Die Gefühle, über die wir nicht reden von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 19: Mario ----------------- Kurz vor elf schlängelte ich mich im S-Bahnhof an den Leuten vorbei. Da vorn erblickte ich endlich Sandros hellblonden Schopf. Er schaute in meine Richtung, trug seine Lederjacke, und mir lief ein Schauer über den Rücken. Seine qualmende Zigarette verhinderte meinen Begrüßungskuss. „Hey. Gut geschlafen?“, begrüßte er mich. „Bestens.“ Ich fragte nicht, was in diesem schwarzen Rucksack war, den er sich über die Schulter gehängt hatte. Auf einen Kurztrip mit Übernachtung war ich jedenfalls nicht vorbereitet. Keinen Plan, was er überhaupt mit mir vorhatte, er hatte nichts verraten. Die S-Bahn fuhr ein und wir stiegen zusammen mit dem Pulk von Leuten ein. Die ersten paar Stationen war sie übervoll, danach ergatterten wir einen Viererplatz für uns alleine. Sandro schaute von seinem Fensterplatz aus gedankenverloren auf die Gegend, die an uns vorbeizog. Seine Miene verfinsterte sich merklich, tiefe Gruben entstanden um seine Brauen herum und verunstalteten dieses wunderschöne Gesicht. Irgendwann hielt ich die Spannung nicht mehr aus. „Darf ich endlich mal erfahren, wo es hingeht?“ Nun wandte er sich mir zu, als wäre ihm meine Gegenwart erst jetzt wieder eingefallen. „Wir gehen Mario besuchen.“ „Was? Wen?“ Ich runzelte die Stirn, tausende Gedanken formten sich in meinem Kopf. Anstatt es zu erklären, zog er seinen linken Ärmel hoch bis zum Ellbogen und hielt mir seinen Arm hin. Eingehend betrachtete ich die Tätowierung, die fast seinen kompletten Unterarm bedeckte: Eine E-Gitarre, ihr Kopf zeigte Richtung Handgelenk. Um den gesamten Gitarrenkörper hatte sich eine Schlange gewickelt, all ihre Schuppen hatte der Tätowierer gekonnt in Szene gesetzt, sie wirkte so lebensecht, als risse wirklich ihr Maul auf und zeige spitze Zähne und eine gespaltene Zunge. „Ein Tätowierer, der wirklich etwas von seinem Handwerk versteht“, erklärte Sandro nicht ohne Stolz. Denn die Tätowierung kaschierte ziemlich gut diese tiefe Narbe, doch nun da ich sie ertastet hatte, sah ich sie auch. Auf dem Körper der Gitarre stand etwas geschrieben in verschnörkelten Lettern. „Mario“, las ich halblaut vor, und die römischen Ziffern darunter. „Das steht für eine Jahreszahl.“ „Okay. Kein Plan, was du mir damit sagen willst, da war ich erst zwölf Jahre alt. Warum eigentlich eine Schlange?“ „Na, weil sie mein Lieblingstier ist. Das Symbol der Befreiung der Menschheit aus der Sklaverei Gottes…Was gibt es da zu lachen?“ „Du meinst, bei dieser Vertreibung aus dem Garten Eden, die in der Bibel steht?“ Mir fiel das Gespräch mit David wieder ein. Oje, was er dazu wohl sagen würde… „Alles eine Frage des Blickwinkels.“ „Interessant…die Schlange als Teufel soll sie vor Gott gerettet haben?“ „Gott darf doch bloß als billige Ausrede herhalten, um Menschen zu diskriminieren und Lust zu beschneiden, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber wir verlieren uns in Details.“ „Nächster Halt: Laubheim Westbahnhof. Dieser Zug endet hier. Bitte alle Fahrgäste aussteigen“, verkündete die Durchsage. ~ Nachdem wir an der Endstation ausgestiegen waren, am südwestlichen Stadtrand, schwante mir nichts Gutes, als ich ihn bereits die nächste Zigarette anzünden sah, kaum dass er festen Boden unter den Füßen hatte. Der Himmel ließ sogar die Sonne da und dort hervor blitzen, keine Spur mehr von Schnee. Sandro anzusprechen vermied ich, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, jede meiner Gehirnzellen schrie nur: Wer zur Hölle ist Mario, und wieso sollte ich zu ihm mit? „Warst du hier schon mal?“ „Noch nie.“ „Hast du auch nichts verpasst. Hier bin ich aufgewachsen“, verriet er mir ganz nebenbei. Das war mal eine Information, die ich sacken lassen musste. Sandro eilte zielbewusst voran, ich hatte etwas Mühe, mit ihm Schritt zu halten, wollte mich doch hier umschauen. Fast dörflich war es hier. Da vorne sah ich einen Kirchturm aufragen. Nicht viel später standen wir vor einer Friedhofspforte. Die gusseiserne Pforte mutete fast märchenhaft an. Unheilverkündend quietschte sie, als Sandro sie öffnete und mir aufhielt. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Park, kurz gemäht, Kieselsteine auf den Wegen, friedlich und ruhig. Die Hände steckte Sandro in die Jackentaschen, ich folgte ihm den Hauptweg entlang, dann bogen wir links ab, gingen an Grabsteinen vorbei. Sandro blieb stehen vor einer schlichten schwarzen Grabplatte, ein frischer Blumenstrauß befand sich darauf, mit Chrysanthemen, weißen Nelken und roten Rosen. Außerdem ein buntes Spielzeugauto, das mich schlucken ließ. Ich las die goldene Grabinschrift, die noch so neu und glänzend war und nicht alt wie bei den beiden anderen: Mario Zacharias Schwarzer. Sein Todestag war heute, vor sieben Jahren. Er war nicht mal zwanzig Jahre alt geworden! Die Hände vor dem Schritt gefaltet und den Kopf gesenkt, stand Sandro am Grab, die Miene so ernst, dass mir fröstelte und es war makaber, wie passend er sich in seiner schwarzen Kluft hier einfügte. „Die Kerze ist ausgegangen“, murrte er, bückte sich zu dem auf der Grabplatte befestigen Windlicht, dessen Tür er öffnete, um das Grablicht heraus zu nehmen. Sein Feuerzeug klickte er, nochmal und nochmal, doch bei jedem seiner Versuche kam nichts anderes heraus als Funken. Entweder war das Feuerzeug vom vielen Zigaretten anzünden leer geworden, oder vielleicht war auch der Wind zu stark, Sandro versuchte es jedoch immer weiter, und ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie er dabei zitterte und schon zu fluchen begann. Also griff ich beherzt ein und hielt meine Hände schützend um die Flamme, was bewirkte, dass der Docht wieder entzündet werden konnte. Die brennende Kerze, deren Docht um ihr Leben kämpfte, stellte er in das schützende Windlicht zurück und schnaufte. „Gehen wir. Ich hasse es sowieso, hierher zu kommen, jedes Jahr aufs Neue.“ Damit kehrte er dem Grab den Rücken. „War Mario dein Bruder?“, fragte ich vorsichtig, als wir uns ein Stück davon entfernt hatten und den Kiesweg entlang schlenderten, der unter unseren Schuhen knirschte. „Mein Zwillingsbruder.“ „Oh. Shit. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll…“ Die Kehle schnürte es mir zu! Den einzigen Todesfall, den ich in der Familie hautnah miterlebt hatte, war mein Goldhamster gewesen, da war ich im Grundschulalter gewesen. Was qualifizierte mich, ihn heute hierher zu begleiten? Kaum erfüllte er mir meinen Wunsch, mehr über ihn zu erfahren, überforderte er mich bereits. Das war doch zum Heulen. Sandro steuerte die Sitzbank unter der Weide an, und ließ sich darauf nieder. Den Rucksack legte er neben sich ab. Das verwelkte Ahornblatt auf der Holzbank nahm ich in die Hand und setzte mich neben ihn. „Inwiefern hängt das jetzt zusammen? Sein Tod und deine Narbe? Wie ist er gestorben, warst du da dabei und hast daher diese Narbe?“, fragte ich, während ich die Blattstrukturen und Äderchen erfühlte, die knisterten und mir unter den Fingern davon rieselten. Vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, beobachtete Sandro den hinkenden grauen Dackel, der freudig auf ihn zulief und an seinem Hosenbein schnüffelte. Er streckte die Finger aus, um den Hund die buschigen Ohren zu kraulen. „Na, na, Werther, lass die Leute in Ruhe!“, tadelte ihn sein Frauchen, eine alte Dame von Kopf bis Fuß in Beige gekleidet, die Haare auberginefarben gefärbt. Energisch zerrte sie an der Leine. Über Sandros Lippen huschte ein Grinsen. „Erkennen Sie mich nicht wieder, Frau Weiß?“ Die alte Frau rückte jetzt ihre Brille zurecht, und es dauerte einen Moment, bis der Groschen fiel: „Ja wirklich. Jetzt wo du es sagst – Schwarzer; der Sandro, nicht wahr? Lange nicht gesehen! Ach, so tragisch, das mit deinem Bruder, er war so jung…“ Sandro nickte stumm, der Hund leckte ihm die Finger ab, mich würdigte er keines Blickes. „Den Kleinen habe ich neulich gesehen, der ist ja schon so groß! Was für ein Glück im Unglück. Also, solche Geschichten, die kann man sich nicht ausdenken!“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte. „Wie geht es deinem Vater?“ „Gut…er lebt sich im Heim ein.“ „Na dann. Grüß mir die Familie, ja? Morgen ist Winteranfang, der einundzwanzigste Dezember. Wintersonnwende. Da werden die Tage wieder länger, ist auch besser fürs Gemüt, als diese ewig langen Winterabende, die sind ja nicht auszuhalten.“ Ich schaute dem Hund und seinem Frauchen hinterher, bis sie zur Pforte nach draußen verschwunden waren. Lauschte dabei dem Krächzen der Krähen im Baum, wartete darauf, dass Sandro meine Frage beantwortete, aber vielleicht brauchte er noch ein bisschen Zeit dafür. Ein Eichhörnchen kletterte flink den Stamm der Eiche hinauf. Ein wirklich schöner Ort. Sandro zündet sich eine Kippe an, diesmal klappte es auf Anhieb. „Du musst wissen… Mario war das absolute Gegenteil von mir: bei allen beliebt, so positiv von seiner Ausstrahlung her, ein wahrer Sonnenmensch, und immer der furchtlose Draufgänger. Und er hat Rap gehört. Während ich ein richtiger Schisser war und mich vor allem versteckt habe, gab es nichts, vor dem er sich gefürchtet hätte. Ehrlich, er war der Beste in seinem Sportverein, so gut, dass man ihm geraten hat, eine Profikarriere zu starten, aber Vater war dagegen. Er solle lieber solide Lehre machen und sich solche Träumereien aus dem Kopf schlagen. Weil er es Vater recht machen wollte, hat er auf ihn gehört. Lieber Lob von Vater, als von irgendeinem Trainer. Ich hätte ja anders gehandelt.“ Ich schüttelte nur den Kopf, während ich das zerfallende Blatt glatt zu streichen versuchte, was nur dazu führte, dass es in kleine Bestandteile zerfiel. „Mario war auch wirklich begabt als Elektriker, und später wollte er sich selbstständig machen mit einem Handwerksbetrieb. Er ist auch bis heute Vaters Liebling geblieben. Und das, obwohl er sich so viel Bockmist geleistet hat: Schlägereien, Schulden, Ärger mit der Polizei, dauernd andere Mädchen, aber Vater hat darüber hinweggesehen. Und ich… Ich war laut meinem Vater immer das schwarze Schaf, das sich als was Besseres fühlt, weil ich ein Studium begonnen habe.“ Nun wurde mir einiges klarer. Ich schaute ihn an, sein Profil, meine Augen verfolgten abermals die Linie oben von seinem Haaransatz bis hinab zu seinem Hals. Er war so ungelogen attraktiv, bestimmt auch schon damals, als Heranwachsender. „Tja. Dafür bist du aber am Leben. Man kann nun mal nicht alles haben.“ „Ja, da ist was dran. Erkenne ich jetzt auch, im Nachhinein. Aber erkläre das mal meinem damaligen Ich, dem Philosophiestudenten mit langen Haaren und ohne Ziel im Leben.“ Er fing meinen Blick auf, betrachtete mich eine ganze Weile und ich versuchte ihn mir als langhaarigen Studenten vorzustellen. Es gelang mir nicht. „Hast du als Student auch schon geraucht?“ Er schnaubte. „In dieser Zeit habe ich damit angefangen, ja.“ „Weil du in der Pause bei den coolen Kids stehen wolltest?“, neckte ich ihn. „Eher deswegen, weil mich ein Lover damals auf den Geschmack gebracht hat.“ „Willst du eigentlich nicht mit Rauchen aufhören?“ Er schüttelte den Kopf. „Niemals. Wer nicht raucht, ist selber schuld.“ „Aha“, machte ich nur und dann schwiegen wir uns an. Bis er weiter erzählte: „Auf der glatten Straße hat Mario eine Kurve nicht gekriegt, hat sich mit dem Mofa überschlagen und ist im Graben gelandet, war dann gleich an der Unfallstelle tot.“ „Mein Gott…“ „Er ist an dem Abend von seiner Freundin nach Hause gefahren, war sehr aufgewühlt, hat sie mir später erzählt. Vielleicht auch Ex-Freundin, er hat dauernd eine Neue gehabt.“ Sandro fixierte einen imaginären Punkt und war im Geiste ganz weit weg von mir. Das Blatt hielt ich am Stiel, gegen die Sonne. Sie schimmerte durch die Löcher und erhellte die Strukturen, als wäre es hauchdünnes Pergament. Ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Aber was sollte ich sagen? Lieber nichts, als etwas Unpassendes. „Und ich, ich war wie immer zuhause. Wir haben beide noch zuhause gewohnt zu der Zeit, er wollte nach dem Ende seiner Ausbildung ausziehen. Und obwohl wir Tür an Tür im selben Haus lebten, haben wir kaum noch miteinander geredet. Dass ich das Gymnasium besucht habe, aber er auf der Hauptschule geblieben ist, hat einen Keil zwischen uns getrieben. Ich weiß nur, was seine Lieblingsmusik war, weil ich sie durch die Wand gehört habe, und dann habe ich meine eigene Musik laut aufgedreht, weil ich seinen Gangster-Rap nicht abkonnte.“ Das entlockte mir ein Lächeln, als ich mir das vorstellte, ein Teenie-Sandro, der seinen Bruder mit Death-Metal übertönte. „Ich bin ein echt beschissener Bruder gewesen, das wurde mir im Nachhinein klar, denn ich wusste nicht, womit er sich so rumschlug. Ich war… irgendwie auch leicht sauer auf ihn, weil ihm immer alles quasi in den Schoß gefallen ist, während mich das Studium so enttäuscht hat. Naja, und weil ich immer weniger leugnen konnte, dass ich auf Jungs stehe, wieder etwas, worin ich mich von ihm unterschied.“ Er machte eine Pause, in der er an der Zigarette zog. „Und dann war sein Unfall, so kurz vor Weihnachten. Ich kann mich kaum an die Zeit von Dezember bis August erinnern, es war wie eine einzige endlos lange, eklige Woche, ein wahrgewordener Alptraum“, sagte er leise. „Mein Leben war von heute auf morgen auf Eis gelegt, ich konnte mich nicht mal mehr aufraffen, zur Uni gehen, obwohl Vater mir angedroht hat, mich dorthin zu prügeln. Hat er aber nicht“, beruhigte er mich schnell als er meinen Blick sah. „Der August war dann ganz bitter. Wie hätte ich meinen zwanzigsten Geburtstag feiern können, während Mario für immer Neunzehn bleiben würde?“ Ich biss mir auf die Lippen, weil ich bemerkte, wie mir die Tränen kamen. „Ich habe also Ernst gemacht, als ich allein zuhause war. Mit einer Rasierklinge.“ Stumm fuhr er mit dem rechten Zeigefinger seinen linken Unterarm entlang und ich schluckte. „Ausgerechnet Vater musste mich so auffinden, er kam früher zurück als geplant.“ „Oh nein“, presste ich hervor. „Bis heute hält er mir vor, dass ich sogar zum Selbstmord zu dumm bin. Aber ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn er nicht eingegriffen hätte.“ „Das ist grausam…!“, rief ich empört aus. Siegfried Schwarzer sank in diesem Moment sehr tief in meiner Anerkennung. Wie hatte er seinen Sohn bloß behandelt! Nun perlten mir wirklich die Tränen aus den Augenwinkeln und ganz schnell wischte ich sie weg. Sandro war so voller Trauer und Verzweiflung gewesen, dass er sein junges Leben hatte wegschmeißen wollen! Die Band hätte es somit nie gegeben und ich hätte ihn niemals kennengelernt! Sein Gesicht sah ich nur noch durch einen Tränenschleier. „Sandro… ich bin froh, dass du mir das anvertraut hast. Die Band ist jetzt also dein Lichtblick sozusagen?“ Er schnaubte. „Ich habe einen Lichtblick, aber das ist nicht die Band.“ „Sondern?“ Ein breites Grinsten huschte über sein Gesicht. „Der Kleine. Mein Neffe, Kevin. Er geht jetzt schon in die zweite Klasse, das ist so krass. Kevin ist eine echte Naturkatastrophe, sozusagen, eine Verhütungspanne.“ „Was?! Mario hat einen Sohn?! In diesem Alter!“, rief ich aus. Neunzehn! So alt wie ich! „Allerdings. Er macht Vater noch im Tod stolz. Typisch Mario. Den Unfall hat er wohl nur gebaut, weil seine Freundin ihn an diesem Tag gestanden hat, dass sie von ihm schwanger ist. Was er natürlich nicht so toll fand damals.“ „Onkel Sandro“, murmelte ich. „Ja. Wenn Kevin sagt, Onkel Sandro, erzähl mir was von Papa… tja. Sein Vater ist mit Neunzehn gestorben ohne ihn je zu sehen. Was soll das für ein Leben gewesen sein? Es wäre sogar heute viel zu früh für ihn!“ „Ja. Es ist echt nicht fair.“ „Er fehlt einfach so sehr. Uns allen.“ „Wie ist dein Neffe so? Ist er Mario ähnlich?“ „Nicht wirklich. Er ist sehr schüchtern bei Fremden. Allgemein still, zurückhaltend, verträumt. Er spielt auch nicht mit klassischem Jungs-Spielzeug. Jetzt zu Weihnachten wünscht er sich zum Beispiel eine Barbie!“ Da musste ich loslachen. „Oh je, dir wäre eine Gitarre wohl lieber?“ „Die hat er ja schon, so eine Kindergitarre. Aber er interessiert sich nicht mehr dafür. Aktuell ist Mädchenkram bei ihm mehr angesagt.“ „Uff…Naja, wieso nicht? Wir schreiben das einundzwanzigste Jahrhundert, oder?“ „Weißt du, gestern hat mich Vater gefragt, was sich sein Enkel zu Weihnachten wünscht. Da durfte ich mir was anhören: Dass er nicht will, dass sein Enkel so eine verweichlichte Schwuchtel wird, Mario würde sich im Grabe umdrehen, und so weiter.“ „Das hat er gesagt?“ Ich staunte immer wieder, wie Siegfried Schwarzer solche Sätze formulierte. Oder was Sandro aus seinem Gebrabbel und Gewinsel heraushören konnte. „Und ich bin innerlich geplatzt! Zu mir soll er doch sagen, was er will! Aber ich lass nicht zu, dass er es zu meinem Neffen sagt!“ „Da hast du dich gestern dann spontan vor deinem Vater geoutet?!“ „Ich habe ihm unter die Nase gerieben, dass sein noch lebender Sohn eine Schwuchtel ist, damit er es endlich mal weiß. Weil alle es wissen, außer ihm, aber ich es so satt habe, noch länger ein Geheimnis daraus zu machen. Dass er ein beschissener Vater war. Und dass Kevin seine Barbie kriegt, wenn er sie sich wünscht, Punkt. Und mich seine Meinung dazu einen Scheiß interessiert. Er kann mich kreuzweise. Und dann bin ich gegangen.“ Er nahm seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und steckte sich eine neue Kippe an. Gierig zog er daran. „Respekt“, sagte ich. Sowas musste man sich auch erst mal trauen. „Kommst du gut mit Kevins Mutter aus?“ Den Rauch pustete er aus. „Naja, wir hatten unsere Differenzen. Mussten uns aneinander gewöhnen, sie ist komplett anders als ich... Kennst du diese schrecklichen Realityshows im Nachmittagsfernsehen?“ „Äh, ich hab mal in die ein oder andere reingeschaut.“ „Daran hat mich ihre ganz Art erinnert. Marios Frauengeschmack war schon sehr eigenartig. Keine Ahnung, wie er heute ticken würde. Ob er doch Bock auf Abi und Studium bekommen hätte nach seiner Ausbildung... Wie er seinen Sohn erzogen hätte und ob das unser Verhältnis verbessert hätte… Ich stell mir so viele Fragen und krieg niemals eine Antwort darauf!“ „Ja, das gehört wohl beim Tod einfach mit dazu...“ „Hast du auch jemanden verloren, Dominique?“ „Noch niemanden, der so eng mit mir verwandt ist. Bloß jemanden aus dem Altenheim, der für mich wie ein Opa war.“ „Stimmt, ich erinnere mich, das hast du in dieses Buch geschrieben, das dort ausliegt.“ „Das Buch? Du hast meinen Eintrag zu Schiko gelesen?“, fragte ich ertappt. Er zuckte mit den Schultern. „Was blieb mir denn anderes übrig, wenn dieser süße Pfleger da vor meinen Augen in dieses Buch reinkritzelt?“ Mein Grinsen machte er jäh zunichte, als er seufzte und meinte: „Ich habe dir heute zu viel zugemutet, oder?“ „Nein“, widersprach ich ihm. „Das bist doch du. Deine Vergangenheit. Und dich will ich ja kennenlernen!“ „Ich hätte dich gestern Abend nicht so zurücklassen sollen.“ Sein Blick wurde zärtlich. „Der Abend war schön.“ Ich unterbrach den Blickkontakt, räusperte mich. Hier, in aller Öffentlichkeit, wollte ich jetzt nicht daran erinnert werden. „Du hattest eben eine Mission: Eine Barbie kaufen für Kevin! Und…bleibst du dann über Weihnachten hier bei deiner Familie?“ „Ich bleibe zwei Tage, nicht über Weihnachten. Da bin ich in Paris… Schau nicht so. Ist kein Urlaub, ich muss in eine chirurgische Klinik.“ Diese Informationen überschlugen sich in meinem Hirn, und ich brachte nur ein ungläubiges „Paris…?!“ heraus. Paris, da war doch was. Sandro nahm den letzten Zug seiner Zigarette, bevor er sie im Abfalleimer ausdrückte. „Ja. Weißt du, Neurochirurgie an der Hand ist etwas sehr Komplexes. Die Spätfolgen meiner Dummheit…“ Mit dem Daumen strich er über den Jackenärmel, da wo die Narbe war. „Mittlerweile ist es vernarbt. Aber nicht nur von außen, sondern auch von innen, und das ist schlecht. Dieses Narbengewebe drückt auf die umliegenden Sehnen und Gefäße, im Ruhezustand fühlt es sich in etwa so an, wie ein zu enges Armband. Aber wenn man so filigrane Bewegungen ausführt wie Gitarre spielen… tja, dann schmerzt es, und wenn man es übertreibt, zickt der Arm ein paar Tage lang rum. Ein sehr nerviger Zustand, der sich leider nicht mit Tapes dauerhaft beheben lässt. Da muss ein Chirurg ran.“ „Scheiße. Ich wusste es! Dass da mehr dahinter steckt.“ „Ich habe mit meiner Tante sehr lange nach einer Spezialklinik dafür gesucht. Naja was heißt gesucht… Sie wohnt ja in Paris und hat mir schon vor einiger Zeit die Klinik empfohlen, sie ist sehr gut. Ich habe aber gezögert…“ „Weil die Operation riskant ist? Oder weil sie teuer ist?“ „Beides. Wenn dieser Laser nur einen Millimeter danebengeht… Dann kann ich warm nicht mehr von kalt unterscheiden, geschweige denn noch etwas halten, hat mich der Arzt im Vorgespräch aufgeklärt.“ „Gitarre spielen fällt dann wohl flach…?“, fragte ich vorsichtig. „Genau, und nicht nur das. Ich muss mir diesen Schritt wirklich gut überlegen. Entweder mit Schmerzen spielen, oder wenn ich Pech habe, gar nicht mehr spielen.“ „Du könntest aber auch Glück haben, und deine Schmerzen loswerden“, warf ich ein. „Oder wie hoch wäre denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Operation danebengeht?“ „Es ist beinahe fifty-fifty.“ Puh. Das war mal ein Los… Mit diesen Gedanken hatte er sich die ganze Zeit herumgeschlagen. Ich konnte ihm jedoch keinen Rat geben; das stand mir nicht zu, denn ich kannte ihn doch noch gar nicht so lange. Ich legte einfach nur meine Hand in seine und wir schwiegen gemeinsam. Nachdem er zuende geraucht hatte, erhob sich Sandro schließlich von der Parkbank und schulterte den Rucksack. Wir gingen den knirschenden Kieselweg zurück zum Eingang und keiner sagte ein Wort. Er öffnete die Pforte und hielt sie mir auf. „Ich weiß, dass du die für dich richtige Entscheidung treffen wirst, Sandro. Du bist so tapfer und stark“, sprach ich. „Das bin ich gar nicht, denn sonst wäre ich erst gar nicht in diese Situation gekommen“, widersprach er mir. „Der Starke war immer Mario!“ „Und was würde Mario an deiner Stelle tun?“, fragte ich ihn. „Sein Glück versuchen? Oder es sein lassen?“ Ich suchte seinen Blick dabei, fiel in schier unendliche Tiefen. Eine Frage, die er mir auf die Schnelle wohl nicht beantworten könnte. „Hab eine schöne Zeit bei deiner Familie, Sandro. Und aus Paris will ich eine Postkarte, ja! Dieses Jahr bin ich nämlich leider nicht hingekommen, weil meine Ex andere Pläne hatte.“ Ich wollte mich zum Gehen wenden, da machte er einen Schritt auf mich zu und umarmte mich. „Du bist etwas ganz Besonderes, Dominique,“ flüsterte er mir zu. Seine Wärme fühlte sich in der Kälte wunderbar an. „Du auch, Sandro!“ ~ Oh mein Gott, lass bloß David das nicht wissen!, antwortete Jo auf meine Statusmeldung am Montag. Ich hatte das Beweisfoto des amtlichen Dokumentes in meine Story gepostet, mit dem Kommentar Endlich freigekauft. Dreißig Euro war ich auf dem Bürgeramt heute losgeworden, doch das war es mir wert. Da rief mich Sandro an. Mein Puls schnellte in die Höhe. „Rufst du wegen meinem Kirchenaustritt an? Das habe ich mir wirklich gut überlegt, Sandro!“ „…Kirchenaustritt?“ „Na, mein Posting...“ „Hab ich noch nicht gesehen. Nein, ich rufe aus einem anderen Grund an.“ Er atmete tief durch, bevor er mir die Frage stellte. „Möchtest du mich nach Paris begleiten?“ Mir blieben die Worte im Hals stecken. Gut, dass ich saß. Oder vielmehr auf der Couch lag. „Du musst dich nicht sofort entscheiden. Am Mittwochnachmittag geht der Zug, also hast du noch zwei Tage Zeit. Meine Tante würde sich sehr freuen, wenn du mitkommst. Ich habe ihr von dir erzählt.“ „Wie?! Was!? Ernsthaft?“ So viele Neuigkeiten auf einmal! „Ja. Ernsthaft.“ Sein Lächeln hörte ich durch die Leitung. „Ihr Gästezimmer ist groß genug.“ „Du fährst also nach Paris“, sagte ich, konnte es nicht glauben, was er mir da für ein Angebot machte. Mit Sandro über Weihnachten nach Paris?! Er hielt mein Zögern für Skepsis. „Versteh das nicht falsch. Ich brauche dich dort nicht als Pfleger, ich komme schon klar! Ich dachte, weil du angedeutet hast, dass du gerne Paris sehen würdest… Aber es wäre halt spontan, und über Weihnachten. Du wirst nicht bei deiner Familie sein können, das musst du dir gut überlegen.“ Ich schüttelte den Kopf, ich würde tausendmal lieber mit ihm Weihnachten verbringen als mit meiner sogenannten Familie! „Wenn ja, dann triff mich übermorgen am Gleis. Wenn nicht, bin ich dir aber auch nicht böse.“ Damit verabschiedete er sich und legte auf. Puh! Was für ein Angebot! Mein Hals war vor Aufregung ganz ausgetrocknet. 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