Stray Dogs Monogatari von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 4: Der Besuch des Fürsten Edogawa ----------------------------------------- Den dunklen, nächtlichen Himmel über Yokohama im Rücken, behielt Fukuzawa seine Mitarbeiter eisern im Blick. Kenji war mittlerweile älter als der Chef selber es eigentlich war und das schnelle Altern tat sogar seiner sonst stets guten Laune gehörigen Abbruch. Trotzdem war Kenji eben Kenji und er glaubte fest daran, dass die anderen das Problem schnell lösen würden. „Ich wünschte nur, es würde ganz bald geschehen“, hatte er schon mehrmals wiederholt und alles, was Fukuzawa und Yosano für ihn tun konnten, war, ihm Recht zu geben. Yosano selbst war immerhin bisher von keinen Veränderungen betroffen, wenn man davon absah, dass sie sich nicht mehr an Haruno erinnern konnte und sich langsam fragte, ob sie sich Tanizaki nur eingebildet hatte. Naomi war derweil der festen Überzeugung, nie einen schüchternen Rothaarigen gekannt zu haben. Dazai und Kunikida waren bereits aus ihrem Gedächtnis getilgt. Fukuzawas Augen wanderten zu Atsushis mit Haftnotizzetteln voll geklebten Schreibtisch und dem Mädchen – nein, der jungen Frau, die dort saß. Kyoka war um gute 20 Zentimeter gewachsen und um mindestens zehn Jahre gealtert. Ihre nun hochgewachsene Statur gab ihrer Erscheinung etwas Elegantes. Sie erwiderte seinen ernsten Blick kurz mit einem ebenso ernsten Gesichtsausdruck und widmete sich rasch wieder den Zetteln vor sich. Immer und immer wieder las sie sie durch. Seit Kenji vor einer Stunde gefragt hatte, wer denn Atsushi war, war Kyoka geradezu an ihrem Platz vor den Notizen festgewachsen. Schon vor Stunden hatte Fukuzawa dem Innenministerium, sowie allen momentanen Klienten Bescheid gegeben, dass die Detektei wegen Krankheit aller Angestellter bis auf weiteres geschlossen blieb. Er hasste es zu lügen, aber welche andere Option hatte er? Er hatte es damals eigenmächtig entschieden, Wells von dannen ziehen zu lassen, damit er die beiden Damen nach Hause bringen konnte. Jetzt dem Innenministerium zu sagen, dass sie genau deswegen Probleme hatten, kam damit nicht in Frage. Sowieso, wenn die falschen Leute von ihrer misslichen Lage erführen …. Als hätte es auf ein Stichwort gewartet, klingelte Fukuzawas Handy. Beim Blick auf die Nummer, die im Display angezeigt wurde, verfinsterte sich die Miene des Chefs drastisch. Äußerst widerwillig ging er ran. „Fukuzawa, alter Freund“, erklang Moris Stimme und entlockte ihm ein unzufriedenes Murren als Reaktion, was den Boss der Hafen-Mafia allerdings nicht weiter störte. „Ich wollte mich nur kurz erkundigen, ob ...“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause, „ … in der Detektei alles in Ordnung ist? Oder gab es irgendwelche Vorkommnisse in den letzten 24 Stunden?“ Fukuzawa stutzte. Wieso in aller Welt …? Mori konnte von ihrer Situation unmöglich wissen, außer …- „Was wollen Sie, Mori?“ „Aber nicht doch! Seien Sie doch nicht gleich so feindselig. Dass Sie meiner Frage ausweichen, deute ich dann mal als 'ja.'“ „Ich habe zu tun.“ „Huh? Nein, nein, einen Moment bitte! So ungesellig wie eh und je, wie? Na gut, ich komme gleich zur Sache. Es gibt da ein, zwei Dinge, die ich gerne mit Ihnen besprechen würde. Persönlich. Denn ich bin mir sehr sicher, dass dies das Misstrauen in unserem Gespräch in Sekundenschnelle in Luft auflösen würde.“ „Ich wüsste nicht, was ich mit Ihnen zu besprechen habe.“ „Oh, das wissen Sie sehr wohl. Wir sollten nämlich einmal über einen gemeinsamen Bekannten von uns sprechen. Einen Briten mit einer äußerst lästigen Fähigkeit …“ Die Miene des Chefs verriet seine Überraschung, doch seine Stimme blieb stoisch. „In einer Stunde vor dem britischen Konsulat im Harbor View Park.“   Die weißen Wände der großen Villa, in der das britische Konsulat seinen Sitz hatte, glitzerten im Mondschein. Auf dem Gelände herrschte um diese späte Stunde absolute Stille. Normalerweise verirrte sich auch niemand mitten in der Nacht in den frei zugänglichen, üppigen Garten, der sich vor dem Gebäude befand. Nur in dieser Nacht war es dort ungewöhnlich betriebsam. Yosano war verständlicherweise alles andere als begeistert, aber wenn die Vermutung ihres Vorgesetzten richtig war, dann hatten sie zeitgleich Grund zur Beruhigung und Beunruhigung. Aus dem Augenwinkel ließ sie ihren Blick im Schein der Straßenlaternen über diejenigen schweifen, die mitgekommen waren: ein Kenji mittleren Alters, eine Mitzwanziger-Kyoka und ein momentan etwa gleichaltriger Chef. Dies war der klägliche Rest des Detektivbüros, denn sie hatten nur Naomi in der Detektei zurückgelassen und momentan hoffte Yosano, dass diese auch noch da wäre, wenn sie wiederkamen. Auf sie zukommende Schritte ließen ihre Augen wieder nach vorne schnellen. Und als die Personen, zu denen die Schritte gehörten, einen Moment später vor ihnen auftauchten, musste sie sich zusammenreißen, nicht loszuprusten. Der klägliche Rest der Hafen-Mafia war bei ihnen angekommen. Mori sah aus, als stünde er kurz vor dem Oberschulexamen, was seiner sonst so düsteren Aura enormen Abbruch tat. Mit einem zu großen Anzug, der wirkte, als würde er ihn tragen und nicht andersherum, und der braven Kurzhaarfrisur machte er wirklich nicht den Eindruck, der gefürchtete Boss der Hafen-Mafia zu sein. Neben ihm stand Tachihara, der aussah wie immer, aber auf einem Arm ein schlafendes, schwarzhaariges Kleinkind in einem viel zu großen grauen Oberteil trug und an der anderen Hand einen griesgrämig dreinblickenden, kleinen Jungen im Grundschulalter hatte, dessen weißes Hemd so überlang war, dass es aussah wie ein Kleid. Trug der kleine Junge etwa ein Monokel am rechten Auge? „Tachihara, lass mich los. Das ist demütigend“, empörte das Kind sich. Der sichtlich gestresste Rothaarige haderte mit dieser Aufforderung. „Aber gerade eben auf der Straße hätte dich das Auto fast übersehen …“ „Entweder du lässt meine Hand los oder ich reiße sie dir vom Körper!“ Hastig ließ Tachihara den Jungen los und redete umgehend beschwichtigend auf ihn ein: „Bitte, nicht so laut, Hirotsu. Gin ist gerade erst eingeschlafen und wenn sie aufwacht, geht das Geschreie wieder lo-“ „WHÄÄÄÄÄÄ!! WHÄÄÄÄÄÄ!!“ „Verdammt!“, fluchte Tachihara und wog überfordert das Kleinkind auf seinen Armen. „Wie kann jemand, der sonst nie redet, so laut schreien??“ „Das …“ Yosanos Mundwinkel zuckten. „Das ist die Schwarze Echse?“ „Ich sehe, wir haben ein ähnliches Problem“, sagte Mori, ruhig wie immer, nachdem er einen kurzen, aber eindringlichen Blick auf seinen Gegenüber geworfen hatte. „Ich würde ja sagen, Sie sehen gut aus, Fukuzawa, aber ich glaube, unser Zustand ist eher bedenklich.“ Der Angesprochene ließ seine Augen von dem unfreiwillig komischen Anblick der Schwarzen Echse zum Boss der Hafen-Mafia wandern. „Es betrifft Sie also auch.“ Mori seufzte leise. „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, darauf gehofft zu haben, dass Ihre Detektei auch von diesem Phänomen heimgesucht wird. Wir sind schließlich die einzigen, die das letzte Mal das Vergnügen mit Herrn Wells hatten.“ So gerne wollte Fukuzawa entgegnen: Und wessen Schuld war das?, doch er ließ es. Das half ihnen im Moment nämlich auch nicht. Stattdessen atmete er hörbar aus. „Der Rest der Stadt scheint nicht betroffen zu sein.“ „Noch nicht.“ Der Chef der Detektive stutzte. „Wie meinen Sie das?“ „Meine Leute lösen sich schneller in Luft auf als ich gucken kann“, antwortete Mori und klang mit einem Mal todernst. „Wenn die Hafen-Mafia als eine der drei Stützen der Stadt wegfällt, wird hier die Hölle losbrechen. Feinde und Mitbewerber meiner Organisation lauern in einem Stück darauf, dass wir auch nur den kleinsten Fehler machen und sie sich dann auf uns stürzen können. Wenn einer von diesen Leuten von unserer aktuellen Situation erfährt und dies für einen Angriff auf uns nutzt und daraufhin ein Machtvakuum in der Unterwelt entsteht, wird mit der Hafen-Mafia schlussendlich auch Yokohama untergehen. Ihr kleines Detektivbüro wird dann auch machtlos gegenüber so einem kriegsähnlichen Szenario sein.“ „Tolle Aussichten“, warf Yosano spöttisch ein. „Als wäre unser Tag noch nicht schlimm genug gewesen.“ „Wenn also unser nervöser Freund aus Übersee hierfür verantwortlich ist“, fuhr Mori fort, „dann müssen wir ihn schnell finden und seine Fähigkeit aufheben …“ Er stockte, sah zu den anderen Detektiven und letztlich wieder zu Fukuzawa. „Sagen Sie nicht, es hat Dazai erwischt? Und den vorlauten Meisterdetektiv auch? Auf die hatte ich meine Hoffnungen gebaut.“ „Wir haben die Vermutung“, antwortete Fukuzawa gefasst, „dass Wells nicht hier ist. Nicht in unserer Zeit.“ Plötzlich fiel ihm etwas auf. Er hatte die ganze Zeit angenommen, dass die Detektei von den Anomalien betroffen war, weil Ranpo und die anderen in die Vergangenheit befördert worden waren, aber wieso in aller Welt war die Hafen-Mafia ebenso betroffen? „Erzählen Sie mir, was geschehen ist, bevor die ersten Anomalien bei der Hafen-Mafia aufgetreten sind.“ Nun war es an dem schwarzhaarigen Mann, zu stutzen. „Was passiert ist, bevor die Anomalien begannen?“ Mori überlegte kurz. „Wenn ich so darüber nachdenke, dann gab es ein Ereignis, das sich von den später aufgetretenen Anomalien unterscheidet. Am Vormittag war ich mit dreien meiner Leute in meinem Büro zu einer Besprechung, als plötzlich ein surrendes und zischendes Geräusch ertönte und eine Sekunde später meine Leute sich in Luft aufgelöst hatten. Kurz darauf verschwanden mehr und mehr Mitglieder der Hafen-Mafia. Als wir vorhin aufgebrochen sind, hatten wir auch eigentlich noch … diese Frau dabei, wie hieß sie doch gleich …?“ „Koyo, Sie meinen Frau Koyo“, flüsterte Tachihara, während er weiter Gin schaukelte. „War das ihr Name?“ Mori fasste sich nachdenklich mit einer Hand an sein Kinn. „Jedenfalls war sie plötzlich ebenso weg. Wie Sie sehen, vergessen wir uns gegenseitig, altern zu schnell oder werden wieder jünger.“ Er blickte an sich herunter und seufzte noch einmal. Dieses Mal noch tiefer als zuvor. „Wenn das so weitergeht, ist Elisechen bald größer als ich.“ „Chef“, fragte Kyoka erschrocken, als ihr und den anderen Detektiven bewusst wurde, was Moris Erzählung bedeutete, „heißt das etwa … Atsushi und die anderen könnten in der Vergangenheit auf Mitglieder der Hafen-Mafia treffen?“ „Mori“, wandte sich Fukuzawa - zum Erstaunen des Mafiabosses ungewohnt fahrig – an ihn, „welche Ihrer Leute haben sich in Ihrem Büro in Luft aufgelöst??“   „Der Weg ist weiter als ich gedacht hatte“, keuchte Dazai, die Sänfte über den großflächigen Palasthof tragend, während der weiße Kies des Geländes unter seinen von Wells geliehenen Sandalen knirschte. „Und Ranpo ist schwerer als ich gedacht hatte.“ „Ich kann dich hören“, nörgelte dieser aus dem Inneren der Sänfte. „Dazai, wenn du sonst schon keine Manieren hast, dann tu wenigstens jetzt so, damit unsere Tarnung nicht auffliegt.“ Kunikida rannten dicke Schweißperlen die Stirn hinunter, aber es war wenig überraschend, dass nichts auf der Welt ihn über Ranpos Gewicht klagen lassen würde. „Du hättest eigentlich sagen sollen, dass ich federleicht bin“, meldete sich ihr Pseudo-Adliger wieder aus der Sänfte und die Schweißperlen auf Kunikidas Stirn vervielfachten sich auf der Stelle. „J-ja, das wollte ich noch anfügen …“ Abrupt blieben die Hofbediensteten, die vorneweg gegangen waren, vor einem der Gebäude stehen. „Hier befinden sich die Quartiere der Hofdamen“, einer von ihnen zeigte auf das Gebäude, das wie viele der anderen hier aus dunklem Holz und weißem Gips gebaut worden war. Eine hölzerne Veranda war ihm vorgelagert und silbern glänzende Lehmziegel mit üppigen Verzierungen schmückten das Dach. Andere Bauten auf dem Gelände waren strahlend rot angestrichen und zu einer Seite ging es zu einem weiten, riesigen Teich, über den steinerne Brücken führten und der rundherum von Bäumen gesäumt war. Komplett planlos blieben auch die Detektive stehen. Hoffentlich wusste Ranpo, wie das weitere Prozedere ablaufen sollte. Sie wussten es nämlich nicht. „Mein Besucher darf eintreten“, ertönte da aus dem Inneren des Gebäudes die Stimme Seis und rettete sie damit. Dazai und Kunikida ließen die Sänfte vorsichtig zu Boden und Letzterer öffnete sogleich die Seitenklappe und reichte Ranpo eine Hand zum Aussteigen. Mit ungewohnt ernster Miene griff der Meisterdetektiv die ihm dargebotene Hand, stieg geradezu grazil aus der Sänfte und begab sich mit einer Anmut, welche die des Chefs beinahe in den Schatten stellte, zu der kleinen Treppe, die hinauf zum Eingang führte. „Ihr dürft euch entfernen“, rief Sei streng und die Palastangestellten verbeugten sich vor der Schiebetüre, die nur einen kleinen Spalt weit geöffnet war. „Kommt hier entlang“, wandte sich einer von ihnen an die zwei zu Dienern umfunktionierten Detektive, die nach ihrer nur kurzen Verschnaufpause wieder die Sänfte anheben durften, um sie wegzutragen. Aus dem Augenwinkel konnte Dazai noch sehen, wie die Schiebetüre geschwind aufgeschoben wurde, Ranpo eintrat und sie ebenso geschwind wieder zugeschoben wurde. „Er scheint in seiner Rolle als Edelmann ja richtig aufzugehen“, bemerkte er leise und feixend in Kunikidas Richtung, während sie das Quartier der Hofdamen hinter sich ließen. „Hoffentlich gefällt ihm diese Rolle nicht zu gut.“ Kunikida stöhnte.   „Das hat ja schon einmal vortrefflich funktioniert!“ Sei strahlte wie ein Honigkuchenpferd, nachdem sie Ranpo hineingelassen hatte. Von ihrer Strenge war nichts mehr zu sehen oder zu hören und auch die Anmut und Grazie ihres Besuchers war wie weggeblasen. Ranpo blickte drein wie immer. „Wo geht's lang?“ „Hier.“ Die beiden gingen schnellen Schrittes, um nicht von anderen gesehen zu werden, den Gang einige Meter hinunter. Dann schob Sei eine weitere Tür auf und sie und Ranpo betraten das Zimmer Murasakis. „Es ist so, wie ich es vorgefunden habe“, erklärte die Hofdame und blickte erwartungsvoll zu dem Meisterdetektiv. Ranpo zog seine Brille unter seinem Gewand hervor, atmete kurz erleichtert auf, weil sie noch da war, setzte sie auf und begann, seine Augen durch den Raum wandern zu lassen. Nur wenige Momente später entfuhr ihm ein „Ah“ und Sei guckte erstaunt zu ihm. „Ist dir etwas aufgefallen?“ Mit ernster Miene zog er seine Brille wieder aus und verstaute sie von neuem. „Ich denke, ich weiß jetzt, was passiert ist. Aber da ich mich hier nicht so gut auskenne, kenne ich die genauen Umstände nicht. Noch nicht.“ „Du bist unglaublich, Ran-“, wollte Sei sich gerade freuen, als die Tür von außen aufgeschoben wurde und sie erschrocken innehielt. „Ach, Sei, du bist hier. Mir war nämlich eben so gewesen, als hätte ich ein Geräusch vernommen.“ Eine Frau war in der Tür erschienen. Sie hatte helles, langes und wallendes Haar, trug genauso wie Sei mehrere Lagen edelster Kimonos übereinander und war von einer Schönheit, die nur als blendend beschrieben werden konnte. „Oh!“ Sie bemerkte Ranpo und hielt sich einen ihrer weiten Ärmel vor ihre untere Gesichtshälfte. „Du hast einen Besucher?“ Obwohl man ihren Mund nun nicht sehen konnte, konnte man spüren, dass die Frau Ranpo anlächelte … was Sei ganz und gar nicht gefiel. „Ja!“, rief sie hastig aus und klammerte sich in einer überstürzten Geste am linken Arm ihres Gastes fest, der von dieser Aktion merklich überrumpelt war und sie fragend anblinzelte. „Ich habe einen Besucher. Das ist … Fürst Edogawa. Er ist meinetwegen hier. Er ist mein Gast.“ „Schon verstanden.“ Die Frau kicherte, aber nicht auf überhebliche Weise. Sie schien viel eher tatsächlich amüsiert zu sein. „Ich würde dir doch nie einen Liebhaber abspenstig machen. Dass du so von mir denkst.“ „Das ist ja das Schlimme! Du machst gar nichts und sie laufen dir trotzdem alle hinterher!“ „Vielleicht weil ich so etwas Unschickliches nicht vor einem Kavalier anspreche?“ „Grrrr“, brummelte Sei und umklammerte Ranpos Arm noch etwas fester. „Ich laufe grundsätzlich nur denen hinterher, die mir etwas Gutes zu essen anbieten“, äußerte Ranpo unvermittelt in die Eifersüchteleien hinein. „Ich kann mich doch erinnern, dass mir hier etwas versprochen wurde.“ „Huh?“, machte Sei erstaunt. „Ah! Ja, natürlich! Ich bringe dir etwas aus meinem Zimm- ah! Da ich unterwegs war, ist da ja wahrscheinlich gar nichts Genießbares mehr!“ Die andere Frau kicherte erneut. „Ich habe heute Morgen erst frisches Obst in mein Zimmer gebracht bekommen. Vielleicht möchte der Herr davon etwas?“ Ranpo konnte hören, wie Sei mit den Zähnen knirschte. „Ja, möchte er“, antwortete der Meisterdetektiv unbeeindruckt. „Könntet Ihr mir etwas bringen?“ Die Dame verbeugte sich und huschte in den Nachbarraum. „Das … ist … schlecht ...“, murrte Sei bärbeißig. „Na ja, Obst ist nicht so toll, aber in Anbetracht der Tatsache, dass ihr wohl nichts Gezuckertes da habt, bleibt mir nichts anderes übrig.“ „Häh?“ Verdattert blickte sie zu ihm, während sie ihn immer noch festhielt. „Du denkst nach wie vor nur an das Essen und bist nicht überwältigt von der Schönheit Fujitsubos?“ „Ist das ihr Name?“, entgegnete Ranpo gleichgültig. „Nur zur Sicherheit: Zucker habt ihr wirklich keinen da, oder?“ Sei blinzelte und schüttelte perplex den Kopf. Er seufzte. „Wie ich befürchtet hatte.“ Im nächsten Moment kam Fujitsubo wieder hinein und hielt dem vermeintlichen Edelmann einen Teller mit Obststückchen hin. Mit erkennbar unzufriedener Miene griff Ranpo mit seiner freien Hand nach einem Stückchen Melone und warf es sich in den Mund – um zwei Sekunden später das Gesicht zu verziehen. „Das schmeckt wie Gurke.“ Ganz und gar nicht überraschenderweise waren ihm die Zitrusfrüchte zu sauer und selbst die Pflaumen wurden seinem Anspruch nicht gerecht. „Also“, sagte er schmatzend an Fujitsubo gewandt, „Ihr habt das Zimmer neben Murasaki?“ Die hellhaarige Hofsame stutzte angesichts dieser Frage. „Ja, so ist es.“ „Und Ihr hört ziemlich gut?“ Bei Fujitsubo fiel sichtlich der Groschen. „Fragt Ihr dies wegen Murasakis Verschwinden?“ „Ihr habt in der Nacht, in der sie verschwand ein Geräusch gehört, nicht wahr?“ Erneut stutzte sie, dieses Mal noch heftiger als zuvor. „In der Tat. Woher wisst Ihr das, mein Herr?“ Stolz tätschelte Sei mit einer Hand den noch immer umklammerten Arm des Meisterdetektivs. „Ist er nicht unfassbar klug?“ „Das Geräusch, klang es, als wäre etwas umgefallen?“ Fujitsubo nickte. „Ich war zu müde, um nachzusehen und dachte mir auch nichts weiter dabei. Die Wandschirme fallen zum Beispiel immerfort um, wenn irgendwo der Wind hineinweht.“ „Nur dass es kein Wandschirm war, sondern Murasaki.“ Erschrocken kniff Sei ihn in den Arm. „Was? Wie meinst du das?“ „Sie ist entführt worden“, antwortete Ranpo und versuchte vergeblich, seinen Arm ein wenig freizubekommen. „Aus einem Grund, den ich noch nicht kenne, ist sie ohnmächtig geworden und auf den Boden geknallt, als sie an ihrem Schreibpult gesessen hat. Auf der Tatami-Matte ist eine kleine Delle zu sehen. Gift würde ich allerdings ausschließen, denn hier ist nichts, mit dem sie das hätte zu sich nehmen können. Aber irgendetwas hat sie vor ihrer Ohnmacht leiden lassen, deswegen ist das Papier so unordentlich, als hätte sie im Schmerz danach gegriffen. Und es kam urplötzlich, sonst hätte sie nicht mitten in einem Buchstaben ihren Schreibprozess abbrechen müssen. Zum Schluss hat jemand sie über den Boden zur Tür hinaus geschleift.“ Nach diesen Erklärungen starrten die zwei Damen erschüttert zu Ranpo. „Dann … dann könnte es sein, dass sie … dass sie ...“, stammelte Sei. „Sie ist nicht tot. In dieser Zeit würde sich niemand die Mühe machen, eine Leiche fortzutragen. Warum auch? Forensiker muss hier keiner fürchten. Könnt Ihr Euch an noch etwas aus dieser Nacht erinnern?“ Er wandte sich wieder an Fujitsubo, die ihn völlig verwirrt anstarrte. Vermutlich verstand sie absolut nicht, was hier eigentlich vor sich ging. „Nicht viel. Ich war früh zu Bett gegangen …“ Angestrengt dachte sie nach. „Ich weiß nicht, ob das von Bedeutung ist, aber ich hatte zuvor mitbekommen, dass Murasaki sich in ihrem Zimmer verschanzt hatte, weil sie gehört hatte, dass Fürst Yugiri mal wieder zu Besuch am Hofe sei.“ „Yugiri? Wer ist das?“ Sei stöhnte entnervt. „Ein penetranter Kerl, der Murasaki ständig nachstellt. Aber sie ist nicht an ihm interessiert.“ „Woher weißt du davon?“, hakte Fujitsubo nach. „Aus ihrem Tagebu- ich meine …, ich … ähm ...“ Seis Augen schnellten verdächtig hin und her. „Du liest heimlich ihr Tagebuch?“ Fujitsubo hob kritisch eine Augenbraue und die andere Dame lachte nervös. „Nein, natürlich nicht.“ „Wo ist ihr Tagebuch?“, fragte Ranpo. „In ihrem Futon“, antwortete Sei wie aus der Pistole geschossen, ehe sie merkte, dass sie sich verraten hatte. Der dunkelhaarige Mann schaffte es endlich, dass sie ihn losließ, als er sich zu Murasakis Bett hinunter kniete und eine offene Stelle in dem Futon fand, aus der er tatsächlich das besagte Tagebuch hervor beförderte. Er schlug die letzten Seiten auf und schaute sie sich mit immer verkniffener werdendem Blick an. „Kannst du mir das vorlesen?“, wandte er sich an Sei. Die Bücher zu deren Lektüre der Chef ihn gezwungen hatte, waren in moderner Druckschrift und in modernem Japanisch geschrieben. Irgendetwas davon in Altjapanisch und in Handschrift zu lesen, war eine ganz, ganz, ganz andere Hausnummer. Sei nickte und nahm das Buch an sich. Derweil wunderte sich Fujitsubo mehr und mehr. Was für ein merkwürdiger Kavalier das doch war. Bat eine Frau, ihm vorzulesen. „Der letzte Eintrag ist von vor drei Tagen“, las die Hofdame vor, „hier steht: Fürst Yugiri sandte mir einen weiteren Brief und er ist genauso unverschämt wie alle vorigen, womöglich gar unverschämter. Ihm fehlt es an Anstand, kann er doch meine Ablehnung einfach nicht akzeptieren. Mir scheint, er sieht mich als eine Art Trophäe, die er seiner Sammlung an hübschen Frauen hinzuzufügen gedenkt. Ich werde so unverfroren sein, ihm nicht mehr zu antworten, versteht er doch eh nicht, was ich sage. Die gesamte Angelegenheit ist ein weiteres Zeichen dafür, wie unglückselig mein Dasein doch ist. Mir fällt es zunehmend schwerer, etwas zu finden, das mein Herz erfreut. Dass die Männer ein so ungebildetes und einfältiges Volk sind, macht es nur unerträglicher! Einzig der Gedanke an eine Zeit, in der ein Kavalier zwar schamlos ist, aber dennoch Herz und Verstand besitzt, schenkt mir noch ein wenig Zuversicht.“ Sei blickte von den Seiten auf, nachdem sie deren Inhalt fertig vorgetragen hatte. „Mehr steht dort nicht. Denkst du, Yugiri hat etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?“ „Er ist auf jeden Fall unser Hauptverdächtiger. Aber würde ein Fürst hier einfach so hereinspazieren und eine von den Hofdamen davontragen können?“ Fujitsubo schüttelte den Kopf. „Gewiss nicht. Kein Fürst, den ich kenne, macht sich selbst die Hände schmutzig. Außerdem wüsste es doch jemand, wenn er über Nacht geblieben wäre. Er hatte am Abend ganz sicher den Heimweg angetreten, das wurde mir von den Dienern so erzählt.“ Ranpo kreuzte die Arme vor der Brust. „Tsk, der Kerl wollte sich ein Alibi verschaffen, bevor es so etwas wie Alibis überhaupt gibt. Sei, weißt du, wo dieser Yugiri wohnt?“ Die Angesprochene legte kurz nachdenklich den Kopf schief. „Ja, ich bin an der Stelle, an der es zu seinem Anwesen geht, einmal vorbei gefahren. Es ist ein wenig außerhalb … ah, aber Ranpo, wir können dort nicht einfach vorbeischauen. Es bräuchte einen Anlass, um Zugang gewehrt zu bekommen.“ Der Meisterdetektiv grinste verschmitzt. „Dann veranlassen wir halt einen Anlass. Vielleicht verkaufen wir Atsushi doch noch.“ „Oh“, machte Sei da, als ihr etwas einfiel. „Fujitsubo, sag, hast du noch ein paar Gewänder übrig, die du nicht brauchst?“ „Huh? Ja, eine riesige Truhe voll. Nimm dir, was du brauchst. Ich werde ständig mit Geschenken überhäuft.“ Ein zartes Lächeln legte sich auf das sorgenvolle Gesicht der Dame. „Ich verstehe fürwahr nicht, was hier eigentlich los ist, aber ich habe das Gefühl, dass dieser Kavalier hier plant, Murasaki zurückzuholen und das würde mich von Herzen freuen. Ich war bereits in Sorge, die ganzen Lästermäuler des Palastes hätten Recht und Murasaki hätte ihrer Melancholie nachgegeben und wäre vielleicht …“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte noch etwas mehr. „Aber wenn dein außergewöhnlicher Liebhaber Recht hat, dann lebt sie noch.“ Stolz erwiderte Sei das Lächeln und ergriff von neuem Ranpos Arm. „Mein außergewöhnlicher Liebhaber hat immer Recht.“ Ranpo blinzelte sie erneut an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)