach aufziehen, weil meine Wohnung größer ist“, log Jodie. „So ist das also“, schmunzelte er. „Du hast mich auf frischer Tat ertappt.“ Jodie brachte ihren Koffer in das Schlafzimmer und seufzte leise auf. Als sie sich wieder gefangen hatte, ging sie zurück zum Wohnbereich. Liam beobachtete sie. „Ich hab mir überlegt, dass wir morgen früh zusammen frühstücken könnten. Was sagst du dazu?“ „Das klingt gut“, antwortete Jodie. „Noch einmal die friedliche Zeit genießen, bevor es am Montag mit der Arbeit bei mir los geht.“ „Dabei arbeitest du doch nur ein paar Stunden und du kannst sogar ausschlafen“, warf Liam ein. Jodie zuckte mit den Schultern. „Es wird trotzdem anstrengend werden. Ich muss mich schließlich erst noch daran gewöhnen und bestimmt werde ich nicht sofort Kunden bedienen dürfen. Bestimmt muss ich die schweren Kisten mit den Büchern tragen.“ Liam kicherte. „Du schaffst das schon. Ich massier dir dann auch die Beine.“ „Wenn das so ist…“, entgegnete Jodie und ging zur Balkontür. Sie öffnete diese und ließ die frische Luft rein. Vielleicht hatte die Wohnung ja doch etwas Positives an sich. Einen Moment später klopfte es an der Eingangstür. „Erwartest du Besuch?“ „Nein, vielleicht irgendwelche Vertreter“, antwortete die junge Frau und ging an die Tür. Sie öffnete diese. „Ja, bitte?“ „Hey, wir haben gesehen, dass wir einen neuen Nachbarn haben und wollten mal Hallo sagen. Können wir rein kommen?“ „Na klar. Hier entlang“, nickte Jodie und ging in den Wohnbereich. „Ich würde euch ja gern etwas zu Trinken anbieten, aber ich hab hier noch nicht so viel.“ „Das ist doch kein Problem“, gab Elena von sich. Sie nickte Liam zur Begrüßung zu. „Ich bin im übrigen Elena und ich wohn in der fünften Etage zusammen mit ihm hier.“ Sie wies auf einen jungen Mann der hinter ihr stand. „Stell dich vor, Ben.“ „Ich bin Ben, Elenas Freund“, antwortete dieser. „Wir sind vor einem halben Jahr hier eingezogen.“ Elena nickte. „Die Wohnungen sind perfekt für Studenten oder Paare. Wir helfen uns immer gegenseitig. Wenn also irgendwas ist, kommt ruhig vorbei.“ Jodie lächelte. „Danke. Ich bin Jodie und das ist mein Freund Liam. Ich zieh hier alleine ein, aber ihr werdet ihn sicher auch oft sehen.“ Liam lächelte. „Freut mich.“ „Oh“, murmelte Elena. „Und was macht ihr so beruflich? Studiert ihr?“ „Liam ist Student und arbeitet noch in einer Boutique. Ich hingegen arbeite derzeit nur in einer kleinen Buchhandlung. Wir sind Beide ursprünglich aus New York, daher bin ich noch dabei, mich zu orientieren. Vermutlich werde ich an ein paar Informationsveranstaltungen teilnehmen.“ „Das klingt nach einem Plan. Lass dir nur Zeit mit der Entscheidung. Ich hab ein Jahr Work and Travel gemacht, ehe ich mich für ein Studium eingeschrieben habe. Jetzt bin ich im dritten Semester Modedesign und Ben studiert Architektur. Wir haben uns damals bei einer Informationsveranstaltung kennen und lieben gelernt. Das war sooooo romantisch“, schwärmte sie. „Und Shuichi studiert Ingenieurwesen.“ Erst jetzt fiel Jodie auf, dass vor der Haustür drei Personen standen, aber in die Unterhaltung waren nur Elena und Ben vertieft. „Shuichi…“, murmelte sie nachdenklich. Ihr Blick fiel auf den dritten Nachbarn. Er war Japaner, stand abseits und hatte seinen Blick abgewendet. Nein, nicht abgewendet, er nahm ihre Wohnung akribisch unter die Lupe. Suchte er nach etwas? „He! Akai!“, zischte Elena. „Stell dich auch vor.“ Der junge Mann blickte desinteressiert zu ihr, dann zu Jodie. Sein Blick schien sie zu durchbohren. Und trotzdem spürte Jodie etwas Besonderes. „Shuichi Akai“, stellte er sich vor. „Ich wohne auch hier. Siebte Etage.“ Elena seufzte. „Das du hier wohnst, ist ja auch gar nicht offensichtlich.“ „Ihr habt mich mitgeschleppt, dann muss ich nicht so tun, als hätte ich Interesse.“ „Wir wollten doch nur, dass du auch Hallo sagst. Also solltest du auch so reagieren.“ „Hallo.“ „Akai!“ Jodie kicherte. „Ich glaube, mir wird das wohnen hier Spaß machen.“ Sie sah zu Liam. „Meinst du nicht auch?“ „Bestimmt“, murmelte der Gefragte. „Und die Gegend ist auch sicher. Darüber müsst ihr euch keine Sorgen machen“, entgegnete Elena. „Das kann jeder sagen“, warf Liam ein. „Aber wenn erst einmal etwas passiert, wird es zu spät sein.“ „Jaja, damit muss man immer rechnen“, nickte sie. „Aber wir fühlen uns hier trotzdem sicher. Shuichis Eltern haben sich alles gründlich angesehen und die müssen es ja wissen, die arbeiten schließlich für das MI6“, erzählte Elena stolz, fast so, als wäre sie mit dem Agentenpaar verwandt. „Ach ja?“ Jodie blickte zu ihm. Akai zuckte mit den Schultern. „Ich bin damit aufgewachsen, dass alles hinterfragt wurde. Selbstverständlich haben meine Eltern die Gegend überprüft. Auch wenn sie nicht in der Nähe sind, ich kann mich gut selbst verteidigen. Und da ich auch zum MI6 will, werde ich euch natürlich auch beschützen. Sollte also etwas passieren, kommt ruhig zu mir.“ Liam verdrehte die Augen. „Ihr könnt auch jeden Spruch bringen, den ihr möchtet. Mir macht das nichts aus, meine Kindheit hat mich dementsprechend geprägt.“ „Dann geht’s dir ja wie Jodie“, sagte Liam. „Mhm?“ „Mein Vater arbeitet beim FBI.“ Akai verengte die Augen. „FBI?“ Elena seufzte. „Oh nein, es geht los…“ „Was geht los?“, wollte Jodie wissen. „Das Gespräch welche Bundesbehörde besser ist.“ Sie nahm Akai an der Hand. „Wir retten euch mal vor ihm, außer ihr wollt bis tief in die Nacht diskutieren. Also dann, wenn ihr Hilfe braucht, kommt vorbei“, fügte sie hinzu und zog den Japaner nach draußen. Kapitel 6: Im April ------------------- Jodie schloss die Wohnungstür mit einem Lächeln auf den Lippen. Über die Begegnung mit ihren drei Nachbarn schüttelte sie kurz den Kopf, ging dann aber zurück in den Wohnbereich. „Die drei Nachbarn waren doch echt nett.“ Liam nickte, aber sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass irgendwas im Argen lag. „Und du hast einen Gleichgesinnten hier…“ „Mhm? Was meinst du?“, wollte die junge Frau wissen. „Der Japaner ist doch der Sohn von MI6 Agenten. Ihr könnt euch über eure Erfahrungen austauschen und Dinge, die eure Kindheit geprägt haben. Außerdem kannst du ihn Fragen, wie er auf die Idee kam in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Du hast mir doch auch erzählt, dass du früher zum FBI wolltest, um mit deinem Vater zusammen zu arbeiten. Aber irgendwann hat sich dieser Wunsch verändert. Vielleicht gibt er dir einen neuen Anreiz…“ Seine Worte irritierten sie. „Im Vergleich zu mir, tut er allerdings alles um beim MI6 aufgenommen zu werden. Zumindest nehm ich das an. Wenn ich nach dem ersten Eindruck gehe, denke ich, dass er seinen Plan schon länger verfolgt und…warum sollte ich jetzt wieder auf die Idee kommen, beim FBI arbeiten zu wollen? Ich glaube, das wäre sogar dem FBI zu sprunghaft, auch wenn mein Vater sicher ein gutes Wort einlegen würde. Aber lass uns doch bitte über etwas anderes reden, ja?“ Liam ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn. „Entschuldige, ich hatte nur das Gefühl, dass sich mit deinem Einzug hier, neue Möglichkeiten für dich ergeben. Du lernst neue Menschen kennen und…vielleicht bin ich deswegen auch ein klein bisschen eifersüchtig…“ Jodie umarmte ihn. „Du musst nicht eifersüchtig sein“, gab sie ruhig von sich. „Selbst wenn ich mich mal mit ihnen treffe, du bist immer noch der, den ich liebe. Ich möchte mich allerdings nicht nur zu Hause verstecken und wenn…es hier nur von Studenten so wimmelt, könnte ich auch etwas über ihre Studiengänge in Erfahrung bringen. Vielleicht finde ich dadurch heraus, was ich später einmal machen will.“ Sie wusste, dass es genau das war, was Liam hören wollte. „Das ist gut möglich“, murmelte Liam. Er räusperte sich. „Aber eines musst du mir versprechen?“ „Mhm? Ich versprech dir alles was du willst. Was ist es denn?“ „Wenn du das Gefühl hast, dass es in der Gegend gefährlich ist oder du Angst bekommst, rufst du mich an und nicht diesen Akai, ja?“ Jodie lächelte. „Na klar!“ Ohne es wirklich zu wollen, hatte sich in Jodies Leben so viel verändert. Seit einigen Wochen ging sie jeden Tag zur Arbeit und danach in ihre Wohnung. Da Liam andere Arbeitszeiten hatte, sahen sie sich nur noch selten. Entweder einer von Beiden arbeitete oder es standen andere Prioritäten auf dem Plan. Anfangs hatte sich Liam nichts dabei gedacht und sich sogar gefreut, dass Jodie Spaß an der Arbeit entwickelte und immer mehr Anschluss zu den Nachbarn fand. Viele von ihnen studierten, aber es gab auch jene, die wie die Jodie, nur einer Arbeit nachgingen und Geld sparten. Selbst Liam hatte viel zu spät bemerkt, wie sie langsam auseinander drifteten. Die ersten Tage sahen sie sich noch. Jodie kochte für ihn oder räumte sogar seine Wohnung auf. Nach ihrem ersten Arbeitstag hatte er Jodie zu Hause besucht, danach immer seltener. Er vermisste sie, hatte sich aber irgendwann daran gewöhnt, dass sie nicht bei ihm zu Hause war. Jodie durfte ihr eigenes Leben führen und er war froh, dass sie sich nicht nur auf ihn verließ. Damals wusste er allerdings noch nicht, dass dies nur der Anfang war. Jodie mochte die Arbeit in der Buchhandlung. Die ersten Tage machte sie sich mit dem Inventar vertraut und räumte die Bücher ein. Später durfte sie sogar die Bestellungen verwalten und als sie sich im Laden gut genug auskannte, war es sogar möglich, dass sie sich um die Verkäufe kümmerte. Nach langer Zeit hatte Jodie das Gefühl, dass sie endlich in London angekommen war und wenn es so weiter ging, konnte sie vielleicht bald ihren eigenen Weg finden. Jodie wusste, dass es einige gab, die sie für ihre kurze Arbeitszeit beneideten und andere verstanden nicht, dass sie trotz allem auch abends von der Müdigkeit heimgesucht wurde oder sich einfach nur entspannen wollte. Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein und hin und her zu laufen, war anstrengender als man dachte. Trotzdem hatte sich Jodie immer wieder dazu aufgerafft und im Internet nach möglichen Berufschancen gesucht. Als es an Jodies Tür klingelte, stand sie auf und ging in den Flur. Sie schaute durch das Guckloch und öffnete die Tür mit einem Lächeln. „Hey Elena, was gibt es?“ Seit Jodie in die Wohnung gezogen war, kam Elena häufig vorbei und integrierte sie so gut wie es ging, in die kleine Gemeinschaft. Hin und wieder aßen sie auch zusammen, wobei bei Elena scheinbar ein reger Durchgangsverkehr herrschte. Immer wieder waren auch andere Nachbarn dort und mittlerweile freute sich Jodie sogar auf diese Treffen. Sie fühlte sich nicht mehr alleine, wenn Liam nicht da war. In nur wenigen Wochen wurde Elena zu einer guten Freundin, sie brachte ihr sogar Informationsmaterial aus der Uni mit und ging es mit Jodie durch. Wie immer konnte sie ihre Fröhlichkeit nicht verbergen. „Ein paar Nachbarn gehen heute ins April. Kommst du mit?“ „Ins April?“ „Das ist eine kleine Bar, die nur ein paar U-Bahn Stationen von hier entfernt ist. Shuichi spielt dort heute mit seiner Band und wir kriegen die erste Runde der Getränke aufs Haus.“ Jodie erinnerte sich noch sehr gut an Shuichi Akai. Sie hatte ihn bisher nur einmal getroffen und dennoch hatte er einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Allerdings wusste sie nicht, was sie von dem jungen Mann halten sollte. „Er spielt in einer Band?“ „Ja, man glaubt es kaum“, kicherte Elena. „Er spielt Akkordeon, manchmal begleitet er auch andere Künstler beim Spiel. Außerdem arbeitet er auch in der Bar. Damit finanziert er einen Teil seiner Studiengebühren.“ Sie zwinkerte ihr zu. „Und man kann ihn auch sehr gut aufziehen, wenn man das vom Akkordeon weiß.“ „Dann sollte ich alleine deswegen mitgehen“, sagte Jodie ruhig und schnappte sich ihre Handtasche. Sie ging aus der Wohnung, schloss die Tür und ging mit Elena nach unten. Unten wurden sie von Ben, Warren und Cho – zwei weiteren Nachbarn begrüßt. „Da wir jetzt vollzählig sind, können wir starten.“ Elena griff nach Jodies Hand und marschierte los. Wie sie es angekündigt hatte, dauerte die Fahrt mit der U-Bahn nicht lange und als sie in der Bar ankamen, setzten sie an einen freien Tisch, „Können wir wirklich den Platz für uns beanspruchen?“ Jodie blickte auf das kleine Schild mit dem Wort reserviert. „Natürlich, der ist ja für uns reserviert“, schmunzelte sie. „Unser Stammtisch wenn wir hier sind.“ Elena schob ihr die Karte mit den Getränken rüber. „Such dir was aus.“ „Ach so.“ Jodie blätterte in der Karte und als sie sich einen Cocktail ausgesucht hatte, ließ sie ihren Blick durch die Bar schweifen. Es war gemütlich und man konnte sogar tagsüber bereits herkommen. Für Studenten gab es ein besonderes Mittagsangebot, aber auch ohne das Angebot schien das Essen relativ günstig zu sein. Jodie nahm sich vor, auch nach den Abend die Bar zu besuchen. „Ich glaub, sie fangen bald an“, murmelte Elena. Jodie sah zur Bühne. Die Instrumente waren bereits aufgebaut gewesen und die Mitglieder der Band begaben sich auf die Bühne. Shuichi schnallte sich das Akkordeon um und nachdem seine Kollegen anfingen, haute auch er in die Tasten. Jodie war überrascht, dass das Spiel mit dem Akkordeon so gut zu den anderen Instrumenten passte. Ton und Klang waren im gleichen Takt. Jodie schloss die Augen um die Atmosphäre noch besser auf sich wirken zu lassen und stellte fest, dass sie diese Art der Musik mochte. „Nicht schlecht oder?“, wollte Elena wissen und nahm ihren Cocktail entgegen. Sie nippte daran. Jodie öffnete die Augen und nahm ebenfalls ihr Getränk entgegen. „Ja, ich hätte gar nicht gedacht, dass das Akkordeon so gut mit den anderen Instrumenten harmonisiert. Und schon gar nicht hätte ich gedacht, dass er ausgerechnet so ein Instrument spielt. Er kommt mir gar nicht so gesellig vor.“ Elena lachte heiter. „Er ist auch ein Einzelgänger. Du hättest ihn mal sehen sollen, als er gerade erst im Haus eingezogen war. Ich glaube, er hat das Akkordeon-Spiel von seinem Vater beigebracht bekommen. Aber frag mich nicht, wie es dazu kam dass er nun in einer richtigen Band spielt. Er erzählt ja kaum was und das meiste muss man ihm aus der Nase ziehen.“ „Er wird sicher seine Gründe haben“, erwiderte Jodie ruhig. „Ja, vermutlich…irgendwann wird er sicher schon auftauen und uns mehr erzählen. Oder du nutzt die Tricks des FBIs und holst die Antworten für uns aus ihm heraus“, gab sie von sich. „Ach ja, falls du irgendwann mal Lust hast, herzukommen, die Bar hat täglich ab 11 Uhr geöffnet. Unter der Woche schließen sie allerdings schon um 21 Uhr, am Wochenende ist aber bis mindestens 1 Uhr geöffnet. Wenn Shuichi arbeitet, kannst du das Glück haben, dass es ein Getränk aufs Haus gibt. Seine Schichten ändern sich aber monatlich. Daher hoffen wir immer auf seine Gutmütigkeit, um Freigetränke abzugreifen.“ „Das klingt ja fast so, als würdet ihr nur deswegen mit ihm befreundet sein“, warf Jodie ein. „Ach was, der kennt das von uns. Würden wir das nicht machen, würde er sich fragen, was wir vor haben. Also mach dir darüber keine Gedanken.“ Jodie nickte nur. Eine dreiviertel Stunde später machte die Band eine Pause und Shuichi legte das Akkordeon wieder ab. Anschließend gesellte er sich an den Tisch der Nachbarn. „Seid ihr es nicht langsam leid, andauernd herzukommen und mich aufzuziehen?“ „Nein“, antwortete Elena und streckte ihm die Zunge raus. „Du machst es uns ja nicht einfach. Kannst du nicht wenigstens so tun, als würde es dich stören? Außerdem mussten wir heute kommen, damit Jodie von deinem Geheimnis erfährt.“ Akai blickte zu ihr. „Mein Geheimnis, verstehe, wenn ihr das so nennen wollt…“ „Mir hat das Spiel gut gefallen“, fing die Blonde an. „Anfangs war ich überrascht, dass du in einer Band spielst und das Akkordeon hätte ich bei dir auch nie gedacht. Es sah aus, als hättest du viel Spaß.“ „Mhm? Dabei kennst du mich doch gar nicht…“ „Eh…“, murmelte Jodie. „Ja, das…also…ich hab bei unserem…ersten Treffen einen Eindruck von dir gewonnen. Und mir wurde immer gesagt, dass ich eine gute Menschenkenntnis besitze.“ „Mhm…wenn du meinst.“ Jodie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Er war ruhig und ließ sich nicht in die Karten schauen. Außerdem schien es so, als hätte er kein Interesse an Menschen und war vor allem bei ihr nicht gerade mitteilsam. Jodie legte den Kopf zur Seite und beobachtete ihren Nachbarn. Lag es etwa an ihr, dass er sich so verhielt? Oder gab es noch etwas anderes? Das Klingeln von ihrem Handy riss sie aus den Gedanken. Sie holte es aus der Tasche und ging ran. „Jodie hier.“ „Ich bins, Liam“, sagte der junge Mann. „Ich steh vor deiner Wohnungstür und…du bist machst nicht auf.“ Eigentlich hatte Jodie ihm einen Schlüssel geben wollen, doch bislang hatte sich keine Situation hierzu ergeben. „Ich bin mit den Nachbarn ins April gegangen. Einer der Nachbarn spielt hier in der Band. Komm doch auch vorbei, es ist nicht weit.“ … „Liam?“ „Entschuldige, ich hatte einfach nur auf einen ruhigen Abend mit dir gehofft“, antwortete er. „Den können wir immer noch haben.“ Sie sah sich um. „Die Band macht gerade eine Pause, danach geht es noch eine Stunde weiter. Ich glaube, dann wollten die anderen auch gehen. Aber wenn du nicht herkommen willst, mach ich mich gleich auf den Weg nach Hause.“ „Nein, schon gut, bleib wo du bist“, sagte er. „Ich will nicht, dass du zu dieser späten Stunde noch allein unterwegs bist. Ich komm dich abholen.“ „Bis gleich“, entgegnete Jodie und legte auf. „Dein Freund?“ Sie sah wieder zu Akai. „Ja, er kommt gleich vorbei und holt mich ab.“ „Verstehe.“ Jodie seufzte innerlich. Die nächste Möglichkeit für ein Gespräch mit Akai war damit auch gescheitert. „Liam ist ja verrückt nach dir“, entgegnete Elena. Die Blonde nickte fröhlich. „Er liebt mich ja auch.“ „Hach ist Liebe schön“, schwärmte Elena und lehnte sich an Ben. „Ja, das stimmt“, antwortete Jodie. „Ich bin froh, dass ich Liam getroffen habe.“ „Ach stimmt ja, du bist wegen Liam nach London gekommen…“ „Wirklich?“ Akai blickte zu ihr. „Ja, wir waren schon in New York zusammen und dann kam Liam zum Studium hier her. Nachdem ich meinen Abschluss gemacht hab, bin ich ihm gefolgt“, entgegnete Jodie. „Und ich bereue es keineswegs.“ „Hab ich nicht behauptet“, kam es von dem Japaner. „Du musst selbst wissen, was du aus deinem Leben machst.“ „Ganz genau“, meinte Jodie. „Ich muss meinen eigenen Weg gehen und auch mal Fehler machen. Nur so wird man erwachsen und findet sein Glück.“ „Wenn man vom Teufel spricht…“ „Mhm?“ „Da.“ Elena wies mit dem Finger auf die Tür. „Das ging ja schnell.“ Jodie lächelte und stand auf. „Liam.“ Der Angesprochene kam sofort auf Jodie zu und küsste sie. „Da bin ich. Hast du mich vermisst?“ „Natürlich“, nickte sie. „Ich vermiss dich immer, wenn du nicht bei mir bist.“ „Das wollte ich hören“, schmunzelte Liam. „Wollen wir nach Hause gehen?“ „Wenn du das möchtest“, gab Jodie von sich. Sie nahm ihr Glas und trank den Rest in einem Rutsch aus. Kapitel 7: Liams Gefühle ------------------------ Bereits als Liam vor Jodies Haustür stand, hatte er ein ungutes Gefühl in der Brust. Er war nervös und spürte eine gewisse Beklommenheit, die er das letzte Mal hatte, als er Jodie kennenlernte. Er fand sie hübsch und konnte sich auch eine Beziehung mit ihr vorstellen, nur war der damalige Zeitpunkt eher schlecht gewählt. Und so entschied er sich, auf Abstand zu gehen, aber dann war alles anders gekommen. Sein komisches Gefühl sollte ihn nicht täuschen. Jodie war nicht zu Hause. Sie wartete nicht auf ihn. Stattdessen traf sie sich mit den Nachbarn im April. Er selbst war früher auch mit einigen Kommilitonen dort gewesen, hatte aber keinen Gefallen an dieser Studentenbar gefunden. Tagsüber sollte man dort auch lernen oder Hausarbeiten schreiben können – was auch einige taten – aber dennoch war es viel zu laut. Immer wieder kamen irgendwelche Studentinnen zu ihm und versuchten ein Gespräch anzufangen. Sie flirteten mit ihm und auch bei einem Nein ließen sie nicht locker. Und wenn es keine Studentinnen waren, waren es andere Kursteilnehmer, die über die Vorlesung, die Seminare oder die Aufgaben sprechen wollten. Egal was er sich auch vornahm, er hatte nichts davon geschafft. Sobald es Abend wurde, desto lauter wurde es in der Bar und dann war auch seine letzte Konzentration verschwunden. Außerdem war ihm das Personal nicht Geheuer. Er wusste nicht warum, aber irgendwas störte ihn. Dass sich ausgerechnet Jodie in diese Bar verirren würde, hatte er nicht gedacht – zumindest nicht zu diesem frühen Zeitpunkt. Er fragte sich, ob es Jodie dort gefallen würde und ob sie nun häufiger in die Bar wollte. Wenn ja, würde er sich mit ihrer Entscheidung arrangieren müssen. Doch er hoffte auf das Gegenteil, aber wenn ihre Nachbarn zu den Stammgästen gehörten, hatte sie vermutlich keine andere Wahl. Kaum dass Jodie ihm den Ort nannte, hatte er sich in Bewegung gesetzt und war zur U-Bahn Station gelaufen. Er wollte weder, dass Jodie zu später Stunde noch irgendwo alleine herumlief – und wer wusste schon, ob sie zusammen mit den Nachbarn wieder nach Hause kam – noch das sie von irgendwelchen notgeilen Typen angemacht wurde. Man hörte viel über Frauen die in derartige Situationen gebracht wurden und das Schlimmste nicht mehr verhindern konnten. In seinem Kopf sah er bereits wie Jodie unter k.o.-Tropfen gesetzt, verschleppt und vergewaltigt wurde. Sofort legte sich eine Gänsehaut auf seinen Körper und er schüttelte den Kopf. Er versuchte jeden Gedanken daran zu verdrängen und sagte sich, dass er rechtzeitig kam. Während der gesamten Fahrt in der U-Bahn tippte Liam nervös mit dem Fuß auf dem Boden. Die wenigen Minuten kamen ihm wie Stunden vor. Sobald die Türen aufgingen, drängelte er sich nach draußen und lief wieder los. Auch wenn er von Anfang an wollte, dass Jodie auf eigenen Füßen stand, musste er zugeben, dass seine Idee ein Fehler war. Sie begann damit ihr eigenes Leben zu leben, ein Leben zu dem er womöglich nicht dazu gehörte oder nicht mehr dazu gehören würde. Obwohl er alles nur zu ihrem Wohl tat, glaubte er nun, sie von sich weggestoßen zu haben. Als Liam die Bar betreten hatte, sah er sich nach Jodie um. Er musste lächeln, als er sie sah. Es ging ihr gut und sie war im Gespräch mit ihren Nachbarn vertieft. Als Elena ihn wahrnahm, wies sie mit dem Finger auf ihn. „Das ging ja schnell.“ Jodie stand auf und lächelte. „Liam.“ Er ging sofort auf Jodie zu und küsste sie. „Da bin ich. Hast du mich vermisst?“ „Natürlich“, nickte Jodie. „Ich vermiss dich immer, wenn du nicht bei mir bist.“ „Das wollte ich hören“, schmunzelte Liam. „Wollen wir nach Hause gehen?“ „Wenn du das möchtest“, gab Jodie von sich. Sie nahm ihr Glas und trank den Rest in einem Rutsch aus. Aus dem Augenwinkel sah er den skeptischen Blick von Akai. Liam riss sich allerdings zusammen und legte den Arm um seine Freundin. „Ich wär jetzt wirklich gern allein mit dir“, flüsterte er ihr ins Ohr. Jodie schmunzelte. Sie blickte zu Elena und den anderen. „Ich mach mich dann mit Liam auf den Weg nach Hause. Wir sehen uns sicher morgen.“ „Kommt gut nach Hause“, entgegnete Elena. „Machen wir“, sagte Liam und ging mit Jodie nach draußen. „Ich hab dich wirklich vermisst.“ „Mhm…? Wie gut, dass du jetzt da bist.“ Liam traute seinen Ohren nicht. Normalerweise hätte Jodie geantwortet Wir können ja zusammen ziehen, damit wir uns häufiger sehen oder etwas in der Art und Weise. Doch dieses Mal reagierte sie nicht auf seinen – wie er fand – subtilen Hinweis. Hatte er sie tatsächlich verloren? Nein, so schnell gab er nicht auf. Er würde ihr zeigen, wie es um seine Gefühle stand und er nahm sich vor, das Thema Wohnung bald wieder anzusprechen. Auch wenn sich Liam in den kommenden Tagen bemühte, es hatte sich nichts in ihrer Beziehung verändert. Noch immer hatte er das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Ja, er wollte, dass Jodie ihr eigenes Leben lebte und auf eigenen Füßen stand. Aber irgendwie war er über die Richtung in die alles lief nicht erfreut. In seinen Augen machte Jodie viel zu viel mit ihren Nachbarn, während er auf dem Abstellgleis stand. Mit einem Mal fühlte er sich alleine und außen vor gelassen. Fühlte sich Jodie früher etwa auch so? Jetzt hatte er das Gefühl, dass er sie viel besser verstand und wusste, warum sie so an ihm hing. Nur hatte er es nicht zu schätzen gewusst. Anfangs wollte er nicht, dass sich Jodie zu sehr auf ihn fixierte. Aber jetzt wo sie einander nicht mehr täglich sehen oder täglich telefonieren konnte, sehnte er sich nach ihr. Er wollte ihre Haut berühren, den Duft ihres frisch gewaschenen Haars riechen und den Tag gemeinsam im Bett verbringen. Warum hatte er nur vorgeschlagen, getrennt zu wohnen? Was hatte ihn damals dazu geritten? Er war schuld daran, dass sie auseinander drifteten. Aber wie konnte das sein? Sie fingen doch erst jetzt so wirklich ihre Beziehung an, auch wenn sie schon lange zusammen waren. Was lief nur zwischen ihnen schief? Er hatte zwar mit einigen Kommilitonen gesprochen, die er mittlerweile seine Freunde nannte, aber diese hielten es für ein normales Verhalten bei einem Pärchen. Sie waren lange getrennt und mussten sich erst aufeinander einspielen. Und trotzdem störte es ihn. Er hatte Angst, dass Jodie ihre Beziehung schon sehr bald in Frage stellen würde. Oder noch schlimmer, sich in eine andere Person verlieben würde. Vielleicht sogar in einen der Nachbarn, die dauernd um sie herumscharwenzelten. Allein bei dem Gedanken wollte er schreien, musste sich aber zusammenreißen, als die Tür aufging und eine Kundin rein kam. Er hatte sie bereits häufiger in der Boutique gesehen. Sie hatte langes schwarzes Haar und sah sehr attraktiv aus. Außerdem lächelte sie jedes Mal, wenn sie den Laden betrat und sie waren in etwa im gleichen Alter. Sie gehörte zu den wenig Personen die er als Stammkundschaft betitelte. „Guten Tag, viel Spaß beim Umsehen“, begrüßte er sie. Endlich konnte er sich wieder gebraucht fühlen, immerhin war den Kunden die Beratung sehr wichtig. „Danke, den hab ich“, entgegnete sie und ging zu einem Kleiderständer. Sie schob einen Bügel nach dem nächsten zur Seite, nahm hin und wieder einen Bügel heraus und hielt ihn sich vor dem Körper, während sie in den Spiegel an der Wand schaute. Bei einigen Kleidern runzelte sie die Stirn, schüttelte den Kopf oder behielt den Bügel in der Hand. Liam beobachtete sie dabei. Immer wenn sie kam, probierte sie verschiedene Outfits an, entschied sich dann aber für eines oder zwei. Vermutlich war es ihre Ausrede, um auch an einem anderen Tag wieder in die Boutique zu kommen. Jedes Mal wenn sie sich einen Bügel vor den Körper hielt, stellte er sich vor, wie die Kleidung der Frau stand, wie sie damit draußen herumlief und Männer betörte. Mit erschrecken stellte er fest, dass sie eigentlich ganz süß aussah. Liam klatschte sich mit den Handflächen auf die Wangen und versuchte seine Gedanken zu vertreiben. „Reiß dich zusammen“, sagte er zu sich selbst. Die Frau wandte sich zu ihm. „Was glaubst du, steht mir das Kleid?“, wollte sie zu ihm wissen. Der junge Mann fühlte sich ertappt und errötete. „Äh…ja…bestimmt…dir steht sicher alles.“ „Du willst doch nur etwas verkaufen“, zog sie ihn auf und schmunzelte. „Haha…erwischt...haha…“ Liam lachte verlegen. Und dann war ihm seine Reaktion so peinlich. „Dann will ich mal nicht so sein und ein paar Sachen anprobieren. Und danach sagst du mir, ob mir die Sachen wirklich stehen oder nicht. Wenn sie mir stehen, kaufe ich sie. Aber du musst ehrlich sein. Haben wir einen Deal?“ Er nickte, weil er selbst nicht wusste, was er erwidern sollte. Flirtete sie etwa mit ihm? Liam schüttelte den Kopf. Nein, das bildest du dir ein, sagte er zu sich selbst. Warum sollte sie auch mit ihm flirten? Andererseits tat seinem Selbstwertgefühl dieser Gedanke gut. „Gut, bis gleich“, sprach sie und verschwand mit fünf Kleidern in der Kabine. Wie versprochen kam sie regelmäßig heraus und stolzierte vor ihm damit herum. Als sie fertig war, zog sie sich wieder um und kam nach draußen. „Und? Was davon stand mir? Und nicht vergessen, ich will deine ehrliche Meinung. Ich seh dir an, wenn du lügst.“ „Alles, das rote und das gelbe Kleid stehen dir am besten. Die anderen passen auch, sind aber nicht unbedingt optimal. Und das grüne Kleid würde ich nicht nehmen. Es wirkt irgendwie…verschlossen?“ „Verschlossen?“, wiederholte sie. „Ach so, du meinst, damit wirke ich nicht sexy genug.“ Ein leichter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen. „Naja…ich…so hab ich…das nicht…also ich…“ „Ich zieh dich nur auf“, antwortete sie. „Ich höre auf deinen Rat und nehme wie vereinbart das rote und das gelbe Kleid. Packst du mir die bitte ein?“ „Natürlich“, nickte Liam und nahm die beiden Sachen entgegen. Er scannte den Barcode, faltete die Kleider zusammen und schob sie in die Tüte. „Viel Spaß und bis zum nächsten Einkauf.“ „Mhm? Woher weißt du denn, das ich wiederkomme?“, wollte sie wissen. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich dich hier sehe“, gab Liam von sich. Er fühlte sich erneut ertappt. Hatte er zu viel gesagt? Glaubte sie, er würde sie beobachten? Sie stalken? „Als Verkäufer kennt man seine Stammkundschaft. Deswegen glaube ich, dass wir uns wiedersehen werden. Ich kann es dir nicht verdenken. Die Kleider haben ein gewisses Etwas. Und so eine kleine Boutique hat auch seinen Charme.“ Sie schmunzelte. „Du hast mich also beobachtet, aber…vielleicht komme ich auch wegen dem Verkäufer her. Er ist wirklich süß und genau mein Typ.“ „Eh…?“ Er sah sie irritiert an. Dann blickte er hinter sich und prüfte, ob sie nicht doch eine andere Person meinte. Sein Selbstwertgefühl stieg. „Ich mein dich.“ „Eh…danke, aber ich…also ich…ich hab…ich bin…“ Warum er stammelte, wusste er nicht. Was war nur los mit ihm? „Schon gut“, fing die junge Frau an. „Du musst mir kein Kompliment machen und ich erwarte auch nichts von dir.“ Sie lächelte wieder. „Ich werde dich auch nicht anmachen oder um ein Date bitten. Das muss meiner Meinung nach der Mann tun. Wenn du Zeit brauchst oder mich nicht attraktiv findest, fühl dich zu nichts gezwungen. Ich bin erwachsen und kann auch mit Zurückweisung umgehen. Also mach dir um mich keine Sorgen.“ Liam kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Nein, das ist es nicht. Du bist schon attraktiv, sehr sogar, aber…ich…ich hab eine Freundin.“ Genau! Er hatte eine Freundin und an die dachte er gerade. Sie musterte ihn. „Schade. Aber dann stimmt es wohl, was alle sagen. Die guten Typen sind entweder schwul oder bereits vergeben. Naja…macht ja nichts. Ein wenig peinlich ist es schon, aber ich hoffe, ich darf trotzdem noch weiterhin hier einkaufen.“ „Natürlich“, nickte der Student. „Du bist jederzeit willkommen.“ „Das hör ich gern. Ich bin im Übrigen Claudia und du?“ „Liam“, antwortete er. „Gut, also dann, Liam, wir sehen uns bei meinem nächsten Einkauf“, sprach sie und ging zur Tür. Sie drehte sich zu ihm um und zwinkerte. Ist das gerade wirklich geschehen?, fragte er sich und sah ihr verwirrt hinterher. Ein weiteres Mal schlug sich Liam mit den Handinnenflächen gegen die Wangen. Du hast eine Freundin! Kapitel 8: Betrug ----------------- Liam konnte nicht anders als zur Tür zu sehen. Für einen winzigen Augenblick wünschte er, sie würde zurückkommen. Er konnte nicht aufhören an das Gespräch mit Claudia zu denken. Sie hatten eindeutig miteinander geflirtet. Einerseits fühlte er sich schlecht dabei, schließlich hatte er eine Freundin. Andererseits gefiel es ihm. Er fühlte sich wieder attraktiv und begehrt. Nach seinen Problemen mit Jodie – an denen er nicht unschuldig war - tat es einfach nur gut. Doch schon sehr bald holte ihn das schlechte Gewissen ein. Auch wenn er eigentlich nichts gemacht hatte, fühlte er sich schuldig. Zählte ein kleiner Flirt denn schon als Betrug? Der Student schüttelte den Kopf und versuchte jeden Gedanken an Claudia zu unterdrücken. Aber es war schwer, denn ihre Worte hallten noch in seinem Kopf. …vielleicht komme ich auch wegen dem Verkäufer her. Er ist wirklich süß und genau mein Typ. Wieso? Wieso musste sie nur so etwas sagen? „Arg“, stieß Liam aus und wischte die Gegenstände von der Theke. Warum ausgerechnet jetzt? Du hast eine Freundin, mahnte er sich erneut. Liam schloss die Augen und dachte an Jodie. Er liebte sie und wollte ihre Beziehung nicht aufs Spiel setzen. Dabei war es eigentlich nur ihre Schuld, dass er überhaupt mit Jodie zusammen gekommen war. Eigentlich wollte er damals keine Beziehung beginnen, aber schon bald geriet sein Entschluss ins Wanken. Und er hasste sich selbst dafür, dass er so ein schwacher Mensch war. Als er Jodie das erste Mal im Kunstkurs sah, konnte er seinen Blick nicht von ihr abwenden. Ihr ging es genau so, denn ihre Freundin musste einschreiten und sie zu einem Platz ziehen. Während des gesamten Kurses warf er ihr heimliche Blicke zu – und wie er mittlerweile wusste, tat Jodie genau das gleiche. Am Ende der Stunde wollte er einfach nur nach Hause, aber seine Beine bewegten sich in ihre Richtung. Als sie aus dem Raum floh, war er enttäuscht und erleichtert zugleich. Und jedes Mal wenn sie sich sahen, knisterte es zwischen ihnen. Aber keiner machte den ersten Schritt. Sein Entschluss, sich Jodie nicht weiter zu nähern, wurde jedes Mal auf eine harte Probe gestellt. Als schließlich Sharon Vineyard in dem Café auftauchte, in dem er am Sonntag immer arbeitete, hatte sich alles geändert. Zunächst agierte sie wie eine ganz normale Kundin, bestellte Kaffee und ein Stück Torte. Als er den Nebentisch sauber machte, zeigte sie ihr wahres Gesicht. „Setz dich.“ Es war keine Bitte sondern ein Befehl. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah und starrte sie irritiert an. „Hast du mich nicht verstanden?“, wollte sie wissen. „Ich hab gesagt, du sollst dich setzen.“ Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus, dennoch setzte er sich an den Tisch. „Was…was kann ich für Sie tun?“ Sharon musterte ihn. „Du bist Liam, nicht wahr?“ Er nickte. „Ich hab schon viel von dir gehört.“ Sharon lächelte. „Du musst keine Angst haben, ich bin eine Freundin von Jodie. Das Mädchen liegt mir sehr am Herzen und ich habe gehört, dass ihr in dem gleichen Kunstkurs seid und euch gut versteht.“ Liam nickte erneut. „Sie mag dich.“ Auch das konnte er nicht verneinen. Liam räusperte sich. „Entschuldigen Sie, aber ich denke nicht, dass Sie das was angeht.“ „Das kann schon sein. Aber du kannst dir sicher vorstellen, dass ich nicht möchte, das sie verletzt wird.“ Liam schluckte. Wusste sie etwa etwas über seine Familie? Er verengte die Augen. „Ich verstehe nicht, was Sie damit andeuten wollen.“ Sharon kicherte. „Ich weiß, dass deine Familie Schulden hat. Dein Vater hat vor einem Jahr seinen Job verloren und mit dem Trinken angefangen. Weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte, hat er einen teuren Kredit aufgenommen. Deine Mutter versucht ihn zwar zu unterstützen, aber als Putzfrau verdient man eben nicht ausreichend. Ich weiß auch, dass du den Nebenjob angenommen hast, um deine Familie zu unterstützen. Und du möchtest auch studieren, aber das wird wohl nichts, wenn ihr euch die Gebühren nicht leisten könnt oder du wegen der Arbeit nicht zum Lernen kommst. Natürlich möchtest du auch nicht, dass deine kleine Schwester zu kurz kommt, deswegen bezahlst du auch die Ausgaben für sie. Hab ich was vergessen?“ Liam ballte die Faust. „Sieht nicht so aus. Und deswegen mache ich dir jetzt ein Angebot. Ich begleiche die Schulden deiner Familie und bezahle auch eine teure Entzugsklinik für deinen Vater. Er macht einen Entzug, kann danach wieder arbeiten und alle sind glücklich. Wie hört sich das für dich an?“ „Zu schön um wahr zu sein“, antwortete er ehrlich. „Und was möchten Sie als Gegenzug von mir? Soll ich mich von Jodie fernhalten? Keine Sorge, das mach ich sowieso.“ „Ich weiß. Du möchtest nicht, dass sie von deiner familiären Situation erfährt. Deswegen werde ich auch all deine Probleme bereinigen und du triffst dich dafür mit Jodie.“ „Was?“ Sharon schmunzelte. „Treffen, du sollst nicht gleich mit ihr ins Bett gehen. Ich möchte nur, dass ihr euch näher kommt. Und wenn ihr zu dem Schluss kommt, dass es nicht mit euch klappt, ist das auch in Ordnung. Ich würde mich aber freuen, wenn meine Kleine einen festen Freund hätte.“ „Sie glauben doch nicht, dass ich mich bezahlen lasse…“ Sie legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. „Sch…nicht so hastig. Du musst dich nicht jetzt entscheiden. Lass dir meinen Vorschlag durch den Kopf gehen.“ Die Schauspielerin kramte anschließend in ihrer Tasche herum und holte ihre Geldbörse heraus. Sie bezahlte mit hohem Trinkgeld und schob ihm ihre Visitenkarte rüber. „Ruf mich an, wenn du dich entschieden hast.“ Er seufzte, wenn er daran zurück dachte. Letzten Endes hatte er sich auf das Angebot der Schauspielerin eingelassen. Sharon bezahlte die Schulden seiner Familie und sorgte dafür, dass sein Vater einen Entzug machte. Im Gegenzug traf er sich mit Jodie…und kam schließlich mit ihr zusammen. Auch wenn er tatsächlich Gefühle für sie hatte, fühlte es sich am Anfang falsch an und er brauchte lange Zeit, bis er nicht mehr an Sharons Angebot denken musste. Als er wegen dem Studium nach London zog, stattete ihm die Schauspielerin proaktiv einen Besuch ab. „Wie fühlt es sich an?“, wollte sie von ihm wissen. „Was meinen Sie?“ „Das deine Träume in Erfüllung gehen, was denkst du denn?“ „Ganz gut“, antwortete der junge Mann. „Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Wenn Sie die Schulden nicht bezahlt hätten und die Entzugsklinik bezahlt hätten…“ „Jaja, ich weiß. Und nur deswegen kannst du an deine Traum-Uni gehen. Blöd nur, dass du dafür das Land verlassen musst.“ Sharon verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hoffe, du hast nicht vor dich von Jodie zu trennen. Das würde mich sehr traurig machen.“ Liam verengte die Augen. Genau das hatte er vor. Er würde wegziehen und wollte Jodie nicht in einer Fernbeziehung zurücklassen. „Ich versteh nicht ganz.“ „Ach Liam…“ Sie schüttelte den Kopf. „Was soll ich nur mit dir machen? Ah! Ich habs. Ich könnte dafür sorgen, dass du in New York bleibst. Du weißt doch, dass dein Vater bei einem Bekannten von mir arbeitet. Was würde wohl passieren, wenn er…sagen wir…rein zufällig statt Wasser Alkohol zu sich nehmen würde?“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Ich sehe, wir haben uns verstanden.“ Sharon stand auf. „Auch eine Fernbeziehung kann gut ausgehen. Und wir wissen doch beide, dass Jodie dir früher oder später folgen wird.“ Er wollte nicht wissen, was passieren würde, würde Sharon Vineyard jetzt von ihren Problemen erfahren. Oder wusste sie es bereits? Wann immer Sharon bei ihm auftauchte, sie war gut informiert. Liam schüttelte den Kopf. Er versuchte alle schlechten Gedanken zu verbannen und entschied, sich fortan nur noch auf Jodie zu konzentrieren. Sein Entschluss war einfach, die Umsetzung schwer. Claudia sagte zwar, dass sie keinem Mann hinterherlief, aber sie kam weiterhin in die Boutique und ließ sich beraten. Jedes Mal war ihr Gespräch ausgeufert. Entweder sie sprachen über allgemeine Themen oder ihre Pläne für die nächste Zeit, hin und wieder flirteten sie auch miteinander. Danach kümmerte er sich nur noch intensiver um Jodie. Er versuchte sich sogar mit ihren Nachbarn anzufreunden. Er aß mit ihnen, half ihnen und war immer häufiger in dem Wohnkomplex zugegen. Selbst ins April ging er und hörte sogar der Band von Akai zu. Er verstellte sich zwar, aber je mehr Zeit er mit Jodie verbringen konnte, desto besser fühlte er sich. Trotzdem ging ihm Claudia nicht aus dem Kopf. An Tagen, wo sie nicht ins Geschäft kam, vermisste er sie sogar. Und wenn es ihm schlecht ging oder er gestresst war, munterte ihn das Flirten auf. Es war anders als bei Jodie. Er liebte sie immer noch, aber Claudia hatte eine ganz andere Wirkung auf ihn. Ohne es zu wollen, fühlte er sich zu der jungen Frau hingezogen. Doch er hielt an seinem Vorhaben fest, sich nicht auf sie einzulassen. Bis… Er war gereizt und hatte sich mit Jodie gestritten. Als er ihr am nächsten Tag Blumen als Entschuldigung bringen wollte, sah er sie und ihren Nachbarn in einer verdächtigen Pose. Sie lag in den Armen von ihrem Nachbarn Akai. Ohne mit ihr zu sprechen, warf er die Blumen auf den Boden, trampelte auf ihnen herum und ging nach Hause. Den restlichen Tag ignorierte er alle Anrufe und Nachrichten von ihr. Als er am nächsten Tag in der Boutique war, wurde er von Claudia aufgefangen. Er konnte sich seinen Frust von der Seele reden und sie schlug ihm Rache vor. Erst wusste er nicht, was sie meinte, dann küsste sie ihn. Zuerst zaghaft, dann gierig und schließlich fordernd. Als sie aufhörte, starrte er sie verwirrt an. Sie holte einen Zettel aus der Tasche heraus und notierte mit einem Stift ihre Adresse. Den Zettel schob sie über seine Bedientheke und verschwand. Den restlichen Tag kreisten seine Gedanken nur um Claudia und den Kuss. Und schließlich stand er nach seinem Feierabend vor ihrer Haustür. Nachdem sie zusammen im Bett gelandet waren, fühlte es sich nicht mehr so gut an. Sein schlechtes Gewissen gewann die Oberhand und er machte sich auf den Weg nach Hause. Aufgelöst stand Jodie vor seiner Haustür. Als er ihre Tränen sah, zog er sie in seine Arme und ging mir ihr rein. Nachdem sie sich aussprachen und er erfuhr, dass Akai sie nur vor einem Sturz bewahrte, hasste er sich selbst. Wie konnte er die Situation nur so falsch interpretieren und Jodie betrügen? Er liebte Jodie und obwohl er sich schwor, dass die Sache mit Claudia nur ein einmaliger Ausrutscher war, passierte es in den nächsten Wochen immer häufiger. Jedes Mal danach machte er Jodie kleine Geschenke und versuchte damit sein schlechtes Gewissen weiter zu unterdrücken. Irgendwann wurde ihm diese „Doppelbelastung“ zu stressig und er entschied, die Sache mit Claudia zu beenden. Liam hoffte, dass er ihren Avancen nicht mehr nachgab. Als der Tag jedoch gekommen war, schob er die Aussprache mit ihr immer weiter nach hinten. Während Claudia in der Umkleide war, ging er seinen Text im Kopf durch. „Liam? Kannst du mir bitte helfen?“ Verdattert stand er vor der Kabine. „Liam?“ „Äh…ja…ich komme…“ Er ging in die Kabine und betrachtete sie. „Ist das ein Versprechen?“ Sie schmunzelte und drehte ihm den Rücken zu. „Kannst du bitte den Reißverschluss hochziehen?“ Langsam ging er zu ihr und legte seine Hand auf ihren nackten Rücken. Er schluckte und anstatt sich um den Reißverschluss zu kümmern, küsste er ihren Hals und schob die Träger nach unten. Letzten Endes war er wieder nur ein schwacher Mann… „Du warst wunderbar“, entgegnete sie außer Atem. Liam wischte sich mit der Hand den Schweiß vom Gesicht, zog anschließend seine Hose hoch und machte sie zu. Glücklicherweise war um diese Uhrzeit nie Kundschaft im Laden. „Claudia…“, begann er. „Sch…“, wisperte sie und knöpfte ihm sein Hemd zu. „Jetzt kannst du wieder rausgehen.“ „Das…das darf nicht wieder passieren… „Mhm? Warum nicht?“, fragte sie. „Dir gefällt es doch auch“, hauchte sie gegen seine Lippen. „Ich…ich habe…eine Freundin…“ „Das hat dich sonst auch nicht gestört“, entgegnete sie. „Na gut, wie du willst.“ Sie wusste, dass er früher oder später erneut angekrochen kam. Liam machte einen Schritt nach hinten. Es lief nicht wie geplant, aber er war sich sicher, dass er es beendet hatte. Der Student räusperte sich und verließ die Umkleide. Als er Jodie sah, weiteten sich seine Augen. Sie starrte ihn schockiert an. „Jo…Jodie…“ Wie lange war sie schon da? Hatte sie alles gehört? Hatte sie gewusst, was soeben in der Kabine passiert war? Liam machte einen Schritt nach vorne. „Jodie…“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wich nach hinten, schüttelte den Kopf und lief nach draußen. Kapitel 9: Gebrochenes Herz --------------------------- Jodie spürte, das sich einiges verändert hatte. Seitdem sie nach London gekommen war, lernte sie das Leben auf eine andere Art und Weise kennen. Eine Art und Weise die sie vorher nicht kannte. Das erste Mal musste sie für sich selbst sorgen – auch wenn sie den Rückhalt ihrer Familie hatte und wusste, dass ihre Eltern ihr aushelfen würden. Um Liam nicht zu verlieren, war sie sogar in eine eigene Wohnung gezogen und hatte sich mit den Nachbarn getroffen. Immer wenn sie sich einsam fühlte und ihr Freund in den Vorlesungen oder in der Arbeit war, unternahm sie oftmals etwas mit Elena und den anderen. Dennoch konnte sie nicht aufhören an ihn zu denken und sich zu fragen, ob sie sich ihr Leben so vorstellte. Zwar hatte Jodie gemerkt, dass auch Liam immer häufiger an eine Veränderung dachte, aber sie wollte ihn nicht zu früh dazu drängen. Sie hatte gewusst, dass es derzeit nicht allzu gut bei ihnen lief und gingen sie die nächsten Schritte zu schnell an, konnte es übel enden. Nach ihrem ersten richtigen Streit fühlte sich Jodie schlecht. Der Zorn und die Wut die sie verspürte und die sie von Liam wahrnahm, gaben ihr den Rest. Sie konnte nicht mehr aufhören zu weinen und war froh, als sie sich wieder vertrugen. Nicht nur Liam, auch sie gab sich mehr Mühe in der Beziehung und langsam hatte sie wieder das Gefühl, dass es besser wurde. Sie waren auf einem guten Weg. Um ihren Alltagsproblemen zu entfliehen, hatte sie Elenas Idee angenommen und einen Wochenendtrip nach Oxford gebucht. Jetzt musste sie nur Liam damit überraschen. Als Jodie die Boutique betrat, wunderte sie sich, dass ihr Freund nicht hinter dem Kassentisch saß. Da er allerdings auch einer anderen Tätigkeit nachgehen konnte, entschied sie sich zu warten und sah sich die Kleidungsstücke an. Selbst als sie Minuten später die ersten Stöhn-Geräusche hörte, brachte sie diese mit der Arbeit – und dem Schleppen von Kisten oder ähnlichem – in Verbindung. Doch je lauter und intensiver es wurde und auch noch eine zweite Stimme dazu kam, desto mehr überkam sie ein mulmiges Gefühl. Ihre Beine bewegten sich automatisch in Richtung der Umkleidekabinen. Ihr Herz schlug schneller. Einerseits wollte sie sich davon überzeugen, dass es nicht Liam war, andererseits wollte sie vor dem Wissen weglaufen. Jodie zitterte wie Espenlaub und traute sich nicht, sich bemerkbar zu machen. Sie presste die Lippen aufeinander und verbot sich die Tränen. Es gab noch einen kleinen Hauch einer Chance, dass es nicht Liam war. Vielleicht hatte sie sich vertan und er arbeitete heute gar nicht oder er hatte spontan mit einem Kollegen die Schicht getauscht. „Das…das darf nicht wieder passieren…“ „Mhm? Warum nicht?“, fragte die Frau. „Dir gefällt es doch auch“, hörte Jodie. „Ich…ich habe…eine Freundin…“ Sie erkannte Liams Stimme. „Das hat dich sonst auch nicht gestört“, entgegnete sie. „Na gut, wie du willst.“ Liam trat aus der Umkleidekabine. Als er Jodie sah, weiteten sich seine Augen. Sie starrte ihn schockiert an. Ihr Herz brach. Nun gab es keinen Zweifel mehr. „Jo…Jodie…“ Liam machte einen Schritt nach vorne. „Jodie…“ Nein…nein…nein… schrie sie in Gedanken. Das durfte nicht die Wahrheit sein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das hat dich sonst auch nicht gestört, hörte sie die fremde Stimme in ihrem Kopf. Es war also nicht das erste Mal, dass Liam mit einer anderen Frau intim wurde. Jodie wich nach hinten. Sie schüttelte den Kopf, versuchte all ihre Gedanken zu verdrängen, aber das Geschehene drängte sich immer wieder in den Vordergrund. Die junge Frau drehte sich um und lief aus dem Laden. Sie wollte nur noch weg, sich verkriechen und nicht mehr daran denken. Ihr Herz fühlte sich schwer an, es war gebrochen und Jodie kam sich im nächsten Augenblick albern vor. Hatte sie sich all die Zeit etwas vorgemacht? Hatte er sie die ganze Zeit betrogen? War das der Grund warum sie sich eine eigene Wohnung suchen sollte? Hätte sie möglicherweise nicht nach London kommen sollen? Als sie außer Atem war, blieb sie stehen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Doch im nächsten Augenblick war ihr Gesicht wieder tränenüberflutet. Sie schluchzte und sank nach unten. Instinktiv umarmte sie sich selbst und achtete nicht auf die Menschen, die an ihr vorbei liefen. Einige starrten sie an, andere ignorierten sie. Aber einer war nicht dabei: Liam. Langsam blickte Jodie nach hinten. Er war ihr nicht nachgelaufen. Jodie schrie. Sie konnte nicht anders und brauchte ein Ventil um ihre Emotionen raus zu lassen. Trotzdem fühlte sie sich nicht besser. „Brauchen Sie Hilfe?“ Jodie sah auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich in der Öffentlichkeit befand und die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die junge Frau schüttelte den Kopf, ehe sie mit zittrigen Beinen aufstand und wieder los lief. Als sie am Wohnblock ankam, versuchte sie die Tür zum Untergeschoss aufzureißen. Jodie zerrte daran, ehe sie realisierte, dass sie noch gar nicht aufgeschlossen hatte. Sie konnte kaum klar denken und lehnte ihren Kopf kurz gegen die Tür. Mit zittrigen Händen zog Jodie den Schlüssel aus ihrer Handtasche und steckte ihn in das Schloss. Ihre Sicht war verschwommen, aber das war im Augenblick egal. Jodie hatte den Schlüssel noch nicht umgedreht, da versuchte sie wieder die Tür aufzuziehen. Jodie zog, zerrte, drückte, schluchzte, zerrte erneut und irgendwann drehte sie auch den Schlüssel um, sodass die Tür aufging. Sie betrat das Erdgeschoss und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie drehte sich zur Seite und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand, ließ ihren Tränen erneut freien Lauf und schrie. Danach ließ sie sich auf den Boden sinken und hämmerte mit der Faust gegen die Wand. Jodie ließ alles raus, was sie in jenem Moment fühlte. Sie fluchte und betitelte Liam mit allen möglichen Schimpfwörtern die sie kannte. Als sie dann das Schließen eines Schlosses hörte, wandte sie sich zu den Briefkästen. Als wäre nichts gewesen, sah Shuichi seine Post durch. Er blickte zu Jodie. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so viele Schimpfwörter kennst.“ Mit einem Mal schämte sie sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Lass mich…in Ruhe“, schluchzte sie. Jodie stand langsam auf und ging zur Treppe. Sie bewegte sich langsam nach oben. Als sie in ihrer Etage ankam, fühlte sich Jodie wie gerädert und als wäre sie bereits Stunden unterwegs. Erschöpft steckte sie den Schlüssel – dessen Schlüsselbund sie die ganze Zeit in der Hand hielt – in das Türschloss und verharrte in dieser Position. „Scheiße“, wisperte die junge Frau. „Scheiße.“ „Kein guter Tag, was?“ Jodie zuckte zusammen. „Lass mich…in Ruhe…“, wiederholte sie. Shuichi, der mittlerweile ebenfalls auf ihrer Etage angekommen war, beobachtete sie einen Augenblick. Eigentlich wollte er einfach weiter gehen, entschied sich aber, dass das Trauerspiel ein Ende haben musste. Er ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre, dann schob er den Schlüssel ordentlich ins Schloss, drehte zweimal um und öffnete ihre Wohnungstür. Jodie sagte nichts. Sie zog den Schlüssel langsam raus und betrat ihre Wohnung. Nur langsam schlüpfte sie aus ihren Schuhen, ließ die Handtasche auf den Boden fallen und ging ins Wohnzimmer. Sie sah sich um, wurde aber direkt von den Erinnerungen an Liam übermahnt. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Jodie ließ sich auf das Sofa fallen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte und weinte. Akai wusste, dass es das Beste wäre, die Tür einfach zuzuziehen und zu gehen, als wäre nichts passiert. Stattdessen seufzte er und ging rein. Er zog seine Schuhe aus und folgte dem Weinen. Mehrere Minuten lang beobachtete er seine Nachbarin. „Soll ich dir einen Tee kochen?“ „Nein.“ „Kaffee?“ „Nein.“ „Willst du Süßigkeiten? Schokolade? Eis?“ „Nein“, keifte Jodie. „Geh…weg…“ Und dann realisierte sie erst, dass ihr der Japaner in die Wohnung gefolgt war. Jodie sah nach oben und wischte sich das Gesicht abermals trocken. „Was…was machst…wie bist du…?“ „Du standest aufgelöst vor deiner Wohnungstür und bist einfach reingegangen, ohne die Tür zu schließen. Eigentlich wollte ich dich alleine lassen, aber deiner Reaktion nach zu urteilen, könnte es sein, dass du etwas tust, was du bereust.“ „Aha…“ „Im Erdgeschoss hast du ziemlich geflucht, deswegen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass etwas Vorgefallen sein muss.“ „Glückwunsch, Sherlock“, gab Jodie von sich. „Lass mich bitte alleine…ich…“, sie sah auf den Boden. Akai zuckte mit den Schultern. „Wie du willst. Ich dränge mich nicht auf.“ Er drehte sich um und ging zum Flur. „Du solltest mit Elena darüber reden. Sie kann dir sicher dabei helfen, das Ende deiner Beziehung zu betrauern.“ Jodie blickte ihn schockiert an. „Woher…?“ „Woher ich das weiß?“, wollte Akai wissen. „Ich beobachte die Menschen in meiner Umgebung sehr genau. Bei euch war mir von Anfang an klar, dass es nicht mehr lange geht. Man hat ihm angemerkt, dass er mit deiner Selbstständigkeit nicht klar kam, auch wenn es sein eigener Vorschlag war.“ Elenas Anwesenheit in dem Wohnkomplex war Fluch und Segen zugleich. Sie erfuhr nicht nur viel, manchmal erzählte sie auch gewisse Dinge weiter, besonders dann wenn sie sich Sorgen machte. „Wir…wir haben nicht Schluss gemacht“, wisperte Jodie leise und starrte den Boden an. „Mhm?“ Hatte er sich wirklich getäuscht? Akai verengte die Augen. „Er hat…er hat mich betrogen.“ „Oh.“ „Was hab…ich denn falsch gemacht?“, schluchzte Jodie. „Ich bin…wegen ihm nach London gezogen und…als er wollte, dass wir getrennt…wohnen, habe ich das auch gemacht. Ich hab mir…Arbeit gesucht und ich…verbringe meine Freizeit nicht nur mit ihm. Ich klebe nicht wie eine Klette an ihm…ich hab doch alles getan…was er wollte…also warum? Warum tut…er mir das an?“ Shuichi mochte Liam seit ihrer ersten Begegnung nicht. Irgendwas störte ihn an dem jungen Mann und bei jeder Begegnung mit ihm, war er genervt. Liam hatte zu großen Einfluss auf Jodie. Was er sagte, tat sie. Er stieß sie immer weiter von sich, aber dennoch suchte Jodie die Schuld bei sich. „Was hat er dir darauf geantwortet?“ Jodie schüttelte den Kopf. „Er hat…es mir nicht gesagt. Ich war in der Boutique, wo er arbeitet. Ich hab die Beiden gehört und als…er aus der Kabine kam…dann bin ich weggelaufen und…“ …und er ist dir nicht hinterher, dachte der Japaner. Jodie war jung und er wollte nicht zu harsch klingen, vor allem weil er nicht wusste, ob sie ihm nicht doch noch eine zweite Chance geben wollte. „Auch wenn es kitschig klingt, aber die Zeit heilt alle Wunden. Und wenn er dir so viel bedeutet, solltest du überlegen, ob du ihm verzeihen kannst.“ „Ich weiß es nicht“, wisperte Jodie leise. Sie schloss die Augen. „Es war…wohl nicht das erste Mal…und ich…weiß nicht, wie lange es ging. Außer ihm hab ich hier…doch sonst keinen…was soll ich denn machen? Ich weiß…nicht einmal, was ich mit…meinem Leben anfangen soll…das ist nicht fair…was soll ich denn machen?“ Sie vergrub ihr Gesicht erneut in ihren Händen. Akai seufzte leise auf. „Herrgott nochmal, hör auf dich über einen Mann zu definieren. Du bist wegen ihm nach London gekommen und jetzt? Du sagst, du hast hier niemanden? Was ist mit Elena? Ist sie nicht mittlerweile eine Freundin von dir? Außerdem bist du nicht die Einzige, die in ein fremdes Land zieht und neu anfängt und du bist auch nicht der einzige Mensch bei dem es schief geht. Willst du Liam ewig als Ausrede vorschieben, um aufzuzeigen, wie schief dein Leben lief? Du bist kein kleines Kind mehr!“ Seine Worte trafen sie, aber er hatte auch recht. Irgendwie. Sie sah wieder auf. „Wenn du mich fragst, hast du jetzt drei Optionen. Entweder du entscheidest dich ihm zu verzeihen und ihm eine zweite Chance zu geben, aber mecker dann nicht rum, wenn es wieder schief geht. Du beendest die Beziehung und zeigst ihm, dass du hier auch ganz gut ohne ihn klar kommst. Oder du fliegst wieder nach Hause zu Mommy und Daddy. Denk darüber nach.“ Ihre Optionen zu hören, machte ihr irgendwie Mut. Und trotzdem wusste sie nicht, was sie tun sollte. Liebte Liam sie überhaupt noch? Und konnte sie ihm verzeihen oder würde diese Affäre auf ewig als schwarzer Schatten über ihnen liegen? „Ich…“, murmelte sie. „Ich weiß…nicht…ich will ihn nicht sehen…jetzt nicht…aber…“ Akai nickte verstehend. „Keiner hat gesagt, dass du dich sofort entscheiden musst. Aber egal was du auch tust, du solltest endlich damit anfangen dein Leben zu leben. Überleg dir, was du in der Zukunft machen willst und warte nicht darauf, dass dir irgendwer die Entscheidung abnimmt. Du sagst, du weißt nicht, was du tun sollst. Wie wäre es, wenn du alle deine Optionen prüfst. Und nicht immer darauf wartest, dass dir die anderen sagen, was gut für dich ist.“ „Wie?“ Der Student beobachtete sie. War sie tatsächlich so blauäugig nach London gekommen? „Hast du mal aufgeschrieben, für was du dich interessierst und welche Studiengänge oder Jobs für dich interessant wären?“ „Nein…glaub nicht…“ „Dann solltest du das langsam mal machen. Du wirst nicht ewig von deinem Gehalt in der Buchhandlung leben können. Du bist eine erwachsene Frau und in einigen Jahren, vielleicht sogar in einigen Monaten, wirst du nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst werden. Mach erst einmal die Liste und am besten ohne zu viel zu überlegen und danach sehen wir weiter.“ Shuichi blickte sie an. „Und melde dich bei Elena. Im Vergleich zu mir, weiß sie wie man jemanden tröstet“, fügte er hinzu und ging. Kapitel 10: Aussprache ---------------------- Am liebsten hätte sich Jodie zu Hause verkrochen und wäre nicht nach draußen gegangen. Nachdem sie von Liams Betrug erfahren hatte, blieb sie das gesamte Wochenende über im Bett und stand nur auf, wenn sie auf die Toilette musste oder es an der Tür klingelte. Neben dem Bett hatte sie Wasserflaschen aufgestellt und sich sogar mit ein paar Süßigkeiten eingedeckt, die sie noch zu Hause hatte. Allerdings verspürte sie keinen Hunger. Stattdessen weinte sie sich immer wieder in den Schlaf. Selbst als Elena zu Besuch war, saß Jodie wie ein Häufchen Elend auf dem Bett und ließ sich trösten. Elena war anders als Shuichi und hörte sich alles an, was Jodie zu sagen hatte. Selbst als Jodie nach Schweigen zu Mute war, blieb Elena bei ihr. Laut Elena stand Liam auch einmal vor der Wohnungstür, wurde aber nicht rein gelassen. Es traf Jodie schwer, dass er es nicht ein weiteres Mal versuchte und aufgab. In ihrem Kummer wurde sie allerdings glücklicherweise wieder von Elena aufgefangen. Trotzdem musste Jodie mit ihrem Schmerz alleine klar kommen und einen Weg finden, um auch in Zukunft damit umzugehen. Da sie sich nicht ewig zu Hause verstecken konnte – und Elena sie am Montagmorgen aus der Wohnung schleppte – hatte sie kaum eine andere Wahl, als zur Arbeit zu gehen. Jodie entschied, sich zusammenzureißen. Als sie allerdings draußen war und das Licht der Sonne auf sie schien, rieb sie sich die Augen. Es kam ihr unendlich lange vor, dass sie das letzte Mal draußen war. Und als sie die vielen Menschen erblickte, glaubte sie, dass jeder in ihrem Gesicht ablesen konnte, was passiert war. Wäre Elena nicht gewesen, wäre Jodie möglicherweise wieder nach Hause gegangen, aber so landete sie irgendwann in der Buchhandlung. Sofort ging Jodie ins Hinterzimmer und machte sich fertig. Da sie sich nicht allzu gut fühlte um Kunden zu bedienen, begann sie damit die Bestellungen auszupacken und zu sortieren. Bücher, die direkt an Kunden herausgegeben wurden, legte sie ins Abholregal. Alle anderen verfrachtete sie in die richtigen Regale im Verkaufsbereich. Trotzdem versuchte sie sich nichts von ihrem Kummer anmerken zu lassen und begrüßte jeden Kunden, der den Laden betrat. Als sie Liam sah, stockte ihr der Atem. „Jodie.“ Er hielt einen Strauß Blumen in der Hand. „Wir müssen reden, bitte.“ Die Angesprochene blickte zur Seite. „Ich…arbeite…“, murmelte sie leise. „Dann warte ich eben. Oder du bittest deinen Boss, dass du heute frei machen kannst. Es geht schließlich um uns.“ Jodie zuckte zusammen. Uns… Gab es überhaupt ein uns? „Ich…“ Jodie biss sich auf die Unterlippe. Sollte sie ihm wieder nachgeben? „Ist hier alles in Ordnung?“ Jodie blickte zu ihrem Chef. „Ja, Liam geht gleich wieder. Bitte entschuldigen Sie, er weiß natürlich, dass ich während der Arbeitszeit keine Zeit habe für Privatgespräche.“ „Es ist allerdings sehr dringend“, warf Liam ein. „Könnten Sie Jodie ausnahmsweise heute frei geben?“ Jodie sah Liam geschockt an. Wie konnte er einfach so für sie entscheiden? Gerade als Jodie etwas sagen wollte, stimmte ihr Boss zu. „Nehmen Sie sich heute den Tag frei. Dafür will ich Sie morgen umso motivierter sehen.“ „Das werden Sie“, entgegnete Liam und zog Jodie nach draußen. Sie riss sich los. „Liam. Ich hab doch…“ „Ja, ich weiß“, kam es sofort von ihm. „Aber wir müssen wirklich miteinander reden. Ich wäre hier auch nicht aufgetaucht, wenn mich deine Nachbarn nicht immer wieder weggeschickt hätten.“ „Was?“ Jodie wusste nur von einem Mal. „Du warst bei mir zu Hause?“ Liam nickte. „Das war ich. Ich hab auch mehrfach versucht dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen. Lass uns bitte jetzt reden. Wir können zu mir gehen oder zu dir…oder wenn es dir lieber ist, in ein Café.“ „Ich hol meine Sachen. Du wartest hier“, murmelte Jodie leise und ging wieder rein. Sie betrat das Hinterzimmer und holte ihre Tasche. Dann kramte sie in dieser herum und suchte ihr Handy. Nanu? Hab ich es zu Hause liegen gelassen? Jodie seufzte leise auf. Sie hatte Angst vor dem Gespräch, große Angst, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Als sie sich bereit fühlte, kam sie nach draußen. Liam blickte erleichtert auf. „Ich hatte schon Angst, dass du über den Hinterausgang verschwindest.“ „Lass uns gehen…in ein Café.“ Jodie wollte auf keinen Fall mit Liam alleine sein. „Hier in der Nähe ist eines“, sagte er und ging neben ihr her. Sie traten ein und Liam suchte ihnen einen Platz. Er legte die Blumen auf den Tisch und setzte sich. „Danke, dass du mir die Chance gibst, dir alles zu erklären.“ Jodie fühlte sich immer noch unwohl und eigentlich war sie auch noch gar nicht dazu bereit gewesen. Hätte er sie nicht überrumpelt, wäre sicher alles anders gekommen. Wie sehr hatte sie sich vor zwei Tagen gewünscht, dass er vor ihrer Tür stand und seine Reue bekundete, aber jetzt überkam sie die Angst. „Du…du wolltest reden…also sag, was du zu sagen hast.“ „Jodie, ich…ich weiß, ich bin ein Arschloch und ich kann nicht wieder gut machen, was ich dir angetan habe, aber ich möchte es trotzdem versuchen.“ Die Kellnerin kam. „Was darf ich euch bringen?“ „Für mich einen Kaffee mit Milch“, entgegnete Liam. „Ich nehm einen Tee“, antwortete Jodie. Sie wartete bis die Getränke kamen und blickte dann in ihre Tasse. „Wie…wie lange…geht das schon?“ Liam schluckte. Er hatte diese Frage gefürchtet, aber noch schlimmer war die Antwort, die er geben musste. „Ein paar Wochen.“ „Wochen…“, wisperte Jodie leise. Wochen. Es war also keine einmalige Sache. Und obwohl Jodie es schon geahnt hatte, schockierte sie die Wahrheit. Jodie kämpfte mit ihren Tränen. „Wieso? Wieso hast du…es getan? Hab ich…dir nicht gereicht?“ „Jodie, so war das nicht…“, antwortete Liam. „Ich war damals mit der ganzen Situation überfordert. Versteh das bitte nicht falsch, aber als du nach London gekommen bist, hatte ich Sorge, dass du dein Leben wegen mir wegwirfst. Und ich wollte nie, dass du dich nur auf mich fokussierst, deswegen habe ich vorgeschlagen, dass wir getrennt wohnen. Aber als es dann soweit war und ich mitbekommen habe, dass du dich gut mit den Nachbarn verstehst, bin ich eifersüchtig geworden. Und ich habe geglaubt, ich würde dich verlieren, aber irgendwie…ich konnte meine Gefühle nicht in Worte fassen. Ich konnte dir nicht sagen, dass ich dich nicht teilen möchte. Deswegen habe ich versucht so viel Zeit wie möglich mit dir zu verbringen und dir mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Du hast trotzdem noch viel mit den Nachbarn unternommen und irgendwas in mir…hatte Angst, dass du aufhörst mich zu lieben. Wir hatten unterschiedliche Tagesabläufe und du wurdest eigenständiger, was ich zwar gewollt habe, mir aber auch unfassbar viel Angst machte. Und dann kam Claudia…sie hat mit mir geflirtet und es hat mir geschmeichelt. Ich fühlte mich gut dabei. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, und ich glaubte, es würde besser werden, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen. Allerdings…wir hatten uns dann auch noch gestritten.“ Er seufzte. „Ich hab es falsch verstanden. Ich wollte mich bei dir entschuldigen, und hab dann wieder diesen Akai bei dir gesehen. Ich war wütend und als Claudia dann in die Boutique kam…ich war einfach so wütend, verstehst du? Und dann ist es passiert.“ Jodie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ich hab…das alles nur für dich getan. Du wolltest, dass ich mir eine eigene Wohnung suche. Also hab ich mir die Wohnung gesucht. Du wolltest auch, dass ich mich mit den Nachbarn anfreunde und nicht immer nur etwas mit dir mache. Das hab ich getan und jetzt sagst du mir, dass ausgerechnet das es war, weswegen du mich betrogen hast?“, fragte sie leise. „Hättest du mich nicht betrogen, wenn ich mich geweigert hätte, mir eine eigene Bleibe zu suchen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Liam. „Vielleicht…wäre es mir dann zu eng geworden und ich hätte mich auch auf Claudia eingelassen. Es tut mir so leid, Jodie, ich liebe dich, wirklich. Und ich war auch froh, dass du hergekommen bist, aber zu der Zeit war ich noch nicht bereit, um mit dir zusammen zu leben. Ich glaube, ich war noch nicht bereit für unsere Beziehung…wir waren nur kurz zusammen und dann hatten wir eine Fernbeziehung. Es war zu viel für mich. Und ich hatte Angst, dass du es bereust, hergekommen zu sein. In den ersten Tagen haben wir uns selten gesehen, ich fühlte mich unter Druck gesetzt, dass ich mich um dich kümmern muss. Aber auch als wir getrennt wohnten, haben wir uns selten gesehen. Es war irgendwie ein Teufelskreis. Ich fühlte mich dadurch allerdings zurückgesetzt und als sie dann kam, ging es mir für den kurzen Augenblick besser.“ Liam atmete tief durch. „Ich wollte wirklich, dass es eine einmalige Sache blieb, aber…bei uns wurde es nicht besser und als sie wieder in die Boutique kam, ist es wieder passiert. Ich hab mehrfach versucht es zu beenden, aber ein Teil von mir konnte es nicht. Und ich wollte es dir auch sagen, aber ich wusste, dass ich dich nur damit verletzen würde. Deswegen habe ich irgendwann geschwiegen. Ich wollte nicht, dass du mich verlässt.“ „Mir ging es mit dem allen auch nicht gut“, murmelte Jodie. „Das hast du doch gewusst und trotzdem…“ Er griff nach ihren Händen. „Ich weiß, Jodie, wir haben beide Fehler gemacht. Wenn wir nur mehr über unsere Gefühle gesprochen hätten…“ Jodie zog ihre Hände weg. „Du sagtest…du warst mehrfach bei mir zu Hause…“ „Ja“, nickte er. „Ich bin dir nachgelaufen. Als ich bei deinem Wohnhaus ankam, hast du dich bereits von Akai trösten lassen und deswegen…bin ich wieder gegangen. Aber ich habe es bereut und bin wieder zurück. Als ich bei dir Klingeln wollte, kam er aus deiner Wohnung und…sagen wir es mal so, er schickte mich weg.“ Dass er dabei nicht gerade nett war und er nahezu nach draußen eskortiert wurde, verschwieg er. „Ich habe es erneut versucht, aber Elena hat nicht zugelassen, dass ich zu dir kann. Als ich es am Sonntag wieder versucht habe, hat mich Akai wieder vor die Tür gesetzt. Ich mag den Kerl nicht, ihr habt so viel gemeinsam und…ich weiß, du hast mir mehrfach versichert, dass er nur ein Nachbar ist…aber…“ Er seufzte. „Ich bin froh, dass er heute nicht in der Buchhandlung war.“ „Hast du dich…in den letzten Tagen wieder von ihr trösten lassen?“ „Jodie, das…“ „Liam, hast du sie in den letzten Tagen gesehen?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich war zu Hause und sie weiß nicht, wo ich wohne.“ Jodie schluchzte. „Jodie?“ Sie saß schweigend da. „Jodie? Bitte sag doch was. Die Stille ist…unangenehm.“ „Hast du…es beendet?“ „Ja, natürlich“, entgegnete er. „Eben sagtest du, dass du die ganze Zeit zu Hause warst“, murmelte sie. „Das stimmt. Aber ich musste noch meine Sachen aus dem Laden holen und meine Schicht beenden. Sie war noch dort, also hab ich es beendet. Ich habe…meiner Chefin auch schon eine Mail geschrieben, dass ich meine Schichten ändern muss.“ Jodie schluckte. „Wenn du…sie wiedersehen solltest, kannst du…kannst du ihr widerstehen? Kannst du es, auch wenn wir…uns streiten oder Probleme haben?“ „Was? Ja, natürlich. Das kann ich. Ich werde dir nicht noch einmal weh tun. Bitte, glaub mir das. Gib mir noch eine zweite Chance. Gib uns eine zweite Chance. Wir machen es jetzt anders. Es wird nicht wieder passieren. Ich verspreche es.“ Jodie war verunsichert. Konnte sie ihm tatsächlich glauben und vertrauen? Konnte sie ihm diese Chance geben? Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich kann…auch mein Studium in New York fortführen. Wir müssen nicht hier bleiben. Wir gehen wieder nach Hause. Lass uns mit deinen Eltern darüber reden oder…“ Er räusperte sich. „Hast du ihnen schon von unseren…Problemen erzählt?“ Wusste Sharon auch bereits Bescheid? „Shuichi und Elena sind die einzigen die davon wissen“, antwortete Jodie. „Glaubst du, dass die Rückkehr nach Hause es bessermacht?“, wollte sie wissen. „Es ist nicht nur diese Frau…es gibt überall Frauen, Frauen die dich attraktiv finden und mit dir flirten. Dabei ist es egal, ob du in London oder New York bist. Es kann immer irgendwo eine Frau geben und es kann immer passieren, dass es gerade nicht gut bei uns läuft. Ich möchte mir nicht jedes Mal Sorgen machen, dass du mich betrügst.“ „Was soll das heißen?“, wollte Liam wissen. „Ich weiß nicht, ob ich dir verzeihen kann.“ Liam sah sie geschockt an. So hatte er sich den Ausgang des Gesprächs nicht vorgestellt. Egal welches Szenario er in seinem Kopf ablaufen ließ, Jodie kam immer zu ihm zurück. „Im Augenblick möchte ich dich nicht sehen. Ich brauche Zeit für mich und muss nachdenken. Wenn es…nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen wäre…vielleicht hätte ich dir das verzeihen können. Aber es war eine Affäre und du hast selbst gesagt, dass es sich gut anfühlte, begehrt zu werden. Was passiert, wenn es wieder bei uns kriselt? Wobei die Frage doch eher ist, wann kriselt es wieder bei uns. Wir sind jung und wir werden immer irgendeinen Grund haben, warum es gerade nicht gut läuft. Ich schaff es nicht, wenn ich jedes Mal Angst haben muss, dass du mich betrügst. Du hast selbst gesagt, dass wir beide Schuld daran hatten. Aber ich werde immer die Schuld bei mir suchen, auch wenn es nicht meine Schuld ist. Ich…“, sie brach ab. „Jodie, was…was willst du mir damit sagen?“ Sie sah zu ihm. „Ich war so verliebt in dich und jetzt…bin ich enttäuscht von dir und…ich kann dir gerade jetzt nicht mehr vertrauen. Ich brauch Zeit um mir über einiges klar zu werden.“ Sie atmete tief durch. Es tat gut, diesen Gedanken auszusprechen und ihr wurde so einiges bewusst. „Ich glaube, wir sollten eine Pause machen.“ Pause! Alles in Liam verkrampfte sich. „Jodie, weißt du eigentlich, was du gerade sagst? Du willst eine Pause? Also willst du, dass wir uns trennen.“ Sie blickte nach unten und wischte sich die Tränen weg. „Liam, bitte, du kannst nicht erwarten, dass ich dir nach einigen Tagen verziehen hab. Also wenn du die Pause als Trennung verstehst…dann ist es eine Trennung.“ Kapitel 11: neue Perspektive? ----------------------------- Wenn Jodie an das Gespräch mit Liam zurück dachte, musste sie schlucken. Dieses eine Treffen gab ihr das Gefühl, dass sie ihren Freund, der nun ihr Ex-Freund war, gar nicht wirklich kannte. Anstatt das er ihr Zeit gab zum Nachdenken, wollte er sofort eine Entscheidung von ihr. Und da kam das Wörtchen Trennung ins Spiel. Es war ein Wort, das alles kaputt machte. Vermutlich glaubte er, dass sie dann keinen Schlussstrich zog, stattdessen hatte er damit das Gegenteil erreicht. Eigentlich wollte sie auch nicht das Ende der Beziehung verkünden, aber Liam hatte sie darauf festgenagelt. Und jetzt mussten Beide damit leben. Es hieß, dass Zeit alle Wunden heilt. Jodie hoffte, dass sich dieser Spruch irgendwann bewahrheiten würde. Und bis es soweit war, musste sie das Beste aus ihrer Situation und ihrem Leben machen. Seit dem Gespräch mit Liam waren zwei Wochen vergangen und all seine Worte nagten noch immer an ihr. Es war zwar nicht gänzlich ihre Schuld, aber sie trug dazu bei, indem sie zunächst auf seine Wünsche einging und danach nicht mehr. Sie fühlte sich schlecht und fragte sich andauernd, ob es etwas geändert hätte, wenn sie sich gegen den Umzug gewehrt oder sich keinen Job gesucht hätte. Da Liam es nicht verneint hatte, schien es beinahe so, als wäre es unvermeidlich. Vielleicht war es auch ihr Schicksal und vielleicht hätte sie auch gar nicht erst nach London kommen sollen. Aber diese Erkenntnis kam zu spät. Viel zu spät. Und was war mit Liam? Er hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet. Es schmerzte sie und unwillkürlich kamen verschiedene Gedanken in ihr hoch. Hatte er die Trennung bereits überwunden und traf sich wieder mit der anderen Frau? Jodie schüttelte den Kopf. Sie versuchte diese Gedanken zu verbannen und sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Mit dem Kugelschreiber in der Hand tippte sie auf dem Blatt Papier herum. Sie versuchte an das Hier und Jetzt zu denken und ihre Zukunft zu planen. Wie Shuichi vorschlug, begann sie mit einer Liste ihrer Interessen. Weit war sie allerdings nicht gekommen. Als ihr ein Cocktail auf den Tresen gestellt wurde, sah sie auf. „Mhm? Ich hab doch gar nichts bestellt.“ „Alkoholfrei und geht aufs Haus.“ Es war gerade erst früher Nachmittag und im April war nicht allzu viel los. Einige Studenten saßen zusammen und redeten, andere konzentrieren sich auf das Schreiben von Hausarbeiten. „Eh…? Danke“, murmelte sie und nahm das Glas. Sie führte es zu ihrem Mund und zog über den Strohhalm die orangene Flüssigkeit ein. „Schmeckt gut.“ Akai nickte und sah zu ihrem Zettel. „Was machst du da?“ Jodie seufzte leise auf. Musste sie sich jetzt dafür rechtfertigen? „Du hast mir doch geraten, dass ich aufschreiben sollte, was ich mag und wo meine Interessen liegen. Auch wenn es schon einige Tage her ist, möchte ich nun damit anfangen, mein Leben auf die Reihe zu bekommen. Und dafür sollte ich annähernd wissen, was ich künftig machen möchte.“ „Das heißt, du gehst nicht zurück nach New York?“, wollte der Student wissen. „Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht.“ Jodie blickte wieder auf ihren Zettel. „Ich hab vor zwei Wochen mit Liam gesprochen. Er hat…er hat mir erzählt, dass ihr ihn nicht zu mir gelassen habt…“ „Das stimmt“, entgegnete der Junge. „Aber es war Zufall, wir haben uns nicht auf die Lauer gelegt, falls du das denkst.“ „Hab ich nicht“, murmelte Jodie. „Danke, dass ihr das getan habt. Ich hätte sicher keine Kraft gehabt, um mit ihm zu reden.“ „Hat er dich um Verzeihung gebeten?“ „Er…er hat mir erklärt…wie es dazu gekommen ist. Er wollte, dass ich ihm eine zweite Chance gebe. Aber…ich weiß nicht, ob ich das kann. Es ist so viel passiert und kaputt gegangen…und dann…wollte mich Liam auf eine Entscheidung festnageln. Also…haben wir…uns getrennt…“ „Ich verstehe“, gab Shuichi von sich. „Danach habe ich mich gefragt, was ich hier noch mache. Und dann…ist mir eingefallen, was du über meine Optionen gesagt hast. Ich wollte…schon eher mit der Liste anfangen, aber…“ „Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich kann mir vorstellen, wie es dir ging, nachdem das mit Liam vorbei war.“ Jodie nickte. Sie hatte viel geweint und brauchte ihre Zeit. „Auf deinem Zettel steht ja nicht viel drauf.“ Shuichi versuchte das Thema zu wechseln. „Leider“, entgegnete Jodie. „Ich hab erst einmal angefangen mit den Sachen, die ich früher gern machen wollte. Weißt du, als ich klein war, wollte ich wie meine Mutter Krankenschwester werden, aber wenn ich so an die derzeitigen Arbeitsbedingungen denke…nein, das ist nichts für mich. Danach wollte ich zum FBI, wie mein Vater, aber naja das schließe ich mittlerweile auch aus. Irgendwie ist mir das Leben als FBI Agentin zu gefährlich.“ „Verständlich“, gab Akai von sich. „Man muss immer auf der Hut sein und sein eigenes Leben schützen. Gerade mit Familie ist es nicht einfach.“ „Eben“, murmelte Jodie. „Was hast du noch?“ „Schauspielerei und Modeln“, antwortete sie, wobei sich ein leichter Rotschimmer auf ihre Wangen legte. „Ich hab das mal als Kind gemacht, nur kleine Werbeclips und dann ein paar Shootings. Allerdings waren die Erwachsenen sehr streng zu mir und wenn ich jetzt darüber nachdenke, möchte ich nicht in diese Branche gehen. Immer dünn, immer schön, immer beobachtet zu werden…“ Jodie schüttelte den Kopf. „Vielleicht mal als Nebenjob, aber nicht auf Dauer.“ „Mhm…verstehe…“ Akai überlegte. „Alles was du aufgezählt hast, waren Berufe bei denen du zwar feste Arbeitszeiten hast, diese aber häufig überschreiten wirst. Und wenn du nicht vollkommen dahinter stehst, bringt es dir auch nichts das Handwerk zu erlernen. Was ist mit einem Studium? Kommt das für dich in Frage? Und wenn ja, hast du dir Gedanken gemacht, wie du studieren willst?“ „Ehrlich gesagt habe ich schon mit dem Gedanken gespielt zu studieren. Ich dachte, es wäre eine gute Alternative anstatt nur zu Hause herumzusitzen. Allerdings weiß ich nicht was. Und die Frage nach dem wie kann ich dir auch nicht beantworten, da ich gar nicht weiß, was du damit meinst.“ „Bevor ich mich für das Studium der Ingenieurswissenschaften entschieden habe, habe ich mich sowohl hier als auch in Amerika mit dem System vertraut gemacht. Ich wollte schon immer zum MI6, wie meine Eltern, und ich weiß, dass meine Mutter über diese Entscheidung nie erfreut gewesen ist. Allerdings wollte ich auch nicht in das Thema Vetternwirtschaft rutschen, weswegen auch das FBI oder CIA für mich in Frage kommen würden. Daher kenn ich mich ein wenig mit dem dortigen System aus.“ Akai begann damit ein Glas zu putzen. „Du hast verschiedene Möglichkeiten, wenn du studieren willst. Du könntest ein duales Studium anfangen und damit parallel weitere Berufserfahrungen sammeln. Aber es kann kompliziert werden, weil du das Studium und die Arbeit unter einen Hut bekommen musst. Unter der Woche oder am Wochenende mal Spaß haben, ist dann vorbei. Oder du entscheidest dich für eine Eliteuniversität und machst dann Bachelor und im Anschluss deinen Master. Ein Fernstudium käme auch in Frage, aber es gibt noch nicht viele Anbieter und meistens muss man für die Klausuren eh reisen. Oder du entscheidest dich für ein ganz normales College und belegst verschiedene Kurse. Du kannst natürlich auch mehrere Abschlüsse nacheinander machen oder du beginnst mit dem, was dich interessierst und schaust, in welche Richtung es dich treibt. Je nachdem, was du dir für deinen späteren Lebensweg vorstellst, ist es eine wichtige Entscheidung.“ Jodie schluckte. „Wie gut, dass ich noch nicht weiß, was ich später machen will…“ „Du bist keine Ausnahme, Jodie.“ Shuichi lächelte. „Nicht jeder weiß, was er nach dem Schulabschluss machen will. Bei mir war es vermutlich auch nur Glück, weil ich viel durch meine Familie mitbekommen habe. Irgendwann macht es auch bei dir Klick. Und sieh es mal so, du kannst schon bestimmte Arbeiten ausschließen. Du arbeitest doch jetzt in einer Buchhandlung. Gefällt es dir dort?“ „Ja, schon. Die Arbeit macht mir Spaß, aber es ist irgendwie immer das Gleiche. Ich packe Kisten aus, sortiere Bücher ein und bediene Kunden. Für den Anfang ist es in Ordnung, aber ich glaube nicht, dass ich das mein ganzes Leben machen will“, antwortete sie. „Verständlich“, entgegnete er. „Du könntest dir auch überlegen, ob du etwas Allgemeines studierst. Betriebswirtschaft, Naturwissenschaften, Sprachwissenschaften oder Literatur.“ „Was Allgemeines…“, murmelte Jodie nachdenklich. „Ah, ich verstehe, wenn ich mich nicht darauf festlege, kann ich später auch eine andere Berufsrichtung einschlagen.“ „Genau. Und es besteht immer die Möglichkeit vom Quereinstieg. Daher ist es auch möglich zu studieren, wenn man gar nicht weiß, was man später machen will. Oder du versuchst es ohne Studium und suchst dir eine Vollzeitstelle. Du kannst auch an den Colleges nach Schnupperstunden oder Informationsveranstaltungen fragen. Entweder sie sind ganztätig während der normalen Vorlesungszeiten oder am Wochenende als Extra-Veranstaltung. Du könntest auch bei laufenden Vorlesungen fragen, ob du als Gast teilnehmen kannst. Ich könnte mich in meinen Kursen mal umhören und Ben und Elena könnten das in ihren machen.“ „Ähm…“, murmelte Jodie. „Danke, das ist nett von dir. Sei mir bitte nicht böse, aber ich glaube nicht, dass ich je in die Richtung Ingenieurwesen gehen werde.“ Akai lachte. „Es ist nicht so schlimm, wie es klingt. Ich hab auch andere Kurse wie Kriminologie. Das ist ein Vorteil von vielen Studiengängen, sie bieten die Möglichkeit an, dass man auch in andere Fächer reinschnuppern kann. Keine Sorge, ich lass dich schon nicht in den Physikkurs.“ Jodie errötete. „Oh man…jetzt ist mir das peinlich.“ Der Student schmunzelte. „Was deine Suche auch einkreisen könnte, wäre die Art und Weise wie deine Prüfungen ablaufen sollen. Es gibt schriftliche Tests, mündliche Tests, Hausarbeiten, Zwischenprüfungen und unangekündigte Lernkontrollen. Wenn ich das nächste Mal in der Uni bin, kann ich dir ein wenig Material mitbringen.“ „Das wäre wirklich lieb von dir.“ Sie lächelte. „Ich beneide dich gerade wirklich, Shuichi. Ich wünschte, ich wüsste auch schon, was ich später machen will und wie ich mir mein Leben in einigen Jahren vorstelle.“ „Du solltest dich damit nicht so stressen. Das College ist auch dafür da um sich auszuprobieren. Wie ich schon sagte, du kannst am Anfang auch nur Kurse belegen und im nächsten Semester mit dem Studiengang starten. Allerdings solltest du wissen, ob du in London bleiben willst oder nicht. Selbstverständlich könntest du auch hier ein Semester belegen und den Rest in New York machen.“ „Mhm…weißt du, ich hab mir darüber auch einige Gedanken gemacht. Ich bin wegen Liam hergekommen und wenn ich jetzt wieder nach Hause fliege, dann weiß jeder, dass wir es nicht geschafft haben. Das stimmt schon, aber…ich möchte nicht, dass man glaubt, ich würde nur wegen Liam bestimmte Dinge tun. Ich möchte auch allen beweisen, dass ich ohne Liam klar komme und…auch in einem fremden Land leben kann. Ich weiß, das hört sich kindisch an, aber so denk ich gerade.“ „Schon gut. Ich kann das nachvollziehen. Du hast das Gefühl, dass dich jeder auf Liam reduziert hat und möchtest zeigen, dass du auch etwas aus eigener Kraft schaffst.“ Sie nickte. „Genau. So wie du.“ Jodie nippte wieder an ihrem Getränk. „Aber sag mal…immer wenn ich dich sehe, spielst du entweder hier mit der Band, arbeitest oder kommst nach Hause. Wann…lernst du eigentlich? Oder ist das Studium hier nicht so hart?“ Akai schmunzelte. „Ich hab ein gutes Gedächtnis und passe in den Vorlesungen auf. Und ich nutze meine Zeit gut aus. Wenn ich mit der Bahn unterwegs bin, lese ich auch ein paar Sachen nach. Selbst hier lerne ich.“ Er wies nach unten. „Wenn nicht viel los ist, kann ich meine Notizen durchgehen. Wir haben unterhalb des Tresens eine weitere Ablage, die die Gäste nicht sehen.“ „Ach so.“ „Aber keine Sorge, ich hab während des Gesprächs nicht gelernt.“ „Das hab ich dir nicht vorgeworfen. Du bist irgendwie eine Art Superman. Du kriegst alles hin…“ „Übertreib nicht, Jodie.“ Sie legte ihre Hände auf den Tisch und betete ihren Kopf darauf. „Vielleicht sollte ich mir das mit Sprachwissenschaften oder Literatur einmal ansehen. Meinen Chef könnte ich auch befragen.“ „Das klingt doch nach einem Plan“, entgegnete der Student. „Danke, dass du mir hilfst“, murmelte Jodie. „Mhm? Wieso sollte ich das nicht tun?“ „Ach weißt du, bei unserer ersten Begegnung dachte ich, dass du mich nicht leiden kannst. Aber Elena meinte, dass du immer so reserviert bist. Naja und da hab ich gedacht, dass du mir eher aus dem Weg gehen würdest, stattdessen hast du dich um mich gekümmert, als es mir schlecht ging.“ Shuichi sah sie irritiert an. „Ich hab kaum was gemacht.“ „Mag sein…aber es hat mir geholfen. Und jetzt hilfst du mir auch mein Leben wieder zu ordnen und in die Zukunft zu sehen.“ Kapitel 12: Nähe ---------------- Shuichi hielt sein Wort und stand eine Woche später vor Jodies Haustür. Als sie diese öffnete, blickte sie ihn verwirrt an. Es kam nicht oft vor, dass der Student vor ihrer Tür stand. Und wenn Jodie an die vergangenen Treffen dachte, war er bisher nur zweimal in ihrer Wohnung. Beim ersten Mal wurde er von Elena mitgeschleppt und durfte Jodie zu ihrem Einzug begrüßen. Beim zweiten Mal war sie ein Häufchen Elend und er war ihr gefolgt um nach dem Rechten zu sehen. „Eh…waren wir…verabredet?“, fragte sie irritiert. „Nein“, antwortete Akai ruhig. „Ich hab dir ein paar Broschüren zu Orientierungskursen und Informationsveranstaltungen mitgebracht.“ „Oh…ja…danke“, entgegnete sie. „Ich hab angenommen, du würdest mir diese in der Bar geben.“ „Wir wohnen im gleichen Haus, daher sah ich keine Notwendigkeit die Sachen in die Bar mitzunehmen und zu schauen, wann du wieder vorbei kommst.“ Eigentlich war Jodie in der letzten Zeit noch häufiger im April als zuvor. Meistens unterhielt sie sich mit den Nachbarn oder Shuichi. „Und zu Hause ist ruhiger, wenn wir die Sachen durchgehen wollen. Außer du willst nicht.“ „Was? Nein nein, komm rein“, sagte Jodie und stellte sich etwas abseits. Shuichi kam rein und zog sich die Schuhe und die Jacke aus. Er nahm seine Tasche und folgte Jodie anschließend in den Wohnbereich. Nachdem er sich auf das Sofa setzte, holte er die Borschüren und Unterlagen aus seiner Tasche hervor und verteilte sie auf dem Tisch. „Möchtest du etwas trinken?“ „Ich nehm ein Wasser.“ „Gut, aber erwarte nicht zu viel, ich hab keine Schirmchen da.“ Es war eine Anspielung darauf, dass Jodie immer einen alkoholfreien Cocktail bekam. Akai lächelte leicht. „Ich bin schnell zufrieden zu stellen.“ Jodie ging zur Küchenzeile und holte zwei Gläser sowie eine Wasserflasche heraus. Damit kehrte sie zurück in den Wohnbereich und stellte alles auf den Tisch ab. Sie befüllte die beiden Gläser mit Wasser und setzte sich zu ihm. Ihr Blick fiel wieder auf den Tisch. „Du hast…ja viel mitgebracht.“ Der Student nickte. „Wenn ich mir die Mühe mach, dann mach ich es richtig.“ Er griff nach einem Zettel. „Es gibt tatsächlich mehr Informationsveranstaltungen am Campus als man denkt. Die meisten sind allerdings so abgestimmt, dass künftige Schulabgänger daran teilnehmen können. Aber es gibt auch Veranstaltungen für die, die sich erst spät für ein Studium entscheiden oder die die Kurse wechseln wollen. Die Termine findest du in den Broschüren in der gelben Mappe. Außerdem gibt es auch einige offene Vorlesungen, das heißt, du musst gar nicht als Student eingeschrieben sein, um sie dir anzuhören. Aber du brauchst für solche Sachen einen Gästeausweis und musst den jederzeit vorzeigen können. Es könnte auch sein, dass sie dir den Gästeausweis irgendwann vorenthalten, wenn du zu oft umsonst Vorlesungen hören willst. Naja verständlich, immerhin zahlt man nicht umsonst die Gebühren. Außerdem kann es sein, dass dich der Dozent auch während der Vorlesung dran nimmt und zum Unterrichtsstoff befragt. Ich hab dir diese Veranstaltungen in die grüne Mappe getan.“ Jodie nickte. „Wenn es zeitlich passt, könnte ich dich auch zu diesen Vorlesungen begleiten.“ „Das würdest du wirklich machen? Das Angebot würde ich wirklich gern annehmen.“ Obwohl sie wusste, dass ihr niemand den Kopf abriss, hatte sie ein wenig Angst diesen Schritt allein zu gehen. „Sonst hätte ich es nicht vorgeschlagen“, gab Shuichi von sich. „Ich hab dir hier noch weitere Unterlagen zusammen gestellt und zwar findest du in der roten Mappe alle Seminare oder praxisbegleitende Veranstaltungen, bei denen Besucher erlaubt sind. Allerdings musst du dich dort beim jeweiligen Dozenten vorher anmelden und wenn es zu viele Interessenten gibt, kann es sein, dass du aussortiert wirst. In der Mappe sind auch andere Veranstaltungen wie Ausstellungen aufgelistet. Viele Fachbereiche machen sogar regelmäßig Ausstellungen oder Veranstaltungen. Außerdem habe ich wegen einer Campus-Führung nachgefragt. Wenn wir uns anmelden, kriegen wir alle Fachbereiche einmal zu Gesicht. Du musst hierfür allerdings zwei bis drei Tage einplanen.“ Sie lächelte. „Wow.“ Er hatte sich wirklich Mühe gegeben „Und als zusätzlichen Bonus bekommst du nachher von mir noch einen Link zu einem Studienwahltest geschickt. Das könnte ein erster Anhaltspunkt sein und wenn du dich weiterhin für ein Studium interessieren würdest, kannst du auch mit dem Studienberater sprechen. Wie klingt das für dich?“ Jodie umarmte ihn vor Freude. „Danke, dass du mir so hilfst. Du bist wirklich ein guter Freund.“ Guter Freund ertönte es in Akais Kopf. Irgendwas in ihm zog sich bei diesen Worten zusammen. „Schon gut“, murmelte er. Jodie hatte sich die Zeit genommen die sie brauchte. Seit sie von Liams Betrug erfahren und sich von ihm getrennt hatte, waren sechs Wochen vergangen. Trotz allem versuchte er wieder in Kontakt mit ihr zu treten, aber sie brauchte noch Zeit zum Nachdenken. Jodie spielte zwar wieder mit dem Gedanken die Beziehung aufzunehmen, wollte sich aber erst im Klaren darüber werden, was sie in der Zukunft tun wollte. Und Liam schien es zu verstehen – zumindest gab er das an. Aber Jodie brauchte den Abstand von ihm. Sie musste sich zunächst auf sich selbst fokussieren. Und durch Shuichis Hilfe gelang es ihr auch gut. Er hatte ihr so viele Broschüren und Informationsblätter mitgebracht, dass es lange dauerte, alle durchzugehen. Zusammen mit dem Studenten hatte sie in der ersten Woche alle Kurse, Vorlesungen und Veranstaltungen durchgeschaut und sich überlegt, ob Interesse bestand. Viele Themen wie Informatik, Mathe oder Sport wurden sofort aussortiert. Jodie wusste, dass ein Studium zu diesen Fächern kaum Sinn bei ihr machte und wollte dementsprechend weder ihre Zeit noch die von Shuichi verschwenden. Sie war froh, dass sich der Student dazu bereit erklärte, sie zu begleiten. Allerdings konnte er nicht bei jeder Veranstaltung dabei sein. Ab und an sprang Elena ein, die die Annäherung von Jodie und Shuichi als positiv empfand und sich insgeheim wünschte, dass die Beiden ein Paar wurden. Ohne es zu merken, fühlte sich Jodie in Shuichis Nähe wohl und konnte wieder richtig lächeln. Sie war gern in seiner Nähe und besuchte ihn auch oft in der Studentenbar. Während er arbeitete, unterhielten sie sich angeregt und wenn er mit der Band spielte, lauschte sie der Musik. Dass er ausgerechnet ein Akkordeon spielte, hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nie vorgestellt, aber als sie ihn damit sah, merkte sie, dass das Instrument zu ihm passte. Auch heute besuchte Jodie ihn in der Bar. Sie setzte sich direkt an den Tresen und beobachtete ihn. „Arbeiten oder lernen?“ Shuichi trocknete gerade ein Glas ab, während er geistesabwesend in die Ferne blickte. „Mhm?“ Jodie schmunzelte. „So sieht man dich nicht oft. Daher fragte ich, ob du gerade nur arbeitest oder lernst.“ „Tatsächlich lernen. Ich bin den Unterrichtsstoff im Kopf durchgegangen. Übermorgen schreiben wir eine Klausur.“ „Oh…ach so…dann stör ich dich nicht weiter.“ „Schon gut“, sagte der junge Mann. „Ablenkung kann nicht schaden und wir sind hier schließlich in einer Bar.“ Jodie nickte. „Bist du dir sicher? Wenn es nachher voller wird, kommst du gar nicht mehr zum Lernen.“ „Ich hab in einer halben Stunde Feierabend“, entgegnete er. „Kurz vor Klausuren reduzier ich meine Zeiten und wir haben dann auch weniger Auftritte mit der Band…meistens schreiben wir alle in der gleichen Woche unsere Klausuren.“ „Verstehe. Du bist bestimmt bestens vorbereitet.“ Er schmunzelte. „Natürlich bin ich das. Und bei dir? Hattest du nicht heute die Schnuppervorlesung zur Fotografie?“ „Ja, hatte ich. Und es war ganz informativ. Am Anfang erklärte uns der Dozent ein paar allgemeine Sachen, danach ließ er uns Bilder bewerten und interpretieren. Es war schon faszinierend, was man da so herausliest und was der Fotograf einem eigentlich sagen möchte. Er zeigte uns auch andere Bilder mit den gleichen Personen und der gleichen Umgebung, aber anderer Mimik. Du glaubst ja nicht, wie viel sich verändern kann, um eine ganz andere Atmosphäre zu erhalten. Allerdings riet er uns auch dazu, ein zweites Hauptfach zu wählen, weil man mit Fotografie allein nicht weit kommt. Es gibt viele gute Fotografen und Ausstellungen. Journalismus wäre auch eine gute Brücke…ich glaub, da hab ich nächste Woche eine Vorlesung, die ich mir ansehen kann. Und gestern war ich in der Einführungsveranstaltung für Kriminologie. Das war auch sehr interessiert. Die Dozentin hat uns am Anfang erzählt was im Fernsehen eigentlich alles falsch dargestellt wird und was uns in dem Studiengang erwartet.“ Akai nickte verstehen. „Die Veranstaltung hatte ich auch. Wenn die Serien die Wahrheit abbilden würden, würden die Einschaltquoten sinken. Aber von einer so schnellen Fallaufklärung kann jeder Polizist oder Agent nur träumen.“ „Genau, das dachte ich auch“, kicherte sie. „Ich bin wirklich froh, dass ich das gemacht habe. Und danke nochmal, dass du mich so oft begleitet hast. Ich war wirklich nervös.“ „Kein Problem, ich hab auch etwas dabei gelernt“, entgegnete Shuichi. „Sag einfach Bescheid, wenn ich wieder mitkommen soll.“ „Das mach ich“, gab die junge Frau von sich. „Jetzt weiß ich ja, dass die Menschen nicht beißen und auch die Leute, die ich diese Woche kennen gelernt habe, waren ganz nett. Wir haben uns etwas unterhalten und ich bin froh, dass ich wirklich nicht die Einzige bin, die nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll.“ „Ich hab dir doch gesagt, dass du damit nicht alleine bist.“ „Ja, das hast du“, antwortete Jodie. Sie streckte sich. „Ich glaub, den Schubs in die Richtung hab ich gebraucht. Vor allem hat es mir auch geholfen, dass du nicht zu den Personen gehörst, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben. Das macht schon einen Unterschied aus.“ Akai nickte. Er wusste, dass die Zeit für Jodie auch schmerzhaft gewesen war und sie Ablenkung suchte. „Willst du noch was trinken? Ich kann dir schnell einen Cocktail mixen oder ich pack zusammen und wir gehen.“ „Wir können gern los“, antwortete Jodie und stand auf. Da er noch lernen musste, wollte sie ihn nicht zu lange aufhalten. Shuichi packte seine Sachen ein, verabschiedete sich von den Kollegen und ging mit Jodie nach draußen. Sie blickte hoch in die Sonne. „Das Wetter ist heute echt schön.“ „Es regnet nicht immer in London“, warf er ein und sah auch in den Himmel. „Wenn du möchtest, können wir die Abkürzung durch den Park nehmen und verzichten auf die U-Bahn.“ „Das geht?“ „Natürlich. Die U-Bahn ist trotzdem schneller, aber wenn wir durch den Park gehen, kommen wir auch ins Ziel. Nach anstrengenden Tagen ziehe ich den Fußweg der Bahnfahrt vor. Der Kopf wird freier und man hat Zeit nachzudenken.“ „Dann lass uns durch den Park gehen. Es ist irgendwie peinlich, dass ich schon eine ganze Weile hier wohne, aber meine Umgebung noch nicht so wirklich kennengelernt habe.“ „Hier entlang“, kam es von Akai und er bog in eine Straße ein und betrat dann den Park. Jodie beobachtete die vielen Pärchen und lächelte. Mit einem Mal errötete sie aber, als ihr bewusst wurde, dass auch sie nicht alleine war und man etwas anderes annehmen könnte. Um den Gedanken loszuwerden, schüttelte sie hastig den Kopf. „Mhm? Alles in Ordnung?“ „Ja“, antwortete sie sofort. „Willst du Eis?“ Er wies auf den Eiswagen. Jodie blickte irritiert dorthin. Eis? War das vielleicht doch eine Art Date oder bildete sie sich das alles auf einmal ein? „Äh…ja gerne, für mich Vanille und Nuss, bitte.“ Akai ging zu dem Wagen und stellte sich an. Als er ankam, bestellte er zwei Waffeln und reichte eine schließlich an Jodie weiter. „Ich hab irgendwie nicht gedacht, dass du Eis mögen würdest.“ „Wieso nicht?“ „Ich weiß auch nicht. Du bist für mich irgendwie nicht der Typ für Eis.“ „Mhm…vielleicht weil ich eine kalte Aura habe?“ „Das hast du jetzt gesagt.“ Sie ging neben ihm und schleckte am Eis. „Woher hast du das mit der Aura?“ „Hat meine Mutter mal zu mir gesagt.“ „Oh.“ „Ist nicht schlimm. Wir hatten früher öfters unsere Differenzen. Ich würde mir Sorgen machen, wenn sie mal handzahm ist.“ „Ach so.“ Jodie lächelte. „Das kenn ich von meiner Familie auch. Manchmal streitet man sich und im nächsten Moment ist man wieder ein Herz und eine Seele.“ „Eltern bleiben eben immer Eltern. Und auch wenn wir Kinder groß und erwachsen werden, so bleiben auch wir immer die Kinder unserer Eltern. Die Sorgen vergehen nie.“ „Sehr philosophisch von dir.“ „Kann sein.“ Shuichi ging weiter und aß sein Eis auf. „Ich versuche immer verschiedene Aspekte zu betrachten und mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das wird mir in der Zukunft sicher helfen.“ Jodie nickte verstehend. Sie genoss den kleinen Spaziergang. Die Zeit verging wie im Fluge, sodass sie irritiert vor dem Wohngebäude stand. Shuichi öffnete die Tür zum Hausflur und ließ Jodie eintreten. Gemeinsam gingen sie zu ihrer Etage. „Soll ich dir die nächsten Tage weitere Broschüren mitbringen?“ Jodie blickte ihn fragend an. „Es gibt noch Broschüren, die du mir nicht mitgebracht hast?“, witzelte sie. „Auf den Plätzen liegen oft welche aus oder werden verteilt. Ich kann also für Nachschub sorgen.“ Er brachte sie zu ihrer Haustür. „Danke, das wär sehr lieb von dir. Vielleicht gibt es noch was, was ich mir noch nicht angesehen habe. Aber irgendwann sollten wir damit aufhören.“ Shuichi nickte. „Also dann…“ „Also dann…“, murmelte Jodie und spürte bereits ihre Haustür im Rücken. Und dennoch schien es so, als würden die Funken in der Atmosphäre sprühen. Sie sahen einander in die Augen und spürten es Beide. Jodie wurde nervös und in ihrem Bauch rumorte es – allerdings im positiven Sinn. Shuichi beugte sich runter zu ihr. Sein Gesicht war ihrem nah. Viel zu nah. Jodies Herz pochte ununterbrochen. Lauter. Je näher sein Gesicht kam, desto nervöser wurde sie. Sie blickte in seine tiefgrünen Augen, er in ihre blauen Augen. Als seine Lippen ihre streiften, schloss sie ihre Augen. Wärme umfasste sie, als sich ihre Lippen gänzlich berührten. Kapitel 13: Neuanfang? ---------------------- Jodies Handy begann zu klingeln. Augenblicklich beendete es den Kuss zwischen den Beiden. Sofort machten sie einen Schritt nach hinten, um die Entfernung zwischen ihnen zu vergrößern. Jodie stieß gegen ihre Wohnungstür, aber der kurze Schmerz war schnell überwunden, als sie in Shuichis Gesicht blickte. Ein Rotschimmer legte sich auf ihre Wangen. Sie hatten sich geküsst; zuerst hatten sich ihre Lippen gestreift und dann waren sie gänzlich miteinander verschmolzen. Allein bei diesem Gedanken schlug Jodies Herz schneller. Viel zu schnell. Vorsichtig fuhr sie sich mit den Fingerspitzen ihres Zeige- und Mittelfinger über die Lippen. Noch immer spürte sie dort ein Prickeln. Was hatte er nur in ihr ausgelöst? Für einen kurzen Moment wandte sie ihren Blick ab, schaute dann aber wieder zu ihm. Anders als sie zeigte Shuichi allerdings keine Regung und beobachtete sie. Aber das war nur Fassade. In Wahrheit war er über die Situation ebenso irritiert wie sie. Allerdings lag es bei ihm auch daran, weil er selbst die Initiative ergriffen hatte. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er bereits seit längerer Zeit Interesse an Jodie. So richtig bemerkt hatte er es, als sie ihn als guten Freund bezeichnet hatte. Diese Worte nagten an ihm und er stellte sich die Frage, ob es wirklich das war, was er wollte. Dennoch hielt er sich zurück, da Jodie gerade erst dabei war, Liams Betrug zu verarbeiten. Außerdem versuchte sie ihr Leben zu ordnen und setzte sich mit ihrer Zukunft auseinander. Da konnte er doch nicht damit ankommen, dass er Gefühle für sie hatte. Und auch wenn er sich relativ normal ihr gegenüber verhielt, konnte er diese Gefühle einfach nicht abschütteln. Er hatte versucht sie zu verbannen, aber als er mit Jodie den Spaziergang machte und anschließend vor ihrer Wohnungstür stand, konnte er es nicht mehr zurückhalten. Ob es ein Fehler war? Das Klingeln von Jodies Handy hatte mittlerweile einen nervigen Ton angenommen. Auch Jodie realisierte dies und holte es aus ihrer Handtasche hervor. Sie sah auf den Display und runzelte die Stirn. „Unbekannte Nummer“, murmelte sie leise. Normalerweise nahm sie derartige Gespräche nicht entgegen, da sie aber nicht alleine war, ging sie trotzdem ran. „Starling.“ „St. Leonard’s Hospital. Schwester Mosby am Apparat. Spreche ich mit Miss Jodie Starling?“ „Ja, ich bin dran“, sagte Jodie leise. Sie schluckte. Warum wurde sie von einem Krankenhaus angerufen? War ihren Eltern etwas passiert? „Bitte bleiben Sie ruhig, Miss Starling. Ich kann Ihnen versichern, dass alles in Ordnung ist“, begann die Krankenschwester. „Ich rufe Sie an, weil Sie als Notfallkontakt von Mr. Liam Henderson angegeben sind. Ich muss Sie darüber informieren, dass er bei uns im Krankenhaus ist. Sie müssen sich aber keine Sorgen machen.“ „Krankenhaus?“, wisperte Jodie leise. „Was…was ist passiert?“ Als sie den Anruf entgegen nahm, hatte sich Shuichi abgewandt. Er wollte weder lauschen noch sie zu einer Aussprache wegen dem Kuss drängen. Als er allerdings das Wort Krankenhaus hörte, blieb er stehen und drehte sich um. Erneut beobachtete er sie. „Ich kann Ihnen am Telefon leider nicht viel sagen. Es gab einen Verkehrsunfall, aber wie ich bereits erwähnt habe, machen Sie sich bitte keine Sorgen. Es ist nicht so schlimm wie es sich anhört“, entgegnete sie. „Könnten Sie trotzdem bitte ins Krankenhaus kommen? Dann können wir Ihnen alles genau erklären und Sie können mit Mr. Henderson sprechen.“ „Ja…ja…ich mach…mich gleich auf den Weg ins Krankenhaus“, gab Jodie leise von sich. „Danke, dass Sie…mir Bescheid gegeben haben“, fügte sie hinzu und legte auf. Mit zittrigen Händen zog Jodie ihren Schlüsselbund aus der Tasche, steckte den Wohnungsschlüssel in das Schloss und öffnete die Tür. Wie benommen betrat sie ihre Wohnung legte die Tasche auf dem Boden ab. Abschließend wechselte sie ihr Schuhwerk, nahm die Tasche und lief wieder aus der Wohnung. Da sie nicht mehr auf ihre Umgebung achtete, stieß sie gegen Shuichi. Der Student hielt sie fest. „Shu…ichi…“ „Was ist passiert?“, wollte er besorgt wissen. „Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?“ „Du…du weißt vom Krankenhaus?“, fragte Jodie irritiert. „Du hast es vorhin am Telefon erwähnt“, entgegnete er und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Du bist ganz durcheinander.“ Jodie wich seinem Blick aus. „Liam…er…er hatte einen Unfall…und ich soll ins…Krankenhaus.“ Shuichi schluckte. Liam. Schon wieder stand er zwischen ihnen. „Gut, ich bring dich hin.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie sagte…es ist nicht so schlimm. Versteh mich bitte nicht falsch, aber…ich sollte lieber alleine fahren.“ „Jodie…“ Sie schüttelte abermals den Kopf. „Mach dir…um mich keine Sorgen. Ich ruf mir ein Taxi“, entgegnete sie und löste sich aus seinem Griff. Sie ging an ihm vorbei und marschierte die Straße entlang. Als sie die ersten gelben Taxen sah, hob sie die Hand. Eines blieb an der Fahrbahn stehen und ließ Jodie einsteigen. Sie bat den Fahrer auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus zu fahren und bezahlte ihn, als sie dort ankamen. Sofort ging Jodie zum Empfang und sah die junge Frau an. „Jodie Starling, ich wurde wegen Liam Henderson angerufen. Ich bin sein Notfallkontakt.“ Die Frau tippte etwas in den Computer ein und nickte. „Könnten Sie sich bitte ausweisen?“ „Äh ja“, murmelte Jodie und zog ihre Geldbörse aus der Handtasche heraus. Anschließend holte sie ihren Ausweis hervor und schob ihn über den Tisch. Die Dame am Empfang blickte auf die Daten und lächelte. „Gut, Miss Starling, Sie müssen hinter mir den Gang entlang und dann in die dritte Etage. Dafür haben Sie entweder den Fahrstuhl oder Sie nutzen das Treppenhaus. Wenn Sie oben angekommen sind, melden Sie sich bitte am Schwesternzimmer. Es ist nicht zu verfehlen.“ „Danke, das mach ich“, sprach Jodie und steckte den Ausweis wieder ein. Sie ging den Gang entlang und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Überall sah Jodie Menschen, die jemanden besuchten oder die als Patienten von einem Ort zum nächsten geschoben wurden. Am Schwesternzimmer klopfte Jodie an die Tür. „Hallo, Jodie Starling. Ich wurde wegen Liam Henderson angerufen.“ Mit einem Mal wurde sie nervös. „Ah, Miss Starling, wir haben telefoniert. Ich bin Schwester Mosby. Danke, dass Sie gekommen sind“, lächelte sie. Jodie nickte. „Was…was ist denn passiert? Wie geht es Liam?“ Die Krankenschwester sah sich kurz um. „Da Sie der Notfallkontakt sind, aber mit dem Patienten nicht verwandt sind, darf ich Ihnen nur geringfügig Informationen geben. Wie ich schon am Telefon erklärt habe, gab es einen Verkehrsunfall. Ihr Freund war mit dem Fahrrad unterwegs und konnte den Passanten, die so etwas beobachten, nicht mehr ausweichen. Aber es ist alles in Ordnung und er kann auch direkt entlassen werden.“ Jodie blickte sie irritiert an. „Und warum wurde ich dann angerufen?“ „Mr. Henderson hat uns darum gebeten, sie zu informieren. Er meinte, Sie würden sich nach dem Unfall um ihn kümmern. Am besten Sie sprechen selbst mit ihm.“ Jodie seufzte leise auf. Das konnte doch nicht sein ernst sein. Hatte er versucht sie zu manipulieren? „Ich verstehe“, murmelte sie leise, auch wenn sie nichts verstand. Sie waren getrennt und Liam hatte nicht das Recht gehabt, sie zu rufen. Vor allem nicht, wenn es sich tatsächlich um eine Lappalie handeln sollte. „Wo ist er?“ „Zimmer 358, gehen Sie einfach den Gang entlang. Die Nummern stehen an den Türen.“ „Danke“, gab Jodie von sich und machte sich auf den Weg. Nach dem Anruf aus dem Krankenhaus hatte sie sich blindlings auf den Weg gemacht. Jodie fragte sich, welches Spiel Liam nun mit ihr spielte und ob er es darauf angelegt hatte, dass sie ihm in ihrer Sorge verzieh. Als sie an dem Krankenzimmer ankam, atmete sie tief durch. Lass dich nicht von ihm einwickeln, sagte sie zu sich selbst. Und da war ja auch noch Shuichi. Sie musste sich selbst erst einmal klar darüber werden, was der Kuss zu bedeuten hatte. Jodie klopfte an die Zimmertür. „Herein“, hörte sie die vertraute Stimme. Erneut atmete sie tief durch und versuchte sich auf die Begegnung mit Liam vorzubereiten. Langsam öffnete Jodie und Tür und ging rein. Liam saß auf einem Bett und hatte sowohl einen Verband um den Kopf als auch einen Gips am linken Arm. „Jodie.“ Liam lächelte. Es war ein ehrliches Lächeln und keine Fassade. Er freute sich über ihre Anwesenheit. „Du bist gekommen“, sagte er, als hätte er selbst nicht damit gerechnet. „Natürlich bin ich das“, entgegnete Jodie ruhig. „Das Krankenhaus rief mich an und auch…wenn wir getrennt sind, mache ich mir trotzdem Sorgen um dich. Man wollte mir am Telefon nicht genau sagen was passiert ist. Die Schwester hat mich vorhin aufgeklärt.“ Liam nickte. „Dann weißt du jetzt von meinem peinlichen Unfall. Beim Verkehrsunfall sind zwei Autos ineinander gefahren und die Passanten griffen natürlich sofort zu ihren Handys. Ich hab auch kurz geschaut, aber dann wollte ich weiter fahren…leider haben sich die Anderen keinen Schritt bewegt und ich bin beim Ausweichen gestürzt. Trotz Helm wollten die Ärzte sichergehen, dass ich keine Gehirnerschütterung habe. Und ich hab vom Kies ein paar Schrammen. Naja…leider fiel ich aber unglücklich auf meine linke Hand. Es ist zwar nur ein Haarriss, aber ich muss den Gips trotzdem tragen. Studieren kann ich weiterhin ohne Probleme und mit der Arbeit bekomme ich das auch noch hin. Ansonsten geht es mir gut.“ „Es freut mich, dass es dir gut geht“, antwortete Jodie. „Liam, wir…“ Er unterbrach sie. „Die Ärzte lassen mich auch nach Hause, allerdings auf eigene Verantwortung und auch nur dann, wenn jemand bei mir bleibt und darauf achtet, ob ich Symptome einer Gehirnerschütterung aufweise.“ Mit einem Mal fühlte sich Jodie überrumpelt. Sie wusste ganz genau, worauf er abzielte. Und trotzdem konnte sie ihm nur still zuhören. „Ich weiß, wir sind nicht mehr zusammen, aber…ich hab hier sonst niemanden, den ich darum bitten könnte. Würdest du…?“ „Klar“, gab sie ohne wirklich darüber nachzudenken von sich. Kaum war das Wort über ihre Lippen gekommen, wollte sie ihre Zusage revidieren. Sie öffnete den Mund, aber es kam nichts über ihre Lippen. Ihr Kopf stand auf Durchzug und sie stellte sich vor, wie es ihr im Krankenhaus gehen würde. Auch sie würde so schnell wie möglich nach Hause wollen und wenn es wirklich keine andere Person gab, die er Fragen konnte, wollte sie ihm irgendwie helfen. Außerdem war sie nahezu wie selbstverständlich zu ihm ins Krankenhaus geeilt. „Danke“, entgegnete der junge Mann und stand auf. „Ich hab die Entlassungspapiere schon unterschrieben. Wir können direkt los.“ Manipulation, schrie es in Jodies Kopf. Und dennoch fühlte sie sich nicht in der Lage, irgendwas zu tun. Jodie nickte und blickte auf den Boden, als sie aus dem Krankenhaus gingen. Die gesamte Fahrt mit dem Taxi schwieg sie und nachdem sie seine Wohnung betrat, überkamen sie viele Emotionen. Sie waren an jenem Ort, an dem sie für einen kurzen Moment mit ihm zusammen wohnte. Der Ort, wo sie mehrere Nächte zusammen waren. Der Ort, der womöglich das Scheitern ihrer Beziehung einläutete. Jodies Unterlippe zitterte. „Jodie?“ Sie blickte zu Liam. „Leg…leg dich bitte…direkt ins Bett…“ Er nickte und machte, was sie sagte. Er begab sich in das Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Jodie brachte ihm ein Glas und eine Flasche Wasser. „Wenn…es dir nicht gut geht, sag mir Bescheid“, murmelte sie. „Das mach ich.“ Liam rückte ein wenig auf die Seite. „Du kannst dich gern dazu legen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte dann den Kopf. „Ich bleib im Wohnzimmer…und seh regelmäßig nach dir. Wenn du doch was brauchst, ruf mich“, sagte sie und verließ fluchtartig das Schlafzimmer. Jodies Inneres zog sich zusammen. Sie wusste, dass es ein Fehler war, nun mit ihm allein zu sein. Die junge Frau ließ sich auf das Sofa fallen und schloss die Augen. Sie versuchte sich auf die Gegenwart zu fokussieren und wollte nicht an die Vergangenheit denken. Ebenso war es nicht ihr Ziel, Liam falsche Hoffnungen zu machen. Das hatten sie Beide nicht verdient. Und dann war da noch die Sache mit Shuichi. Jodies Kopf fühlte sich voll an und schließlich war sie irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen. Als sie wach wurde, stand sie auch schon in der Küche und setzte Teewasser auf. In Gedanken versunken, bemerkte sie nicht, wie ihr Ex-Freund in die Küche kam. „Guten Morgen.“ Sofort verkrampfte sich Jodie. War das ein eindeutiges Zeichen von ihrem Körper? „Morgen…“, murmelte sie und zog die Tassen aus dem Schrank. Ohne Vorwarnung stellte sich Liam hinter sie und legte seine Arme um sie. „Ich bin froh, dass du bei mir bist.“ Er betete seinen Kopf auf ihre Schultern und schloss die Augen. „Was passiert ist, tut mir so leid. Ich wollte dir nie wehtun. Ich hab dich in den letzten Wochen so vermisst. Lass es…lass es uns bitte noch einmal versuchen. Bitte, Jodie.“ Eine Gänsehaut legte sich auf ihre Arme. „Liam…Ich glaube nicht, dass das eine gute…Idee ist…“ „Wieso nicht?“, wollte er wissen. Er drehte sie um und hievte sie anschließend auf die Arbeitsfläche. „Dieses Mal wird alles anders. Ich versprech es dir.“ Ehe Jodie darauf etwas erwidern konnte, zog er ihr Gesicht nach unten und küsste sie. Jodie riss ihre Augen auf und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Der Kuss fühlte sich anders an. Anders als die sonstigen Küsse mit ihm. Anders als der Kuss mit Shuichi. Jodie verkrampfte abermals. Kapitel 14: Ende ---------------- Es ging alles so schnell. Ehe sich Jodie versah, saß sie auch schon auf der Arbeitsfläche in der Küche und wurde von Liam geküsst. Er hatte versucht Jodie zu manipulieren und anschließend die Situation ausgenutzt, um sie zu überrumpeln. In ihrem Kopf herrschte das Chaos und verschiedene Gedanken strömten hindurch. Sie dachte an den Tag an dem sie Liam kennenlernte, wie sie zusammenkamen, wie sie einander liebten und wie sie ihn beim Fremdgehen erwischt hatte. Sie erinnerte sich an all seine Worte, seine Vorwürfe und seine Bitten. Und dann fragte sie sich, ob er schon immer so manipulativ gewesen war, ob er schon immer alles tat, um sein Ziel zu erreichen und ob sie es einfach nur nicht sehen wollte. Hatte er sich möglicherweise schon viel früher dazu entschieden, Jodie irgendwie unter Druck zu setzen, damit sie wieder zusammenkamen? Sie erkannte, dass er den Autounfall für seine Zwecke benutzte, aber ob er auch absichtlich vom Rad gestürzt war? Und dann war da noch das komische Gefühl, welches sie bei diesem Kuss verspürte. Er fühlte sich anders an, erzwungen und ohne Gefühle. Als ihr dann Shuichi in den Sinn kam, verkrampfte sie. Mit ihm war es ganz anders. Er war aufrichtig und ein guter Freund für sie geworden. Sie fühlte sich in seiner Nähe wohl, sehr wohl sogar und unternahm gerne etwas mit ihm. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, schlug ihr Herz mittlerweile auch schneller, wenn sie an ihn dachte. Der Kuss mit ihm hatte ihr gefallen, sogar mehr als mit Liam. Und mit einem Mal überkam Jodie das schlechte Gewissen, weil sie gerade Liam küsste. Damit wusste Jodie ganz genau, wie es weitergehen würde. Sie mochte Liam zwar immer noch, konnte sich aber keine Beziehung mehr mit ihm vorstellen. Vielleicht würden sie Freunde bleiben können oder für immer getrennte Wege gehen. Aber das mit Shuichi…war was ganz anderes. Sie hatte sich in ihn verliebt. Jodie konnte nicht einmal sagen, wann genau es passiert war, aber sie war froh, dass sie es erkannt hatte. Jodie löste den Kuss. Es war gerade rechtzeitig, da Liam bereits versuchte ihr Oberteil nach oben zu schieben. Energisch drückte sie ihn von sich weg und stieg von der Arbeitsfläche. „Lass das bitte“, gab sie von sich. Statt etwas zu sagen, versuchte er sie erneut zu küssen, dieses Mal etwas ruppiger als vorher. Ein weiteres Mal drückte Jodie ihn von sich weg. „Ich hab Nein gesagt.“ Dieses Mal würde sie sich nicht von seinen Worten um den Finger wickeln lassen. Und wenn er versuchen würde ihr einen Kuss mit Gewalt aufzudrängen, würde sie ihm ihre Selbstverteidigungsfähigkeiten demonstrieren. Da war sie sich ganz sicher. Liam wich erschrocken einen Schritt nach hinten. Er war selbst über sein übergriffiges Verhalten überrascht und konnte es nicht richtig einordnen. Er wusste, dass er zu weit gegangen war, aber es war alles nur um ihre Beziehung zu retten. Wochenlang ohne Jodie sein zu müssen, hatte ihm gezeigt, was sie ihm bedeutete und wie sehr er sie brauchte. Er bereute sein Verhalten und die Affäre mit Claudia. Er schämte und hasste sich dafür. „Jodie, ich…“ Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Liam, es tut mir wirklich leid, aber ich kann das nicht. Es ist so viel passiert, du hast mir weh getan und mich dann zu einer Entscheidung gezwungen. Ich weiß, dass du dir damit erhofft hast, dass ich nicht die Trennung ausspreche, aber…weil du mir nicht die Zeit gegeben hast, die ich gebraucht habe, war mir nichts anderes möglich. Und dadurch hast du mir tatsächlich sogar geholfen. Ich bin hier in einer fremden Stadt, auf mich allein gestellt und ich komm trotzdem klar. Mir ist bewusst geworden, dass ich…“ Jodie räusperte sich. „Es tut mir leid, ich weiß nicht wie ich das anders ausdrücken soll. Mir ist klar geworden, dass ich dich nicht unbedingt brauche, um zu überleben. Liam, du hast mir so viel bedeutet und ich habe den Fehler gemacht und versucht mein Leben nur nach dir auszurichten. Ich wusste damals nicht was ich mit meinem Leben anfangen sollte, da war es einfach zu wissen, dass ich dir nach England folge. Und dann habe ich getan, was du wolltest und mich selbst dabei aus den Augen verloren. Die Zeit ohne dich hat mir das klar gemacht und dafür bin ich dir dankbar. Ich möchte wirklich nicht, dass du das alles falsch verstehst. Ich habe dich geliebt, Liam, aber…als unsere Beziehung ernster wurde und die Probleme auf uns zu kamen, haben wir es nicht geschafft. Wir haben beide Fehler gemacht, aber ich glaube, es hilft uns, um in die Zukunft blicken zu können. In unserer nächsten Beziehung machen wir diese Fehler nicht mehr, wir werden aus ihnen lernen und…glücklich werden. Nicht miteinander, aber trotzdem werden wir unser Glück finden.“ Liam schluckte. Er hatte es vermasselt. Nicht Jodie traf die Schuld, sondern ihn. Er hatte einen riesigen Fehler begangen und musste jetzt mit den Konsequenzen leben. „Wenn es wegen Claudia ist, ich hab sie nicht mehr gesehen…und ich habe kein Interesse an ihr. Ich will keine andere Frau. Jodie, kannst du mir die Affäre wirklich nicht verzeihen? Siehst du keine Möglichkeit, dass wir es miteinander versuchen?“ Er tat ihr leid, aber auch das änderte nichts an ihrer Entscheidung. „Selbst wenn ich dir das mit dieser Claudia verzeihe, ich kann nicht wieder mit dir zusammen sein. Wir hatten eine lange Zeit eine Fernbeziehung und sind dann nicht damit klar gekommen, dass wir uns wieder so oft sehen können. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich nicht direkt zu dir gezogen wäre. Keiner weiß, was passiert wäre, wenn wir anders gehandelt hätten. Aber eines ist mir klar geworden. Wir haben uns beide im Laufe der Zeit verändert. Ich bin nicht mehr die, die ich war als wir uns kennen lernten. Und ich glaube, wenn wir es wieder versuchen würden, würden wir sehr bald wieder vor den gleichen Problemen stehen. Irgendwann würden wir uns womöglich hassen und das möchte ich nicht. Du bedeutest mir immer noch sehr viel, Liam. Du warst mein erster Freund, meine erste große Liebe und ich werde die Zeit mit dir nie vergessen. Ich möchte, dass wir im Guten auseinander gehen. Lass es uns bitte so beenden.“ Liam sah sie an, aber er sagte kein Wort. „Liam?“ „Du hast Recht…wir haben uns Beide verändert. Ich hab mich…teilweise zum Schlechteren verändert. Ich erkenn mich selbst nicht mehr wieder. Ich habe dich betrogen und dann unter Druck gesetzt. Ich habe im Krankenhaus darum gebeten, dass du informiert wirst, damit du dir die Trennung noch einmal überlegst. Ich habe mir verschiedene Szenarien ausgemalt, wie wir es noch einmal versuchen würden. Und dieses Mal wären wir glücklich miteinander geworden. Aber…wenn ich jetzt so darüber nachdenke, habe ich gehofft, dass dich die Sorge in meine Arme treiben würde. Ich habe versucht dich dadurch zu manipulieren und das…das bin nicht ich. Vermutlich…hast du auch recht, wenn du sagst, dass wir es nicht geschafft hätten. Ich hätte es wieder gegen die Wand gefahren.“ „Es ist nicht nur deine Schuld. Wir gehören…nicht zusammen. Es tut mir wirklich sehr leid, Liam…“ „Ich liebe dich immer noch, Jodie. Ich werde diese Gefühle nicht so schnell vergessen können. Liebst…liebst du mich auch noch?“ „Liam, bitte…mach es nicht noch schwerer für uns.“ „Bitte sag es mir. Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich möchte es nur wissen.“ „Ich mag dich und…ich liebe dich auch auf freundschaftliche Art und Weise. Aber ich…ich liebe dich nicht mehr so wie früher. Diese Gefühle sind einfach nicht mehr da.“ Liam schluckte. „Ich verstehe…Das habe ich nicht gewollt.“ „Nein, Liam, mach dir bitte keine Vorwürfe.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Er tat ihr leid, aber nur aus Mitleid konnte keine Beziehung wachsen. „Danke, dass du…zu mir ins Krankenhaus gekommen bist und nach mir gesehen hast. Das bedeutet mir viel. Ich werde…dich als meinen Notfallkontakt austragen und…ich denke, es ist besser, wenn wir uns auch weiterhin nicht mehr sehen werden.“ Jodie nickte verstehend. Sie wäre gerne weiterhin mit ihm befreundet gewesen, aber sie wusste, dass es ihnen Beiden nicht gut tun würde. „Ich bin trotzdem sehr froh, dass du…zu dir selbst gefunden hast und nicht unbedingt einen Mann in deinem Leben brauchst.“ Er atmete tief durch. „Ich hoffe, du hasst mich nicht.“ Sie schüttelte sofort den Kopf. „Ich hasse dich nicht. Ich habe dich auch nicht gehasst, als du mich betrogen hast. Ich war verletzt und wütend, aber ich habe dich nicht gehasst.“ Liam versuchte zu lächeln. „Danke“, gab er leise von sich. „Also…dann…ich sollte besser gehen.“ „Ich bring dich noch an die Tür“, murmelte er und ging mit Jodie in den kleinen Flur. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und zog sich die Jacke an. Anschließend nahm sie ihre Handtasche und blickte zu ihm. „Dann…ich möchte ehrlich gesagt nicht Leb wohl sagen, aber ich glaube, es wird ein solcher Abschied werden.“ Der junge Mann nickte. „Es ist in Ordnung. Ich wünsche dir alles Gute, Jodie.“ „Danke, ich dir auch“, sagte sie und öffnete die Tür. Liam zögerte. Sollte er oder sollte er nicht? Schließlich entschied er sich dafür, dass er ihr noch eine Wahrheit sagen musste. „Jodie?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Ja?“ „Ich muss dir noch etwas sagen. Es geht um deine Freundin Sharon.“ „Mhm? Um Sharon? Was ist mit ihr?“ „Ich möchte dir damit nicht weh tun. Allerdings denke ich, dass du die Wahrheit erfahren solltest, gerade wenn es um deine zukünftigen Beziehungen gehen sollte.“ Liam atmete tief durch. „Du weißt doch, dass mein Vater seinen Job verloren hatte und mit dem Trinken anfing. Um die Kosten zu decken, nahm er einen Kredit auf und…wir hatten Schulden. Sharon hat es herausgefunden und…mir angeboten, die Schulden zu begleichen und…die Entzugsklinik für meinen Vater zu bezahlen. Danach sorgte sie dafür, dass er einer gut bezahlten Arbeit nachgehen konnte…“ „Ich versteh nicht ganz“, entgegnete Jodie. „Es ist doch nett, dass sie euch geholfen hat.“ „Als Gegenleistung wollte sie, dass ich mit dir ausgehe und als…ich hier an der Uni angenommen wurde, spielte ich mit dem Gedanken mich von dir zu trennen. Ich wollte dir die Fernbeziehung nicht aufhalsen. Aber sie hat mich…überzeugt, dass die Trennung keine gute Idee wäre.“ Jodie schluckte. „Das heißt…wenn Sharon nicht gewesen wäre…wärst du nicht…“ „Ohne sie wären wir vermutlich nicht zusammen gekommen. Sie war der Grund warum ich mich mit dir getroffen habe und…dir damit näher gekommen bin. Aber meine Gefühle für dich waren immer echt. Als ich dich gesehen habe, war es um mich geschehen. Das musst du mir bitte glauben. Doch wegen meiner familiären Geschichte wollte ich nicht mit dir zusammen kommen. Ich wollte dir meine Probleme nicht auch noch aufhalsen. Ich schwöre dir, ich habe mich nie dafür bezahlen lassen, mit dir zusammen zu sein. Und bis auf diese beiden Male habe ich sie auch nicht mehr gesehen.“ Sie blickte ihn schockiert an. „Du lügst“, wisperte sie. „Ich wünschte, es wäre so“, gab Liam von sich. „Ich möchte, dass du…vorsichtig bist, was du ihr erzählst. Ich glaube, sie tut dir nicht gut und versucht…auch nur ihre Interessen voranzubringen.“ Jodie reagierte nicht. „Jodie?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Wieso…wieso sagst du mir das?“ „Ich will dir damit nicht weh tun, ich will dir auch keinen reinwürgen. Ich mache mir nur Sorgen, dass du irgendwann mit einem Mann zusammen bist, der keine Gefühle für dich hat.“ „Deswegen…deswegen hast du…mich damals gefragt, ob ich…meinen Liebsten in New York von deiner Affäre erzählt habe…“ Er nickte. „Ich hatte Angst dass…sie an meiner Familie Rache nehmen würde. Aber sie war nicht der Grund warum ich vehement versucht habe, wieder mit dir zusammen zu kommen. Das schwöre ich dir.“ Jodie verstand immer noch nicht, warum er ihr das sagte? Konnte er nicht einfach schweigen und Sharons Bestechung vor ihr verheimlichen? Es tat weh. Es tat so weh zu erfahren, dass sie von zwei wichtigen Menschen in ihrem Leben belogen wurde. Und was hieß das für ihre Zukunft? Würde sie jede Beziehung hinterfragen müssen? „Jodie?“ „Danke, dass du…mir das gesagt hast“, wisperte sie und drehte sich um. Anschließend verließ Jodie seine Wohnung und machte sich auf den Weg nach Hause. Kapitel 15: Ein bisschen Glück ------------------------------ Schwer atmend betrat Jodie ihre Wohnung. Auf der halben Strecke war sie losgelaufen und hatte erst Halt gemacht, als sie vor ihrer Wohnungstür stand. Sie hatte sogar vergessen Nachbarn zu grüßen und ihren Briefkasten nach neuer Post zu überprüfen. Aber das war unwichtig. Immer wieder ging sie die Worte von Liam im Kopf durch und suchte nach einem Hintertürchen; irgendwas das ihr verriet, dass er doch gelogen hatte. Sie wollte ihm nicht glauben und ein Teil von ihr hoffte, dass er das nur sagte, um sie ein weiteres Mal zu verletzen. Dennoch ahnte sie, dass Liam dieses Mal keinen Grund hatte, um sie anzulügen und er ihr wirklich nur helfen wollte. Aber wenn es tatsächlich die Wahrheit war, was hieß es dann für sie? Sie dachte an die Vergangenheit. Es war für sie selbstverständlich, dass sie mit Sharon auch über ihre Begegnung mit Liam und ihre Gefühle für ihn sprach. Sie schwärmte regelmäßig für den Jungen und teilte ihr einige Wochen später glücklich mit, dass sie nun ein Paar waren. Als Liam seine Zusage für die Universität in London erhalten hatte, hatte Jodie ihren Kummer nicht nur mit ihrer besten Freundin geteilt, sondern auch mit Sharon. Sie erzählte ihr von ihren Sorgen, da sie wusste, dass Liam nie und nimmer eine Fernbeziehung wollte. Damals war es ihr nicht merkwürdig vorgekommen, dass Liam seine Ansichten geändert hatte und tatsächlich eine Fernbeziehung führen wollte. In jener Zeit war sie einfach nur glücklich, dass sie eine wichtige Person in ihrem Leben nicht verlor. Aber jetzt wo sie die Wahrheit kannte, musste sie alles bisherige in Frage stellen. Es war schon schwer genug als Tochter eines FBI Agenten Freunde und einen Partner zu finden, immerhin konnte ihr Vater ganz schön einschüchternd sein. Doch jetzt gab es noch eine weitere Person, die die Fäden in Jodies Leben lenkte. Nur war Sharon einen Schritt zu weit gegangen. Wenn Liam tatsächlich ihre Rache fürchtete, musste Jodie dafür sorgen, dass es nicht so weit kam. Selbst wenn sie Lügen musste. Trotzdem nagte die ganze Situation an ihr. Konnte sie jetzt noch überhaupt den Menschen in ihrer Umgebung vertrauen? Mit einem Mal stellte sie alles in Frage. Konnte es sein, dass sich die Hausbewohner nur mit ihr anfreundeten, weil Sharon ihre Finger im Spiel hatte? Und was war mit Shuichi. War er zu ihr so nett, weil sie ihn kontaktierte und…? Augenblicklich schüttelte Jodie den Kopf. Sie durfte nicht anfangen so zu denken, ansonsten würde sie ihr gesamtes Leben nicht mehr froh werden. Jodie lehnte ihren Körper gegen die Haustür und seufzte leise auf. Langsam ließ sie sich nach unten gleiten und zog ihre Beine an sich heran. Sie legte den Kopf auf ihre Knie und schloss die Augen. Ihr war alles zu viel geworden. Sie hielt es nicht mehr aus und wollte nicht, dass die Baustellen in ihrem Leben zu nahmen und größer wurden. Aber wie konnte sie ihrem derzeitigen Teufelskreis entkommen? Würde es helfen, würde sie den Kontakt zu Sharon abbrechen? Aber die Schauspielerin gehörte irgendwie zur Familie und würde sowieso genug über Jodies Leben in Erfahrung bringen können. Wie sollte sie dann alles auf die Reihe bekommen? Langsam öffnete Jodie ihre Augen und ihre Handtasche. Mit zittrigen Händen zog sie ihr Handy hervor. Ein Teil von ihr war noch unentschlossen, ein anderer Teil wollte die Wahrheit wissen und die Situation klären. Aus dem Adressbuch suchte sie die Nummer der Schauspielerin und drückte auf die Wahltaste. Den Zeitunterschied von fünf Stunden hatte Jodie nicht bedacht. Das Signal ertönte sofort und es dauerte nicht lange, bis Sharon den Anruf entgegen nahm. „Guten Morgen, Jodie“, grüßte Sharon das Mädchen. Auch wenn es in New York gerade erst fünf Uhr war, hörte sie sich nicht müde an. „Ist irgendwas passiert? Du rufst mich sonst doch nicht so früh an. Geht es dir gut?“ Jodies Mut war verschwunden. Sie wusste auf einmal nicht mehr, was sie der Schauspielerin sagen wollte. „Jodie? Bist du noch dran?“ Jodie schluckte. „Liam…und ich…wir haben…uns getrennt“, brachte sie hervor. „Was? Oh, Jodie, das tut mir so leid. Was ist denn passiert?“, wollte Sharon besorgt wissen. „Es hat einfach nicht mehr…mit uns geklappt…“ „Meine arme Kleine“, entgegnete die Schauspielerin. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Du könntest ihn in Ruhe lassen.“ „Jodie, was redest du da?“ Sharon stockte. Wusste sie es? Hatte Liam geplaudert? Sharons Blick wurde finster. „Jodie, was…“ „Stimmt es, Sharon? Bitte sag mir, ob es stimmt, dass du Liam…dass du ihm…das du… Bitte sag mir, dass es…nicht stimmt…Bitte, Sharon…“, flehte Jodie. Sharon entschied, die Wahrheit zu sagen, zumindest weitestgehend. Damit hatte sie mehr Chancen als mit einer Lüge. „Ich weiß nicht, was dir Liam erzählt hat“, begann sie ruhig. „Ich habe mich mit ihm getroffen, bevor ihr zusammen gekommen seid und ja, es stimmt, dass ich seiner Familie geholfen habe. Ich habe ihn allerdings nur darum gebeten, sich mit dir zu treffen. Wenn es nicht funktioniert hätte, wäre das für mich kein Problem gewesen. Das wars auch schon. Er wurde nicht gezwungen mit dir zusammen zu sein.“ Jodie schwieg. „Jodie?“ „Wieso…wieso hast du…das getan?“, fragte die junge Frau. „Ich hab dich nicht um deine Hilfe gebeten. Und…ich muss doch meine eigenen Erfahrungen machen.“ Eine Träne rollte über Jodies Wange. „Das weiß ich doch, meine Kleine“, entgegnete Sharon. „Du hattest es damals so schwer und…ich hatte Angst, dass du es nicht verkraftest, wenn er kein Interesse an dir hat. Deswegen habe ich mich für diesen Schritt entschieden. Natürlich musst du deinen eigenen Weg gehen, deine eigenen Entscheidungen treffen und auch deine eigenen Fehler machen, aber du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich dir nur helfen wollte.“ „Wer noch, Sharon, wen hast du noch dazu gebracht, mich zu mögen?“ „Es gab sonst niemanden“, antwortete Sharon. „Das schwöre ich dir.“ „Kann ich dir das wirklich glauben?“, wollte Jodie leise wissen. „Vielleicht hast du mein ganzes Leben manipuliert, und ich weiß es einfach nicht.“ Sharon schluckte. Natürlich hatte sie gewollt, dass Jodie weiterhin als Model tätig war und später mit der Schauspielerei anfing, aber das konnte sie nicht zugeben. „Jodie, ich kann verstehen, dass du auf mich wütend bist. Aber du musst mir wirklich glauben, dass es nur Liam war. Sonst habe ich zu keinem deiner Freunde Kontakt aufgenommen.“ Jodie wollte ihr glauben, aber sie hatte Angst. Sie hatte ihrer Freundin so viel erzählt und anvertraut, ohne sich darüber Gedanken zu machen, welche Konsequenzen es hatte. „Ich bleibe mit Liam in Kontakt“, fing Jodie an. Sie log, aber das musste Sharon nicht erfahren. „Unsere Trennung war…zwar nicht einfach, aber es ist in Ordnung für mich. Wenn du seiner Familie etwas tun willst, werde ich es erfahren. Du wirst in Amerika die Füße still halten.“ Ein leichtes Lächeln legte sich auf Sharons Lippen. Jodie war erwachsener geworden und versteckte sich nicht mehr hinter anderen Menschen. Und sie hatte sogar den Mut und stellte sich gegen sie. „Ich lasse ihn in Ruhe.“ „Gut“, entgegnete die junge Frau. Jodie atmete tief durch. „Bitte kontaktier mich in der nächsten Zeit nicht mehr. Momentan ertrag ich dich nicht.“ „Jodie, hör zu, wir…“ Ungläubig starrte Sharon in ihr Handy. Jodie hatte einfach so aufgelegt. Und trotzdem war sie stolz auf das junge Mädchen. Die Schauspielerin war sich sicher, dass Jodie nun keine weitere Unterstützung mehr brauchte, um in den nächsten ein bis zwei Jahren klar zu kommen. Sie lächelte und dennoch wäre sie gerne nach London geflogen, doch aufgrund ihrer Vergangenheit konnte das MI6 nur auf diesen Fehler warten. Sie würde sich definitiv nicht gefangen nehmen lassen und weiterhin ihr Leben in Freiheit genießen. Auch wenn sie dafür Amerika nicht verlassen durfte. Und irgendwann, da war sie sich sicher, würde Jodie alles verstehen und ihr verzeihen. Sie musste nur warten. Jodie legte das Handy auf die Seite und seufzte leise auf. Das Gespräch mit Sharon zerrte mehr an ihrem Nervenkostüm als sie gedacht hatte. Aber sie war stolz auf sich, da sie kein einziges Mal angefangen hatte zu weinen. Und sie hatte gesagt, was sie sagen wollte. Jodie meinte jedes Wort ernst, denn Sharon hatte ihr mit ihrer Tagt keinen Gefallen getan. Es war viel eher das Gegenteil. Jodie fühlte sich schlecht und zweifelte an sich selbst und an allem, was passiert war. Es war schrecklich zu wissen, dass der eigene Freund nur mit einem zusammen war, weil er Angst vor Sharons Rache hatte, auch wenn er wirkliche Gefühle für sie hatte. Ihre Beziehung begann mit einer Lüge und endete, nachdem er erneut log. Und mit einer Lüge wollte er die Beziehung zu ihr wieder aufnehmen. Trotzdem musste Jodie ihr Leben weiter leben und sich auf die Zukunft fokussieren. Sie musste sich wieder darauf einlassen, dass es Menschen gab, denen sie wichtig war und denen sie auch weiterhin ihr Vertrauen schenken konnte. Nicht jeder Mann war wie Liam. Es gab Jemanden, der ihr Herz bewegte, einen Menschen mit dem sie sich die Zukunft vorstellen konnte und der aufgrund seiner familiären Hintergrundgeschichte integer war. Er würde sich nicht so einfach manipulieren lassen. Die junge Frau wischte sich all ihre Tränen weg und stand auf. Sie ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Anschließend ging sie ins Badezimmer und machte sich frisch, damit sie sich auch außerhalb ihrer Wohnung wohl fühlte. Anschließend sah Jodie auf die Uhr und lief in den Flur. Sie steckte das Handy ein und verließ die Wohnung. Die Tür zog sie einfach hinter sich zu und marschierte die Treppen nach oben. Sie wollte unbedingt mit Shuichi reden und hoffte, dass er zu Hause war. Nach seinen Erzählungen hatte er morgen eine Klausur und wenn er tatsächlich seine Schichten in der Bar gekürzt hatte, konnte sie Glück haben und er war zu Hause. Und auch wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, Jodie wollte es unbedingt versuchen. Als sie vor seiner Haustür stand, atmete sie tief durch, ehe sie klingelte. Je mehr Zeit verging, desto nervöser wurde sie, aber als die Tür aufging, musste sie lächeln. „Guten Morgen.“ „Jodie“, gab Akai überrascht von sich. „Guten Morgen. Komm doch rein.“ Jodie nickte und trat ein. Sie zog sich die Schuhe aus und sah sich um. „Ist alles in Ordnung?“, wollte Shuichi wissen. „Du hast dich gestern aus dem Krankenhaus nicht mehr gemeldet und ich hab mir Sorgen gemacht. Aber ich wollte nicht aufdringlich sein.“ „Entschuldige“, begann Jodie ruhig. „Es war eine dumme Sache. Liam hat einen Autounfall beobachtet und ist dann vom Fahrrad gefallen, weil er den anderen Gaffern nicht ausweichen konnte. Er dachte, er gewinnt mich zurück, wenn ich mich um ihn kümmern muss. Deswegen war ich über Nacht dort, es ist aber nichts passiert. Ich habe ihm auch klar gemacht, dass das mit uns vorbei ist und…wir konnten uns auch aussprechen. Er wird es nicht erneut versuchen.“ „Verstehe“, entgegnete Akai und brachte Jodie ins Wohnzimmer. „Setz dich, möchtest du was trinken?“ Er nahm die Bücher, die er zum Lernen um sich versammelt hatte, vom Sofa und legte sie auf den Tisch. Jodie setzte sich. „Wasser reicht.“ Sie blickte auf seine Bücher. „Stör ich dich beim Lernen?“ Shuichi ging in die Küche und holte eine Flasche Wasser und zwei Gläser. Er brachte alles ins Wohnzimmer und stellte es auf den Tisch. „Ich hab dir doch gestern schon gesagt, dass ich für die Prüfungen immer gut vorbereitet bin und wenn ich wirklich keine Störungen will, hätte ich dafür gesorgt.“ Jodie nickte verstehend. „Geht es dir gut?“ Shuichi musterte sie. „Du siehst aus, als würde dich etwas bedrücken.“ Shuichi hatte schon immer eine gute Beobachtungsgabe. Wenn er in der Bar arbeitete, konnte er ihr immer viel über die Gäste erzählen, obwohl sie einander nicht kannten. Und jetzt erkannte er sogar hinter ihrem Lächeln, dass ihr irgendwas auf der Seele brannte. „Ehrlich gesagt geht es mir solala. Liam hat mir erzählt, dass er damals eigentlich gar keine Beziehung wollte, aber Sharon – eine Freundin meiner Familie – hat dafür gesorgt, dass er…es doch tat. Sie hatte wohl gute Argumente und letztlich war er auf das Angebot eingegangen. Allerdings hatte er die ganze Zeit Gefühle für mich, auch wenn es mit einer Lüge bei uns anfing.“ „Bist du dir sicher, dass es die Wahrheit ist?“ Akai verschränkte die Arme vor der Brust. „Wäre es nicht auch möglich, dass er dir das gesagt hat, um dich noch einmal zu verletzen?“ Am liebsten hätte Shuichi ihm eine rein gehauen, aber er riss sich zusammen, um nicht direkt nach draußen zu stürmen. Jodie schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm klar gemacht, dass das mit uns endgültig vorbei ist und auch wenn er wütend darüber wäre, ich glaube nicht, dass er mir am Ende noch eins reinwürgen wollte. Wir haben Beide viele Fehler gemacht und jetzt ist es an der Zeit nach vorne zu sehen. Außerdem…habe ich mit Sharon telefoniert und sie hat es zugegeben.“ „Verstehe“, murmelte Shuichi von sich. Das Geständnis würde die Situation verkomplizieren, da war sich der Student sicher. Konnte Jodie überhaupt noch anderen Menschen vertrauen, nach all dem was passiert war? Shuichi runzelte die Stirn. „Was ist mit dir?“ „Mhm?“ Er blickte sie an. „Ich habe mich nur gefragt, wie es dir nach all diesen Offenbarungen geht und…was das für dein weiteres Leben heißt.“ Jodie sah runter auf ihre Hände. „Es ist hart“, antwortete sie. „Mein ganzes Leben hat sich auf einmal geändert. Die Menschen, denen ich vertraut hab, haben mich betrogen. Jetzt muss ich irgendwie damit klar kommen, aber ich möchte mich nicht unterkriegen lassen. Was das für meine Zukunft heißt, weiß ich nicht. Natürlich habe ich mich gefragt, ob alle Freundschaften nur erkauft gewesen sind, aber…wenn ich nur noch so denke...“ Jodie schüttelte den Kopf. „Das würde mir mein Leben nur kaputt machen. Ich möchte nicht alles hinterfragen müssen und daher werde ich nach vorne schauen. Das gleiche gilt auch für meine…künftige Beziehung…“ „Wenn ich ehrlich sein darf, ich bin froh, dass du früh bemerkt hast, dass dir Liam nicht gut tut. Dir steht immer noch alles offen. Du kannst studieren oder arbeiten. Dein Schulabschluss ist noch nicht lange her, deswegen hast du auch gute Chancen. Und…“ Er räusperte sich. „…um noch ehrlicher zu sein, bin ich froh, dass das mit dir und Liam nicht geklappt hat. Ebenso würde es mich freuen, wenn du in London bleibst.“ Jodie errötete. „Ich würde auch…gerne hier bleiben…“, murmelte sie leise. „Ich bin nämlich froh, dass ich dich…kennen gelernt habe und wir…uns…naja…irgendwie näher…gekommen…“ Shuichi schmunzelte und legte seine Hand an ihre Wange. „Das freut mich auch“, sagte er lächelnd, zog ihr Gesicht zu sich und küsste sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)