Die Gefühle, über die wir nicht reden von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 2: St. Antonius ----------------------- Meine Mittagspause verbrachte ich meistens zusammen mit der Azubine Fatima im Pausenraum unserer Station, wo wir das Tagesmenü aßen. Die große Kunst bestand darin, den Gedanken, dass man das gleiche Essen einige Minuten zuvor den Bewohnern in pürierter Form angereicht hatte, erfolgreich zu verdrängen. Heute war es Kartoffelsuppe in einer Schnabeltasse aus Plastik, dazu Kaiserschmarrn, der eigentlich ganz in Ordnung war. „Du, Domi?“ „Mhh?“ Ich schaute von meinem Smartphone-Bildschirm auf, in den ich mich vertieft hatte. Fatima deutete auf mein Schälchen mit der grünen Götterspeise: „Krieg ich deinen Nachtisch?“ „Klar.“ „Danke! Du hast was gut bei mir.“ „Hmm.“ Ich vertiefte mich wieder in dem Online-Artikel eines lokalen Käseblatts, den Jo mir geschickt hatte. Bereits die Überschrift ließ erraten, um wen es sich dabei handelte: „Mit provokanter Kriegsbemalung das QUAKE erbeben lassen.“ Darunter befand sich ein Zweizeiler zum Abend im QUAKE, und ein Foto von Sandro auf der Bühne. Eine Blutspur zierte den Weg von seiner Nase in seinen Bart, über die schwarzen Lippen bis zum Kinn. Meine Ohren wurden heiß, als ich heranzoomte und die Folgen meines Faustschlages betrachtete. In diesem Moment hatte ich keinen Gedanken an Konsequenzen verschwendet. Ob mir jetzt eine Anzeige von ihm drohte? Und ich hatte ihm auch noch meinen Namen genannt. Aber das war nicht ich. Nie hatte ich meine Fäuste eingesetzt und so jemand wollte ich auch nie werden! Eine einkommende SMS. Ich wollte sie schon löschen, da ich sie für Werbung von meinem Mobilfunkanbieter hielt, doch in der Vorschau las ich meinen Namen: Hallo Dominique. Ich wollte fragen, wie es dir geht. Du warst so schnell weg am Samstag.“ Ich schrieb zurück: Hi David. Danke der Nachfrage, mir geht es gut. Ich bin auf der Arbeit, habe gerade Mittagspause. Bist du denn bis zum Ende geblieben, trotz dass es ja nicht so deine Musik war? Seine Antwort kam prompt: Mahlzeit! Ich habe auch gerade Mittagspause. Ja, ich war tapfer ;) Der Abend war schön. Lass uns bald mal wieder was zusammen unternehmen. Dem konnte ich nur zustimmen.   ~   Am Abend klopfte ich an Désirées Tür. „Ja?“, brummte meine Schwester von drinnen. Sie war mal wieder hinter ihrem Laptop abgetaucht und wippte dabei sachte auf ihrem Gymnastikball. Viele Grünpflanzen brachten Leben in ihr Schlaf- und Arbeitszimmer, und die Fotos im Bilderrahmen an der Wand zeigten sie mit ihrem Freund, mit Freunden, und eines sogar mit mir. Ich wusste gar nicht mehr, wann wir dieses Foto geschossen hatten, es musste wohl kurz nach meinem Einzug gewesen sein, so jung wie ich darauf wirkte.  „Desi, hast du Briefpapier, das du mir borgen könntest?“ „Briefpapier? Wofür?“ Sie zog eine Augenbraue hoch, beugte sich aber zur Seite und wühlte in ihrer Schreibtischschublade. „Um einen Brief zu schreiben, wofür sonst?“ „Hm. Mal schauen.“ Sie zog aus der Schublade eine Mappe hervor, die sie mir reichte. „Mehr habe ich nicht.“ Ich inspizierte den Bogen, und mir gefiel das rosa Papier mit den aufgedruckten Rosen. Es war wie geschaffen für den Zweck, genau das, was ich brauchte. „Es ist perfekt, Desi. Danke!“ Ich entzog mich ihrem lauernden Blick, doch sie musste unbedingt noch etwas loswerden: „Was machen deine Bewerbungen? Hast du nach Ausbildungsplätzen und Studiengängen geschaut? Hast du dir die Broschüren angesehen, das ich dir neulich gegeben habe?“ „Ja, ja.“ „Nimm das gefälligst ernst! Die Zeit läuft dir davon! Ewig kannst du dieses Händchenhalten im Altenheim nicht machen!“ „Es ist viel mehr als Händchenhalten.“ Damit verschwand ich aus ihrem Zimmer und setzte mich an meinen eigenen Schreibtisch. Das Briefpapier fühlte sich gar nicht wie normales Papier an unter meinen Fingern sondern so edel. Als ich es gegen das Licht hielt, entdeckte ich sogar ein Wasserzeichen. Ich hätte es meiner Schwester niemals zugetraut, Briefe auf solch teurem Briefpapier zu schreiben. Und was sollte ich nun schreiben? Nie hatte ich einen richtigen Brief geschrieben. Ich beschloss, einfach drauflos zu schreiben. So war es doch am authentischsten, als wenn ich an jedem einzelnen Wort feilte. Am Ende kam das dabei raus: Marie,   ich habe nur eine einzige Frage an Dich: Warum? Was war der Grund, dass Du eine Pause brauchst? Bitte verrate ihn mir, es lässt mir keine Ruhe. Das ist hardcore, von heute auf morgen nichts mehr von Dir zu hören, und dich auch nicht besuchen zu dürfen. Das ist wie Herz-Kidnapping! Wir haben doch eine schöne Zeit zusammen gehabt. Oder etwa nicht? Was hat dich denn gestört? Neulich beim Putzen hab ich noch ein paar deiner Haare gefunden. So sieht es in meinem Herz auch aus, nur dass ich die Überbleibsel von dir nicht so leicht wegkehren kann. Ich will Dich ja wirklich nicht nerven. Aber ich möchte einfach Klarheit für mich haben. Was auch immer der Grund ist - ich kann es verkraften. Also sei bitte ehrlich mit mir. Das ist das mindeste. Hast Du eigentlich meine Blumen erhalten?   Dein Nicki   PS: Sieh mal, was ich gefunden habe! Weißt du noch?   Dem Brief legte ich jenen Papierschnipsel bei, den ich in der untersten Schreibtischschublade fand. In einer trockenen Unterrichtsstunde hatte ich ihn auf Maries Tisch geworfen, mit Kuli geschrieben: „Was wohl passiert, wenn man eine Ente ententet?“  Dann beobachtete ich nur, wie ihre Schultern zu beben begangen. Zur Tarnung schnäuzte sie rasch in ein Papiertaschentuch, um nicht die Aufmerksamkeit des Geschichtslehrers auf sich zu ziehen. Es freute mich nicht nur, sie zum Lachen gebracht zu haben, sondern auch, zu erleben, wie sie die Beherrschung verlor. Postwendend war ihre Antwort auf meinem Tisch gelandet, ihre elegante runde Schrift mit blauem Füller: „Finden wir es doch beim Entenfüttern raus. Morgen nach der Schule?“  Nach diesem ersten Date waren wir offiziell zusammen. Ursprünglich hatte ich diesen Schnipsel aufbewahren wollen, mindestens bis zu unserer Hochzeit, doch um Marie an die guten alten Zeiten zu erinnern, dafür war mir jedes Mittel recht. Schnell eintüten und weg damit.   ~   Ende der Woche konnten Jo, David und ich uns endlich auf einen Kinofilm einigen: Die Sondervorstellung König der Löwen  in einem gemütlichen Programmkino. Jo dachte sich bestimmt, dass ich eh nichts Besseres vorhätte, da Marie nicht mehr meine Zeit beanspruchte. Das Traurige war, dass er damit teilweise richtig lag. Als ich mich zuhause fertig machte, überlegte ich lange, ob ich wirklich gehen sollte. Vielleicht meldete sich Marie, und ich wäre dann nicht zuhause? Aber dann schüttelte ich diesen Gedanken ab, das war doch lächerlich. Falls sie es sich doch anders überlegte, dann würde sie auch noch ein paar Stunden warten können.   Als ich wenig später zwischen Jo und David im Kinosessel saß, war ich froh, mich dafür entschieden zu haben, auch wenn das nicht gerade mein Lieblingsfilm war. Ringsherum erfüllte Knistern und Rascheln und Geflüster den Saal, während die Werbung lief. Verstohlen schielte ich rüber zu Jo. Obwohl er noch nie eine Trennung durchmachen musste, schien er genau zu wissen, was ich brauchte. Zu meiner Rechten saß David. Er beugte sich zu mir rüber. „Ich bin so müde“, gestand er mir. „Ich hoffe wirklich, dass ich nicht einschlafe. Aber heute war mein erster Tag als Kassierer und Regalauffüller.“ „Ach? Wo denn?“ „In einem Naturkostladen in der Innenstadt.“ „Cool. Aber wieso sagst du denn nicht ab, wenn du müde bist?“ „Jetzt, wo wir uns endlich auf einen Film einigen konnten? Aber keine Sorge, ich werde schon durchhalten, das habe ich mir fest vorgenommen. Ansonsten, weck mich bitte. Das ist einer meiner Lieblingsfilme.“ „Geht klar.“ „Pscht! Ruhe jetzt“, ermahnte uns Jo, als die Lichter ausgingen. Mampfte dann aber so laut Popcorn neben mir, dass es eine Zumutung war. „Selber pscht!“, fauchte ich zurück, und griff in seinen Rieseneimer hinüber, um mir eine volle Ladung Popcorn abzugreifen. Auf der Leinwand ging die riesige rote Sonne auf und im Publikum kehrte Stille ein. Auch Jo hielt einige Sekunden inne, bevor er weitermampfte. Später, an der Stelle, als Scar seinem Lieblingsneffen gegenüber ausplauderte, was sich hinter dem nördlichsten Ende und hinter den Hügeln verbarg, sackte plötzlich ein Gewicht auf meine Schulter. Vor Schreck verschluckte ich mich beinahe am Popcorn. Davids Kopf war zur Seite gerutscht, auf mich. Ich spürte seine Locken an meiner Wange und hielt den Atem an. Sie waren weicher als gedacht... „David“, sagte ich im Flüsterton. „Hey, wach auf.“ Keine Reaktion. Ich wackelte mit der Schulter auf und ab, doch auch das weckte ihn nicht. Dann ließ ich es einfach bleiben. Es störte mich nicht. Wenn es so bequemer für ihn war, bitte. Er roch auch nicht schlecht. Sogar ein wenig vertraut, irgendwie… Ein schlaftrunkenes Glucksen, dann nahm David den Kopf wieder weg. „Bitte entschuldige!“ Er hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. „Kein Ding“, erwiderte ich cool. Sichtlich peinlich berührt rutschte er von mir ab, so weit es im Kinosessel möglich war und ich konzentrierte mich wieder auf den Film. Versuchte es zumindest. Doch es wollte mir nicht so recht gelingen. Dass sich David so schnell entfernte, als ob ich die Pest hätte, missfiel mir. Jetzt, da das Gewicht seines Kopfes von meiner Schulter weg war, war es mir, als würde es mir fehlen. War ich so dermaßen ausgehungert nach körperlicher Nähe, dass ich sogar mit David kuscheln würde, wenn Marie nicht verfügbar war?! Beide hatten sie ja so eine üppige Lockenpracht… Das war doch absoluter Käse, was ich da dachte! Kopfschüttelnd sah ich zu ihm herüber. Den Ellbogen auf der mir abgewandten Armlehne, stützte er den Kopf in seine Hand, die Augen geschlossen und sah dabei aus wie ein Engel auf einem Kirchengemälde.  Auch Jo bemerkte nun, dass David schlief, und kicherte vor sich hin. Als er ein Popcorn nach ihm schnippte, das für einen Moment in seinen Locken hängen blieb, wachte David wieder auf. Er blinzelte erst orientierungslos und setzte sich dann mit verschränkten Armen gerade hin. Bei der Szene, wo Mufasa seinem Sohn befahl, dass er seinen Platz im Ewigen Kreis einnehmen sollte, zuckte ich zusammen, als ich ein Flüstern an meinem Ohr vernahm: „Das ist meine Lieblingsstelle.“ Ganz langsam drehte ich mich zu David. „Diese Stelle? Das war für mich immer zu viel Vater-Sohn-Gedöns. Wie der halbe Film eigentlich. Aber interessant, dass dir ausgerechnet diese Stelle gefällt, wo du doch von Berufs wegen nie Kinder haben… Aua!“, machte ich. Jos spitzer Ellbogen bohrte sich nämlich gerade zwischen meine Rippen. „Ruhe!“, zischte er. „Ist ja gut!“, zischte ich zurück. Das letzte Viertel des Filmes verfolgten wir schweigend. Als die Lichter angingen, beeilten wir uns, rauszukommen. Im Vorraum des Kinos angekommen, lehnte David Jos Einladung ab, noch ein bisschen zusammenzusitzen. „Komm gut heim“, sagte er zu Jo, und dann, an mich gewandt: „War schön.“ Erst viel später, als ich schon längst oben in meinem Hochbett lag und in die Dunkelheit starrte weil ich nicht einschlafen konnte, stellte ich mir die Frage, ob er damit den kurzen Moment gemeint haben könnte, als sein Kopf auf meiner Schulter… Aber nein. Allein, dass ich diese Deutungsmöglichkeit überhaupt in Betracht zog, das war ja totaler Wahnsinn.   ~   Am Freitag, als ich von der Frühschicht nach Hause kam, entdeckte ich im Briefkasten ein schlichtes weißes Briefkuvert, an mich adressiert. Zuerst dachte ich an Mama, dass sie endlich mal auf ihre Zweizeiler und die Postkarten verzichtet hatte, um mir einen ausführlichen Brief zu schreiben. Aber dann erkannte ich die runde Schrift und mein Herz machte einen Satz. Marie! So eilig hatte ich es, in die Küche zu kommen, dass ich mit dem Schlüssel erst gar nicht ins Schloss traf, so sehr zitterte meine Hand vor Aufregung. Fast stolperte ich über den Teppich im Flur. Mit dem nächstbesten Gegenstand, einem Kartoffelschäler, schlitzte ich den Umschlag auf und faltete das pastellfarbene Papier auf. Sie hatte Vorder- und Rückseite dicht mit Füller beschrieben.     Nicki!   Das ist ja mal eine total süße Idee, Briefe zu schreiben. Voll retro, wie in Omas Zeiten! Gefällt mir sehr! Du fragst nach den Gründen, ich kann es verstehen. Aber es ist nicht leicht zu beantworten. Also ich kann dir nur so viel sagen, dass ich mich nicht in jemand anderen verliebt habe. Aber ich kann auch nicht wirklich sagen, dass ich dich geliebt hätte. Sorry!!! Womöglich haben wir beide noch nicht die Menschen kennen gelernt, die die Liebe unseres Lebens sind. Aber wir sind auch erst neunzehn! Ich glaube, nicht mal meine Eltern lieben sich wirklich. Sie haben einfach das getan, was jeder in ihrem Umfeld von ihnen erwartet hat. Heiraten und Kinderkriegen gehört zu einem normalen Leben dazu wie den Führerschein zu machen oder den Schulabschluss. Aber das hat sie nicht unbedingt glücklich gemacht. Du findest es scheiße, dass deine Eltern geschieden sind, aber naja, wenn sie einfach nur zusammen bleiben und sich gegenseitig anschreien wie meine, ist das nicht unbedingt besser. Ich will niemals, niemals, nie wie meine Mutter werden!   Vielleicht ziehe ich nächstes Jahr aus. Langsam wird es Zeit, meinst du nicht? (Dank dir weiß ich mich jetzt in der Küche gut zu behaupten: Tomaten immer mit einem zackigen Messer schneiden! Und noch vieles mehr :) Ich brauche Abstand von jedem und Zeit für mich. Ich denke gerade viel über das Leben und die Welt nach, und schau mir alte Fotoalben an. Ja, und ich mache zur Zeit digitales Detox, das Handy bleibt aus und so. Das tut mir echt gut. Gehe viel spazieren, nachdenken. Außerdem habe ich das Malen entdeckt, mit Aquarell und Acryl male ich Stillleben auf Leinwand. Das wollte ich eigentlich schon vor dem Abi machen, aber dann war die Zeit sooo schnell um…   Eine Pause war halt einfach das, was sich für mich richtig angefühlt hat?!? Hätte nicht gedacht, dass es dich so aus der Bahn wirft. Tut mir so Leid, Nicki. Aber manchmal kamst du mir so abwesend vor, als ob es dich gar nicht interessiert, was in mir vorgeht. Wir machen gerade eine Phase durch, wo wir viele neue Erfahrungen machen, den Wechsel von Schule zu Ausbildung oder Uni. Das Leben ist wie eine weiße Leinwand, die man selbst bemalen darf, mit so unendlich vielen Möglichkeiten, dass es einen fürchtet. Besser wäre es, ein Grundverständnis von Farben zu entwickeln, um ein möglichst schönes Gemälde zu erschaffen. Doch die Erfahrung kommt nur mit dem Malen selbst. Blöd, dass einem leider nur eine einzige Leinwand zur Verfügung steht! Naja, ich höre mal lieber auf, dich vollzujammern. Eigentlich läuft doch alles prima bei mir. Ich weiß auch nicht, worüber ich mich beschwere, vielen geht es viel schlechter als mir!   Ja, deine Nelken. Sie stehen in einer Vase, sind noch nicht ganz verwelkt. Bitte kaufe mir aber künftig nichts mehr, sonst kriege ich nur ein schlechtes Gewissen.   Viele Grüße,   Marie   PS: ja, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern!   Noch ein zweites und drittes Mal las ich ihren Brief. Solche Gedankengänge hatte sie mir gegenüber nie geäußert. Ich mochte am liebsten den Abschnitt mit der Leinwand, den Vergleich zu einem Lebensentwurf, bei dem sie sich davor fürchtete, entweder Zeit zu verschwenden oder Mittel. Ob das aus einem Roman stammte? Eine ihrer britischen Schriftstellerinnen, die sie so sehr verehrte? Es war ihrem Brief anzumerken, dass Marie um ein Vielfaches mehr Bücher las als ich, irgendeines lag immer auf ihrem Nachttisch. Sie hatte es geliebt, Aufsätze zu schreiben, was für mich unverständlich war. Schade, dass sie sich nicht für ein Literaturstudium entschieden hatte. Warum hatte ich sie nie dazu ermutigt? Kannte ich Marie wirklich? Ich würde ihr auf jeden Fall noch einmal schreiben, denn untersagt hatte sie mir nur Geschenke, nicht das Schreiben… Ich würde um sie kämpfen, es zumindest versuchen. Irgendwas sagte mir, dass das letzte Wort zwischen uns noch nicht gesagt war.   ~   Am Samstagabend ertappte ich mich dabei, am Ende des Stiftes herumzukauen. Nein. Das war einfach nur Mist, was ich da geschrieben hatte. Das war in der Tonne besser aufgehoben! Der erste Brief an Marie war mir erstaunlicherweise leichter von der Hand gegangen als jetzt der zweite. Ich war so leer wie das Blatt auf dem Tisch vor mir. Briefeschreiben war gar nicht so einfach; es war nicht nur ein ganz anderes Medium als ein Chat, sondern die Regeln der Kommunikation waren grundverschieden. So banal diese Erkenntnis war, so frustrierend war sie gleichzeitig. Ich kratzte mich am Kopf und sammelte mich innerlich. Ich hätte das Handy stummschalten sollen… Gerade war mir ein Gedanke in den Sinn gekommen, da riss mich ein SMS-Ton wieder raus. Das konnte nur David sein. Schon wieder? Zwar passte es mir jetzt gerade so gar nicht, aber ich wollte gleichzeitig auch wissen, was er mir schrieb, also angelte ich das Handy, das am Ladekabel hing. Hallo Dominique. In deinem Stadtteil ist doch die St. Antonius Kirche. Ich besuche morgen dort den Gottesdienst. Magst du mich begleiten? In die Kirche? Mit David? Hier in meinem Viertel? Stimmt, den Kirchturm konnte ich vom Fenster aus sehen. Seit ich hier wohnte, hatte ich diese Kirche aber noch kein einziges Mal von innen gesehen, geschweige denn den Gottesdienst besucht. Oder kannte überhaupt den Pfarrer. Ich hatte mir nicht mal die Frage gestellt, ob das eine katholische oder evangelische Kirche war. Seit wann war ich nicht mehr in der Kirche gewesen? Zu meiner Kommunion, oder kurz danach? Das war Jahre her…ein anderes Leben. Da war mein Vater noch dabei gewesen! Ich googelte die besagte Kirche, die sich nur ein paar Blocks weiter befand, und stellte erstaunt fest, dass sie sogar eine eigene Website besaß. Nach einigem Überlegen schickte ich David mein OK. Warum auch nicht? In letzter Zeit tat ich viele Dinge, die unüblich für mich waren, wie Briefe schreiben oder fremden Leuten auf die Nase hauen. Wieso dann nicht auch mal wieder in die Kirche gehen?   ~   Die St. Antonius Kirche wirkte aus der Nähe noch imposanter. Die herbstliche Morgensonne ließ ihre weißen Mauern erstrahlen. Ich ließ den Anblick auf mich wirken. Vor dem Haupteingang, waren Davids Worte gewesen. Ich saß auf einer der Bänke auf dem mit Kopfsteinpflastern ausgelegten Hof und wippte mit dem Fuß, beobachtete die vorbeigehenden Menschengrüppchen. Ich prüfte mein Handy, aber keine Nachricht war eingegangen. Irgendwann tauchte David in meinem Blickfeld auf, seine Locken wippten auf und ab beim Gehen, so eilig schien er es zu haben. „Hallo“, begrüßte er mich und nahm die Hände aus den Taschen seines dünnen Parkas, der gleiche Rost-Farbton wie die Herbstblätter am Boden. „Ich habe die Straßenbahn verpasst, weil ich zuerst auf der falschen Seite gestanden war. Sorry!“ „Hey“, sagte ich und stand auf. „Macht doch nichts, ist mir auch passiert am Anfang. Äh, ich will ehrlich sein, ohne dich wäre ich heute nicht her gekommen...“ „Schön, dass du dir trotzdem die Zeit genommen hast.“ Ich zuckte die Achseln. „Ich bin frischer Single, natürlich habe ich Zeit.“ Darauf schenkte er mir nur ein Lächeln, das alles bedeuten konnte oder auch gar nichts, und ich erhob mich. „Hast du Jo auch gefragt?“ „Nein“, gab er zurück, während wir nebeneinander auf den Eingang zugingen. „Er ist evangelisch.“ Das hatte ich gar nicht bedacht, aber das stimmte. Jos Konfession hatte vorher nie eine Rolle für mich gespielt. David streckte die Hand nach dem Griff der massiven Holztür aus und ich folgte ihm in das Halbdunkel des Vorraums, wo ich ein Regal mit Broschüren ausmachte, durch eine Glastür in das Innere der Kirche. Er griff zur Seite, in die Schale mit dem Weihwasser und machte vorbildlich das Kreuzzeichen. Mich überlief ein Schaudern; meine Finger hielt ich dem Weihwasserbehälter fern, denn Bakterien war göttlicher Segen gleichgültig. Ein paar Schritte ging er auf den glatten Marmorfliesen, dann blieb er mitten im Kirchenschiff stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Ja, es war eine Kirche wie aus dem Bilderbuch. Nicht sehr groß, und trotzdem gigantisch. Oben drang gleißendes Sonnenlicht durch die Buntglasfenster. Verzierter Stuck und Fresken zierten die unendlich entfernt scheinende Decke. Nun ging David die Bänke entlang, schaute sich nach einem Sitzplatz auf der rechten Seite um und mir wurde mulmig, je weiter er nach vorne schritt. Er wollte doch wohl nicht in die erste Reihe, wie ein Streber!? Doch diese war bereits voll besetzt. Vor der dritten Reihe macht er einen Knicks, bevor er nach rechts abbog und sich auf der Bank niederließ, ziemlich nahe an einer älteren Dame, die er leise begrüßte. „So weit nach vorn, muss das sein?“ „Na, wir sind ja schließlich nicht im Kino, oder?“, gab er zur Antwort. „Wohl wahr.“ Hier würde es ihm eher nicht passieren, an meiner Schulter einzunicken. Ich beobachtete das Geschehen um mich herum. Wie die Leute hereinkamen und zielstrebig ihre Plätze einnahmen. Die Ministranten in ihren weiß-roten Gewändern, die auf der Altarinsel damit beschäftigt waren, Kerzen anzuzünden. Aber noch viel mehr faszinierte es mich, David zuzusehen, der sich im Laufe des Gottesdienstes wie ein mustergültiger Kirchgänger verhielt. Wie er der Predigt des Pfarrers lauschte. Seine Haltung beim Knien; die Art wie er seine Hände beim Beten gefaltet hielt. Die Souveränität, mit der er auf Anhieb die richtige Seite in meinem Gotteslob aufblätterte, als ich ihm einen hilflosen Blick zuwarf. Wie sich seine Lippen beim Singen bewegten, er das Lied auswendig kannte; wie nonchalant er die ihm gereichte Kollekte weiterreichte, nicht ohne eine Münze hinein zu werfen. Beim Friedensgruß sich über die Bank beugte, um auch den Menschen aus der Reihe vor und hinter uns den Frieden zu wünschen, als würde er sie seit Jahren kennen. Und wie er trotz des penetranten Geruchs des Weihrauchs keine Miene verzog. Gegen Ende, als der Pfarrer, ein Mann im mittleren Alter, die Kommunion verteilte, blieb er noch eine Weile stehen und unterhielt sich mit ihm. „War sehr schön, seine Predigt“, sprach er gegen die Glocken an, als wir wieder draußen waren. „Fandest du nicht? Hat mir besser gefallen als die Messe neulich im Ostend.“ Seine Wangen waren gerötet, er schien freudig erregt. Auf meinen irritierten Blick hin fügte er hinzu: „Du musst wissen, seit ich hier wohne, besuche ich jeden Sonntag den Gottesdienst in einem anderen Stadtteil. Das ist ein Vorteil dieser riesigen Stadt, dass es so viele Kirchen zur Auswahl gibt.“ „Ernsthaft, du gehst jeden Sonntag in eine andere Kirche? Ist das nicht irgendwie…“ Er schaute mich erwartungsvoll an, doch mir fiel kein passendes Wort dazu ein. „Sollte man nicht irgendwie seine Stammkirche haben, oder so?“ Er zuckte die Achseln. „Ich möchte unterschiedliche Eindrücke sammeln.“ „Witzig. Seit ich hier wohne, habe ich noch keine einzige Kirche von innen gesehen. Und das sind schon zwei Jahre.“ „Du wohnst erst zwei Jahre hier? Ich dachte, du wärst hier aufgewachsen.“ „Nein. Ich komm aus einer Dorf, ein bisschen weiter weg.“ „Wir sind also beide Landeier?“ „Kann man so sagen.“ „Und du wohnst hier alleine?“ „Nein, ich bin bei meiner Schwester eingezogen, die eigentlich für ihr Chemie-Studium hierher gezogen ist, und geblieben ist.“ Den Blick hatte er wieder Richtung Kirche gewandt. „Wirklich ein schönes Bauwerk...“ „Soll ich vielleicht ein Foto von dir machen?“ „Ja, das wäre schön! Komm doch mit drauf.“ Also schoss ich ein Selfie von uns mit dem Kirchturm im Hintergrund. Durch die Linse der Handykamera war es, als sähe ich ihn zum ersten Mal richtig an. Seine oberen Schneidezähne waren ein klein wenig länger als der Rest der Zahnreihe. Dazu dieses pausbäckige Gesicht und diese braunen Augen. Er sollte Werbung für Vollmilchschokolade machen, die Absatzzahlen würden explodieren. „Ist das Foto nichts geworden?“, erkundigte sich David. Ich räusperte mich. „Äh, doch“, erwiderte ich hastig. „Ich überlege nur, wie ich es dir schicke; am besten per E-Mail, wie ist denn deine Mailadresse?“ Er verriet sie mir und ich verschickte daraufhin das Foto. „Danke. Du, Dominique. Hast du vielleicht noch Lust auf einen kleinen Spaziergang? Am Flussufer lang? Dort ist die Straßenbahn vorbeigefahren und ich fand die Aussicht so schön.“ „Ja, der Weg da ist schon cool.“ Also setzten wir uns in Bewegung, Richtung Haltestelle. „Du bist wohl gerne zu Fuß unterwegs“, kommentierte ich seinen zügigen Gang. Kein Wunder, er war schließlich auf dem Jakobsweg gewesen. „Naja, ich war schon immer gerne draußen in der Natur. Als Kind bin ich viel wandern gewesen, mit meinem Vater und meinem Bruder, im Wald oder in den Bergen. Und mein Vater weiß so viel über Tiere, Pflanzen, Steine...über alles Mögliche.“ Gerade kamen wir an der Eisdiele vorbei, die bei diesem Wetter gut besucht war. „Magst du vielleicht ein Eis?“ Nun blieb David stehen. „Wenn sie veganes Eis haben, dann gerne.“ „Oh. Ich weiß nicht, ich frage mal eben nach.“ Also trat ich an das Fenster heran, wo mich die freundliche Bedienung sogleich empfing. Meine Frage musste sie leider verneinen und zerknirscht ging ich zu David zurück. Der nahm es ganz locker auf. „Macht nichts, ich habe in der Innenstadt eine Eisdiele entdeckt, die veganes Eis herstellt. Dahin lade ich dich gerne mal ein.“ „Oh ja! Tu das. Noch bevor es Winter wird.“ David versprach es. Der Weg führte am Fluss entlang, über ein kleines Waldstück aus der Stadt heraus und war im Sommer bezaubernd. Mit Marie war ich hin und wieder hier spazieren gewesen. Auf einer dieser Bänke hatten wir im Sommer gesessen, am letzten Tag vor ihrer Ausbildung. Ihr Kopf auf meinem Schoß gebettet, genauso wie jenes Paar dort. Schön war der Sommer gewesen, auch wenn wir nicht gemeinsam nach Paris gefahren waren. Das Gefühl, sie an meiner Seite zu wissen, meine verrückten Gedanken mit ihr zu teilen und die Aussicht darauf, mich auch in zwanzig Jahren noch mit ihr zusammen zu erinnern, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, hatte mich optimistisch auf die Welt blicken lassen. Auf Anhieb konnte ich mir keinen anderen Menschen vorstellen, mit dem ich wieder so eine Verbindung haben würde. Oder wollte. Um nicht länger über Marie nachzudenken, sagte ich zu David: „Erzähl mir doch von deinem Studium. Wie läuft es so?“ „Interessiert dich das wirklich?“ „Na klar! Wie kam es dazu, dass du Theologie studieren wolltest?“ „Das erschien mir schlüssig. Ich habe eine enge Verbindung zu Gott, meine ganze Familie eigentlich, wir sind jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Ich war Messdiener und bei den Pfadfinden und habe mein ganzes Leben schon die Traditionen und Bräuche zelebriert. Kirche ist einfach etwas Einmaliges. In der Kirche eint uns das, was uns in weltlichen Angelegenheiten trennt. Gott interessiert es nicht, wie viel Geld jemand hat.“ „Und was genau lernt man in diesem Studium? Sich Bestätigung von Professoren holen, dass das, was in der Bibel steht, das einzig Wahre ist?“ Zugegeben, etwas Provokation lag schon in meiner Frage. „Ganz und gar nicht, im Gegenteil. Der Glaube ist nicht mal Zugangsvoraussetzung. Aber das erste Semester ist für mich auch ein bisschen desillusionierend, einfach weil ich es mir anders vorgestellt habe. Nicht im negativen Sinne. Sogar wahnsinnig spannend. Es geht viel ums Hinterfragen. Das, was wir in der Schule im Religionsunterricht gemacht haben, damit kann man es überhaupt nicht vergleichen.“ David erzählte mir mehr über den Inhalt seiner einzelnen Module und seine Dozenten. Deutlich hörte ich seine Begeisterung heraus. „Ich glaube dir gern, dass dein Studium interessant ist, weil du dich mit Sachverhalten auseinander setzt, die dich interessieren. Aber danach? Pfarrer werden und in einer Kirche Gottesdienst halten, willst du das wirklich?“ Darüber schien er wirklich eine Weile nachdenken zu müssen. „Pfarrer sein ist viel mehr als nur Gottesdienst halten: Für seine Gemeinde da sein, Seelsorger sein, Feste zelebrieren und Sakramente spenden. Es ist der schönste Beruf, den es gibt.“ Die Begeisterung sprudelte aus jedem seiner Worte. Einen kleinen Hauch Neid konnte ich nicht leugnen, darüber, dass er seine Profession gefunden hatte und ich dagegen noch nicht. „Aber ehrlich gesagt, bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob ich danach wirklich Priester werden will. Das ist nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung“, schloss er. „Das sollte man reichlich gut überlegt haben.“ „Warum? Wegen dem Zölibat?“ „Ja, naja, nicht nur…“ Da vibrierte sein Handy zweimal. Er blieb stehen und holte es aus der Tasche, um eine SMS zu lesen. Es war spannend, ihn dabei zu betrachten. Wie sich seine Mimik veränderte. „Hm“, machte er und packte das Handy wieder weg. „Gute oder schlechte Nachrichten?“ „Kann ich noch gar nicht so genau sagen, ehrlich gesagt...“ Er schien wie ausgewechselt. Unser Gespräch war abgerissen und er fädelte es nicht wieder ein. Dabei brannten mir noch einige Fragen unter der Zunge. „Dominique, ich würde jetzt ehrlich gesagt lieber umkehren, ich fürchte, ich habe mir eine Blase gelaufen.“ „Kein Problem.“ Also steuerten wir die Haltestelle an. Ich schielte fast zu offensichtlich auf seine Schuhe, die leicht getragen aussahen. Bekam man Blasen nicht eher von neuen Schuhen? Davids Miene war sehr verkniffen. Er ging so zügig, dass ich Mühe hatte mit ihm Schritt zu halten – viel zu schnell für jemanden mit schmerzenden Füßen. „Danke für deine Zeit. Gott behüte dich“, verabschiedete er sich. Als ich mich dazu durchrang, mich noch ein Mal zu ihm umzudrehen, sah ich ihn nur über das Handy gebeugt an der Haltestelle stehen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)