Die Gefühle, über die wir nicht reden von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 15: Noah ---------------- „Wow, du bist ja wirklich da, und sogar pünktlich. Mit deinem Erscheinen hätte ich nicht gerechnet“, begrüßte Linus mich am nächsten Morgen vor der Mauer am Haupteingang des Parks, mit seinen verzinkten Toren. Ich lächelte gequält. Er schien wirklich überrascht zu sein, ich war auch überrascht von mir selbst, dass ich Wort gehalten hatte. Ich hatte mir den Wecker gestellt, war dann aber so früh wach gewesen, dass ich auf sein Klingeln gewartet hatte. Trotzdem musste ich mich dann aufraffen, loszufahren, aber versprochen war nun mal versprochen. Keine Ahnung, was ich mir da gestern Abend gedacht hatte, als ich das vorschlug. „Hi. Cooles Outfit.“ Wie professionell Linus gekleidet war: Laufschuhe. Smartwatch. Schwarze Laufhose aus synthetischem Material, die noch enger saß als seine Jeans gestern, vor allem an seinen wohlgeformten Waden. Laufjacke mit Leuchtstreifen. Während ich einfach in meine normale Alltagskleidung geschlüpft war, nur in bequemere Hosen als sonst. „Die Schuhe, die du da anhast, sind total ungeeignet, damit tust du dir keinen Gefallen“, kommentierte er sogleich mit einem missbilligenden Blick meine Chucks. „Hm, kann gut sein. Aber für ein paar Runden durch den Park wird es reichen. Ich habe noch gar nicht gefragt, wie viele Kilometer läufst du denn immer so?“ „An die zehn“, sagte er und ich schnappte nach Luft. „Mein Rekord liegt bei zweiundfünfzig Minuten, das nervt mich, ich will es in weniger schaffen. Also, dann mal los!“, verkündete er, als ob heute ein Tag für neue Rekorde wäre, fummelte an seiner Watch herum und betrat den Park. Ein leicht feuchter sandiger Weg erwartete uns und der Stadtlärm wurde fast vollständig verschluckt. Vögel konnte man zwitschern hören, trotz dass die Bäume und die Hecken kahl waren und sich braunes Herbstlaub an den Rändern häufte. Spaziergänger mit Hunden und andere Jogger drehten bereits ihre Runden. „Gibt es an der Uni eigentlich eine Laufgruppe?“ „Keine Ahnung, ich laufe eh lieber für mich allein.“ „Du bist gerne allein, oder? Also allgemein.“ „Bist du hier um zu joggen, oder um mich auszufragen?“ antwortete er, und rannte mir davon, so dass ich Gas geben musste. „Hey, warte, Linus!“ Im Frühling musste es bezaubernd sein, hier entlang zu joggen, direkt auf den Springbrunnen zu, der im Winter natürlich abgeschaltet war. „Hier auf der Wiese würde ich gerne mal picknicken! Was hältst du davon, im Frühjahr, wenn es wärmer wird, wir beide, Jo und David!“ „Dazu müsste er aber erst aus dem Krankenhaus entlassen werden." „Na klar“, sagte ich mit Bestimmtheit. Hier in dieser Umgebung fiel es mir leicht, positiv zu denken. „Ich war hier auch mal mit David joggen.“ Linus schien es sehr viel Genugtuung zu bereiten, mir das unter die Nase zu reiben. „Hab ich gar nicht gewusst. Dass David joggen geht.“ „Er hat darauf bestanden, dass ich ihn mal mitnehme. Ich kann eben mit den meisten Menschen nichts anfangen, ich hab ja auch noch meine Scheißkrankheit am Hals… Wieso erzähle ich dir das eigentlich alles?“ „Weil du vielleicht mal. Mit irgendjemandem reden wolltest. Zur Abwechslung. Ehrlich gesagt. Wundert es mich, dass du gestern. Zur Party gekommen bist. Wo du doch lieber. Alleine für dich bist.“ Reden strengte wirklich an bei diesem Tempo! Ich gab mir Mühe, es mir nicht anmerken zu lassen, aber das war sinnlos. Ich war so unsportlich. „Ja, nur David zuliebe bin ich hingegangen. Aber die waren alle so nett, Davids Freunde. Das war wirklich die beste Party, auf der ich je war. Wenn man vom Ende absieht.“ Er war sicher noch nicht auf vielen Partys gewesen. „Ist da hinten ein Wald?“, erkundigte ich mich. „Ja, da beginnt der Friedwald.“ „Friedwald?“ „Na Bäume, die Urnengräber sind, also quasi ein Friehof im Wald.“ Ich brachte nur ein Stöhnen heraus und blieb stehen. Er schaute über die Schulter. „Ist was?“ „Seitenstechen.“ Ich presste mir die Finger in die Taille, um den Schmerz irgendwie zu lindern. „Was? Jetzt schon? Zuviel gefrühstückt, oder was?“ Immerhin verlangsamte er seinen Gang. „Ich frühstücke nie, bis auf meinen Milchkaffee.“ Linus verdrehte die Augen. „Wahrscheinlich zu viel geredet und durch den Mund eingeatmet statt durch die Nase! Daran hab ich gar nicht gedacht. Du…äh, ich meine das wirklich nicht böse. Aber… wäre es dir möglich, dir selbst etwas Kondition anzutrainieren, und dann laufen wir noch einmal? Du hältst mich sonst nur auf! David konnte locker mit mir mithalten!“ „Linus.“ Ich seufzte. „Hättest du was dagegen, gleich ins Krankenhaus zu gehen? Mit der Linie 4 sind wir gleich da.“ ~ Dieses Krankenhaus war viel größer als das Altenheim, und ich war froh darüber, dass ich mich für mein Freiwilligenjahr für Letzteres entschieden hatte. Gegen die Hektik dieses Ortes erschien es mir wie die reinste Oase. Ich bediente mich vorschriftsmäßig am Desinfektionsmittelspender, und Linus tat es mir gleich. Er sprach kein einziges Wort, und schaute sich hektisch um. So viele Leute hetzten an uns vorbei und ich musste daran denken, wie müde und erschöpft meine Mutter oft gewesen war, wenn sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Anstatt sie zu entlasten, wie es sich für einen guten Sohn gehörte, hatte ich sie mit meiner Pubertätslaune noch mehr gestresst. Kein Wunder, dasss sie irgendwann an einen Punkt angelangt war, an dem sie fast ins Bodenlose gestürzt war. Heute konnte ich sie besser verstehen. Der Krankenschwester am Empfang passte es gar nicht, dass ich mich so hartnäckig nach Davids Befinden erkundigte. „Aber ich muss ihn sehen! Ich gehe hier nicht raus, ehe ich David gesehen habe!“ „Wenn Sie kein Angehöriger sind, darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben“, wurde ich schroff abgewimmelt. Linus seufzte. Ihm war anzusehen, dass er sich alles andere als wohl fühlte hier. Aber musste wir jetzt unverrichteter Dinge wieder gehen? „Seid ihr Freunde von meinem Sohn?“ Eine Frau mit einem bayrischen Dialekt sprach mich von der Seite an und ich drehte mich um. Das war Davids Mutter? Sie war einen Kopf kleiner als ich, und trug eine Jeans und eine cremefarbene Bluse, darüber eine bunte gehäkelte Jacke. Ihre dunkelbraunen Haare mit den grauen Strähnen trug sie zu einem Zopf gebunden. Tiefe Sorgenfalten standen auf ihrer Stirn. „Ja, ich heiße Dominique, und das hier ist Linus.“ „Magdalena Zimmermann.“ Kräftig schüttelte sie meine Hand, und auch die von Linus, beäugte dabei sein figurbetontes Lauf-Outfit, das hier fehl am Platz wirkte, sagte aber nichts dazu. „Wie es ihm geht, wollt ihr wissen, ich darf doch Du sagen? Nun, die Ärzte sagen, wir müssen Geduld haben und abwarten. Leichter gesagt als getan! Er liegt im künstlichen Koma, so weit ist sein Zustand stabil.“ Ihre Stimme brach ab. „Ich weiß nicht, wie lange ich das ertragen kann. Wieso ausgerechnet mein Junge! Und so kurz vor Weihnachten! Verstehe einer die Wege des Herrn…“ Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch. „Diese Stadt ist nicht gut für ihn, so weit weg von daheim, ich habe es ihm gleich gesagt, dass es hier gefährlich ist, aber er wollte nicht hören!“ „Gefährlich? Wie meinen Sie das?“ „Aber ja doch! Diese Anonymität, die es hier gibt und Kriminalität und Drogen. Großstädte verändern Menschen zum Negativen, diese Unmoral, die hier herrscht! Dauernd hört man was schlimme Sachen in den Nachrichten. Hier haben die Versuchungen Luzifers leichtes Spiel! Sowas gibt es bei uns auf dem Land, in Bayern, alles nicht. Wo wir daheim sind, kennt jeder jeden, und man passt gegenseitig auf sich auf! Oh Jesus!“ Sie umfasste fest das zierliche Goldkreuz an ihrer Halskette. Ich biss mir auf die Lippen und warf Linus einen Seitenblick zu, seine Miene war nicht zu deuten, wahrscheinlich zweifelte er an ihrem Verstand. Langsam wurden mir Davids Beweggründe für den Umzug klarer: Er hatte sich in seinem Zuhause wohl zu sehr erdrückt gefühlt und wollte raus in die Freiheit! Ein verständlicher Wunsch. Mir jedenfalls wäre es so ergangen. „Möchtet ihr zu ihm?“ Ich nickte und sie meinte: „Dann kommt mit.“ Mir war mulmig. Wir betraten schweigend den Fahrstuhl, fuhren in den dritten Stock und gingen dann den Flur entlang, und sie blieb vor einer Tür stehen. Bereits durch das Glas hindurch sah ich David in einem Krankenhaus-Kittel auf dem Bett liegen, eine ungesunde Gesichtsfarbe. Schläuche aus einer Maschine endeten in seinem Arm. Der Anblick war entsetzlicher, als ich es mir ausgemalt hatte und alles sträubte sich in mir. Plötzlich wollte ich ihn doch nicht mehr so dringend besuchen, aber nun war es zu spät. „Geht nur rein“, meinte Magdalena und schob mich regelrecht in das Krankenzimmer herein. Im Bett neben Davids lag ein weißhaariger, unrasierter Mann, der schnarchend schlief, auch an ihm waren Infusionen befestigt, seitlich an seinem Bettgestell baumelte sogar ein Beutel, mit dunklem Blut gefüllt und ich wandte schnell den Blick ab. Ein schwarzhaariger Mann mit Vollbart saß ruhig auf einem Stuhl neben Davids Bett, ein Buch auf dem Schoß. „…und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich…“ Er blickte auf, als er uns eintreten sah, begrüßte uns aber nicht, sondern zitierte den Psalm zu Ende. Magdalena, die hinter mir stand, betete leise mit. Über Davids Bett hing ein Kruzifix. Na, wie passend, das würde ihm gefallen. Nachdem er zu End gebetet hatte, wandte er sich uns zu und stand auf. Das schwarze Priesterhemd mit einem Kreuzanstecker am Revers ließ keinen Zweifel: Das musste Noah sein, Davids großer Bruder! „Mutter. Ich finde, du solltest jetzt mal einen Kaffee trinken und dir eine Pause gönnen“, sprach er zu ihr. „Du bist schließlich schon seit den frühen Morgenstunden hier.“ „Ja, du hast wohl Recht, Noah, wir sind sofort losgefahren, als sie uns heute Nacht angerufen haben“, sagte sie. „Ich gehe dann mal runter in die Kapelle, zu deinem Vater, wir werden den Rosenkranz beten.“ Sie entfernte sich von uns, nicht ohne noch einen letzten besorgten Blick auf ihren jüngsten Sohn zu werfen. „Daheim wäre das alles nicht passiert!“ „Ihr seid…?“, fragte Noah mit Nachdruck, ohne sich vorzustellen, und schaute erst Linus an, dann mich. „Gute Freunde von David“, antwortete ich stellvertretend für ihn, denn Linus schaute ihn bloß vor Ehrfurcht erstarrt an. „Ich bin Dominique, das ist Linus. Wir wollten…“ „Was ist meinem Bruder passiert? Wart ihr dabei?“, schnitt er mir das Wort ab. Die Zimmermann-Brüder sahen sich sehr ähnlich. Noahs Haare waren kürzer als Davids, dennoch wellig, und er bekam bereits Geheimratsecken. War etwas größer und voluminöser als David, sein Gesicht kantiger und er nahm viel Raum ein und lehrte einem die Bedeutung des Wortes Charisma. Man merkte sofort, dass er einem Beruf nachging, bei dem er viel mit Menschen in Kontakt war. Linus wirkte immer noch eingeschüchtert, daher ergriff ich das Wort. „Es war auf einer kleinen Geburtstagsfeier bei einem Freund zuhause. Wir wollten reinfeiern, und…“ „Aha, und wo sind seine anderen Spezis, müssen die noch ihren Rausch ausschlafen? Ist ihnen am Rnde noch egal, was mit David passiert ist?“ Ich ging nicht darauf ein, dass er mich bereits zum zweiten Mal unterbrochen hatte, was ich als sehr unhöflich empfand. Er taxierte mich von oben bis unten, und seine dichten dunklen Brauen zogen sich zusammen. In meiner Jogginghose und den alten, zerfetzten Schuhen war ich total underdressed - was zu Abi-Zeiten noch Style gewesen war, fand ich jetzt nur noch schäbig, und ich nahm mir vor, demnächst mal mich zu überwinden und shoppen zu gehen. In dieser Aufmachung musste ich auf ihn wirken, als hätte ich selbst etwas mit Drogen zu tun. Wie eine eklige Küchenschabe; ein Herumtreiber, der anderen ihre Zeit, ihren Glauben an Gott und ihre Jungfräulichkeit stahl und zum Drogenkonsum verführte. Genauso das war ich. Niemand schien ihm weniger erwünscht in diesem Zimmer als ich. Doch tapfer sagte ich: „Die werden auch noch zu Besuch kommen, ganz sicher. Es war übrigens mein Kumpel Simon, der Erste Hilfe geleistet hat, ein Medizin-Student, er hat ihm das Leben gerettet!“ „Weil es Gottes Wille war, nur darum!“, sagte Noah dazu nur überheblich. „Ich setze mich mal zu David“, meldete sich Linus leise, ohne Noahs Erlaubnis einzuholen. Auf dem Stuhl, wo Noah zuvor gesessen hatte, nahm er Platz. „Was sagt denn der Arzt, wird er bald wieder aufwachen?“, richtete ich eine Frage an Noah, bevor er die nächste an mich richten konnte. „Sie warten auf einen Befund aus dem Labor, mit seinen Blutwerten. Was schätzt du, was sie in seinem Blut finden werden?“ Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung?“ Was sollte ich denn sonst sagen? Erstens wusste ich nichts mit Sicherheit, es könnte immer noch eine allergische Reaktion auf irgendeine meiner Zutaten gewesen sein. Außerdem traf ich David noch seltener als Jo, Xia oder Simon, denn ich studierte ja nicht mit ihm; er erzählte mir auch bei weitem nicht alles. Wann kannte man denn einen Menschen wirklich? Ich wusste ja noch nicht einmal alles über Jo, den ich seit zwei Jahren zu kennen glaubte; wusste nichts davon, dass er irgendetwas mit Xia am Laufen hatte, bei dem Geld floss. Wie durchdringend Noah mich anschaute! Als ob er jeden meiner schmutzigen Gedanken lesen könnte, kraft seiner randlosen Röntgen-Brille. Wieso wurde ich von ihm so behandelt, als wäre ich es höchstpersönlich gewesen, der David gegen seinen Willen eine unbekannte Substanz eingeflößt hatte? „Weißt du, ob es Schweinereien gab?“ Oh Gott, dieser Duktus! Von ihm hatte David also dieses Wort. Wenig eloquent für jemanden, der eine Geisteswissenschaft studiert hatte. Außerdem bemühte er sich im Gegensatz zu David noch nicht einmal, seinen Dialekt abzulegen, das kam mir befremdlich vor. Ich stellte mich dumm. „Was meinst du damit?“ Noah legte den Kopf schief, als hätte er Mitleid mit meinem Geisteszustand. „Wie dir bestimmt bekannt ist, ist unter Studenten ein Konsum von aufputschenden Substanzen nicht ungewöhnlich, bei Partys oder vor Prüfungen“, sagte er ganz langsam, als wäre ich minderbemittelt. „Oder beim Sex.“ Er machte eine Pause, um das Wort wirken zu lassen und meine Reaktion darauf zu erfahren – hatte er dieses böse Wort gerade wirklich in den Mund genommen? Wahrscheinlich hatte deswegen seine Mutter den Raum verlassen müssen. Unbeeindruckt zuckte ich die Achseln. Ich spürte Linus’ Blick auf mir. „Weißt du, mein Bruder war immer schon sehr sensibel und altruistisch, womit er nicht immer Menschen angezogen hat, die es gut mit ihm meinten. Er lässt sich zu oft zu dummen Dingen hinreißen, von denen er selbst keinen Nutzen hat, nur um die Harmonie in seinem Umfeld nicht zu gefährden, das ist seine größte Schwäche.“ Es brannte mir auf der Zunge, doch ich schluckte es hinunter. Dass es mich aufregte, dass er so redete, als wäre David gar nicht anwesend. Dabei lag dieser nur wenige Meter von uns entfernt im Krankenbett. Nur, weil er nicht bei Bewusstsein war, hieß das nicht, dass er von diesem Gespräch nichts mitbekam. „Ich habe noch eine Frage an dich, wenn du gestattest.“ Noah holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche, zog ein Polaroid-Foto daraus hervor. „Kennst du diesen Jungen?“ Ich warf einen Blick darauf – ach du heilige Scheiße. War dieses Davids verschwunden geglaubte Polaroid?! Ausgerechnet dieses Foto. Von allen Fotos, die David auf dem Camino geschossen hatte, hatte Noah ausgerechnet dieses eine in die Finger kriegen müssen. Das ging doch nicht mehr mit rechten Dingen zu, was für ein Pech David hatte! Er strahlte mich darauf mit wilden ungekämmten Haaren auf dem Foto an, die Röte auf seinen Wagen kam nicht nur vom Sonnenbrand allein. Pablo neben ihm gab ihm einen Schmatzer auf die Wange, zudem waren sie beide noch oben ohne, hatten vermutlich in dem Fluss gebadet, denn ihre Haut bedeckten Wassertropfen. Man konnte viel hinein interpretieren, aber die Karten standen schlecht für David. „Während ich nach meinem Abitur ein Jahr lang in Südafrika war, wo ich ehrenamtlich mitgeholfen habe, eine Schule aufzubauen, bringt mein Bruder bloß so etwas zustande“, kommentierte er das Foto, was mich wütend machte. Ein eigentlich harmloses Sommerfoto zweier Freunde war in die falschen Hände gelangt. Aber was hieß Freunde. Mir klangen Davids Worte nach, dass er erst durch mich seine Gefühle für Pablo erkannt hatte. Mit meiner Reaktion auf das Foto kam ich Noah nicht so leicht davon. „Hast du dazu etwas zu sagen?“ Ich schluckte, kam mir vor wie bei der Inquisition, schaute von dem Foto hoch, zuckte die Achseln. „Ich finde, das ist doch verdammt nochmal Davids Privatangelegenheit, oder nicht?“ „Hm-mh“, machte Noah daraufhin vielsagend, steckte das Foto wieder ein undd rückte seine Brille zurecht. „Das meinst du! Aber in der Kirche brauchen wir diese Regenbogen-Pest nicht.“ Regenbogen-Pest! Hatte ich richtig gehört? Wer dachte sich denn so eine Wortkreation aus? „Tja, das ist wohl ein deutliches Zeichen dafür, dass ihr die Kirche der Gesellschaft anpassen solltet, nicht umgekehrt“, erwiderte ich. „Geschweige denn in der eigenen Familie“, redete Noah einfach weiter, als hätte ich gar nichts gesagt. „Da hätten wir lieber gar keinen Bruder, und Sohn.“ Ich schnappte nach Luft. Diese Aussage von ihm war dermaßen unverschämt, dass ich mich augenblicklich woanders hinwünschte. Was gäbe ich dafür, wenn jetzt Sandro an meiner Seite wäre! Denn ich fühlte mich Noah allein nicht gewachsen, und Linus war keine Hilfe. Sandro, als das krasse Gegenteil zu Noah, würde ihm Argumente entgegenpfeffern, die saße. Er wäre mir eine außerdem eine moralische Stütze und ein Halt, würde mich von Noah wegziehen, in seine Arme hinein. Sein Geruch nach Moschus und Zigaretten würde die Krankenhausluft aus meiner Nase vertreiben, und sein gehauchtes Süßer die Aussage von Noah aus meinen Ohren. Das war total schwul, sich danach zu sehnen. Aber mein Gott, dann war es eben so! „Lässt du uns mal kurz alleine mit David?“, meldete sich jetzt eine zarte, fast zu leise Stimme und ich schaute rüber zu Linus. Noah zögerte, es schien ihm offensichtlich nicht zu schmecken, dass er seinem Bruder in unserer Obhut lassen sollte. „Nur fünf Minuten“, sagte Linus mit Nachdruck. „Bitte!“ Vor allem mit dem Tonfall des bitte schien er ihn zu überzeugen, und der Kaplan verließ wortlos den Raum. Wow. Das wäre mir nicht gelungen. Wahrlich ein Anwalt in spe! Die Türe kaum geschlossen, atmete ich tief durch, dann setzte ich mich zu David ans Bett. Keinen Millmeter hatte er sich gerührt. Linus hielt immer noch seine Hand, in der Schläuche endeten. „Danke, Linus." „Was war auf dem Foto?“, fragte er mich. „Pablo“, sagte ich bloß und Linus hob wissend die Brauen. „Oh.“ „Was regt sich sein Bruder so auf. Immerhin war Pablo volljährig.“ „Du bist bescheuert“, stellte Linus fest. „Und Noah ideologisch verblendet! Sorry, David. Dass du das mitanhören musstest." Ich strich David über die Wange, betrachtete seine geschlossenen Lider und ließ seine Atemzüge auf mich wirken. Als ob er schlafen würde. Wenn die Maschine nicht wäre. „Er tut mir wirklich leid, mit dieser Familie.“ „Meinst du, er bekommt mit, dass wir bei ihm sind?“ „Egal. Hauptsache wir sind da. Wach bald wieder auf, David, hörst du! Du hast den Jakobsweg geschafft – dein Bruder glaubt das zwar nicht, aber ich schon! Und wenn du das gepackt hast, wirst du auch dieses Koma überleben, hörst du!“ „Oh mein Gott, ich glaube, sein Finger hat gerade gezuckt!“, rief Linus aus. „Wirklich?“ Ich sagte noch mal eindringlicher Davids Namen, doch es kam keinerlei Reaktion von ihm. Vielleicht war es Wunschdenken von Linus gewesen. „Ich geh nach Hause. Wenn es was Neues gibt, melde dich.“ Damit stand ich auf. Hier erdrückte mich einfach alles. „Ich bleibe noch ein bisschen.“ Das Highlight des Tages war Sandros Nachricht im Bus: Hast du die Party überlebt? Ich habe keinen Tropfen angerührt, falls dich das beruhigt. Bin stolz auf dich! , kam es zurück. Darauf antwortete ich nicht, denn es gab keinen Grund dazu. Ich war überhaupt nicht stolz auf mich. Im Gegenteil. Ich wurde das beklemmende Gefühl nicht los, dass meine Anwesenheit in Davids Nähe, statt in Jos Zimmer, wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Party gehabt hätte. Oder, dass ich diesen Streit in der Küche besser niemals angefangen hätte. Linus sagte zwar nichts dergleichen, doch hatte ich in seinen Augen den stummen Vorwurf gelesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)