Kalte Wellen von KiraNear ================================================================================ Kapitel 1: Kalte Wellen ----------------------- Blut. Schweiß. Dreck. Metall. Staub. All das nahmen seine feinen Geschmacksnerven wahr, als er sich mit der Zunge über die spröden Lippen fuhr. Er spürte die leicht verhärteten Stellen, welche bereits zu heilen begonnen hatten. Würde er noch weiter an diesen herumspielen, würden sich die Wunden wieder öffnen und von neuem zu bluten beginnen. Das konnte er jetzt nicht gebrauchen, zumal sich dadurch der Heilungsprozess nur verzögern würde. Ein letztes Mal benetzte er die Lippen mit seiner Zunge, ein wenig Feuchtigkeit würde ihnen ganz guttun, so zumindest war seine Auffassung darüber. Danach sollte er sie am besten ignorieren, auch wenn es ihm im Moment schwerfiel. Dean seufzte, sein Blick wanderte von der Straße zu seinem jüngeren Bruder hinüber. Aus den Lautsprechern lief „Whiskey in the jar“ von Metallica, ein Klassiker, wenn man Dean nach seiner persönlichen Meinung fragen würde. „Hey, alles klar bei dir?“, wollte Dean von seinem Bruder wissen, während er seine Konzentration wieder zurück auf die Straße vor sich schob. Sam dagegen fixierte den Bildschirm seines Tablets, ganz so, als wäre er in die Fänge einer spannenden Game of Thrones Episode geraten. Oder gar in die eines besonderen Hentai… Dean räusperte sich. Dazu kannte er seinen Bruder viel zu gut. Nein, das wären zwei Dinge, die ihn ablenken würden, aber nicht Sam. Sammy interessierte sich nicht für derartige Dinge. Was auch immer es war, es begann Dean bereits jetzt auf die Nerven zu gehen. Es sorgte dafür, dass Sams Ohren für seine Frage nicht empfänglich waren. Oder ob er das gar wissentlich tat? Für Dean spielte es keine Rolle. Das Wohlergehen seines kleinen Bruders würde immer, ohne Ausnahme, an vorderster Stelle stehen. Nicht nur er hatte in der letzten Jagd den einen oder anderen Treffer einkassieren dürfen, auch an Sam hatte der Werwolf seine Pfoten anlegen können, bevor die letzte silberne Kugel sich in das Herz ihres Jagdobjektes gebohrt hatte. Dafür hatte Dean höchstpersönlich gesorgt, mit einer großen Portion Entschlossenheit, einem festen Griff und einer geladenen Waffe. Dean sah wieder zu ihm herüber, noch immer kam von Sam keinerlei Reaktion. Nur seine Augen überflogen den flachen Bildschirm vor ihm, immer wieder und wieder in einer einheitlichen, fast schon taktvollen Bewegung. Genervt blickte Dean wieder zur Straße zurück, als er sah, dass er weder mit Gegenverkehr noch anderen gefährlichen Situationen zu rechnen hatte, beugte sich ein wenig vor und drehte den Regler seines Kassettendecks auf die höchstmöglichste Lautstärke. Wie von ihm erwartet zuckte Sam zusammen, erschrocken sah dieser er das Deck an, dann Dean. „Na, wieder zurück auf unserem Planeten?“, fragte Dean halb amüsiert und drehte die Lautstärke wieder runter. Sam dagegen versuchte sich zu sammeln, dabei fuhr er sich mehrfach durch die Haare. „Was sollte das denn?“, wollte er von Dean wissen, doch dieser blickte weiterhin auf die Straße vor ihrem Wagen. „Wollte nur mal nachsehen, ob alles in Ordnung bei dir ist. Oder ob der Werwolf doch mehr von dir geschüttelt hat als nur deinen Oberkörper“, sagte Dean und überflog Sam mit seinen Augen, als wollte er sichergehen, dass er nichts übersehen hatte. Nun war es Sam, der laut aufseufzte. „Nein, nein, mir geht es gut, ich hab mir nur gerade einen Bericht durchgelesen, das ist alles.“ Eigentlich hätte Sam an dieser Stelle nichts mehr hinzufügen wollen, doch er kannte seinen Bruder genauso gut wie dieser ihn. „Ich wollte mir nur mal die Wetterberichte für diese Gegend ansehen, herausfinden, wie das Wetter in den nächsten Tagen sein wird. Immerhin hat das Haus nur einen Holzkamin und soweit ich gesehen habe, ist unser Vorrat an Feuerholz nicht mehr all zu groß. Wäre ja blöd, wenn uns das Holz ausgehen würde“, erklärte Sam weiter und blickte wieder auf das kleine Tablet in seiner Hand. Dean dagegen beobachtete ihn für ein paar Sekunden, überlegte, ob ihm das als Antwort ausreichend genug war oder nicht, bevor er sich dafür entschied, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Die Straße verlangte seine volle Aufmerksamkeit zurück und diese wollte er ihr nun nicht weiter verwehren. „Also übernachten wir jetzt doch in der Hütte? Dabei meintest du doch, es wäre eine ganz schlechte Idee, warum jetzt also doch?“, begann Dean ein wenig zu sticheln. „Der Wetterbericht, wenn du es ehrlich wissen möchtest“, antwortete Sam trocken. „Anscheinend soll es in der Gegend, in die wir eigentlich fahren wollten, die nächsten Tage ziemlich stürmisch werden. Und nach der Jagd könnte ich ein paar ruhige Tage eher gebrauchen. Zumal es den Werwolf nicht stören wird… denke ich“, fügte er noch schnell hinzu, was Dean ein wenig zum Lächeln brachte. „Der Werwolf ist nur noch ein kleiner Haufen Asche, den wird überhaupt nichts mehr stören, Sammy“, entgegnete Dean und schüttelte lächelnd den Kopf über seinen eigenen Witz. „Da bin ich mir absolut sicher. Außerdem ist die Hütte so gut versteckt, das wird niemand bemerken, wenn wir dort für ein paar Tage drinbleiben. Sonst beschwerst du dich doch immer, wenn wir wieder in eins dieser Billigmotels gehen, das Haus ist wenigstens sauber. Und man sieht nicht den Schimmel in der dritten Generation die Fliesen herunterklettern.“ Sam, der deutlich weniger lächelte als sein Bruder, musste ihm innerlich jedoch zustimmen. „Das Wetter für diese Gegend soll dagegen sehr schön sein, eventuell soll sogar die Sonne herauskommen, dann würde auch der Schnee ein wenig weiter schmelzen“, dabei rieb er sich die Hände.  „Familie, Freunde, all das hatte er nicht, also, nein, keinen, den es weiter stören würde. Es wäre nur schön gewesen, wenn sein geheimer Bunker mit den… menschlichen Vorräten nicht so gut versteckt gewesen wäre. Das hätte uns die Suche danach deutlich vereinfacht‘“, meinte Sam, nur ungern dachte er an die letzten Tage zurück, die er und sein Bruder alles andere als entspannt verbracht hatten. Mit der rechten Hand massierte er sich grob den Nacken, eine Besserung wollte sich jedoch kaum einstellen. „Sieh es doch mal aus seiner Perspektive, Sammy. Wenn dich jeder dabei beobachten kann, wie du deine Langschweine auseinandernimmst wie ein Hotdog – nun, das würde keiner wollen. Hat ihm aber am Ende auch nicht geholfen.“ Sam schüttelte mit dem Kopf, doch er wollte nicht weiter darauf eingehen, dazu hatte er nicht die Nerven. „Wie auch immer“, wechselte Dean das Thema. „Brauchen wir nun Feuerholz oder nicht, was hat dir denn der Wetterbericht dazu gesagt?“ Irritiert über den plötzlichen Themenwechsel, aber auch ein wenig dankbar dafür, sah Sam zu seinem Bruder herüber. „Nein, so wie es aussieht, sind wir für die nächsten zwei-drei Tage versorgt, vier, wenn’s hochkommt. Denke aber mal, sollten wir am Samstag noch hier sein, werden wir die Vorräte aber wieder auffrischen müssen.“ Mit einem kurzen Brummen registrierte Dean die Aussage seines Bruders, erwiderte jedoch nichts darauf. Ein schneller Seitenblick wenige Minuten später verriet ihm, dass Sam wieder in den Tiefen des Internets versunken war, dass auch von seiner Seite aus kein Bedarf nach einem weiteren Gespräch bestand. Dean dagegen blieben nur die Straße vor ihm und die Gedanken in seinem Kopf. Zusammen mit mehreren Klassikern von Metallica, welchen er lauschte, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.   ~   Schmerzen. Übelkeit. Müdigkeit. Ein fauler Geschmack in seinem Mund. All das begrüßte ihn, als er seinen Weg in die Realität gefunden hatte, hinaus aus dem Land der Träume. Kaum hatte er sich mit der linken Hand ein wenig über die Augen gerieben, warf er einen kurzen Blick auf die Uhr. Sie verriet ihm, dass er insgesamt sieben Stunden Schlaf zusammengebracht hatte. Und doch musste er zugeben, dass es ihm gutgetan hatte. Das letzte Bier am Vorabend war wohl doch ein wenig zu viel gewesen. Doch auch das hatte er gebraucht. Das Leben eines Jägers war hart, blutig und unschön, und all das hatte er für ein paar Stunden vergessen wollen. Die Qualen, die er und sein Bruder durchlitten hatten. Die Schmerzen, für die er seine Zähne immer und immer wieder hatte zusammenbeißen müssen, um nur irgendwie durchhalten zu können. Doch dieser Job findet niemals ein Ende. Es ging immer weiter und weiter. Schließlich riss Dean seinen Blick von der Uhr weg und ging zum Fenster hinüber. Er konnte den See erkennen, wie auch die größtenteils unberührte Natur, welche die gesamte Umgebung ausmachte. Im Hintergrund, am anderen Ende des Sees, ragten die Berge in den Himmel und Dean verstand immer mehr und mehr, warum der Werwolf sich hierher zurückgezogen hatte. Bei einem solchen Anblick würde er sich auch hier niederlassen, wenn er die Möglichkeit und das Leben dazu hätte. Doch das hatte er beides nicht und so nutzte er die Gelegenheit so gut er konnte aus. Er konnte nicht sagen, wann er wieder eine solche angenehme Erholungsphase bekommen würde, überhaupt nichts in seinem Leben war beständig genug oder normal, um das sagen zu können. Sein Blick wanderte vom Berg wieder zurück zum See und dort fiel ihm eine Bewegung auf. Jemand stand auf dem Steg und schien sich zu strecken. Mal in die eine, mal in die andere Richtung. Es brauchte ein paar Sekunden, bis Dean erkannte, dass es sich bei der Person um Sam handelte. „Ach, Sammy, schon so früh aktiv“, murmelte Dean in seinen Dreitagebart hinein, bevor er in Richtung Küche schlich, um sich einen Kaffee zu machen.   Zehn Minuten später verließ Dean, mit einer vollen Tasse Kaffee in der Hand, das Haus und ging auf den Steg zu. Wenige Meter von Sam entfernt, setzte er sich auf einen Holzstuhl und beobachtete seinen Bruder dabei, wie er seine letzten Streckübungen startete. „Oh, bist du auch schon wach, Dornröschen?“, sagte Sam, kaum hatte er Dean in dem Holzstuhl entdeckt. Als Reaktion gab Dean nur ein entnervtes Grunzen von sich. „Warum machst du eigentlich schon am frühen Morgen Gymnastik? Ist dir das Joggen etwa zu blöd geworden?“, fragte er nach ein paar Sekunden und nippte an seiner Tasse. Sam blickte erneut zu ihm herüber und musste nun ein Grinsen unterdrücken. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dich mal jemand ‚Best Grandma‘ genannt hätte“, neckte er Dean im Gegenzug, woraufhin dieser mit den Augen rollte. „Das war halt die Tasse, die im Schrank ganz vorne stand“, sagte er peinlich berührt und bereute es, sich die Tasse vor dem Herausnehmen nicht näher angesehen zu haben. Gleichzeitig fragte er sich, warum der Werwolf ausgerechnet eine solche Tasse in seinem Besitz hatte. Lange konnte er jedoch nicht darüber nachdenken, da Sam ihn in seinen Gedanken unterbrach. „Abgesehen davon, ich mache hier keine Gymnastik. Ich wärme mich auf, wenn du es genau wissen möchtest. Sich vor dem Sport aufzuwärmen, ist wichtig, damit das Blut besser durch meine Adern fließt und meine Muskeln flexibler sind. Vielleicht sollten wir das vor unserer nächsten Jagd auch machen, damit wir nicht immer diese lästigen Muskelkater bekommen“, sagte Sam mit einem Lächeln auf den Lippen. Dean dagegen schüttelte nur seinen Kopf, bevor er einen weiteren Schluck aus der Tasse nahm. „Und auf welchen Sport bereitest du dich vor?“, wollte Dean von seinem Bruder wissen. Doch dieser ließ ihn im Dunkeln. „Das wirst du gleich zu sehen bekommen. Ich könnte dich natürlich fragen, ob du mitmachen möchtest, aber ich kenne deine Antwort bereits.“ Neugierig hob Dean eine Augenbraue. Was auch immer sein Bruder da vorhatte, es war zwar eine sportliche Aktivität, aber dennoch kitzelte es seine Neugierde. Nicht genug, damit es ihn motivierte, es Sam gleichzutun, nein, er wollte lediglich wissen, was sein Bruder in diesem Augenblick plante. Und dann tat Sam etwas, mit dem Dean nicht gerechnet hatte. Er hatte erwartet, dass dieser anfangen würde zu laufen; oder mit einer dieser „oberpeinlichen Yogaübungen“, wie Dean sie vor kurzem erst kommentiert hatte. Oder dass Sam von irgendwo her irgendwelche Gewichte herbeizaubern würde. Doch dass sein Bruder sich bis auf die Unterhose ausziehen würde, damit hatte Dean nicht gerechnet. „Sam, geht es dir gut? Ich muss mir jetzt aber keine Sorgen um dich machen, oder?“, fragte er seinen kleinen Bruder ein wenig irritiert. Er ließ einen kurzen Blick über die Umgebung schweifen, überall lag noch Schnee herum, der erst begonnen hatte zu schmelzen. In kleinen Schritten machte der Winter dem Frühling Platz und es gab noch genug sichtbare Beweise dafür. Allein bei dem Gedanken an die Temperatur im Wasser schüttelte es Dean und er kämpfte gegen den Drang an, seine Hände durch Reiben aufzuwärmen. „Ja, mir geht es gut, Dean. Mach dir keine Sorgen.“, sagte Sam, bevor er sich umdrehte zum See umdrehte. Dean stand von seinem alten Stuhl auf und ging ein paar Schritte auf Sam zu, kurz bereute er es, keine Wette vorgeschlagen zu haben. Ob Sam bei diesen Temperaturen es wirklich wagen würde, jetzt am frühen Morgen ins Wasser zu springen?   Wenige Sekunden später wurde ihm bewusst: Diese Wette hätte er glasklar verloren. Sam ließ mehrfach seine Schultern kreisen, lockerte seine Muskeln und nahm mehrere tiefe Atemzüge. Er ging zwei Schritte zurück und für einen Herzschlag dachte Dean, dass Sam es sich noch einmal anders überlegt hätte. Dass er einen spontanen Rückzieher machen würde. Doch dann begann Sam zu laufen, in einer eleganten, fast schon fließenden Bewegung machte er einen Satz nach vorne und sprang mit seinen ausgestreckten Armen hinein in das erfrischende Seewasser. Sofort tauchte sein Kopf auf und Dean wollte sich die Schmerzen, die sein Körper überall spüren musste, nur ungern vorstellen. Er warf einen Blick auf Sams Gesicht, als dieser sich kurz zu ihm umdrehte. Dass Sam nicht eine Miene verzogen hatte, verwirrte Dean und frustrierte ihn auch ein wenig. Gleichzeitig bewunderte er seinen Bruder dafür. „Bleib aber nicht zu lange drin, sonst muss ich dich noch in einem Eisblock herausholen und vor dem Kamin auftauen lassen“, sagte Dean halb zum Spaß, während Sam sich umdrehte und begann, zur anderen Seite des Ufers hinüberzuschwimmen. Dean, der abgesehen von seiner halbvollen Tasse Kaffee und dem Zusehen seines Bruders beim Morgensport nichts Besseres zu tun hatte, lehnte sich an das einseitige Geländer des Stegs und nahm die Gegend in tieferen Augenschein. Es gab keinen besonderen Anreiz dazu, hier agierte lediglich die reine Gewohnheit aus ihm. Sie mussten so oft, so viel auf der Hut sein, dass Dean gar nicht anders konnte, als die Umgebung nach möglichen potenziellen Gefahren abzuscannen. Vor allem jetzt, wo sich sein Bruder fast nackt im Wasser befand und damit sämtlichen Dingen schutzlos ausgeliefert war. Doch was auch immer Deans Unterbewusstsein zu finden versuchte, es wurde zu seiner Zufriedenheit nicht fündig. Kein Monster, dass sich ihnen unheilvoll näherte. Kein Crowley, der ihnen irgendwelche krummen Dinger andrehen wollen würde. Und auch kein Castiel, der Sams Aktion noch weniger verstehen würde als er selbst. Im Grunde bekam Dean nichts zu sehen, außer Bäumen, Sträuchern, Schnee und hier und da einzelne Flecken Gras. Das einzige Lebendige, dass sich neben den beiden hier befand, waren einzelne Vögel auf Nahrungssuche. Dean hätte sie nicht benennen können, doch das kümmerte ihn nicht. Er hatte noch nie von Dämonen gehört, die sich einen kleinen Vogel als Wirt ausgesucht hätten und lachte ein wenig über seinen dummen Gedanken. Auf der anderen Seite … Dean nahm seinen letzten Schluck aus der Tasse und stellte sie auf dem Geländer ab. Wenn er schon auf solch absurde Gedankenspiele kam, dann hatte er eindeutig zu viel Schlaf genossen, lautete seine Schlussfolgerung. Mit ein paar letzten Blicken durchkämmte er optisch die Umgebung, doch noch immer konnte er nichts verdächtiges ausfindig machen. Nicht, dass er etwas finden wollte. Er genoss die Ruhe und doch kam er nicht umher, sich um Sams und irgendwo auch seine Sicherheit zu sorgen. Stets auf der Hut sein, niemals unachtsam sein. Das hatte ihm sein Vater gelehrt und es prägte Dean bis zum heutigen Tag. Er würde immer der größere Bruder sein und seine Rolle perfekt ausspielen, zu jeder Uhrzeit, jeder Tageszeit.   Sam dagegen ahnte nichts von Deans Beobachtungen oder seinen Gedankengängen, er war auf andere, wichtigere Dinge fokussiert. Auf eine regelmäßige Atemtechnik, präzise Schwimmbewegungen und darauf, dass er sich beim Schwimmen nicht versehentlich in eine falsche Richtung bewegte. Das Wasser war kalt, sehr kalt sogar, doch nach ein paar Schrecksekunden hatte sein Körper sich bereits daran gewöhnt. Der Hechtsprung hatte ihm dabei geholfen, wäre er nur stückchenweise ins Wasser gegangen, hätte er riskiert, dass er es sich noch einmal anders überlegt hätte. Doch genau das wollte Sam nicht. Er wollte das hier und es fiel ihm auch nicht mehr so schwer wie in den ersten Momenten. Für einen kurzen Zeitraum war die Welt friedlich, rein und klein. Er musste auf nichts achten, nur auf seinen Körper und das kalte Wasser. Schwimmzug für Schwimmzug erfasste er die Natur mit all seinen Sinnen, nahm sie mit seinen Augen, seinen Ohren, seiner Haut wahr. Es ist lange her, dass er sich zum Winterschwimmen aufraffen konnte, doch es fühlte sich genauso gut an wie damals. Als die Welt noch in Ordnung war. Als er noch ein einfacher Collegestudent war und seine Freundin Jessica ihm die Freuden und Vorteile des Winterschwimmens nähergebracht hatte… Hätte er sich in einer anderen Situation befunden, hätte er kurz innegehalten und über die Vergangenheit nachgedacht. Sich zum wiederholten Male gefragt, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, hätte sein Bruder ihn nicht wieder in das Leben eines Jägers hineingezogen. Wenn sein Vater nicht verschwunden wäre. Oder wenn Dean ihn alleine gesucht hätte. Doch das war jetzt nicht möglich. Er durfte nicht nachlassen, dazu war die Temperatur des Wassers viel zu niedrig. Zumal er sich auch nicht zu lange darin aufhalten sollte, etwas, vor dem Jessica ihn immer gewarnt hatte. Aus diesem Grund schwamm er weiter, blieb nicht auf der Stelle stehen, sondern immer weiter und weiter. Einen Schwimmzug nach dem anderen. Und nach wenigen Sekunden hatte er all das, worüber er sich Gedanken gemacht hätte, bereits wieder vergessen. Stattdessen schwamm er seine letzten Bahnen, bevor er sich auf den Rückweg zum Steg machte.   Auf welchem Dean bereits auf ihn wartete. Sam sah die Hand, die sein Bruder ihm entgegenstreckte und nahm sie dankbar an. Mit einem kräftigen Ruck zog Dean ihn aus dem Wasser heraus und nahm dann wenige Schritte Abstand. Reichte Sam das Handtuch, welches dieser wohl bereits zuvor am Geländer bereitgelegt hatte und beobachtete seinen Bruder dabei, wie dieser sich von oben bis unten trockenrubbelte. „Na, du kleine Eismeerjungfrau, hast du genug vom Schwimmen?“, neckte er Sam ein wenig und dieser blickte ihn nur leicht genervt an. „Mach du nur deine Witze, das prallt an mir ab“, entgegnete Sam und legte sich das Handtuch auf den Kopf. „Im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens etwas für meine Gesundheit getan. Aber ich schätze, ich kann schon froh genug sein, dass du ein wenig länger geschlafen hast als sonst. Du weißt, ich ehre deinen Enthusiasmus, aber nur vier Stunden pro Nacht … irgendwann wird sich das rächen.“ Dean winkte Sams Bemerkung hab, sie hatten dieses Gespräch oft genug geführt und er hatte keine Lust, dass die Schallplatte sich erneut zu drehen begann. Sie beide wussten ganz genau, wie der Verlauf des Gesprächs sein würde und auch, welches Ende es nehmen würde. Sam, dem das ebenso bewusst war, atmete so tief er konnte ein und konzentrierte sich lieber darauf, die letzten Wassertropfen aus seinen Haaren zu drücken. Anschließend breitete er das Handtuch auf dem Geländer aus, damit es trocknen konnte und sah wieder zu Dean hinüber. „Wenn du es genau wissen möchtest, Winterschwimmen ist, so seltsam es auch klingen mag, sehr gesund. Wenn man es nicht zu lange macht. Man stärkt damit sein Immunsystem und als Jäger kann ich es mir nicht erlauben, während einer Jagd krank zu werden. Außerdem hilft es der Durchblutung der Muskulatur und es setzt sowohl Adrenalin, also auch Endorphine frei. Daher kannst du mich so viel necken, wie du willst – ich bin zu glücklich, um mich wirklich darüber ärgern zu können.“ Dabei begann Sam zu lächeln und Dean erkannte, dass es ein aufrichtiges Lächeln war. Wie lange ist es her, dass er seinen Bruder so gesehen hat? Dean konnte es nicht mehr sagen. „Ok, mein kleines Glücksbärchi, dann solltest du lieber dafür sorgen, dass du in warme Klamotten hineinschlüpfst, denn sonst hast du dein Immunsystem vollkommen umsonst trainiert“, sagte er zu Sam und klopfte ihm ein wenig auf die Schulter. „Danach fahren wir zu diesem Diner, das wir vorgestern gesehen haben und gönnen uns dort ein leckeres Frühstück. Einen Super Slam, komm schon, der ist der Kracher!“, sagte Dean begeistert und Sam konnte ihm die Vorfreude in den Augen ablesen. Kurz überlegte er, ob er Dean nicht doch einen kleinen Vortrag halten sollte, dass eine große Anhäufung von Fleisch und Käse zwischen zwei Brötchenhälften alles andere als gesund war. Besonders nach seiner kurzen Erläuterung darüber, wie gut das kurze Winterschwimmen für seinen Körper ist. Doch dazu war die Stimmung zwischen ihnen viel zu gut. Er wusste, dass Dean jegliche unangenehme Themen vermied und er wollte ihnen beiden nicht jetzt schon den Rest des Tages versauen. Dann ging er gedanklich das Angebot des Diners durch und meinte sich daran erinnern zu können, dass sie auch diverse Sorten von Porridge-Schalen im Angebot hatte, wie auch Salate. Sam würde also nicht hungrig daneben sitzen und zusehen müssen, wie Dean einen übertrieben großen, ungesunden Burger in sich hineinstopfte. „Ja, Dean, lass uns das machen. Das klingt nach einer guten Idee“, sagte Sam nach einer kurzen Zeit des Schweigens und lächelte seinen Bruder an. „Doch vorher muss ich mir dringend etwas anziehen.“ Mit diesen Worten schnappte er sich seine fein säuberlich zusammengelegten Klamotten und rannte den Steg entlang zum Haus zurück. Dean warf einen letzten Blick zurück auf den See. Das Wasser war ruhig und nur noch die nassen Fußspuren auf den hölzernen Brettern verrieten, dass wenige Minuten zuvor noch jemand im See geschwommen war. Dann blickte Dean auf die andere Uferseite und sah … einen Fuchs? Dieser schien ein kleines Tier im Maul zu tragen und ließ sich am See nieder, um sein kleines Festmahl zu genießen. Dean nickte ihm kurz zu, auch, wenn der Fuchs das weder verstehen noch sehen konnte. „Ja, du machst es richtig, Kumpel. Frühstück ist wichtig“, sagte er und folgte seinem kleinen Bruder ins Haus zurück.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)