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Die Gefühle, über die wir nicht reden

von

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Ohnmacht

In Jos Kinderzimmer lehnte ich mich gegen die Tür und atmete tief ein und aus, vielleicht eine Minute lang. Oh Gott, was war da gerade passiert! Ich sank rücklings an der Tür hinab, bis ich am Boden saß, die Knie winkelte ich an. Jos bunte Anime-Sammelfiguren in ihrer Glasvitrine schauten vorwurfsvoll auf mich herab. Ich Idiot. Was hatte ich getan, wieso um alles in der Welt hatte ich all das laut ausgesprochen! Auch noch im nüchternen Zustand!

Wie auch immer, es war nicht mehr rückgängig zu machen, und was am meisten schmerzte, war Davids schallende Ohrfeige.

Ich vergrub den Kopf in meinen Händen, spürte meine brennende Wange, ließ den Tränen freien Lauf, heulte über alles, was gerade beschissen lief in meinem Leben.

Irgendwann, als der Ausbruch abgeebbt war, klopfte es an die Tür. „Ich bin´s. Darf ich rein?“

Simon. Was wollte er? Ich bewegte mich von der Tür, um sie aufzureißen, bereit, seiner ewig grinsenden Fresse etwas entgegen zu pfeffern. Doch er hatte einen entwaffnenden Blick aufgesetzt, und einen Teller voll mit Sushi und Teigtaschen dabei.

„Wie viel hast du mitgekriegt?“

„Na… Nur jedes Wort, genau wie alle anderen.“

„Scheiße. Ich hab die Party versaut!“

„Jap, Cummy, du bist ein heißer Kandidat für den Partycrasher-Oscar!“

„Ich kann nie wieder da runter!“

„Dachte ich mir, dass du das denkst und vorhast, den Rest deines Lebens in Jos Kinderzimmer zu verbringen, daher habe ich dir was zu essen mitgebracht. Schließlich hattest du so viel Arbeit damit, wär schade es vergammeln zu lassen.“

„Kein Hunger… Und ich habe Davids Leben zerstört.“

„Ach du Spinner, sie verputzen jetzt dein Essen, als wäre nichts gewesen, und geben ihre Pilger-Stories zum Besten, als wären das ihre Flitterwochen gewesen. Ich erlebe aber lieber meine eigenen Stories. Hast du Lust, mit mir Zombies abzuschlachten?“

„Nicht wirklich.“

„Ich hätte aber jetzt voll Bock drauf.“

Simon ging zu Jos Fernseher, schaltete ihn und die Konsole ein und ließ sich in einen der Sitzsäcke fallen, unter der Dachschräge, an die mit Reißnägeln ein angestaubtes Poster von AC/DC befestigt war. Der Bildschirm flackerte auf und die bekannte Titelmelodie erfüllte den Raum. Jenes Game, das eigentlich nur im Multiplayer-Modus Spaß machte; mit dem dümmsten Plot ever, aber zugleich auch den besten Grafik- und Soundeffekten.

Nun setzte ich mich doch neben ihn, ergriff den zweiten Controller und wählte meine Spielfigur aus, Ablenkung wäre vielleicht ganz gut.

„Als wir das vor dem Abi immer gezockt haben, Jo und ich, war meine Welt noch in Ordnung“, sagte ich, als wir mittendrin waren.

„Seit wann ist sie denn nicht mehr in Ordnung? Dein Rant heute war doch nur der berühmte Tropfen, stimmt´s?“

„Tu doch nicht so, als könntest du dich in meine Lage hineinversetzen. Du und ich, wir beide sind grundverschieden.“

„Meinst du?“

„Ja klar! Das fängt an damit, dass dich keine abserviert, sondern du es bist, der keinen Bock hast auf zweimal das gleiche Mädchen! Ich sag nur, Abiball! Und hört nicht da auf, dass du schon immer wusstest, dass du Medizin studieren willst!“

Er lachte gequält, und räusperte sich dann. „Eher studieren muss. Weil mein Vater und Opa das von mir erwarten, weil jemand die Praxis mal übernehmen soll und Jo das wohl nicht sein wird. So hat sich das ergeben. Aber eigentlich hätte ich auch keine bessere Idee gehabt, wenn ich ehrlich bin... Und der Abiball lässt dich ja echt nicht los, so wie du andauernd diese Anspielungen machst...“

Das tat er wirklich nicht. Kam mir vor, als wär es gestern gewesen: Simon, in seinem knallengen hellblauen Hemd, der sich mit einem Mädel unserer Jahrgangsstufe vom Acker machte. Nach zwei Stunden mit Schweißflecken wiederkam, und kurz darauf mit der nächsten von dannen zog, dabei sicherstellte, dass Jo es mitbekam. Um ihm aufs Brot zu schmieren, dass Jo nun Abi hatte, aber trotzdem noch Lichtjahre von seinem großen Bruder entfernt war.

Schweigend spielten wir weiter. Simon landete die besten Hits, schoss so präzise mit seiner gewählten Waffe, einmal sogar mitten durch einen Augapfel hindurch, und schrie „Cheers!“, als die grüne Blutfontäne nach allen Seiten spritzte, und kicherte. Hin und wieder hörten wir Lachen von unten, am lautesten Xias Ziegenlachen. Simon kam noch einmal auf das Thema zurück. „Mal ehrlich. Was ist schlimm daran, wenn man sich sexuell ausprobieren will? Sag mal.“

Ich schnaubte. „Nichts! Außer man verstößt damit gegen die Spielregeln seiner Kirche, die man so ernst nimmt, dass man sich sogar seine berufliche Zukunft dort vorstellen kann.“

„True?! Nur weil sich unser frommer Christ ein bisschen ausgetobt hat, and by the way, ich glaub, der Lauch steht heimlich auf ihn... Also ganz safe hast du Futterneid, Junge mit dem Pornonamen. Bringt wohl echt nix, dir zu stecken, dass du eben nicht lost bist, wenn du weniger Sex als andere Menschen hast. Du zockst ja kein Game, bei dem du Level 100 erreichen musst aber immer noch auf Level fünf rumkrebst, weil du erst eine Freundin hattest… got a fucking life, Dome Cumhard! Hör auf, dich mit anderen zu vergleichen, dann verschwinden deine Probleme schlagartig!“

„Du hast gut reden.“

„Und erzähl mal, wie ist eigentlich der Gitarrist so in der Kiste?“

„Das geht dich gar nichts an!“, rief ich und fühlte mich ertappt. Aber was soll´s. Heute war wohl der Tag der Wahrheit. Schlimm, dass er in mir las wie in einem Buch. Als würde er Psychologie studieren statt Medizin.

„Wow, ich hatte Recht!“ Simon lachte. „Hab ich ins Blaue geraten! Nach dem was du mir im QUAKE gesteckt hast. Wie praktisch, dass du jetzt an beiden Ufern fischst. Mehr Auswahl für dich! Ich bin fast neidisch!“ Ich verdrehte die Augen. So konnte echt nur Simon das sehen! Was zur Hölle hatte ich ihm im QUAKE erzählt? Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, nicht nach diesem Filmriss. Er hatte mich ja gnadenlos abgefüllt! Das machte mich ziemlich sauer. „Da lachst du noch drüber? Du willst Arzt werden und füllst mich ab? Wenn ich eine Alkoholvergiftung bekommen hätte, würdest du dann auch lachen?“

Simon verstummte. „Natürlich nicht, davon warst du weit entfernt, ich hätte schon die Notbremse gezogen.“

„Glaube ich eher nicht, denn du hast dich dann fein aus dem Staub gemacht, und Jo durfte mich allein ins Auto schleppen!“

„Chill mal. Sei froh, dass ich dir deine Geheimnisse entlocken konnte.“

„Schwätzer. Wann wurdest du eigentlich entjungfert? Sag mal! Würde mich echt interessieren.“

„Was schätzt du?“

„Vierzehn?“

„Falsch. Mit einundzwanzig.“

„Was?! Never!“ Dann war er ja älter gewesen als David!

„Doch, das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit! Ich bin ein Spätzünder, mit allem. Aber wenn ich mal was für mich entdecke, das mich thrillt, tu ich in dieser Phase kaum was anderes, vielleicht etwas zu exzessiv…“

„Dafür gibt es bestimmt einen medizinischen Fachausdruck.“

Er lachte. „Wette ich drauf. Jedenfalls genieße ich jede Phase, solang sie anhält, bis was Neues kommt, das mich wieder kickt, irgendwann. Phasen sehe ich nicht als etwas Schlechtes an. Das ganze Leben ist eine Aneinanderreihung von Phasen. Daher, vergiss den Christen, nimm den Gitarristen, oder einen Juristen, and have fun. Wer weiß schon, was morgen ist?“

„Mit einem anderen Kerl ist das halt nur nicht so akzeptiert in unserer Gesellschaft…“, entgegnete ich.

„Die Gesellschaft?“, lachte er, „geilste Ausrede ever. Die Gesellschaft bist ja wohl auch du!“

„Für mich ist es jedenfalls kein Zeichen von Reife, noch nie eine feste Beziehung gehabt zu haben und damit auch noch zu prahlen, von wegen Phase! Ich hoffe für dich, all diese Mädels kriegen niemals raus, dass sie für dich bloß eine Phase waren.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ist ja nicht so, als hätten sie gar nichts davon gehabt.“

Und wenige Minuten später fragte er: „Hast du dich schon mal zehn Minuten lang nackt im Spiegel betrachtet?“

„Nein, wozu?“

„Weil du danach total im Reinen mit dir bist und alles schaffst, was du dir vornimmst. Einfach ready für alles!“

„Aha, das ist also dein Geheimnis!“ Nun bekam ich doch Hunger und nahm mir die Teigtasche.
 

Irgendwann pausierte Simon das Spiel. „Was geht denn da unten ab?“, murmelte er.

„Hm?“

Jetzt, da die Zombieschreie und das Geballer verstummt waren, hörte ich auch die Stimmen wild durcheinanderrufen. Stühle wurden gerückt und die Partygäste schienen in Aufruhr zu sein. Lautstark rief Jo nach Simon. Der sprang ruckartig auf und rannte aus dem Zimmer, polterte die Treppe hinab. Ich folgte ihm ohne zu zögern. Noch auf den letzten Treppenstufen sah ich die Menschentraube, den Fuß einer Person, die zwischen Ess- und Wohnzimmer auf dem Boden lag. Die geschockten Gesichter der Umstehenden, unter denen ich David nicht ausmachen konnte. Jemand, der mir entgegen rannte und heftig gegen meine Schulter prallte, und die Haustür, die daraufhin ins Schloss fiel, all diese Eindrücke prasselten gleichzeitig auf mich ein.

„Ich glaub, er atmet nicht mehr!“, rief Xia, die neben Davids Gesicht kniete und ihr Ohr gegen sein Gesicht presste. Durch das Gewusel schwebten die bunten Luftballons umher, was die Situation total bizarr wirken ließ.

„Du die Beatmung, ich die Herz-Lungen!“, wies Simon knapp Corinna an, die nur in der Gegend herumstand, aber ihm gehorchte, weil er der Einzige zu sein schien, der wusste, was zu tun war. „Jo, du rufst die Hundertzwölf!“, befahl er seinem Bruder und krempelte die Ärmel hoch. Wie ferngesteuert holte Jo sein Handy heraus.

Wenn David nicht mehr atmete, dann war es verdammt ernst. Simon begann wirklich, seine Hände rhythmisch auf Davids Brustkorb zu pressen. Und ich konnte nicht mehr wegsehen, obwohl ich das wirklich nicht sehen wollte. Nur im Augenwinkel bemerkte ich, wie Linus das Geschehen verließ, nach draußen verschwand auf die Terrasse. Ein dunkler Schatten, von dem niemand Notiz nahm. Außer mir. Jo stand in der Ecke mit dem Handy am Ohr, vor sich hin stotternd und ich beneidete ihn darum, dass er sich nützlich machte im Gegensatz zu mir.

„Wie ist das passiert?“, fragte ich Xia, die sich genauso hilflos zu fühlen schien wie ich.

„Er ist einfach so am Tisch umgekippt, von einer Sekunde auf die nächste! Aber kurz davor habe ich noch beobachtet, wie er auf der Terrasse von Pablo eine Pille angenommen hat, und fand es so süß, wie sie sich dann umarmt haben. Scheiße!“

„Eine Pille? Was für eine?“ Doch mehr wusste sie auch nicht. Eine Pille von Pablo? Wo war der überhaupt? Ich suchte den Raum ab. Teller mit Essensresten und Gläser standen noch auf dem Esstisch, das Brettspiel Trivial Pursuit darauf ausgebreitet. Ein fröhlicher Song auf Spanisch dudelte aus den Boxen, weil im Trubel niemand der Sprachassistentin den Befehl zum Aufhören gegeben hatte, was ich nun tat, damit Ruhe einkehrte.

Pablo musste derjenige gewesen sein, der mich fast überrannt hatte, klar, dass er verschwinden wollte, um keine Anzeige zu bekommen! Das war wie ein Zugeständnis, dass er ihm tatsächlich eine Pille verabreicht hatte. Vielleicht sogar eine Droge. Ich ging in den Flur, trat vor die Haustür in die Dunkelheit, rief mehrmals Pablos Namen die dunkle Straße hinab, doch bekam natürlich keine Antwort, ich hörte bloß die Sirenen näherkommen und wartete. Nachdem ich die Sanitäter ins Haus gelassen hatte, beschloss ich nach Linus zu sehen, der immer noch auf der Terrasse kauerte. Die Arme um seinen bebenden Körper gepresst, deutlich zitternd.

„Komm rein, bevor du dich erkältest, du bist dich total durchgefroren!“ Er schüttelte wiederwillig den Kopf, und ich ging auf ihn zu.

„Lass mich!“

Sein Atem ging flach und stoßweise; Schweißperlen standen auf seiner Stirn, sein Blick war ganz weit weg, und Spuren von Tränen erkannte ich auf seiner Wange. Wieso war ich überhaupt so feindselig ihm gegenüber eingestellt gewesen? Dazu gab es keinen Grund; ich kannte ihn noch nicht mal. Im Prinzip waren wir doch nur zwei arme Säue, die zur falschen Zeit etwas mit dem gleichen Kerl etwas angefangen hatten, was ein Fehler gewesen war.

„Ich ertrage das nicht länger!“, sprach er jetzt leise das aus, was ich auch empfand.

„Alles wird gut“, sagte ich, vor allem um mich selbst zu beruhigen. In Wahrheit tat sich mir ein Abgrund auf. Ich wollte nicht wahrhaben, welchen Verlauf dieser Abend genommen hatte.

„Nichts wird gut!“, entgegnete er. „Meine Tavor sind in meiner Jackentasche, die hängt im Flur!“

„Oh. Du brauchst Tabletten? Kein Problem, ich hol deine Jacke!“ Schnell war ich zur Garderobe geflitzt, nahm seinen Wollmantel vom Haken. Und bekam dabei mit, wie Simon die Wendeltreppe nach oben ging, aber nicht alleine: Er hielt Corinna eng um sich geschlungen, hatte den Arm um ihre Taille gelegt! Da konnte ich nur den Kopf schütteln – nach allem was passiert war, dachte er an so etwas?! Fast hätte ich meine Meinung über ihn revidiert, wegen des Gespräches, das wir heute gehabt hatten, doch ich blieb dabei: Simon war einfach nur weird, durch und durch!

In Jos Küche wollte ich noch ein Glas Wasser für Linus holen, aber durch die Durchreiche sah ich Jo und Xia, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte. Beobachtete, wie er ihr zwei Scheine zusteckte. Aber wofür?

„Pro Person hatten wir vereinbart!“, herrschte Xia ihn an, als sie ihm das Geld aus der Hand riss, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. War das wirklich die Xia, die ich kennen gelernt hatte? Die über die unpassendsten Dingen kicherte und ansonsten sehr naiv rüberkam? Ihre ganze Körperhaltung hatte sich verändert.

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass er noch Pablo mitbringt“, entschuldigte Jo sich reumütig.

„Was flennst du jetzt wegen den paar Euros rum? Ist dein Taschengeld alle? Weißt du, such dir doch eine andere, die du verarschen kannst.“ Er hielt sie am Zipfel ihres Ärmels fest, flehte sie an, als hinge sein Leben davon ab.

„Nein, warte, Xia, bitte! Lass mich nur schnell zur Bank.“

„Bank?“ Sie grunzte. „Du willst IT-ler sein?! Überweise es mir online, wenn du mich noch einmal sehen willst, meine E-Mail hast du ja. Und ruf mir ein Taxi!“

Mir fiel wieder Simons flapsige Bemerkung gegenüber Jo ein, ob er die Mädels gekauft hatte. Scheiße. Wie abgefuckt war denn bitte dieser Abend! Als ich, tollpatschig wie ich war, auf einen Erdnussflip am Boden trat, der mich so laut knirschend verriet, dass ich selbst erschrak, hielt Jo inne und drehte sich um. Ich machte einen Satz, rannte, so schnell ich konnte, zurück zur Terrasse, zu Linus.

Ich half ihm in seinen Mantel, schaute dann zu, wie er eine weiße Pillendose aus der Jackentasche nahm und eine Tablette schluckte.

„Ich muss jetzt heim“, verkündete er danach.

„Ich begleite dich, zumindest bis zum Wohnheim!“ Linus wirkte, als ob ihm das nicht so recht war, doch er sagte nichts.
 

Im Nachtbus waren wir fast alleine. Linus schien schläfrig, vielleicht die Wirkung der Tablette.

„Das war gegen Panikattacken, diese Tablette eben, oder?“ Denn ich kannte sie von meiner Mutter. Wie so einige andere Präparate.

„Hm“, brummte er nur. „Morgen muss ich David unbedingt besuchen! Gleich nach dem Joggen.“

„Joggen?“

„Ja, ich geh laufen. Egal.“

„Cool. Machst du mit beim Lauf durch die Innenstadt im Sommer?“

Linus schüttelte den Kopf. „Menschenmassen sind nichts für mich.“

Stimmt, das hatte er ja bereits verraten. Wieder schwiegen wir eine Weile. Die Stimme kündigte die Haltestelle an, zu der wir in die U-Bahn umsteigen mussten zum Wohnheim.
 

„Du musst auch in den fünften Stock?“, fragte Linus misstrauisch, als wir uns im Aufzug des Wohnheims befanden. „Ich habe dich dort nie gesehen.“

„Weil ich nicht da wohne. Aber ich muss was nachschauen in Davids Zimmer.“ Wenn ich richtig tippte, war Pablo dorthin zurückgegangen. Wo wollte er sonst hin? In einem fremden Land, in dem er außer David niemanden kannte?

„So? Und wie kommst du dort rein? Hast du einen Zweitschlüssel?“

„Nein. Ich hoffe einfach mal auf mein Glück.“
 

Auch jetzt saßen ein paar Studenten im Aufenthaltsraum, Bierflaschen standen auf dem Tisch und Chipstüten wurden herumgereicht. Gelächter, Musik. Wie skurril, Leute unbekümmert feiern zu sehen, nach dem, was ich heute erlebt hatte.

„So, du bist sicher müde, dann wünsche ich dir mal Gute Nacht“, sagte ich vor Davids Tür.

„Nein, ich komme mit!“, sagte Linus bestimmt.

„Wenn es sein muss. Dann warte aber hier, bis ich dir aufmache, sonst wird das Ganze zu peinlich, nur als Tipp.“

Linus blieb stehen, wo er war, und ich ging an die Tür von Davids Nachbar, las den Namen auf dem Türschild und hoffte inständig, dass er im Zimmer war. Beherzt klopfte ich an die Tür. Und noch einmal etwas kräftiger, als sich nichts rührte. „Markus? Bist du da? Ist dringend!“

Schließlich drehte sich das Schloss und ein haariger Kerl, bloß mit Boxershorts bekleidet, öffnete mir widerwillig. „Was is´?“

Ich setzte das freundlichste Lächeln auf, zu dem ich in dieser Situation fähig war. „Hey Markus! Ich bin´s, David von nebenan, sorry, dass ich um die Uhrzeit störe, aber ich hab mich ausgesperrt, könnt ich übers Bad rein, dankeee!“, sagte ich meinen spontan ersonnenen Text auf, ohne ihm Zeit zum Überlegen zu lassen und quetschte mich an ihm vorbei. Das Zimmer war geschnitten wie Davids, bloß spiegelverkehrt, und es war viel chaotischer, und aufgeheizt wie ein Gewächshaus.

„Hä? Du bist doch nicht David“, kombinierte Markus, doch zu spät. Ich reagierte nicht darauf. Im Vorbeigehen wich ich all den Klamotten und Schuhen aus, die auf dem Boden verteilt waren und nahm Notiz von dem Mädchen im Bett, das peinlich berührt die Decke bis zum Hals hochzog. Endlich stand ich im erbsengrün gekachelten Badezimmer mit den zwei Türen und atmete durch. Falls sich Pablo hinter dieser Tür befand… Dann musste ich den Überraschungsmoment nutzen.

Mit einer Centmünze öffnete ich spielerisch leicht das Türschloss und gelangte so in Davids Zimmer. Von innen war es nicht verriegelt zu meinem Glück. Die Vorhänge waren offen, diffuses Licht kam von draußen herein.

„Pablo?“, fragte ich in die Stille. „Bist du da?“ Keine Antwort. Also machte ich Licht.

Das Zimmer war perfekt aufgeräumt. Nichts deutete darauf hin, dass sich David und Pablo vor wenigen Stunden in diesen Laken gewälzt hatten. Außer vielleicht die nun erkaltete Lavalampe neben dem Bett, das verriet sie. Typisch David. Oh. Das Tagebuch! Das war jetzt fällig. Viel Zeit blieb mir nicht, es zu lesen.

Draußen klopfte es dreimal an die Tür. Markus von nebenan? Nein, das musste Linus sein, denn es war so zaghaft.

Ich schob das Kissen zur Seite. Das geheimnisvolle Buch mit dem braunen Ledereinband war immer noch an seinem Ort. Ich zog es heraus, betrachtete die vergoldete Jahreszahl auf dem Buchrücken, entfernte das Gummiband und klappte es auf, während mein Puls rasante Höhen erreichte. Jetzt würde ich ein kleines Stück tiefer in Davids Leben eintauchen. Aber…

„Nur ein Kalender…“, murmelte ich vor mich hin, und ja, ich war enttäuscht. Das sollte es gewesen sein? Bloß ein Kalender und Haushaltsbuch, wo David Tabellen gezeichnet hatte, die er mit Einnahmen und Ausgaben betitelt und Zahlen daneben geschrieben hatte. In einer Lasche hinten stapelten sich zerknitterte Kassenbelege, und ich blätterte durch den Kalender. Diesen Freitag stand bloß das Kürzel FFF, 12 Uhr, am Donnerstag Linus Plakate, 19 Uhr, am Samstag war Party bei Jo, 21 Uhr notiert, am Sonntag Gottesdienst mit Eltern, Innenstadt. Scheiße. Seine Eltern wollten ja morgen zu Besuch kommen, nicht mal das war ein Geheimnis. Doppelscheiße! Von Pablo stand rein gar nichts, das war wohl wirklich ein spontaner Überraschungsbesuch gewesen. Ich blätterte noch ein paar Wochen zurück und kam mir vor wie ein Stalker. Jeden Sonntag hatte David einen anderen Gottesdienst besucht und auch immer vermerkt, in welchem Stadtteil. Das Buch verriet mir nichts, was David mir auf Rückfragen nicht auch gesagt hätte. Unser Treffen in der Eisdiele fein säuberlich notiert. Er schien einfach gar keine Geheimnisse zu haben. Im Juli war ein Tag fett eingekringelt: Bewerbungsfrist Uni! . Auf dem Camino hatte er es offenbar auch dabei gehabt, denn in diesem Zeitraum standen jeden Tag Kilometerangaben und die Namen der Unterkünfte und Ortschaften. Seine Abiturprüfungen. Geburtstage von Freunden, Pfadfinder-Treffen, Tischtennis-Training, Tierarzttermine, Arzttermine. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er Tischtennis spielte. Oder ein Haustier besaß. Ich hielt sozusagen Davids Leben in der Hand. Moment mal. Wenn er diesen Kalender auf dem Jakobsweb dabei gehabt hatte… Richtig geraten. Hinten bei den Notizen stand in krakeliger Schrift eine Nummer, daneben Pablo Romero. Ich gab diese Nummer in mein Handy ein und rief Pablo an. Er ging natürlich nicht ran. Seufzend legte ich das Buch wieder an seinen Ort zurück. Linus klopfte abermals. Einen letzten Blick wagte ich in Davids Schrank, suchte nach etwas Kompromittierendem. Für den Fall, dass seine Eltern morgen tatsächlich herkommen und einen Blick dort hineinwerfen würden…sehr wahrscheinlich würden sie David frische Wäsche ins Krankenhaus bringen wollen. Aber Fehlanzeige. Bloß Kleidung, so akribisch gefaltet und aufeinander gestapelt wie in einer Boutique. Ich nahm die Haarbürste, schnupperte an ihrem Griff, der mit etwas Fantasie aussah wie… Aber nein, Fehlanzeige. Nur ich wäre so verdorben, David niemals.

Da Linus immer lauter klopfte, ließ ich ihn endlich herein.

„Pablo ist nicht hier.“

„Du hast aber lange gebraucht, um das festzustellen. In eine Schublade passt er sicher nicht.“

„War nicht so einfach, Davids Zimmernachbar zu überzeugen“, log ich. „Also, es ist nicht einmal sein Rucksack da. Gar nichts. Als wäre er nie hier gewesen.“

Linus deutete auf die beiden halbvollen Teetassen auf dem Schreibtisch, die mir gar nicht aufgefallen waren. „Würde ich nicht sagen.“

Tja. Hier standen wir, wie eine missratene Kopie von Sherlock Holmes und Dr. Watson, sinnlos in Davids Zimmer herum, während David in der Notaufnahme um sein Leben kämpfte, und dem es auch nichts nützen würde, wenn wir in diesem Moment bei ihm wären. Diese Situation war so befremdlich, dass mir nichts anderes einfiel, als plötzlich loszulachen.

Linus schaute mich an, als wäre ich wahnsinnig, und so kam ich mir auch vor. Ich schüttelte den Kopf.

„Ich fühle mich so mies.“

„Ich auch. Sowas von. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was ist, wenn… Wenn…“ Er rang nach Worten, doch ich wusste, was er sagen wollte. „Gott behüte dich, das hat David immer zum Abschied gesagt. Aber wer von uns hat das je zu ihm gesagt?“

Was David schon gesagt hatte! Im IGLU hatte er die Leute verdächtigt, ihm irgendwelche Drogen untermischen zu wollen, aber kaum tauchte Pablo auf, nahm er sie sogar freiwillig.

Ich schnalzte mit der Zunge. „Linus. Denke nicht darüber nach! Lenk dich ab. Ich gebe dir meine Handynummer, falls dir noch was einfällt, oder wenn es was Neues gibt.“

„Das ist moralisch einfach nicht richtig, in sein Zimmer einzubrechen.“

„Erzähl mir nichts von Moral! Es war unmoralisch von Pablo, David die Pillen anzudrehen.“

„Pablo hat was? Was für Pillen denn, und woher weißt du das?“

„Von Xia… ach eigentlich weiß ich gar nichts, ich war ja nicht dabei gewesen.“ Oh Mann. Ich hatte wirklich genug für heute. „Was studierst du eigentlich, Linus, auch was mit Religion?“

„Nein. Jura, im zweiten Semester“, offenbarte er mir, als würde er sich dafür schämen.

„Jura? Krass! Okay Linus, lass uns morgen früh gemeinsam joggen und danach ins Krankenhaus, David besuchen, das halte ich für einen guten Plan!“

Ich wollte durch die Tür nach draußen, als mir noch was einfiel und ich zurück zum Schreibtisch huschte.

„Und tust du David den Gefallen, die zweite Teetasse an dich zu nehmen? Nicht dass seine Eltern die wildesten Spekulationen darüber anstellen, wer da bei ihm gewesen war, wenn sie hierher kommen.“

Linus nickte und nahm die Tasse an sich. Wir verließen das Zimmer und unsere Wege trennten sich im Flur.



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