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Die Gefühle, über die wir nicht reden

von

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Narbe

Samstagmorgen saß ich am Küchentisch, das Blech mit den Muffins war im Backofen. Kurzerhand wählte ich Davids Nummer, es gab ja doch noch einiges zu besprechen.

„Dominique?“, meldete er sich. Es war so schön, seine Stimme endlich wieder zu hören, auch wenn sie durch sein billiges Handy sehr verzerrt klang.

„Hi. Passt es dir gerade?“

„Ja, ich bin in meinem Zimmer, zuhause bei meinen Eltern.“

„Und? Wie geht es dir?“

„Naja, einigermaßen… aber es wird wieder. Ich habe noch nicht viel getan, ich will mich im Moment einfach nur ausruhen.“

„Kannst du dich an alles erinnern?“

„Ich weiß nur, dass ich bei Jo auf der Party war, wir haben im Esszimmer Trivial Pursuit gespielt. Danach ist alles weg. Die Zeit im Krankenhaus, davon habe ich überhaupt nichts mitbekommen, ich konnte es kaum glauben, dass ich bis gestern im Koma war. Da ist alles weg. Aber meine Eltern haben mir erzählt, dass ihr mich besucht habt. Du, Linus und Jo. Ihr seid so lieb!“

„Natürlich. Kam Pablo denn nicht?“

Ein Seufzen in den Hörer. „Nein. Pablo ist gleich am nächsten Morgen nach der Party zurück nach Spanien gefahren, nachdem er in einer Kirche in der Nähe übernachtet hat.“ Oh Mann, darauf wäre ich niemals gekommen. In einer Kirche. Natürlich…

„Ich hatte ungefähr hundert Anrufe von ihm auf der Mailbox und viele SMS. Er hat mir gestanden, dass er mir wohl versehentlich eine Droge verabreicht hat. Die hat er selbst von jemandem bekommen, als er per Anhalter zu mir gefahren ist, und etwas Reiseübelkeit hatte…“ Ich lachte ungläubig auf. „Nun ja, vielleicht gab es da ein paar Sprachbarrieren, der Typ war Schwede. Jedenfalls hat diese Pille auf ihn bloß beruhigend gewirkt, daher hat er mir auch eine angeboten. Weil ich so aufgewühlt war, nachdem wir beide diesen Streit hatten...“ Er führte das nicht aus, aber ich fühlte mich schuldig… Ohne meine Vorwürfe wäre er nicht so aufgewühlt gewesen, dass er eine Beruhigungspille gebraucht hätte.

„Dass ich so allergisch darauf reagiere, hat er nicht wissen können. Wenn er gewusst hätte, dass es eine Droge ist, hätte er sie sich niemals andrehen lassen...“

„Pablo hat wirklich fahrlässig gehandelt. Er ist total naiv für sein Alter!“

„Naja. Er kommt vom Land, so wie ich. Wir sind uns ähnlich, wir blenden das Schlechte im Menschen gern aus und haben wohl auch noch nicht so viel Schlimmes gesehen und erlebt. Um diese Erfahrung sind wir beide jetzt reicher.“

„Aber ob es diese Erfahrung überhaupt gebraucht hätte?“

„Nun, jetzt ist es passiert. Ich habe es ja gut überstanden. Pablo meinte, dass diese Erfahrung sein Leben mehr verändert hätte als der ganze Jakobsweg. Die Nacht in der Kirche war er nur am Beten für mich… Nächstes Jahr will er unbedingt die Schule weitermachen, und ich bin so froh darüber! Denn er ist klug und es wäre schade, wenn er sich in der Fabrik kaputt rackert wie seine Brüder und Cousins.“

„Ok. Hat Noah dir eigentlich das Polaroid zurück gegeben, das du verloren hast?“

David seufzte schwer. „Ja… und Noah ist wirklich der Letzte, der dieses Foto hätte finden dürfen! Aber jetzt ist es geklärt, und ich habe keine Geheimnisse mehr vor ihm. Wir hatten gestern Abend ein langes Gespräch bis spät in die Nacht hinein.“

„Worum ging es da?“ Mir saß sein unchristlicher Satz immer noch in den Knochen.

„Naja, um meine Zukunft und so…“

„Deine berufliche Zukunft? Oder deine Zukunft mit Pablo?“

„Allgemein. Und über Homosexualität. Das käme unter den besten Priestern vor“, vertraute mir David nun an. „Man weiß es, aber man spricht nicht darüber, noch nicht mal in der Beichte, das ist ein großes Tabu-Thema in der Katholischen Kirche. Glaube mir, Dominique, mit dem Status quo bin ich auch alles andere als einverstanden! Noah schlug mir vor, mich in den Semesterferien zur Besinnung in ein Kloster zu begeben. Finde ich eine gute Idee: Ein paar Wochen lang in Ruhe beten, nachdenken, die Bibel noch aufmerksamer studieren und Antworten darauf finden, was Gott mit mir vorhat. Ob ich hierher zurückkommen, oder in München bleibe und das Priesterseminar durchziehe, weil das dort wirklich eine sehr fundierte Ausbildung ist, meinte Noah.“

„Halt, was?! Du willst nach München wechseln?!“

„Hm…Wie gesagt, ich habe mich noch nicht entschieden. Ich werde mir in den nächsten Wochen ausgiebig darüber Gedanken machen.“

„Und in dem Kloster wirst du von deinen unchristlichen Gedanken und Gelüsten geläutert?“, fragte ich provokant.

„Daran muss ich arbeiten. Mein Glaube wird mir die Kraft dazu geben! Davon bin ich überzeugt.“

„Okay. Wenn du meinst. Glaube versetzt ja Berge, nicht wahr?“

„Dominique, sei nicht so sarkastisch. Ich habe ein Ziel! Vielleicht kann ich die Kirche später einmal von innen heraus verändern und die Menschen wieder näher zu Jesus bringen, so wie Jesus das gewollt hätte, und nicht, wie es in vergangenen Jahrhunderten gehandhabt wurde. Ich glaube an Jesus Christus und an Veränderung zum Besseren! Wenn ich das erreicht habe, dann war die Verpflichtung, zölibatär zu leben, ein sehr geringes Opfer im Vergleich zu Jesus, der für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist. Gott hat mir schließlich eine Chance gegeben, als ich im Krankenhaus am Scheideweg zwischen Leben und Tod stand, und die muss ich nutzen.“

„Was soll sich deiner Meinung nach verändern in der katholischen Kirche?“

„Naja, viele Leute möchten die Zustände nicht länger hinnehmen, die Kirchenaustritte sind ja ein deutliches Zeichen. Ich bin Mitglied in einer Gruppe, die plant, an die Öffentlichkeit zu gehen, eine Art kollektives Coming-out, um die Öffentlichkeit ins Boot zu holen und über die Missstände aufzuklären, und in den Dialog mit der Kirche treten…“

„Geheime Gruppe?“ Fast musste ich lachen. „Weiß Noah schon davon? Und findet er persönlich den Zölibat eigentlich gut?“

„Der Zölibat war nicht gottgegeben, er wurde erst viel später von der Kirche eingeführt, weil Pfarrer keine Nachkommen haben sollten, die später Erbansprüche an die Kirche stellten. Rein pragmatische Gründe. Man kann sich ganz der Suche nach Gott widmen, und durch dieses Opfer signalisiert man, dass man nicht nur halbherzig dabei ist, sondern es wirklich ein tiefer Wunsch von einem ist. Eine Berufung.“

„Oh Mann, ich höre andauernd nur Opfer hier, Opfer dort, David. Wieso willst du unbedingt für eine Institution arbeiten, für die du Opfer erbringen musst? Einen großen Teil von dir verstecken musst? Wo Fanatiker, wie dein Bruder, angestellt sind, die Schwule den Tod wünschen? Egal wie viel du betest, deine Neigungen werden dir für immer erhalten bleiben, nichts wird daran etwas ändern. Mir wäre es lieber, du würdest der Kirche komplett den Rücken kehren, und deiner Familie dazu, und einen Psychologen aufsuchen! Wieso bist du dir das denn nicht selbst wert?“

Stille in der Leitung. Zuerst dachte ich, die Verbindung wäre abgerissen, doch dann sagte er: „Das ist deine Meinung, Dominique, in Ordnung. Aber zweifele nicht an meiner seelischen Gesundheit! Und beleidige bitte nicht meine Familie. Das kränkt mich zutiefst! Noah ist ein junger, ambitionierter Priester, der alles richtig machen will, und er hat nur das Beste im Sinn. Er würde gerne Bischof werden, hat er mir anvertraut, aber das ist noch Zukunftsmusik.“

Noah und Bischof? Noch mehr Macht für jemanden mit seiner Einstellung? Oh Gott! Das wäre fatal! Nun war wirklich alles gesagt, aber eines wollte ich noch wissen: „Hast du mein Geschenk schon ausgepackt?“

„Ja, hab ich.“ Mehr sagte er dazu nicht, aber ich hoffte, dass er in das Buch mal reinschaute.

„Gut. Ich hoffe, es hilft dir irgendwie. Dann sehen wir uns nächstes Jahr wieder. Oder auch nicht. Mach es gut, David. Finde deinen Weg.“ Kurz zögerte ich, dann sagte ich: „Du bist hier in dieser Stadt vielleicht nicht glücklich gewesen. Aber immerhin warst du frei! Bitte überleg dir das alles sehr gut.“

„Dir fehlt einfach Gott im Leben, Dominique.“ Damit beendete er das Gespräch.

Die Muffins holte ich mit Topflappen aus dem Ofen, überprüfte, ob sie durchgebacken waren. Ich würde sie mit Guss bestreichen und sie mit Zucker-Regenbogen verzieren und später ins Altenheim bringen. Sollte sich die Regenbogenpest im Altenheim ausbreiten und die ganze Welt infizieren!
 

~
 

An einer der beiden langen, festlichen Tafeln saßen wir, warteten, dass jede Sekunde das Adventskonzert losging. Ich nestelte an der Deko herum, die ich mit Fatima heute aufgestellt hatte, spielte mit einem Tannzapfen. Sie saß neben mir, schaute aber lieber auf ihr Handy als zur Bühne.

„Für wen hältst du eigentlich so eisern den Platz frei?“, erkundigte sie sich. „Hast du deine Schwester eingeladen?“

„Ähm. Nicht direkt.“ Wahrscheinlich sollte ich meine Hoffnung begraben, dass Sandro auftauchen würde.

„Domi, weißt du, was mich seit dem ersten Tag hier voll auf die Nerven geht?“

„Hm?“

„Es gibt hier kein WLAN! Weil, mein Datenvolumen ist jetzt fast verbraucht, und ich wollte die Story von meinem Cousin anschauen, aber die lädt einfach nicht…“

„Stimmt, es gibt kein WLAN... Wahrscheinlich hielten sie es nicht für nötig, weil die alten Leute eh kein Internet mehr nutzen…Aber eigentlich schade“, stimmte ich ihr zu.

„Geht einfach gar nicht!“

Nun betrat endlich die Heimleiterin die Bühne und eröffnete mit einer Ansprache anlässlich der Adventszeit und den tatkräftigen Einsatz aller Mitarbeiter und Ehrenamtlichen das Konzert. Die Lichter dimmten sich und der Vorhang ging auf, gab den Blick auf die handvoll Musiker mit ihren Instrumenten frei und auch die Chorbeteiligten. Deutlich zu erkennen war Frau Spinnler mit ihrer Klarinette, hübsch hergerichtet an diesem Abend mit hochgestecktem Haar. Das erste Lied war Stille Nacht. Das klang wirklich bezaubernd, die Proben hatten sich ausgezahlt. Wahrer Einklang, mir imponierte der alte Mann mit dem Cello und der dicken Brille. Trotz dass sie alle alt waren, beherrschten sie ihre Instrumente und Stimmen meisterhaft.
 

Beim dritten oder vierten Lied spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und zuckte leicht zusammen, drehte mich um und da war Sandro! Sofort breitete sich die Begeisterung darüber auf meinem Gesicht aus und ich zog ihm den Stuhl neben mir zurecht, damit er Platz nehmen konnte. Er schaute finster drein. Aber nicht sein gewohntes sandrofinster, sondern noch einen Ton düsterer.

„Was?“

„Nichts, ich war nur bei Vater.“ Die Arme hielt er verschränkt, die Lederjacke hatte er anbehalten. Er wirkte aufgewühlt, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, oder ob er überhaupt darüber reden wollte. Seine Aufmerksamkeit hatte er ganz der Bühne gewidmet, aber ihn schien etwas zu beschäftigen. Fatima neben mir hatte neugierig den Kopf zu uns gedreht. War sie es gewesen, bei der er sich nach mir erkundigt hatte, als ich am Dienstag zuhause geblieben war?

Immer wieder während des Konzertes galt mein Blick ihm. Mittlerweile war die Anspannung von Sandro abgefallen, seine Miene etwas heiterer, fast amüsiert.

Am Ende, nachdem der Vorhang gefallen und eine Dankesrede an alle Mitwirkenden ausgesprochen worden war, klatschte er begeistert mit dem Saal mit.

„Das war besser, als ich dachte. Wirklich richtig gut für so alte Leute!“

„Sagte ich doch. Du, ich muss noch kurz mit jemanden sprechen, schau dir doch so lange die Kuchentheke an, vielleicht gibt es noch was.“

Ich wollte auch Fatimas neugierigem Blick entkommen, die Frage, wer Sandro für mich war, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
 

„Frau Spinnler!“ Ich ging auf die alte Dame zu, die hinter der Bühne ihre Klarinette einpackte.

„Ach Junge, hast du mich erschreckt!“

„Sie waren exzellent!“, lobte ich sie. „Ich wollte Ihnen schon einmal ein frohes Fest wünschen! Und einen guten Start ins neue Jahr, weil wir uns bis dahin nicht mehr sehen!“

„Ah. Das wünsche ich dir auch! Was hast du denn da für ein Päckchen...?

Grinsend hielt ich es ihr hin. „Das ist für Sie.“

Sie schien wirklich gerührt. „Nein, womit hab ich denn das verdient?“ Sie befühlte es mit ihren knotigen Fingern. „Ich wette, das ist ein Buch! Hach, dann habe ich etwas, womit ich die elendig langen Weihnachtstage rumkriege. Dankeschön!“

„Ich bin echt gespannt, wie sie es finden, ich hoffe, ich habe Ihren Geschmack getroffen. Müssen Sie mir unbedingt erzählen, wenn ich wieder aus den Weihnachtsferien zurück bin.“ Die Buchhändlerin hatte gemeint, dass diese zuckersüße schwule Liebesgeschichte das perfekte Buch für eine alte Dame wäre. Ob sie Recht behielt?

„Hmm…Er ist da, nicht wahr? Ich habe ihn gesehen“, meinte Frau Spinnler jetzt.

„Was, von der Bühne aus?“ Höchstwahrscheinlich grinste ich wie der Grinse-Emoji persönlich, das ließ sich einfach nicht abstellen.

„Na, jemanden wie ihn übersieht man nicht. Weißt du…“, sagte sie plötzlich mit sehr nachdenklicher Miene, „ich glaube, mein Bruder war auch so wie ihr. Wir haben aber nie darüber gesprochen. Das waren ganz andere Zeiten damals…“ Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, hatte sie sich wieder gefasst und herrschte mich mit ihrer üblichen Stimmlage an: „Dann steh mal nicht länger hier bei mir alten Frau herum, sondern geh zu ihm! Wenn er schon extra deinetwegen herkommt! Mensch!“ Fast scheuchte sie mich weg.

Auf dem Weg zu Sandro lief ich Fatima über den Weg.

„Domi! Da bist du, ich dachte, du wärst schon heimgegangen, ohne dich zu verabschieden!“

„Ja, ich wünsch dir schöne Feiertage!“

„Wehe, du schickst mir keine Neujahrsgrüße, Domi!“

„Mach ich auf jeden Fall. Hast du zufällig Sandro gesehen?“

„Ich glaube, der ist nach draußen gegangen.“

Natürlich. Wahrscheinlich zum Rauchen.
 

Draußen, wo es langsam dämmerte, sah ich seine dunkle Gestalt vor dem Haupteingang. Zigarettenqualm umgab ihn. Er schnippte Asche in den Müllbehälter, es war so eine banale Geste, aber es machte mich glücklich, ihn so zu sehen. Hier. Heute. Extra meinetwegen. Natürlich bemerkte er mich, wie ich auf ihn zukam. Den Kopf auf seiner Schulter ablegte, die Arme seitlich um seine Brust schlang.

„Hey“, raunte er. „Ich bin ja bereits verdorben, Süßer, aber da dieses Altersheim einen katholischen Träger hat, und du hier sicher noch ein paar Monate hier arbeiten willst, solltest du dir das gut überlegen, ob du sowas in der Öffentlichkeit tust.“

„Oh Gott“, stöhnte ich genervt auf und fühlte mich an das Telefongespräch von heute Morgen erinnert.

Den Rest der Zigarette drückte er in den Behälter. Mein Magen knurrte, und Sandro schnaubte daraufhin. „Ich habe auch Hunger, wollen wir etwas essen? Hier ganz in der Nähe wäre ein Chinesisches Restaurant, da hätte ich Lust drauf.“

„Oder ich koche dir etwas. Ich kann auch Asiatisch, wenn du darauf Lust hast.“

„Du willst für mich kochen?“

„Ja! Gehen wir zu mir nach Hause“, lud ich ihn ein, denn Désirée war wie immer nicht da. „Lass mich nur kurz die Busverbindung checken…“

Sandro räusperte sich und wies auf den schwarzen E-Scooter neben dem Fahrradständer. „Mit dem bin ich hergekommen.“

„Dein Ernst?“

„Ja schon, das ist mein eigener. Also, steigst du auf? Ich hoffe aber, dass du nicht wieder getrunken hast, denn dann wird eine eventuelle Polizeikontrolle sehr unangenehm.“

Ich boxte ihm in die Seite. „Ich habe nichts getrunken! Aber zu zweit dieses Ding fahren ist doch auch verboten, oder?“

„Verboten… Tja, stell dir mal vor, Männer küssen war in diesem Land auch mal verboten.“
 

Mein hinterer Fuß ruhte mehr auf dem Kotflügel als der dafür vorgesehen Fläche, während ich mich wie panisch an Sandro festkrallte. Aber die Nähe zu ihm und der Nervenkitzel machte es allemal wett.

In meinem Viertel angekommen, gab ich ihm Anweisungen, wie er fahren musste. Bis vor den Supermarkt um die Ecke.

„Ich muss was einkaufen, mein Kühlschrank ist fast leer.“
 

Mit einer vollen Tüte mit frischem Gemüse und asiatischen Zutaten, traten wir den Heimweg an, er auf seinem Scooter, ich mit der Tüte in der Hand zu Fuß. An der Mauer vor der Haustür parkte er den Roller. Wir gingen nacheinander die Treppen hoch in die Wohnung, er folgte mir vom Flur, dessen Parkettdielen unter unseren Schritten ächzten, in die Küche. Auf dem Tisch setzte ich die Einkaufstasche ab und schnaufte durch. Wie ein Déjà-vu... Ein Wochenende, wie ich es mit Marie so oft verbracht hatte: zusammen als Paar einkaufen. Zusammen kochen. Dann zusammen fernsehen und kuscheln. Zusammen einschlafen und aufwachen. Könnte das mit Sandro genauso werden? Irgendwie konnte ich es mir nicht so wirklich vorstellen. Natürlich ließ sich das nicht eins zu eins auf ihn übertragen…

Während ich nachdenklich die Einkäufe ausräumte und schon mal den Wok suchte, machte sich Sandro auf der Toilette frisch. Ich überlegte bereits, welche Küchenaufgaben ich an ihn delegieren könnte, da stand er plötzlich hinter mir. Bei der Art, wie er meine Schultern bearbeitete, ahnte ich bereits, dass wir vom ursprünglichen Drehbuch ein wenig abweichen würden. Man merkte wirklich, dass er eine Physio-Ausbildung hatte.

„Zeigst du mir dein Zimmer?“, hauchte er mir ins Ohr und es ging mir durch und durch.

„Mhh klar, komm mit.“

Ich ließ den Wok im Schrank, ging voran, öffnete meine quietschende Zimmertür, machte Licht, aber nicht das helle Deckenlicht, sondern die Lichterkette hinter dem Sofa. Das breite Hochbett beanspruchte den meisten Platz in diesem zehn Quadratmeter kleinen Zimmer. Um es mit Maries Worten auszudrücken damals bei ihrem ersten Besuch: Da weiß jemand, wo er seine Prioritäten setzt.

„Ein… Hochbett“, sagte Sandro sichtbar verwundert, der wohl mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit.

„Genau.“ Ich mochte den durchsichtigen rötlichen Organza-Stoff, die ich mit Reißzwecken am unteren Bettpfosten so befestigt hatte, dass sie einen wie ein schützendes Zelt umgaben wenn man unten auf der Couch saß, und das ganze Zimmer in einen hübschen warmen Farbton getaucht wurde, wenn die Lichterkette brannte.
 

Sandro war mir plötzlich so nah. An meiner Schläfe spürte ich seinen Atem. Eine Sekunde lang überlegte ich, ob es verrückt war, dass sich das so vertraut anfühlte, als dürfte es gar nicht anders sein.

„Du riechst so gut…“, hauchte er, seinen Bart spürte ich auf der Wange. Dann küsste er mich, ganz vorsichtig, antastend, ich stieg darauf ein. Ein wunderbarer Kuss vom richtigen Mann! Ein Kuss der überfällig war seit der Piano-Bar... Unsere Körper schmiegten sich aneinander, noch enger als auf dem E-Scooter, er schlang den Arm um meinen Nacken, als würde er mich nie wieder freigeben wollen und jetzt konnte ich seinen Herzschlag spüren. Ich keuchte in den Kuss hinein, mein Kopf war so heiß und so leergespült von Gedanken, nur noch voll mit Verlangen. Meine Finger fanden zwischen seine Beine…

„Wollen wir hoch?“ flüsterte ich ihm zu, und entwand mich seinem Griff, um die Leiter nach oben zu klettern.

„Worauf wartest du? Höhenangst, oder was?“

„Nein, aber ob das meine hundert Kilo aushält…?“, überlegte Sandro laut, der noch immer ungerührt unten stand.

„Na klar, vertrau mir.“

„Das sagst du so einfach, aber hast du das getestet?“

Ich musste lachen.

Oben war es jedenfalls viel gemütlicher mit den vielen Kissen und auch schummriger, da nicht viel Licht von unten ankam, genau die perfekten Lichtverhältnisse, dass ich mich meines T-Shirts entledigen konnte. Da kam Sandro auch schon hochgeklettert, mit jeder Stufe die er ganz langsam erklomm, war mehr Haut zu sehen, er trug nur noch eine knappe Boxershorts, die viel mehr preisgab als sie verdeckte. Weiß! Das einzige Kleidungsstück, das er in einer anderen Farbe als Schwarz besaß, waren hauchdünne, fast durchsichtige Unterhosen!

„Warst du noch nie in einem Hochbett?“, fragte ich, amüsiert von der Vorsicht, mit der er sich auf die Matratze setzte.

„Doch, auf Klassenfahrt vor etlichen Jahren, und ich habe keine guten Erinnerungen daran.“

Ich kicherte. „Hast du da oben oder unten gelegen?“

Er beobachtete mich genau, dann musste er grinsen. „Wieso klingt bei dir eigentlich immer alles so zweideutig, hm…?“

„Weil du das rein interpretierst…?“, entgegnete ich frech. Doch, ich war nervös. Total. Und wäre ich nicht neulich bei Linus gewesen, dann hätte ich jetzt nicht so gut lachen. Aber ich hatte trotzdem keinen Schimmer, was Sandro mit mir anzustellen gedachte, der nun von der Bettkante her auf mich zu krabbelte. Wie Strom durchzuckte es mich, als er mich berührte.

„Weißt du, dass du ein attraktiver Mann bist? Du machst mich ganz nervös“, flüsterte er.

„Ich dich?!“, lachte ich amüsiert.

„Weil ich nicht so genau weiß, worauf du stehst“, teilte er mir mit.

„Weißt du doch genau, was ich mag. Schon vergessen?“

Sein Schnauben verriet, dass er verstanden hatte. Seine Hände bahnten sich ihren Weg zu meiner Körpermitte, um mir dort die Jeans aufzuknöpfen.
 

Eine halbe Ewigkeit später lagen wir beide nackt unter der Decke, an meinem Hinterkopf spürte ich seinen Atem. Mein Magen knurrte erneut und daraufhin schnaubte er mir in die Haare.

„Die Asia-Pfanne kochen wir doch noch, oder?“, wollte ich von ihm wissen. So ganz ohne Abendessen könnte ich heute nicht einschlafen.

„Denkst du eigentlich immer ans Essen, hm?“ Sandro kniff mir spielerisch in den Bauch, reflexartig griff ich nach seiner Hand, erwischte sein Handgelenk. Da war etwas, zwischen den kringeligen Härchen und den hervortretenden Venen. Eine Unebenheit. Rau und kerzengerade... Mein Daumen tastete an der Innenseite seines Unterarmes entlang, bis fast zum Ellbogen diese wulstig verwachsene Narbe und mir stockte der Atem. „Woher hast du die?“

Wieso war mir diese riesige Narbe an ihm vorher nie aufgefallen? Wahrscheinlich aus dem Grund, weil eine Tätowierung sie im Alltag kaschierte. Zusätzlich dieses Leder-Armband mit Nieten daran, das den Blick davon ablenkte, fiel mir ein. Der harte Rocker mit der rauen Schale…und darunter…

„Süßer. Stell lieber keine Fragen, deren Antworten dir nicht gefallen werden“, war das Einzige, das Sandro dazu sagte, in einem warnenden Tonfall.

„Das ist der Grund, nicht wahr? Warum du oft Schmerzen hast, und euren letzten Auftritt absagen musstest?“, fragte ich weiter.

„Es ist eine lange Geschichte“, sagte er nur schroff und schüttelte meine Finger von seinem Handgelenk ab.

„Hoffentlich erzählst du mir die mal…Hey, wo willst du hin?“

Schon hatte er sich aufgerappelt, war an der Leiter, ging die Stufen hinab. „Ich habe noch was Wichtiges zu erledigen. Ich bin schon viel zu lange geblieben, war gar nicht geplant…“

„Sandro, bitte bleib. Es tut mir leid, ich stell keine dummen Fragen mehr.“

Doch er hatte sich bereits seine Klamotten wieder geschnappt und sprang in seine Hose. „Das waren keine dummen Fragen, im Gegenteil! Aber ihr meint alle, ich wäre unverwüstlich. Ich bin auch nur ein Mensch, und ich bin sensibel!“ Den Pulli zog er über den Kopf und ich lag mit offenem Mund da. „Wir sehen uns, Süßer.“

„Ja? Wann?!“, rief ich ihm noch hinterher, Verzweiflung in der Stimme. Ihn eine unbestimmte Zeit nicht zu sehen, würde ich nicht aushalten. Statt einer Antwort fiel nur die Wohnungstür ins Schloss, und er würde jetzt mitten in der Nacht auf seinem E-Scooter nach Hause flitzen.

Ich seufzte und ließ mich zurück in die Kissen fallen. Sandro war weg, doch sein Duft klebte noch immer an mir. Jede Faser in mir schrie bereits jetzt vor Sehnsucht nach ihm. Herz in Flammen, über diesen Buchtitel von Frau Spinnler hatte ich mich einst lustig gemacht. Und nun… beschrieb dieser Ausdruck exakt das, was ich in diesem Moment empfand.

Wie konnte mir ein anderer Kerl solch einen Liebeskummer einbrocken? Warum war gerade alles so kompliziert in meinem Leben?! Alles schien mir zwischen den Finger zu zerrinnen wie Sand…

Unverständlich, wieso ich an diesem Abend seinen Körper kennenlernen durfte, nicht aber seine Geheimnisse. Wieso nur… Wieso konnte nicht ich derjenige sein, dem er all seine dunkelsten Geheimnisse offenbarte; den er um Rat fragte, wenn er nicht weiter wusste; derjenige, der sich um ihn kümmerte, wenn er Schmerzen litt. Jemand, der noch viel mehr als sein Süßer für ihn war… Nur, weil ich der Jüngere von uns beiden war? Der Unerfahrene, Unreife, kaum Erwachsene, den er stets belächelte und nicht für voll nahm! Der sich heute nicht zugetraut hatte, richtig mit ihm zu schlafen…
 

Kurz vor dem Einschlafen weckte mich der Nachrichtenton. Ich schaute auf mein Handy, und las Sandros Frage: Möchtest du morgen mit mir wohin fahren?

Klar, mit dir fahre ich überall hin, schrieb ich zurück.

Ok. 11 Uhr am S-Bahnhof. Nicht weit.

Ich werde da sein!:X



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