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Die Gefühle, über die wir nicht reden

von

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Iglu

Aus dem milchigen Himmel fielen aus dem Nichts die Schneeflocken herab. Pünktlich zum ersten Dezember. Es war merklich kälter geworden, seitdem ich das letzte Mal hier am Balkongeländer gestanden war. Ich stand alleine. Sandro brauchte ich nicht, um eine kleine Verschnaufpause hier zu verbringen. Den Gedanken daran, wie er jetzt ganz gelassen, auf seine Sandro-Art an seiner Zigarette ziehen würde, während Schneeflocken auf seiner bleichen Haut schmelzen würden, oder vielleicht auch nicht schmelzen würden, denn Sandro war cooler als Schnee, verbot ich mir.

Das Probetraining gestern war cool! Ich werde mich anmelden, teilte mir Marie im Chat mit. Ich schickte ihr zur Bestärkung ein Daumenhoch-Emoji.

Auch David schrieb mir in diesem Moment: Wollen wir uns heute Abend im IGLU in der Innenstadt treffen? Unter der Woche? Aber warum nicht. Wo war der überhaupt? Schnell suchte ich ihn online. Die Fotos vom Club sahen schon mal vielversprechend aus.
 

~
 

Mir gefiel das Ambiente im IGLU, den ich noch nie besucht hatte war. Unterirdisch in einem Gewölbekeller gelegen, machte er mit dieser gekonnt gespachtelten Wänden seinem Namen alle Ehre; die kühle Beleuchtung, nicht zu hell, sondern genau richtig, setzte die richtigen Akzente, um die Atmosphäre eines Iglus perfekt zu imitieren. Ich saß mit einem Eistee vor mir, auf einem weißen Sitzwürfel aus Leder an der Bar, betrachtete die zu Pyramiden aufgestapelten Cocktailgläser und dem blauen Hintergrund-Licht. Wie lange wollte mich David noch warten lassen?

Bist du wieder in die falsche Bahn gestiegen?, textete ich ihm, doch statt einer Antwort tauchte er persönlich auf.

„Hey“, begrüßte er mich. Hellblaue Jeans und weißer Pulli, als hätte er es zur Location abgestimmt. „Bitte entschuldige die Verspätung!“

„Kein Ding. Wie geht es dir?“

David setzte sich neben mich und bestellte sich ebenfalls einen Eistee. Er plauderte mit mir, scherzte; erzählte über die Uni und seinen Job im Bioladen und mir gefiel das Strahlen in seinen Augen. Kaum Zeit schien vergangen zu sein, und dass ich ihn in der Eisdiele sitzen gelassen hatte, war auch Schnee von gestern.

„Ich wollte dir etwas zeigen. Es hat mir keine Ruhe gelassen, was du gesagt hast und ich will dir die restlichen Fotos nicht vorenthalten.“

Wieder hatte er eine blecherne Keksdose dabei – doch sie war größer als die in der Eisdiele. Ganz behutsam nahm er den Deckel ab und entnahm einen beachtlichen Stapel Polaroidfotos, den er mir hinschob.

„Tja, dann wollen wir mal…Fotoserie, die zweite“, murmelte ich und entfernte als erstes den schon etwas porösen Gummiring. Das erste Foto. Schönes Wetter, ein Selfie. David, dessen Haare noch ein ganzes Stück kürzer gewesen waren als jetzt, am Startpunkt seiner Reise, wie er mir erklärte. Einige Fotos weiter, strahlte mich ein Junge mit kurzen schwarzen Haaren an, so alt wie wir oder etwas jünger.

„Wer ist das?“

„Das ist Pablo Romero.“

Kommentarlos nahm ich mir das nächste Polaroid vor. Ein Foto, das im Regen gemacht worden war. Derselbe Junge, mit einem großen Rucksack und schlammverdreckten Sportschuhen. Über die Schulter schaute er in die Kamera und schien dem Fotograf etwas zuzurufen.

Zwei Hände in Nahaufnahme, die einen Esel streichelten. Pablo, wie er auf einem Feld auf seinem Rucksack als Kissen döste. Zwei Gläser Limonade beim Zuprosten, ein Stück von Pablos Lächeln in der oberen Ecke des Fotos.

„Seid ihr zusammen den Jakobsweg gelaufen?“

„Nicht ganz. Auf Hälfte der Strecke haben wir uns in einer Unterkunft kennengelernt. Am nächsten Abend haben wir uns wieder getroffen und uns viel zu erzählen gehabt, da haben wir beschlossen, gemeinsam weiterzuziehen.“ Pablo, Pablo, Pablo. David hatte sein Lieblingsmotiv gefunden… Pablos Profil im Gegenlicht, seine Haare wie ein feuriger Heiligenschein vor der untergehenden Sonne. Ein lachender Pablo, der knietief im Wasser stand, das in der Sonne glitzerte, nur eine Boxershorts an. Und so ging es immer weiter. Immer einer der beiden im Bild. Fotos voller Jugend, Leichtigkeit und Freundschaft. Seit Pablo in Davids Leben getreten war, waren die Fotos merklich farbiger und lebendiger geworden.

Ich konnte mich nicht sattsehen und es stimmte mich wehmütig, als ich das letzte Foto betrachtete: Pablo mit seinem Rucksack vor jener Kathedrale am Zielort, die Hand zum Gruß erhoben, aber ohne Lächeln auf den Lippen.

Ich gab sie David zurück, und es fröstelte mich, mich von der Sonne Spaniens plötzlich in diesem Eiswürfel vorzufinden, so sehr hatte ich meine Umgebung vergessen.

„Wow. Das waren wirklich schöne Fotos, David. Wie alt ist Pablo, und woher kommt er?“

„Mittlerweile ist er Achtzehn, er kommt aus einer sehr armen Gegend in Spanien.“

„Und was hat ihn zu der Reise bewegt?“

„Weil seine Eltern ihn zuhause rausgeworfen haben.“ Sorgfältig verstaute er die Fotos in der Keksdose.

„Krass. Was macht er denn jetzt? Habt ihr noch Kontakt?“

„Wir schreiben uns oft SMS. Er wohnt momentan bei einem Freund in Madrid, und hält sich mit Nebenjobs über Wasser…auf Dauer ist das natürlich keine Lösung. Ich würde mir wünschen, dass er eine Ausbildung beginnt.“

„Warum haben ihn seine Eltern denn rausgeworfen?“

„Ich brauche einen Drink“, meinte David. „Kannst du mir was empfehlen? Was starkes?“

„Einen Drink. Bist du sicher?“ Er nickte bekräftigend. „Okay, wie du möchtest.“ Ich winkte den Barkeeper heran, der sich sehr nah zu mir beugte, als ich zwei Shots bestellte. Für den Anfang lieber weniger.

Gebannt schauten wir beide zu, wie er die klare Flüssigkeit in die Gläser füllte und sie uns dann hinschob.

„Du hast Jo angelogen, als du sagtest, du trinkst aus religiösen Gründen nicht, stimmt´s?“

„Vielleicht…“

„Ist ja auch egal. Also. Worauf wollen wir trinken?“

„Hm. Ich weiß nicht?“

„Ach, dann trinken wir auf Pablo!“, gab ich das Startkommando. Wir kippten das Glas zeitgleich hinunter, ich warf den Kopf in den Nacken. David keuchte und schnappte nach Luft, das Gesicht verzogen.

„Uh, dieses Zeug, ich spüre richtig, wie es mir die Speiseröhre verätzt“, murmelte er, die Hand auf dem Brustbein.

Ich lachte schallend los. Es war zu köstlich, David bei seinem ersten Alkoholkonsum zu erleben. „Du wolltest unbedingt.“

Er räusperte sich. „Weißt du, das waren nicht alle Fotos. Eines fehlt. Pablo habe ich schon gefragt, aber er hat es nicht. Dabei habe ich zuhause jeden Stein umgedreht.“

„Ja, sowas kenn ich. Es wird irgendwann schon wieder auftauchen.“

„Hm“, machte er nur, wandte den Blick ab. „Du, ich sollte wirklich jetzt nach Hause, ich wollte morgen früh weiterlernen. Der Stoff wird schließlich nicht weniger, je näher die Klausur rückt, und ich muss von Anfang an am Ball bleiben.“ Er machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen, zwirbelte an einer Locke. „Naja, aber ich wusste, was mich erwartet, Noah hat mich ja vorgewarnt.“

„Wer ist Noah, und wovor hat er dich gewarnt?“

„Mein älterer Bruder. Nun, du musst wissen, er hat das Priesterseminar absolviert und ist jetzt Kaplan.“

„Kaplan? Was bedeutet das?“

„Also, die Priesterweihe hat er schon hinter sich, aber er unterstützt einen Pfarrer, und leitet noch keine eigene Gemeindepfarrei.“

Mir fiel beinahe die Kinnlade auf den Tisch. Unbeirrt meiner Mimik fuhr David fort: „Und er versteht nicht, wieso ich nicht auf die gleiche Uni gegangen bin wie er, in München.“

„Wieso bist du nicht?“

Die Lippen presste er zusammen. „Genau deswegen! Weil Noah dort studiert hat, und er war verdammt gut, in der Schule schon hatte er das Einser-Abitur, ich leider nicht. Er wollte mich anfangs sogar um jeden Preis von diesem Studium abhalten, weil ich seiner Meinung nach nicht das Zeug und die Reife zum Priester habe.“

„Ah – ich verstehe. Deswegen bist du losgepilgert?“, fragte ich etwas zu forsch nach. Das war das Puzzleteil, das gefehlt hatte. Über den Grund, wieso er diese Reise angetreten hatte, hatte er mich im Dunkeln gelassen, eigentlich die spannendste Frage von allen.

„Auch deswegen, ja. Weißt du, es muss doch so rüberkommen, als wäre ich gar nicht mit dem Herzen dabei, sondern würde nur denselben Weg einschlagen wie er, weil er eben mein großer Bruder, und Vorbild ist. Kennt man ja aus Familien, in denen Generationen von Anwälten oder Ärzten sind. Nur dass es etwas mehr Überzeugung braucht, Priester zu werden als Anwalt, das ist eine Berufung. Gott beruft dich dazu. Wenn ich diese Strecke gepackt habe, dachte ich, würde ich auch das Studium packen, und außerdem…“ Er verstummte und kaute auf seiner Unterlippe herum. „Außerdem wollte ich schauen, ob ich mich selbst aushalte, das alleine leben aushalte! Ich war vorher noch nie alleine im Urlaub gewesen, meistens nur mit den Pfadfindern unterwegs und auch mal in Taizé, und alleine habe ich auch noch nie gewohnt. Diese Reise war wirklich ein Meilenstein für mich. Nie war ich Gott näher gewesen, nie habe ich mich so ausgeliefert gefühlt.“

Nachdenklich schaute ich ihn an, wie er seinen Kreuzanhänger dabei fest umklammerte. Er mied meinen Blick, als würde er bereits bereuen, was er gesagt hatte. Wer er war. Zog augenblicklich den Vorhang zurück, durch dessen winzigen Spalt ich einen Blick wagen durfte. Machte dicht.

„Lassen wir es gut sein. Ich kriege es schon irgendwie hin. Erzähle mir etwas von dir. Hast du denn noch Kontakt zu deinen Schulfreunden?“

„Hmm. Teilweise, aber es ist wirklich weniger geworden, sie sind so beschäftigt, früher haben wir uns jeden Tag gesehen. Jetzt kommt mir das Leben irgendwie so sinnlos vor.“

„Sinnlos, nur weil du deine Freunde weniger häufig siehst? Dabei tust du doch so viel Sinnvolles, im Altenheim.“

„Natürlich, aber das mache ich nur, weil ich noch nicht weiß, was ich studieren soll. Du hast wenigstens deine Richtung schon gefunden, was heißt Richtung; dein Lebenstraum! Und du bist auf dem besten Weg, ihn zu verwirklichen, und ein vorbildlicher Priester zu werden.“

Ich war entzückt davon, wie sich dieses Lob bei ihm auswirkte: Seine Wangen wurden deutlich rosig, seine Ohren noch mehr, und er nestelte wieder an seinen Haaren herum.

„Das hat mir noch keiner gesagt.“ Er warf mir einen schüchternen Blick zu, der mich fast zerfließen ließ. „Überhaupt, ich finde, du bist nicht wie die meisten. Du hast nie irgendwas Abfälliges gesagt, zu dem was ich studiere, das kommt selten vor.“

„Ich bin durch Jo schon abgehärtet, du glaubst nicht, was er mir schon für Leute vorgestellt hat“, winkte ich ab. „Er ist ein Freak-Sammler, jeder, der irgendwie exotisch ist, weckt sein Interesse, aber eher, um damit anzugeben. Also nix gegen dich“, beeilte ich mich zu sagen.

„Aha… Was wäre demnach das Exotische, das ihn an dir interessiert?“

„Vielleicht, dass meine Mutter auf Weltreise ist, seit mehr als zwei Jahren“, murmelte ich.

David betrachtete mich interessiert. „Das wusste ich ja noch gar nicht“, sagte er. „Sie macht eine Weltreise?“

„Ja, quasi über Nacht war sie plötzlich weg, und in einer Postkarte hat sie es dann verkündet.“

„Dazu gehört aber sehr viel Mut.“

„Meiner Schwester nach, eher Wahnsinn. Sie ist bis heute nicht gut auf sie zu sprechen, denn sie musste sich um den Papierkram kümmern und um mich, ich war erst siebzehn, musste zu ihr ziehen und auf eine andere Schule gehen.“

Ich wandte mich von seinen Augen ab, die so groß und fast schwarz waren, zwei schwarze Löcher, die einem die am tiefsten vergrabenen Geheimnisse auf dem Grund der Seele heraussaugen wollten. Dass Mama zuvor immer öfter betrunken gewesen war und ihren Alltag kaum geregelt bekam, wollte ich nicht erzählen, nicht heute, vor allem nicht ihm. Ich wollte nicht, dass er schlecht von mir dachte und mich in eine falsche Schublade einsortierte, wenn auch unbewusst. Schämte mich genauso vor meinen dunklen Geheimnissen, wie er sich selbst vor seinen. Erschrocken registrierte ich, wie sein kleiner Finger auf dem Tisch meinen berührte – war das Absicht?

„Dominique. Du sagtest, du bist frischer Single. Warst du mit einem Mädchen zusammen, oder…“ Uff! Dass er diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog. Das hätte ich ihm nicht zugetraut.

„Ich war mit Marie zusammen…“, begann ich, total überrumpelt.

„Aidshilfe!“, rief plötzlich jemand vom anderen Ende des Raumes. „Eine Spende für die Aidshilfe!“ Ich drehte mich in Richtung der Stimme um.

Eine Dragqueen stolzierte mit wiegenden Hüften durch die Lounge, und ihr hellblaues Kleid glitzerte wie tausend Eiskristalle. Um die Armbeugen trug sie eine Federboa. Ihre bonbonfarbene Perücke war mit roten Aids-Schleifen verziert. Stolz trug sie ein Sparschwein, in der einige Münzen klapperten. David starrte sie mit offenem Mund an und auch ich war überrascht.

„Hii“, begrüßte sie uns, als sie an unseren Tisch kam, und fuhr fort mit einem künstlichen französischen Akzent: „Ich bin La Pétite Morte und ich sammle Spenden für die Aids-Hilfe. Heute ist der erste Dezember, Welt-Aids-Tag, ein weltweiter Gedenktag an die vielen Opfer des HI-Virus.“

„Äh, na klar, das ist doch schließlich für einen guten Zweck“, sagte David schnell, kramte in seiner Hosentasche und warf zwei Münzen in den Schlitz des pinken Sparschweins.

„Merci beaucoup!“

Auch ich spendete einen Euro – Davids hilfsbereite Art war so ansteckend, man kam sich neben ihm schnell wie ein schlechter Mensch vor. Aus ihrer silbernen Mini-Handtasche zog sie etwas hervor und legte es mit verschmitztem Lächeln auf den Tisch, und zog dann weiter ihre Runde. Mein Blick folgte ihr, wurde dabei angezogen von den zwei Jungs auf einer Couch hinter uns, deren Zungen ineinander verschlungen waren. Das versetzte mir einen regelrechten Schock.

„David. Wo sind wir hier?“

David, der die beiden Kondomtütchen inspizierte, die die Drag Queen dagelassen hatte, räusperte sich und schaute mich an. „Was vermutest du denn?“ Und als ich kein Wort herausbrachte: „Es ist genau das, wonach es aussieht.“

Mir fehlten die Worte. Ich wusste nicht, was mich fassungsloser machte: dass David mich in eine Gay-Bar gelockt hatte; oder dass mir das erst jetzt aufgefallen war, nach fast einer Stunde. Die Frage, ob es jemanden gab, den er mochte, die brauchte ich nicht zu stellen, nach dieser Fotoserie, war es doch sonnenklar.

„Wie oft warst du schon hier?“

„Noch nie. Diesen Club hat jemand von der Uni mal beiläufig erwähnt, und da war ich neugierig, weil ich das nicht kannte!“

„Und dann fragst du ausgerechnet mich, ob ich dich begleite?“ Meine Stimme klang beinahe hysterisch. Noch während ich das aussprach, fragte ich mich insgeheim, ob man mir etwas anmerkte. Ob David etwas bemerkte. Irgendwelche schwulen Schwingungen. Eine Aura. Oder sowas in der Art.

Sofort stammelte David: „Es… es war echt eine saublöde Idee von mir.“ Nervös strich er sich durch die Haare. Es gefiel mir, ihn so peinlich berührt zu erleben. „Ich wusste nicht, wen ich sonst fragen könnte. Dir vertraue ich, bei dir bin ich mir sicher, dass du mir keine Drogen ins Glas kippst.“ Das war mal ein eigenartiges Kompliment. Der Blickkontakt, der sich zwischen uns aufbaute, fegte meinen Kopf leer. „Du… behältst das doch für dich, oder?“

„Hm. Klar.“

„Wusste ich es doch. Wow, es ist echt schon spät geworden“, meinte er mit Blick auf seine Uhr. Ich kannte sonst niemanden, der eine Armbanduhr trug.

„Dann sollten wir wohl aufbrechen. Außer natürlich, du möchtest noch hierbleiben, und tanzen. Ich wette, du gibst einen richtig guten Tänzer ab!“

„Muss nicht unbedingt sein“, meinte er und stand hastig auf. Ich kam nicht umhin zu grinsen. Ich wollte ihn wirklich mal tanzen sehen.
 

Die kühle Nachtluft tat gut. Ich atmete tief durch. Sternenklar war die Nacht und eiskalt. Der Schnee von heute vormittag war natürlich nicht liegengeblieben. Wir gingen im Gleichschritt zur U-Bahn, jeder die Hände in den Jackentaschen vergraben. Ich verfolgte die Atemwölkchen, die aus seiner Nase empor stiegen, und mein Blick wanderte dabei hoch zum Mond. Heute war er so dünn, eine schmale Sichel, die uns angrinste, mir zurück grinste. Ein Grinsemond!

„Achtung“, hörte ich David noch, doch zu spät, ich stolperte vom Mondglotzen über den verdammten E-Scooter, den jemand hatte liegen lassen. Aber David schaffte es, mich im Flug gerade noch aufzufangen. Das durfte nicht wahr sein!

„Sorry, ich habe nicht geschaut…“, murmelte ich, als er mich wieder losließ. „Meine Fresse, wenn du nicht gewesen wärst, läge ich jetzt hier auf der Straße!“ Ich musste lachen, auch um meine Nervosität zu überspielen. Aber warum eigentlich nervös? Es war nicht das erste Mal, dass er mir so nah war. Vielleicht war es ja auch gerade das… die Erinnerung an das Kino…

„Macht nichts. Du sag mal…Magst du noch mit zu mir? Einen Film anschauen?“, fragte er, als könnte er meine Gedanken lesen.

„Hm?

„Also nur, wenn du möchtest.“

„Na klar!“

Bei David zu Hause einen Film schauen… Ich würde sein Zimmer sehen. Ließ ihn dieser Fingerhut voll Alkohol bereits übermütig werden? Irgendetwas war anders. Nichts mehr war wie vorher – dass ich ausgerechnet von David in diese Bar eingeladen wurde! Meine Wangen brannten immer noch heiß, als ich mit ihm in die U-Bahn einstieg.
 

„Nimmst du die Treppen? Nicht den Fahrstuhl?“, erkundigte ich mich im Treppenhaus seines Studentenwohnheims. „In den fünften Stock?“

„Der ist kaputt.“

Also blieb uns nichts anderes übrig, als hintereinander die schmalen Treppen hochzulaufen. Schweigend.

Im Flur, auf dem sich jeder Schritt auf dem billigen Linoleumboden wie der eines Elefanten anhörte, vernahm ich dumpfes Gelächter. In einem Aufenthaltsraum, der durch die Glasfenster gut einsehbar war, hielt sich ein Grüppchen Studenten auf, vor einem großen Laptop auf der Couch zusammengequetscht. Wahrscheinlich Erstsemester. Außerdem war im Halbdunkel eine kleine Küchenzeile zu erkennen und ein Esstisch. An der Tür angekommen, auf dem auf einem Schild die Zimmernummer und Davids voller Name stand, schlug mein Herz bis zum Hals, und das nicht nur wegen des Treppensteigens. David schloss die Tür auf, ließ mich eintreten und verriegelte sie sogleich von innen. „Häng deine Jacke einfach an diesen Haken da. Möchtest du eine Tasse Tee?“

„Nein, mach dir keine Umstände.“

Ich staunte darüber, wie viele Möbel in diesen wenigen Quadratmetern Platz fanden, ohne dass es überladen wirkte, und wie aufgeräumt es war. Das Bett gleich neben der Tür an der Wand war hergerichtet mit einer Tagesdecke in Kuhfleckenoptik darauf. Zum Glück war er nicht in ein katholisches Studentenwohnheim eingezogen, da waren die Betten bestimmt spargelschmal, damit niemand auf dumme Ideen kam. Neben der Tür hing ein Kruzifix an der Wand, daran war die Jakobsmuschel befestigt, die ihn beim Pilgern begleitete hatte, wie er mir sogleich verriet.

Gegenüber vom Bett stand ein ordentlich aufgeräumter Schreibtisch, auf dem zwei Leitzordner standen, ein Teekocher und auch ein Tablett mit zwei Glastassen und einer Teedose.

„Darf ich schnell zur Toilette?“

„Klar, die liegt hinter dieser Tür“, er deutete auf die Tür neben dem Fenster, „schließ drinnen einfach die zweite Tür ab, denn ich teile mir das Bad mit dem Studenten im Zimmer nebenan.“

„Oh, klappt das denn gut?“

„Wir sehen uns kaum, er hat einen ganz anderen Tagesrhythmus als ich. Könnte schlimmer sein.“
 

Als ich aus dem kargen, funktionalen Bad zurückkam, in dem die Farbe Erbsengrün vorherrschte, war das grelle Deckenlicht Davids angenehm warm leuchtender Lavalampe gewichen, die auf dem Boden stand. Den Laptop hatte er auf den einfachen Holzstuhl verfrachtet und ihn schräg neben das Fußende des Bettes gestellt.

„Kommt mir das nur so vor, oder ist es saukalt hier?“

„Ja, die Heizung ist seit vorgestern leider im ganzen Ostflügel ausgefallen, aber morgen wird sie repariert. Tut mir leid, aber ich habe eine Decke.“

Einen Film zu finden, der uns beiden zusagte, war schwieriger als gedacht, dafür waren unsere Geschmäcker zu unterschiedlich. Schnell willigte ich ihm zuliebe ein, einen Film über Jesus zu schauen, der mich nicht interessierte, nur um die Verhandlungen nicht ewig hinauszuzögern. Ich gesellte mich zu David aufs Bett, woraufhin er den Film startete. Der Lattenrost knarzte unter der dünnen Matratze bei jeder Bewegung, und die Backsteinwand, an die wir uns lehnten, war trotz der Kissen, die wir davor gelegt hatten, ungemütlich.

Auf den Film an sich konnte ich mich kaum konzentrieren, weil ich von Davids Gegenwart abgelenkt war, vor allem der Nähe zu ihm. Seitdem ich wusste, was für ein Club der IGLU war, sah ich ihn mit ganz anderen Augen, und mir kamen gleich hundert Fragen auf einmal.

Irgendwann wechselte David seine Position, streckte sich aus, sodass wir uns zwangsläufig berührten und ich seufzte.

„Du, David, von mir aus können wir gerne kuscheln… So wie im Kino. Dann wird uns auch wärmer.“ Er lachte. „Können wir ja mal versuchen.“ Und er legte er den Kopf an meiner Schulter ab. Seine weichen Haare – das war wie die Fortsetzung vom Kino! Nur, dass wir jetzt ganz allein waren. Ohne den Störfaktor Jo. Ich wagte, näher an ihn heranzurücken, so dass ich bequemer sitzen und meinen Arm um ihn legen konnte. Perfekt. So ließ es sich eine Zeitlang aushalten.
 

„David?“

„Hm?“

„Darf ich dich was fragen?“

„Was denn?“

„Gefällt dir der Film? Ich finde ihn langweilig, ehrlich gesagt.“

„Oh. Was erhoffst du dir denn, was passieren soll?“

„Mehr Action... Wenn wir ihn zu Ende schauen, fahren so spät keine Züge mehr zu mir nach Hause.“ Es entsprach nur halb der Wahrheit, denn es fuhren noch Nachtbusse, das wusste er aber auch.

„Du kannst hier schlafen“, antwortete er prompt. „Wenn es dir nichts ausmacht, dass das Bett so klein ist.“

„Das macht mir nichts aus, ich habe schon in kleineren Betten geschlafen“, versicherte ich ihm. Dass ich selbst da auch kleiner gewesen war, sagte ich aber nicht.

David protestierte nicht dagegen, sondern streckte sich zum Fußende und klappte den Laptop zu.

Ich schüttelte die dünne Decke auf und zog sie mir bis zur Nasenspitze hoch. Schon löschte er das Nachtlicht, und ich musste dem Impuls widerstehen, von ihm abzurücken, denn sonst würde ich aus dem Bett fallen, ich lag jetzt schon nur mit einer einzigen Pobacke darauf, und zwar nicht auf der Matratze, sondern der harten Kante. So könnte ich doch nie im Leben schlafen. Warum hatte ich das vorgeschlagen!

Vom Flur her vernahm ich Trampelschritte von unsensiblen Studenten, und ab und an Türquietschen. Hier könnte ich niemals schlafen. Ich vermisste mein Zimmer, das war wirklich Luxus pur, gegen diesen Taubenschlag.

„Geht das hier jede Nacht so?“

David gluckste. „Am Wochenende ist es schlimmer. Da schlafe ich immer mit Ohrenstöpseln.“

„Ach du Schande. Schlaf lieber bei mir. Ich habe eine schöne Couch unter meinem Hochbett.“ Ich wusste selbst nicht, wieso ich das so großkotzig dahinsagte. Es musste die Nervosität sein. Dieses völlig absurde Ende dieses Abends, den ich noch einmal Revue passieren ließ. Die Fotos von Pablo… wie eng er mit David gewesen war.

„Haben Pablos Eltern ihn rausgeworfen, weil er schwul ist?“ Keine Antwort, aber diese Stille, als ob er den Atem angehalten hatte. „David?“

Er räusperte sich. „Darüber hat er nie geredet.“

„Verstehe. Das ist ja auch nicht leicht… wenn man so etwas über sich rausfindet! Und ich weiß, wovon ich rede, weil vor kurzem habe ich etwas ausprobiert…mit jemandem.“ Da lag so eine mörderische Spannung in der Luft. Aber war diese Spannung nicht von Anfang an zwischen uns gewesen? Seit der ersten Begegnung?

„Was hast du ausprobiert?“, flüsterte er. An meinem Hals spürte ich seine Hand und erschauderte. Ein Finger, der mir sanft über die Wange strich, dann über die Lippen. Ich beendete dieses Spielchen, indem ich die Flucht nach vorn antrat und ihn küsste. Suchte im Dunkeln seine Lippen mit meinen, und er kam mir entgegen. So weich, so heiß. Seine Zunge schickte eine Welle durch meinen ganzen Körper, und ich ließ das Denken lieber bleiben. David schmeckte gut, roch gut, er war sexy und der Alkohol tat das Nötigste dazu. Seine Küsse raubten mir jegliches Zeitgefühl. Sein Atem verriet seine Erregung. Während wir uns küssten, erforschten unsere Hände gegenseitig die Haut des anderen Körpers. Mann, war er hart. Ich aber auch.

„Dominique. Ich habe sowas noch nie gemacht“, gestand er mir im Flüsterton.

„Genieße es einfach.“ Ich hielt mich nicht mit Worten auf, wandte mich seinem Hals zu, bedeckte ihn mit Küssen, was ihm ein Seufzen entlockte. Da schmeckte ich das Metall seiner Halskette. Mit zwei Fingern packte ich das erstaunlich schwere Kreuz und schob es in den Ausschnitt seines Shirts. Bloß weg mit dem Ding! Dann zog ich ihm die Hose herunter.

Vorsichtig berührte ich das fremde Glied. Fühlte seine Wärme, seine samtige Beschaffenheit. Zuerst legte nur ich Hand an ihn, bald darauf David auch an mir. Mechanisch und zielgerichtet. Woher kam nur dieser rätselhafte Blütenduft, der mich plötzlich umnebelte, und nicht mehr klar denken ließ? Ich sog ihn in mir auf, immer gieriger, bis meine Lungen fast den Dienst verweigerten. Aber auch David keuchte, und das riss mich irgendwann mit. Es fühlte sich einfach nur richtig an, in seiner Hand zu kommen.

Unser Atem füllte die Stille aus, wurde allmählich ruhiger und leiser. In seinen Extremitäten verschlungen, schlief ich bald darauf ein.



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