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Die Gefühle, über die wir nicht reden

von

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Genesis

Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, in verästelten Straßen rannen die Tropfen am Glas entlang nach unten. Neben mir auf dem Sitz lag meine Tasche, in der sich eine Dose mit meinen selbst gebackenen Plätzchen befand, den Sonntag hatte ich fast nur damit verbracht. Ich rief David an, weil mir die Fahrt zu lang dauerte, und staunte darüber, dass er sogar dranging.

„Hey. Du darfst deinen Geburtstag bei Jo feiern, hat er mir gestern erzählt?“

„Naja, ich fühle mich etwas unwohl dabei, weil er dann die ganze Arbeit hat, als Gastgeber, aber er hat mein Nein nicht akzeptiert. Natürlich bist du auch eingeladen, du kommst doch?“

„Na klar“, versicherte ich ihm. „Er hat auch nicht die ganze Arbeit, ich werde mich ums Essen kümmern, habe mich schon durch Rezepte gewühlt.“

David hörte die Ansage im Bus, und wollte wissen, wohin ich unterwegs war.

„Zu dir.“

„Was, heute? Aber ich bin am Lernen, Dominique!“ Er seufzte.

Ich stellte mir vor, wie er am Schreibtisch vor seinen Ordnern und Büchern über jahrhundertealte Schriften brütete und dabei schrumpeliges Trockenobst naschte, natürlich in Bioqualität.

„Dann wird es höchste Zeit, dass du eine Pause machst. Ich bin gleich da, ich steige gleich in die U-Bahn um.“
 

Außer Puste und ein klein wenig nass geregnet kam ich in seinem Flur an. Eine Gruppe Studenten saß im abgetrennten Aufenthaltsraum an einem Tisch vor ihren Laptops und diskutierte angeregt. Hier war einfach immer etwas los, Student zu sein musste so cool sein. Keiner von ihnen nahm Notiz von mir und da war auch schon Davids Tür mit seinem Namensschild. Ich klopfte an.

„Hey“, sagte David, der kurz darauf öffnete. „Na dann komm rein.“

Ich ließ mich nicht zweimal bitten, schlüpfte aus den Schuhen und entledigte mich meiner feuchten Jacke, die ich kurzum über seine hängte. Seine Schreibtischlampe brannte, wo ein Ordner aufgeschlagen war und deine Lavalampe brannte, die er wohl erst angeschaltet hatte, als ich meinen spontanen Besuch bei ihm angekündigt hatte; noch waren nämlich keine Blasen aufgestiegen. Er sah buchstäblich zum Anbeißen aus, die Farben des Pullis und der Hose, die er trug erinnerten mich an Biskuit mit Cappuccinocreme-Füllung, zusammen mit seinen dunklen Locken standen sie ihm gut.

„Eigentlich wollte ich nochmal das eine Skript durchgehen, nächste Woche ist schon die Klausur.“

Unbeeindruckt hielt ich ihm die kleine Dose mit meinen Plätzchen hin. Als er den Deckel abnahm, kroch der betörende Duft heraus.

„Was ist das?“

„Na was wohl? Weihnachtsplätzchen, selbst gebacken. Für dich extra vegan.“

„Für mich?“ Er begutachtete sie, wusste nicht, was er sagen sollte. „Du stellst dich für mich hin und backst? Ich wusste nicht mal, dass du backen kannst. Ähm, möchtest du einen Kräutertee?“

„Ja, gerne.“

„Setz dich.“ David wies aufs Bett, nahm den Wasserkocher vom Schreibtisch und verschwand damit im Bad.

Das Holz ächzte genau wie bei meiner Übernachtung, als ich mich darauf niederließ. Neugierig hob ich sein Kissen an. Das geheimnisvolle Buch mit dem braunen Ledereinband war immer noch an seinem Platz. Verführerisch. Nein. Darüber sollte ich gar nicht erst nachdenken!

„Weißt du was? Mein einer Dozent heißt mit Vornamen sogar Theo“, sagte David, als er wieder zurückkam, und den Teekocher einschaltete. „Kurzform von Theophil.“

Es war dieser ganz spezielle Blick, den er aufsetzte, wenn wir nur Sekundenbruchteile später losprusteten.

„Ihr dürft ihn duzen?“

„Ja, das hat er uns angeboten, er duzt uns auch, er ist noch ziemlich jung. Ich finde es irgendwie seltsam, einen Dozenten zu duzen, ich weiß nicht.“

„Jung und sexy?“

„Was soll denn die Frage?“

„Nichts. Vergiss es.“

David kam zu mir, setzte sich neben mich aufs Bett. „Warum bist du wirklich hergekommen? Und bringst mir selbst gebackene Plätzchen mit? Die nebenbei bemerkt, wirklich lecker sind. Dominique, also… ich will nicht… dass der Eindruck entsteht… ähm, ich würde irgendwas Romantisches starten wollen, verstehst du?“

Ich prustete los, dieser Vorwurf war ja mal so absurd. Von jemandem, der eine Lavalampe anschaltete, damit es lauschig wurde. „Nee. Keine Sorge. Nach meiner Ex bin ich von Romantik erst einmal kuriert.“

„Oh. War denn die Trennung sehr schlimm für dich?“

Ich schnaufte tief durch. „Ich bin darüber hinweg! Übrigens, bei uns im Altenheim findet eine Adventsfeier statt. Am Samstag, den zwanzigsten Dezember, und ein Chor singt Weihnachtslieder. Hättest du Lust zu kommen?“

„Äh, ich fahre Freitag dann nach Hause zu meiner Familie, schließlich steht ja Weihnachten vor der Tür.“

„Ach so...“ Mir dagegen stand ein sehr verrücktes Weihnachten bevor. Desi, die sich wohl zu ihrer Fernbeziehung verkrümelte, mich alleine ließ mit meiner Mutter, die ich zwei Jahre nicht gesehen hatte, in dieser kleinen Wohnung, in die nicht mal ein Christbaum hineinpasste… und ich würde es nicht mit Marie verbringen.

Wir schwiegen uns an, die Stille im Raum übertönte der Wasserkocher, der zu brodeln begann, er bebte regelrecht auf seiner Vorrichtung, als würde gleich eine Rakete starten und dampfte vor sich hin.

„Darf ich dich auch etwas fragen, Dominique?“

„Nur zu“, ermutigte ich ihn, auf alles gefasst, aber inständig hoffend, dass er nicht fragte, wie ich Weihnachten zu feiern gedachte.

„Woran glaubst du?“

„Woran ich glaube?“, wiederholte ich die Frage. „Du meinst, ob ich an Gott glaube? Gute Frage. Ich bin katholisch getauft worden, und hatte dreizehn Jahre Religionsunterricht in der Schule… Aber naja, ich weiß nicht, ob es Gott gibt und ob es Sinn macht, an ihn zu glauben.“

„Hmm“, machte David. „Ich jedenfalls glaube an Jesus Christus. Und an Gott. Ich bin auf der Suche nach ihm, warte auf ein Zeichen. Dass er mir sagt, dass ich auf der richtigen Spur bin. Vielleicht finde ich das gar nicht hier in diesem Land. Vielleicht muss ich mich dafür nach Israel begeben. Ein sehr gespaltenes Land leider... Da wollte ich schon immer mal hin, am liebsten würde ich ein Auslandssemester in Jerusalem absolvieren. Alle Orte anschauen, wo Jesus vor Jahrtausenden gewirkt hat, Betlehem, Nazareth, den See Genezareth, den Blutacker, wo Judas Ischariot begraben liegen soll. Stelle ich mir spannend vor, all diese heiligen Orte zu besuchen. Wo heute so verschiedene Religionen und Kulturen aufeinandertreffen.“

Nicht schlecht. Wenn Gott und Jesus dafür gesorgt hatten, dass David die Welt bereiste, dann war sein Glaube wirklich für etwas gut gewesen.

David erhob sich, aber nur um sich des Wasserkochers anzunehmen, der fertig war, goss das Wasser in die Tassen, welches die Teebeutel rostfarben färbten.

„Warst du auch mal in Rom?“

„Ja, auf einer Klassenfahrt in der elften. Wir haben auch Vatikanstadt besucht.“

„Oh, die Interessen deiner Mitschüler lagen sicher ganz woanders als bei der Sixtinischen Kapelle“, meinte ich grinsend.

„Kann man wohl sagen.“ Das Tablett mit den Tassen und der Plätzchendose stellte er auf den Holzstuhl, den er ans Bett heranzog und setzte sich wieder neben mich.

Da lagen zwei knallgrüne Äpfel neben seinem Ordner, stellte ich fest, genau so ein Apfel, in den Sandro hinein gebissen hatte, bevor wir uns sehr nahe gekommen waren…

„Möchtest du einen?“, weckte mich David aus den Erinnerungen.

Ich schüttelte heftig den Kopf, wie um jenen Sonntag aus meinem Gedächtnis zu schütteln.

„Aber steht nicht in der Bibel etwas von einem Apfel im Paradies, und einer Schlange?“

„Ja, genau, in Genesis, dem ersten Buch Mose. Es war aber nicht unbedingt ein Apfel, es wird bloß eine Frucht erwähnt und nicht genau definiert, welche. Es könnte auch eine Feige gewesen sein. Das ging in späteren Überlieferungen nach und nach verloren.“

„Du bist ein Bibel-Nerd!“

„Sagen wir eher, ich finde die Bibel sehr interessant.“ Dieses Leuchten in seinen Augen… Er war ganz in seinem Element. Daher fragte ich nach: „Wozu genau hat die Schlage Adam und Eva nochmal verführt?“

„Die Schlange, also der personifizierte Teufel, hat Eva erfolgreich dazu verführt, die Früchte vom Baum der Erkenntnis im Garten Eden zu essen. Mit dem Versprechen, sie würden dann wie Gott den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennen. Eva hat dann auch Adam dazu gebracht, zu essen, obwohl Gott es ihnen strengstens verboten hat. Die Frucht bewirkte, dass ihnen ihre eigene Nacktheit bewusst wurde und sie sich daher voreinander schämten, und dass ihnen auch ihre eigene Sterblichkeit bewusst wird. Gott vertrieb sie dann aus dem Paradies, denn sie haben seine Befehle missachtet, was eine Sünde ist. Auf jedem ihrer Nachkommen lastet demnach die Erbsünde.“ Seine Hände unterstrichen seine Worte, er kam mir vor wie ein Dozent, der mir eine Privatstunde in Theologie gab.

„Hat dann demnach nun jeder Mensch die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Weil diese beiden damals diese Frucht gegessen haben? Ist das nicht verdammt schwierig, das zu unterscheiden?“

„Man muss diese Fähigkeit natürlich etwas schulen. Und da kommt wiederum die Religion ins Spiel“, sagte er und lächelte. Er nahm die Tasse und trank einen Schluck, ich tat es ihm gleich. Uff, der schmeckte aber bitter!

Als er meinen Gesichtsausdruck sah, fragte er sofort: „Möchtest du Zucker? Ich habe keinen da, aber ich kann dir welchen aus dem Aufenthaltsraum holen.“

„Nicht nötig." Ich nahm eines meiner Plätzchen aus der Dose und tunkte es in seinen bitteren Tee. "Wenn man mal darüber nachdenkt...Also, da leben seine eigenen Schöpfungen fröhlich im Garten Eden, aber ließen diesen Baum immer links liegen, weil Gott ihnen unter Todesstrafe verboten hat, davon zu essen, so weit, so gut. Aber eines Tages kommt die Schlange, bringt beide dazu, diese Frucht doch zu essen, und Gott schmeißt sie dann einfach so aus dem Garten Eden raus? Seine eigenen Schöpfungen? Ohne ihnen die Chance zu geben, um Vergebung zu bitten? Ist das nicht ein bisschen überzogen?“

David trank stumm seinen Tee, und ich fragte weiter: „Gott will seine Schöpfungen lieber artig und dumm, Hauptsache, sie halten sich an seine Regeln? Er ist zwar allmächtig und allwissend, aber er wusste nicht, dass der Teufel in Form der Schlange sie dazu gebracht hat, zu essen… was seltsam ist, warum braucht es überhaupt den Teufel dazu? Ein Verbot alleine würde doch Menschen dazu bewegen etwas zu tun, gerade weil es verboten ist, also mich auf jeden Fall…und man sagt ja immer, die Menschen haben einen freien Willen...“

„Die Früchte von diesem Baum zu essen, war aber eine Sünde. Gott hat es ihnen nunmal verboten, auch im Garten Eden gibt es Regeln. Aber ja, Gott hat Menschen mit einem freien Willen geschaffen, was es sehr spannend macht.“

„Dann hat er sie ja angelogen, denn sie sind nicht gestorben. Sie haben bloß gegen seine Hausregel verstoßen. Wir sind jetzt alle Sünder, und Gott ist ein ziemlich nachtragender, herrischer Typ.“

David lächelte fast amüsiert. „Gott schickte aber seinen Sohn Jesus Christus, um für die Sünden der ersten Menschen, die er erschaffen hat, am Kreuz zu sterben. Und er ist nicht nachtragend, er ist barmherzig, und er verzeiht.“

„Und…wer war denn nun Jesus in Wahrheit? Gottes Sohn, oder der personifizierte Gott auf Erden? Ich bin mir da nie so sicher ehrlich gesagt.“

„Nun, wir Christen bekennen uns dazu, dass Jesus der Weg und die Wahrheit und das Leben ist, denn so steht es im Johannes-Evangelium. Gott ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Eine Dreifaltigkeit, die sich im Kreuzzeichen wiederspiegelt.“

Ich stellte die halb leere Tasse auf dem Tablett ab. Irgendwie führte dies zu nichts, es verdeutlichte mir nur, wie gläubig er war, und brachte mich selbst nicht weiter.

David schien das anders zu sehen: „Ich finde deine Fragen gut, Dominique, tiefgründiger als mit den meisten Leuten, mit denen ich zu tun habe. Und du hast Fragen. Ein Atheist, der überzeugt ist, dass es Gott nicht gibt, würde sich doch nicht all diese Fragen stellen, für den ist die Sache klar: Da ist Nichts. Das muss sehr traurig sein. Ich meine, ihm fehlt ja dann nicht nur Gott im Leben, sondern auch eine Gemeinschaft, die mit ihm zusammen glaubt. Denn es gibt keine Nicht-Glaubensgemeinschaften oder so.“

„Hm.“ Zwar hatte ich im Moment ganz dringendere Probleme, als meinen Kopf über Religion und Glauben zu zerbrechen, denn mir fehlte im Leben so viel mehr als bloß Gott. Aber es brachte mich näher zu David, der mich mit diesem eindringlichen, fast zärtlichen Blick betrachtete, und sich insgeheim freute, dass wir eine Art geistige Verbindung hatten.

„Egal wo man im Leben steht, welche Sorgen einen belasten, der Glaube trägt und gibt Sicherheit. Gott ist der einzige, zu dem man wirklich jederzeit wieder zurück kommen kann. Bei Menschen ist das nicht ganz so einfach.“

Die Art, wie er mich ansah, genau derselbe schüchterne Blick wie neulich in meinem Badezimmer, da wusste ich, was er vorhatte. Er huschte zum Schreibtisch, um das Licht auszuknipsen. Nur noch das fast obszön anmutende Orangerot der Lavalampe untermalte stimmungsvoll den Moment. Mittlerweile war das Wachs flüssig geworden und stieg auf.

Er setzte sich wieder, diesmal berührte sein Bein meines. Legte einen Arm um mich, seinen Kopf an meiner Schulter ab. Seine Wärme, sein David-Geruch, seine Haare – was genau war es, das mich so auf ihn abfahren ließ? Ich konnte nicht wiederstehen. Heißer denn je kam mir sein Atem vor. Er erhob keinerlei Protest, als ich ihn rücklings auf die Matratze bettete, ihn in die Position des Genießenden beförderte und mich sachte auf ihm niederließ, meine Beine irgendwo zwischen seinen. Es fühlte sich so wunderbar an, auf ihm zu liegen. So gut, dass ich die provokante Frage, wie Gott das wohl finden würde, einfach beiseiteschob. Seitlich an seinem Hals, wo seine Kette und die verblassende Erinnerung an den Knutschfleck war, vergrub ich meine Gesicht, spürte seine Schlagader pochen, atmete sein Gemisch aus Rasierwasser, Schweiß und Lust. Sein leises Stöhnen ließ die wildeste Lust in mir wachsen. Zaghaft gingen seine Finger dabei auf Wanderschaft, zogen mir vorsichtig die Hose herunter und den Pulli hoch. Auch meine Hände fanden in seine Hose. Ich umfasste sein anschwellendes Glied, zerrte ihm die Hose fast schon mit Gewalt herunter. Nahezu gleichzeitig nahmen wir die Erektion des anderen in die Hand. Ich keuchte, während ich mich in dem Rhythmus bewegte, den die Lust uns diktierte, immer heftiger, immer flacher atmend. Lust daher, weil es ein männlicher Körper war, der unter mir lag und meine Welt auf den Kopf stellte auf eine geile Weise. Ein Körper, bei dem ich mir keine Sorgen machen musste, ihm aus Versehen eine Rippe zu brechen. Oder mir den Stress machen, eine Erektion halten zu müssen, genauso wenig wie Verhütungspannen und deren Folgen, und es war auch weit und breit kein brummender rosa Vibrator in Sicht, dessen Existenz niemals mit auch nur mit einem Wort kommentiert wurde, mir aber jedes verdammte Mal aufgenötigt wurde.

Einfach nur unsere Körper und unsere Laute genießend, bis irgendwann der Saft aus mir herauswollte. Quer über Davids Bauch, wo sich unser beider Säfte vermengten. Ich konnte nicht einmal sagen, ob er es war, der so zuckte oder ich.

„Igitt“, machte David und schob mich beiseite. „Ich habe ganz vergessen, dass ich ja noch die Gummis da habe.“

„Sorry“, murmelte ich, doch ich fand es zu geil, als dass es mir tatsächlich leid täte. Auf dem Nachttisch fand ich eine Packung Taschentücher, und wischte mich mit einem sauber.

Die Decke raschelte, die Bettfedern quietschten und David stand aus dem Bett auf, zog dabei fast verschämt die Hose hoch. Ich dagegen blieb liegen und genoss die Nachwirkungen des Höhepunktes. Es war alles in allem einfach viel entspannter, weniger verkrampfter als mit Marie. Das hatte einfach so kommen müssen mit uns beiden, vielleicht hätten wir es mit ein wenig mehr Kommunikation und Einfühlungsvermögen auch abwenden können. Wir hatten beide nicht über unsere Gefühle reden können… Marie war passé, was blieb, war die Erkenntnis, dass ich es beim nächsten Mal ganz anders angehen musste. Das sollte ich im Hinterkopf behalten. Aber ich ließ mich treiben. Das Kissen war so schön weich und duftend…

Im Bad hörte ich Wasser rauschen und ich schloss die Augen. Das geräuschvolle Schließen der Badezimmertür einen Moment später riss mich aus dem Halbschlaf.

„Du bist noch hier?“ Die Verwunderung darüber war deutlich zu hören.

„Mhh“, machte ich und streckte mich. „Aber vielleicht sollte ich besser heim, ich habe morgen Frühschicht.“

„Du kannst auch bleiben, wenn du zu müde bist.“ Doch es klang nicht so, als stünde er hinter dieser Einladung, sondern bot es aus reiner Höflichkeit an. Er setzte sich an den Schreibtisch, knipste dort seine Lampe an und sortierte sein Lernmaterial. Sein Kräuter-Duschgel roch ich bis hierher. „Spät nachts will man ja wirklich nicht durch die Stadt fahren, vor allem bei diesem Wetter. Aber ich muss jetzt wirklich lernen.“

„Soll ich morgen wieder kommen?“

„Da habe ich schon was vor. Mit Linus Plakate bemalen.“

„Linus?“

„Ein Student ein paar Zimmer weiter. Wir verstehen uns ganz gut, ich habe ihn auch zu meinem Geburtstag eingeladen.“

Das gefiel mir irgendwie nicht. Linus… Mir drängte sich die Frage auf, ob es noch andere Leute gab, mit denen David Stress abbaute. Unverbindlich und ohne Verpflichtungen. Christ hin oder her.

„Plakate, wofür denn?“

„Na für die Klima-Demo am Freitag. Jo und Xia sind auch dabei.“

Jo hatte mir gar nichts davon erzählt, dass er vorhatte, auf eine Klimademo zu gehen. Vielleicht, weil ich da nachhaken würde, wie er das als Autofahrer rechtfertigte. Mir war mit einem Mal fast zum Heulen: Alle waren sie zusammen an der Uni, nur ich nicht. Ich war der Außenseiter! Ich wollte endlich auch mein Studium beginnen, und jeden Tag mit David und Jo in der Mensa zu Mittag essen, auf Demos gehen, und Tag für Tag sehr, sehr viel lernen und mich über die Menge des Lernstoffes beklagen…vielleicht irgendein Fach, das sich mit den Menschen an sich beschäftigte; was Menschen bewegte.

„Was ist mit dir, Dominique? Kommst du auch mit?“, riss David mich abrupt aus meiner Zukunftsplanung, die ich doch dringend mal angehen musste.

„Äh, am Freitag? Ich muss arbeiten. Urlaub hätte ich zwei Wochen vorher beantragen müssen, die Kollegen rechnen fest mit mir, weil ich meine täglichen Routinen mit den alten Leuten habe, und können so kurzfristig nicht umplanen, da wir zurzeit eh unterbesetzt sind.“

„Es geht nicht um Urlaub, es ist ein Streik, das ist ja der Sinn der Sache.“

Ich zuckte die Achseln. „Du arbeitest doch auch, du weißt, wie das läuft.“

„Klar verstehe ich das. Schade. Der Planet ist doch schließlich Gottes Schöpfung.“

Oh Mann. Alles begann und endete mit Gott bei David. Ich stand auf, begann mich wieder anzuziehen, ich bekam nämlich Sehnsucht nach meinem eigenen Bett, das bequem und breit war und nicht bei jeder Bewegung quietschte. Das musste man ja bis draußen gehört haben! Unschlüssig stand ich in meiner Jacke da, mir lag etwas auf der Zunge. Ich zögerte lange, bevor ich fragte: „David. Du denkst doch an jemand anderen, wenn wir das machen, oder?“

„Wie bitte?“

„Antworte mir einfach ganz ehrlich.“

Ein Atemstoß, der sehr genervt klang, dazu stellte ich mir vor, wie er die Augen verdrehte, doch sah nur seinen Hinterkopf mit den feuchten Locken, um den Nacken ein Handtuch gelegt.

„Mann, David, gib es doch einfach zu, da ist doch nix dabei, ich habe auch jemanden kennen gelernt, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht, obwohl das besser für mich wäre.“ Tief holte ich Luft, bevor ich mit gesenkter Stimme fragte: „Es ist Pablo, nicht wahr?“ Nun hörte ich ihn nach Luft schnappen. „Deswegen hast du mir die Fotos gezeigt, stimmt’s? Du hast ein Auge auf ihn geworfen. Er ist derjenige, der dich scharf macht, und mit mir lebst du es aus. Vielleicht solltest du nicht so oft diese Polaroids anschauen.“

David sprang so abrupt vom Stuhl auf, dass er umkippte. „Wie kannst du mir solche Schweinereien unterstellen! Wir sind nur Freunde, Pablo und ich, eine tiefgründige Freundschaft, wie ich es so noch nie hatte und wohl nie mehr haben werde! Nicht jeder ist so triebgesteuert wie du!“

Ungeachtet seiner Beleidigung sprach ich ganz ruhig weiter: „Deswegen hast du auch Panik, weil das eine Polaroid verschwunden ist. Wer weiß, was darauf zu sehen ist…Du solltest es dir schon selbst eingestehen.“

„Verschwinde aus meinem Zimmer!“, schrie er mich an. „Sofort!“

Gut. Das war mir auch lieber so. Nun wusste ich wenigstens, dass ich mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte. Schon allein an seiner Reaktion.
 

~
 

Am Freitag schmeckte mir das Mittagessen überhaupt nicht, das aus Buchstabensuppe, öligen Fischstäbchen und verkochtem Blumenkohl bestand. Zum Nachtisch einen graubraunen Smoothie aus den Resten von all dem Obst, das die letzten zwei Wochen aufgetischt worden war. Angeekelt schob ich das Tablett ganz weit von mir weg, denn der Platz gegenüber von mir war leer. Fatima war heute krank. Oder machte blau.

Jos Statusmeldung entnahm ich, dass sie gerade alle auf dieser Demo waren und ich schaute mir Davids Plakat an. Warum bloß war ich nicht mitgegangen? Einen Tag streiken, für die gute Sache. Stattdessen saß ich pflichtbewusst hier, wie ein schnöder Buchhalter. Wie mein heuchlerischer Vater, der in allen Belangen so pflichtbewusst und vorbildlich war, außer in der wichtigsten, zum Kotzen!

Ein Selfie von Mik, auf dem er mit Xia und David in die Kamera grinste, im Hintergrund noch ein Kerl, der so groß war, dass er Nase aufwärts abgeschnitten war, man erkannte nur ein paar Sommersprossen.

Wer ist da noch bei euch dabei?, fragte ich Jo.

Linus, aus Davids Wohnheim. Er ist übrigens gay!!! Dazu eine Armee von Regenbogen-Emoji. Mir schrillten alle Alarmglocken. David pflegte Kontakt zu jemanden, der offen schwul lebt? Davon hatte er nichts gesagt, bloß dass er mit ihm Plakate bemalen wollte.

Treibst du es auch mit Linus?, tippte ich in eine neue SMS, doch mein Finger schwebte unschlüssig auf der Sende-Taste, und weigerte sich sie zu drücken. Die Ausladung von seiner Party wäre mir auch so gut wie sicher. Die Party morgen Abend, auf der jener Linus auch eingeladen war. Also löschte ich den Text und schrieb stattdessen Fatima an: Bist du auch auf der Demo? Gib es zu, von wegen krank!

Sie schickte mir einen verlegenen Emoji. Erwischt! Aber verpetz mich nicht, bitte! Mein Lieblingscousin hat mich überredet, heute blau zu machen, weil das für den Planeten wichtig ist!

Ich musste heute deine Arbeit zusätzlich machen, vielen Dank dafür!, tippte ich.

Sorry!!! Ich werde mich revanchieren, ja? Wir sehen uns am Montag!

Noch eine Nachricht, diesmal aber von einer unbekannten Nummer: Einfach nur Hey. Mein Puls raste in schwindelerrregende Höhen. Zuerst betrachtete ich das Profilfoto des Absenders. Die Rückansicht eines muskulösen Blondschopfes, der an einem Spielplatz einen Klimmzug machte. Die Sonne stand so günstig, dass sie die Täler und Hügel seiner Arme in scharfe Schatten setzte. Ich starrte dieses Foto sekundenlang oder vielleicht sogar minutenlang an. Dann erst schrieb ich Hallo Sandro.

Ich spielte die Sprachnachricht ab, die er mir geschickt hatte. Sandros leicht verschnupfte, heisere Stimme erfüllte den Raum: „Hallo Dominique. Tilmann trifft keine Schuld, er hat die Mission erfüllt und mir deine Nummer gegeben. Aber kaum bin ich aus Paris zurück, hat mich volle Kanne eine Erkältung erwischt! Gerade wo ich das so gar nicht gebrauchen kann, lieg ich mit einer Wärmflasche flach. Und Tilmann hat sich aus dem Staub gemacht. Also, zumindest hast du jetzt meine Nummer“.

Noch immer ein Grinsen im Gesicht antwortete ich ihm ebenfalls per Sprachnachricht: „Du klingst SO schwul, wenn du erkältet bist. Sorry“, lachte ich. „Aber schön dich zu hören. Gute Besserung! Warum hast du denn Paris unsicher gemacht?“

Die Nachricht die dann eintraf, dämpfte meine gute Laune, denn sie war leider nicht von ihm, sondern von Désirée: „Denk ans Ultimatum! 20 Tage noch. Nochmal erinnere ich dich nicht!
 

Kaum zuhause, plünderte ich in Windeseile den Supermarkt und verließ ihn mit frischem Gemüse und Kräutern, was ich in der Küche zu einer kräftigen Suppe verarbeitete. Mit einer Tupperschüssel voll Suppe, die noch ganz warm war, stieg ich in den Bus nach Kornheim.

Nach zweimaligen Klingeln öffnete Sandro vorsichtig die Tür. Die Haare verstrubbelt, ein zerknitterter Jogginganzug und tiefe Augenringe, so schaute er durch den Türspalt mit der Kette davor, noch blasser als sonst, und sehr misstrauisch.

„Glaubst du mir nicht, dass ich krank bin?“, blaffte er, als er mich sah.

„Was, natürlich glaub ich das. Darum hab ich dir ja eine Suppe vorbeigebracht.“

„Eine was?“

„Gemüsesuppe. Selber gekocht, nach dem Rezept meiner Mutter, ein bisschen verfeinert von mir. Die bringt dich ganz schnell auf die Beine.“

„Du bringst mir ´ne Suppe vorbei?“, fragte er, als wolle ich ihn veräppeln, doch ich blieb ernst. „Bring mir lieber eine Schachtel Menthol, da hätt ich mehr davon.“

„Warte mal ab, bis du sie probiert hast. Die hat es in sich! Da ist Ingwer drin, Chili, und ein bisschen Wasabi.“

„Ah. Brennt zweimal, was?“ Leise lachte er, musste davon husten, und hielt sich den Brustkorb und stöhnte. „Scheiße, tut das weh. Oh Mann.“

„Mach doch mal die Kette weg, damit ich sie dir geben kann.“ Meine Finger tasteten sich durch den schmalen Spalt nach drinnen. Er trat näher heran, senkte den Kopf, lehnte die Stirn gegen meine Finger, die regelrecht glühte.

„Mhh. So kühle Hände“, flüsterte er. „Aber ich darf dich nicht anstecken, Süßer.“

Das war es. Er brauchte mich nur einmal Süßer nennen, und ich spürte, wie ich innerlich schmolz wie Schokolade. Das gefiel mir, von ihm so genannt zu werden. Von seiner anfänglichen Feindseligkeit war nun auch nichts mehr zu spüren.

„Ich stell sie vor der Tür ab, und du versprichst sie zu essen, ja? Werd bald wieder gesund!“



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