Lass mich nicht los von PanicAndSoul (Vorgeschichte zu Zimtsterne) ================================================================================ Kapitel 1: Beschützt -------------------- Hätte man mich bis zum heutigen Tage gefragt, wie ich mein Leben beschreiben würde, hätte ich es mit einem Wort zusammenfassen können: Perfekt. In diesem Moment hatte ich einfach alles, was ich brauchte, um glücklich zu sein. Vor meinen Augen tauchte ein Bild meiner Familie auf. Mein Bruder und ich waren noch klein und meine Eltern hielten uns einfach nur im Arm. Ich konnte ihre Liebe förmlich spüren. Meine Gedanken glitten weiter zu meinen wundervollen Freunden. Ich sah sie vor mir, wie sie lachten und sich ausgelassen unterhielten. Jeder einzelne von ihnen bedeutete mir so viel. Und dann tauchte ein Bild von ihm vor mir auf. Wie er mich anlächelte, wie er mir liebevoll eine Haarsträhne hinter mein Ohr schob. Und wie er mich küsste. Takeru… War das jetzt dieser berühmte Augenblick, wenn man starb und in dem man sein Leben an sich vorbeiziehen sah?   24 Stunde zuvor „Ich weiß nicht, wir könnten auch einfach nur zu zweit feiern.“, überlegte ich und trank einen Schluck Rotwein. Takerus grinste. „Ja, das klingt sehr verlockend. Aber es ist ja nicht nur unser Jahrestag, sondern auch dein Geburtstag.“, gab er zu bedenken. Ich seufzte. „Ich hatte mich eigentlich auf etwas Zweisamkeit mit dir gefreut.“ Bei meinen Worten kam ich mir vor, wie ein schmollendes Kind. Doch mein Freund lehnte sich zu mir herüber und sah mir in die Augen. Er streckte seine Hand aus, um mir eine meiner Haarsträhnen hinter mein Ohr zu streichen und ließ sie dann auf meiner Wange liegen. „Wir holen es nach, versprochen.“, sagte Takeru und beugte sich noch weiter vor, um mich zu küssen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hörte ich bereits Geräusche aus einem anderen Raum. Mit geschlossenen Augen tastete ich die Bettseite neben mir ab, doch wie ich bereits vermutete hatte, war sie leer. Mit einem Seufzer rollte ich mich auf die leere Seite und kuschelte mich in Takerus Decke. Ich sog seinen Duft ein, der mich nun von allen Seiten umhüllte und genoss das Gefühl von Sicherheit, das ich verspürte. Er roch einfach nach Zuhause. Ich war vermutlich noch einmal eingeschlafen, doch irgendwann spürte ich, wie Takeru sich auf die Bettseite neben mich legte. Er hob langsam die Decke, in die ich mich eingewickelt hatte, an und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Guten Morgen.“, sagte er und begann, mir über mein Haar zu streicheln. „Guten Morgen.“, murmelte ich und schlang die Arme um seinen Bauch. Er lachte leise, hörte aber nicht auf, mich zu streicheln und ich genoss die Berührung. Irgendwann sagte er: „Ich habe Frühstück gemacht, hast du Hunger?“ „Hmm.“ „Es gibt auch Kaffee.“, fügte er hinzu, was mich auf jeden Fall direkt wacher werden ließ. Er wollte bereits aufstehen, doch ich ließ ihn nicht, ohne vorher noch einen Kuss von ihm zu bekommen. „Du bist unmöglich.“, sagte er, jedoch hörte ich an seinem Tonfall, dass er wieder lachte. An den Wochenenden, wenn ich nicht früh raus musste, blieb ich gerne mal länger liegen. Takeru wusste das, aber für ihn war das auch nicht weiter schlimm. Er hatte mir mal gesagt, dass er es eigentlich sogar genoss, mir Frühstück zu machen, weil er mir so auch mal eine Freude machen konnte. „Wann triffst du dich nachher mit Tai?“, fragte Takeru und biss in seinen Toast. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor halb 12. Ich hatte wirklich lange geschlafen. „Erst um 15 Uhr.“, sagte ich und bestrich meinen eigenen Toast mit Marmelade. Ich freute mich darauf, den Tag mit meinem Bruder zu verbringen. Seit ich vor einem Jahr mit Takeru zusammengezogen war, wohnte ich etwas weiter weg von ihm, als noch zuvor. Dadurch sahen wir uns nicht mehr ganz so häufig wie früher. Und jetzt, da Mimi und er auch noch bald heiraten wollten, schien er sowieso kaum noch Zeit für etwas anderes, als die Hochzeitsvorbereitungen zu haben. Takeru betonte immer wieder, dass ich Verständnis haben sollte, immerhin würde es ja nach der Hochzeit auch wieder ruhiger für die beiden. Aber ich vermisste es, Zeit mit Tai zu verbringen. Und so gern ich Mimi auch hatte und so sehr ich mich auch freute, dass sie bald offiziell zur Familie gehörte, manchmal brauchte ich meinen Bruder auch einfach mal für mich alleine. Daher war heute auch so ein besonderer Tag. Nur wir beide, das hatte mir Tai fest versprochen. Als wir fertig waren mit dem Frühstück, räumten Takeru und ich zusammen auf. Den restlichen Vormittag verbrachten wir damit, einen Film anzuschauen. Als ich dann losmusste, wollte ich bereits zur Tür hinaus, als Takeru plötzlich hinter mir im Flur stand. Ich drehte mich zu ihm um und gab ihm einen Abschiedskuss. „Fahr vorsichtig.“, sagte er und sah mich durchdringend an. „Natürlich.“, gab ich zurück und schenkte ihm ein Lächeln. Ich winkte ihm noch einmal zum Abschied und er schloss erst die Tür, als ich im Fahrstuhl stand. Irgendwie wirkte er beunruhigt…, schoss es mir durch den Kopf. Doch als ich den Fahrstuhl verließ, war der Gedanke auch schon wieder verschwunden und ich ging zu meinem Auto, um zum verabredeten Treffpunkt mit Tai zu fahren. Ich war ein paar Minuten früher als er da, darum stellte ich verwundert fest, dass Mimi am Steuer saß und Tai auf dem Beifahrersitz. Würde sie etwa doch mitkommen? Doch sie ließ ihn nur aussteigen und winkte mir eifrig zu, dann fuhr sie bereits wieder los. Tai kam zu mir herüber und umarmte mich. „Hallo Schwesterchen.“, sagte er und ließ mich los. „Hallo, wo ist denn dein Auto?“, fragte ich ihn. Er seufzte und wir setzten uns in Bewegung. „Das ist in der Werkstatt. Irgendwie hat es den Geist aufgegeben und jetzt muss Mimi mich immer fahren.“ Ich musste an Tais uraltes Auto denken und sagte: „Na, bei dem Schrotthaufen war es ja auch nur eine Frage der Zeit, bis es den Geist aufgibt.“ Seine Augen weiteten sich und empört rief er aus: „Das ist kein Schrotthaufen, das ist ein Oldtimer! Du hast einfach nur keine Ahnung von Autos.“ Ich kicherte und hakte mich bei ihm unter. „Ja mag sein, aber Fakt ist, mein Auto  funktioniert ganz wunderbar und das, obwohl ich ja angeblich keine Ahnung habe.“ Er verdrehte die Augen, sagte aber nichts mehr. Wir verbrachten den Nachtmittag, in dem wir durch die Stadt spazierten und uns unterhielten. Wir kauften uns Eis, gingen durch die Geschäfte und ich probierte sogar das ein oder andere Kleid an, welches auf Mimis Beschreibung für mein Brautjungfernkleid zutraf. „Vielleicht solltest du lieber nochmal mit ihr zusammen losziehen und eins aussuchen.“, beschloss Tai und sah auf die Liste, die seine Verlobte mir zusammengestellt hatte. „Ja, wahrscheinlich ist das besser. Eigentlich kann ich nur das falsche kaufen.“, stimmte ich ihm zu. „Sie hat da Farben aufgezählt, von denen ich nicht mal wusste, dass wir sie auf der Hochzeit mit eingeplant haben.“, sagte er und runzelte die Stirn. Ich lachte. Das war so typisch Mimi. Am Abend bekamen wir beide Hunger und gingen in ein Restaurant. Tai hatte sich Sushi gewünscht, wogegen ich absolut nichts einzuwenden hatte. Während wir aßen, erzählte er mir, was sie bereits für die Hochzeit geplant hatten. Oder, was er dachte, was sie geplant hatten. Bei Mimi wusste man ja nie so genau, ob sich das nicht innerhalb von Stunden ändern konnte. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. „In 2 Monaten ist es schon so weit.“, stellte ich fest. Tai ließ seine Stäbchen sinken und nickte. „Bist du aufgeregt?“, fragte ich. Nun lächelte er mich ebenfalls an. „Und wie. Aber im positiven Sinne. Ich weiß, dass Mimi einfach meine große Liebe ist. Und ich möchte keinen einzigen Tag mehr ohne sie sein. So lange ich lebe.“, erwiderte er. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie leicht, als ich sagte: „Ich freue mich so für euch!“ Tai legte seine andere Hand auf meine und antwortete: „Danke Schwesterchen. Weißt du eigentlich, dass ich dich sehr lieb habe?“ „Ich habe dich auch sehr lieb.“ Einen Moment verblieben wir so und sahen uns einfach nur an. Mein großer Bruder, der mich immer vor allem beschützt hatte, würde bald heiraten. Manchmal staunte ich, wie erwachsen er geworden war. Tai tätschelte noch einmal meine Hand, dann sagte er: „Aber jetzt habe ich noch Hunger.“ Ich lachte auf, dann ließ ich seine Hände los und er begann sofort, wieder zu essen. Manches änderte sich zum Glück nie. Ich hatte bereits das Gefühl, ich müsse platzen, so viel hatte ich gegessen, doch mein Bruder schaffte bestimmt noch 4 weitere Runden. Als auch er seine Stäbchen schließlich beiseitelegte,  lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich über den Bauch. „Puh, jetzt bin ich satt.“, verkündete er zufrieden. Ich kicherte. „Gut, dass es ein All-you-can-eat ist, sonst wärst du schon vor der Hochzeit pleite.“, sagte ich und winkte dem Kellner, um zu bezahlen.   Kapitel 2: Verletzt ------------------- Als wir vor der Tür standen, wollte Tai bereits Mimi anrufen, damit sie ihn abholen konnte. „Ich kann dich auch nach Hause bringen.“, bot ich an, was Tai dankend annahm. Er schrieb seiner Verlobten eine Nachricht, damit sie Bescheid wusste und wir machten uns auf den Weg, zu meinem Auto. Der Spaziergang tat nach dem vielen Essen wirklich gut. Der Frühling war fast vorbei und die Nächte wurden jetzt immer wärmer. „Wünscht du dir eigentlich etwas Bestimmtes zum Geburtstag?“, fragte Tai, als wir nebeneinander herschlenderten. Ich überlegte. Mein Geburtstag war bereits in einer Woche, doch irgendwie war mir dieses Jahr gar nicht so richtig nach Feiern zumute, daher hatte ich mir auch keine großen Gedanken darüber gemacht, was ich mir wünschen könnte. „Nein, eigentlich nicht. Wenn ich  ehrlich bin, hatte ich mich auf einen ruhigen Tag mit Takeru gefreut.“, gestand ich und warf meinem Bruder einen raschen Blick zu, um zu sehen, ob er sauer über meine Worte war. Doch zu meiner Überraschung lächelte er verständnisvoll, als er erwiderte: „Du musst nicht feiern, wenn du nicht möchtest. Es ist doch auch euer Jahrestag. Ich glaube, es wäre dir niemand böse, wenn du mal nicht feierst. Oder wir holen es nach. Es ist immerhin dein Geburtstag, du musst es nicht immer allen anderen recht machen.“ Ich dachte über seine Worte nach und sah ihn noch einmal an. Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, welches ich schließlich erwiderte. „Gut, dann holen wir die Feier nach.“, sagte ich. Als wir bei meinem Auto ankamen, stieg Tai bereits auf der Beifahrerseite ein. Ich wollte mich grade hinter das Steuer setzen, da merkte ich, dass mein Handy klingelte. Es war Takeru, also gab ich Tai ein Zeichen, dass ich kurz rangehen würde und drückte auf abnehmen. „Vermisst du mich etwa so sehr, dass du mich zwischendurch anrufen musst?“, begrüßte ich ihn. Ich hörte ihn am anderen Ende der Leitung lachen. „Kann man so sagen. Ich wollte eigentlich nur hören, ob alles in Ordnung ist.“, sagte er. „Ja sicher, ich bringe noch meinen Bruder weg und komme dann nach Hause. Aber du rufst doch sonst nicht an, wenn ich unterwegs bin. Ist irgendwas passiert?“, fragte ich. Takeru zögerte. „Ich weiß nicht, ich wollte nur deine Stimme hören. Ich hatte irgendwie ein ungutes Gefühl, als du gefahren bist. Mehr nicht.“ Er klang besorgt, also hatte ich mich doch nicht getäuscht, als ich heute Mittag gegangen war. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. „Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen. Ich bin bald zuhause. Ich liebe dich.“, sagte ich. Meine Worte schienen ihn tatsächlich etwas zu beruhigen, denn sein Tonfall wirkte nun wieder normaler, als er erwiderte: „Ich liebe dich auch. Pass auf dich auf.“ „Das mache ich.“, versprach ich und legte auf. Takeru hatte schon mein ganzes Leben über mich gewacht, wie ein Schutzengel. Wir waren immer die besten Freunde gewesen und er beschützte mich, genau wie Tai es immer tat. Seit wir vor 3 Jahren ein Paar geworden waren, hatte sich das sogar noch verstärkt. Bei ihm fühlte ich mich sicher, er war meine Zuflucht, mein Zuhause. Ich öffnete die Tür zur Fahrerseite und stieg hinter das Steuer. „War das Takeru?“, fragte Tai und sah mich an. Ich schnallte mich an und nickte. „Ja, er wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist.“, antwortete ich. Tai schmunzelte. „Manchmal ist er eine noch größere Glucke, als ich.“, stellte er fest. Ich sah ihn an und verdrehte die Augen. „Er sorgt sich doch nur um mich.“, gab ich genervt zurück. „Und außerdem, finde ich das wirklich äußerst liebenswert an ihm.“ Mein Bruder lachte und sagte: „Bei mir ging es dir aber oft auf die Nerven.“ Jetzt grinste ich ihn ebenfalls an. „Weil du ja auch generell viel nerviger bist.“, antwortete ich ihm. „Ich glaube eher, dass Takeru einfach andere Vorzüge hat, die ich dir einfach nicht bieten kann.“, zog er mich auf. „Eeeeergh.“, gab ich angewidert zurück und brachte Tai damit nochmal zum Lachen. „Aber jetzt mal wirklich, ich bin froh, dass du ihn hast.“, sagte er nun ernster. Ein liebevolles Lächeln erschien auf meinem Gesicht, als ich erwiderte: „Das bin ich auch.“ Eine Weile fuhren wir einfach nur schweigend durch die Stadt. Bis zu Tai war es nicht weit. Im Radio lief leise Musik und zwischendurch auch die Nachrichten. Es war bereits spät und auf den Straßen war nicht mehr so viel los. Kurz bevor wir bei Tai und Mimis Wohnung ankamen, mussten wir an einer Kreuzung halten. Tai lehnte sich nach vorne, um auf einen anderen Radiosender umzuschalten. Mein Blick ging nach links, um die rote Ampel zu beobachten und ich wartete, dass sie auf grün umsprang. Im Nachhinein hätte ich nicht sagen können, welche Verkettung von Ereignissen uns hierher geführt hatte. Ich wusste nicht mehr, warum ich diesen Weg gefahren war und nicht einen anderen. Ich hätte auch nicht sagen können, ob es was gebracht hätte, wenn ich eher nach rechts geschaut hätte. Doch als ich meinen Kopf in Tais Richtung drehte, um ihm zu sagen, dass er wieder zu dem vorherigen Radiosender zurückschalten sollte, da war es bereits zu spät. Ich sah noch die Scheinwerfer des Autos, das direkt auf uns zufuhr. Ich hörte den Aufprall von Metall auf Metall. Ich spürte, wie von einer Sekunde auf die nächste meine komplette Welt aus den Angeln gerissen wurde. Und ich erinnere mich noch, wie ich meinem Bruder in die Augen sah, als ich meine Hand verzweifelt nach ihm ausstreckte. Als wir klein waren, hielt Tai mich immer an der Hand, wenn wir unterwegs waren. Unsere Mutter hatte ihm gesagt, dass er auf mich achtgeben solle und dass er, als mein großer Bruder, für mich verantwortlich sei. Irgendwann einmal, als wir auf einem Jahrmarkt waren, wurden wir voneinander getrennt. Ich erinnere mich noch genau, wie verzweifelt ich war. Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren und weinte die ganze Zeit. Ich habe immer wieder Tais Namen gerufen. Nach einer ganzen Weile, als ich schon glaubte, er würde mich nicht mehr wiederfinden, hörte ich plötzlich meinen Namen. Er hatte den ganzen Jahrmarkt nach mir abgesucht und als er mich endlich gefunden hatte, ließ er meine Hand nicht mehr los. In diesem Moment verspürte ich ein solches Gefühl von Sicherheit. Ich versuchte, meinen Kopf zur Seite zu drehen, doch es gelang mir nicht wirklich. Als ich meine Augen öffnete, war zuerst alles schwarz und gleichzeitig schien sich alles zu drehen. Ich hörte nur ein Rauschen und Piepen, welches langsam  zu verstummten begann. Ich blinzelte mehrmals, dann klärte sich mein Blick und ich begann, die Konturen und Umrisse um mich herum wahrzunehmen. „Tai…“, versuchte ich zu sagen, doch meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Meine Augen fielen wieder zu, doch ich zwang mich, sie erneut zu öffnen und nun erkannte ich, dass ich mich noch in meinem Auto befand. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus und ich versuchte meinen Blick darauf zu richten. Scheinbar war der Airbag aufgebrochen und drückte auf meinen Brustkorb. Das Atmen fiel mir schwer. Erneut startete ich den Versuch, meinen Kopf zu drehen und nun konnte ich meinen Bruder sehen. Seine Augen waren geschlossen, es sah aus, als würde er schlafen. „Tai.“, versuchte ich es noch einmal, doch meine Stimme versagte erneut. Ich spürte, dass meine Hand etwas umklammerte und mein Blick glitt hinab zu ihr. Tai hatte seinen Arm ausgestreckt und ich hielt seine Hand fest in meiner. Tränen stiegen in mir auf. Sollte ich nicht eigentlich Schmerzen verspüren? Oder war dies so ein Moment, in dem der Körper vor Schock die Schmerzen einstellte? Ich begann, Tais Hand zu drücken, um ihn aufzuwecken. Er reagierte nicht. „Tai.“ Die Tränen rannen mir die Wange hinab und hinterließen eine heiße Spur auf meiner Haut. Ich spürte, wie mein Körper immer schwerer wurde und meine Augenlider wieder zufallen wollten. Einen Moment zwang ich mich noch, wach zu bleiben, doch ich hatte einfach keine Kraft mehr, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Vor meinem inneren Auge blitzten die Bilder meiner Familie und meiner Freunde auf. Und von Takeru. War das jetzt dieser berühmte Augenblick, wenn man starb und in dem man sein Leben an sich vorbeiziehen sah? Wenn ja, dann würde ich wenigstens glücklich diese Welt verlassen. Und in dem Wissen, dass ich geliebt wurde. Das letzte, was ich wahrnahm war, dass ich noch immer die Hand meines Bruders hielt. Danach war alles schwarz und leer. Kapitel 3: Gebrochen -------------------- Es war mittlerweile wie ein alter Bekannter, der mich in jedem meiner wachen Momente begleitete. Dieses leise, regelmäßige Piepen. Ich konnte es nicht zuordnen. Und jedes Mal, wenn ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, holte mich die Dunkelheit wieder zurück und hüllte mich vollständig ein. Ich konnte nicht sagen, ob ich bei Bewusstsein war, oder nicht. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich schon in diesem Zustand, zwischen sein und nicht sein war. Aber ich konnte spüren, dass sich, wenn ich die Augen öffnete, alles verändern würde. Also ließ ich sie geschlossen. „Gibt es schon eine Veränderung?“ Diese Stimme. „Bisher leider noch nicht. Sie muss erst aufwachen, aber das muss sie von alleine schaffen.“ „Danke, Doktor.“ Dann Stille. Ich spürte, wie jemand meine Hand berührte und kurz darauf, wie diese Person seine Lippen auf ihr platzierte. „Bitte, komm zu mir zurück.“ Diese Stimme, sie löste in mir etwas aus. In mir breitete sich Wärme aus und ein Gefühl der Geborgenheit. Vor meinem inneren Auge sah ich ein Bild aufblitzen. Blaue Augen und blondes Haar. Takeru. Ich bin hier, wollte ich ihm vermitteln. Doch meine Stimme gehorchte mir nicht. Wieso wollte sie mir nicht gehorchen? Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch auch das gelang mir nicht. Also spürte ich meinen Körper weiter hinunter. Als ich das Gewicht von Takerus Hand in meiner bemerkte, versuchte ich, sie zu drücken. Einen Moment glaubte ich, auch das habe nicht funktioniert. Doch dann hörte ich, wie er rief: „Ich brauche einen Arzt. Sie hat sich bewegt.“ „Die Wunden verheilen gut. Auch das Aortentrauma, welches Sie beim Aufprall erlitten haben, konnten wir rasch versorgen. Was uns nun noch Sorgen bereitet, sind die Rippenfrakturen. Es hat sich während des Aufpralls ein Pneumothorax bei Ihnen gebildet, wobei Luft in die Lunge gelangt ist. Durch die abgesplitterten Rippenstücke könnte es wieder dazu kommen und es könnte zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Wir müssen also noch einmal, so schnell es geht operieren.“ Ich sah den Arzt, der mich in den letzten Tagen behandelt hatte, schweigend an. Takeru, der neben mir auf einem Stuhl saß und meine Hand hielt, ergriff das Wort und fragte: „Ist sie dafür denn schon stabil genug?“ Der Arzt zögerte, ehe er antwortete: „Uns bleibt leider keine andere Wahl, jeder Tag, an dem die Rippenstücke frei liegen, ist riskant.“ Takeru nickte und bedankte sich bei ihm, als er das Zimmer verließ. Mein Blick ging zum Fenster. Ich hatte nicht wirklich zugehört, aber eigentlich war es mir auch egal, was mit mir passierte. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie Takeru sich erhob und begann, irgendwelche Sachen wegzuräumen. Als ich ihn ansah, bemerkte ich, wie besorgt er aussah. Ich streckte meine Hand aus und als er das sah, kam er zu mir zurück und ließ sich wieder auf den Stuhl neben mir sinken und ergriff sie. Er legte seine Lippen auf meine Haut und küsste meinen Daumen. Mit meiner anderen Hand wollte ich sein Haar berühren, ihm Trost spenden, doch der Schmerz in meinen Rippen ließ mich zusammenzucken. Sofort sprang Takeru auf und setzte sich zu mir auf die Bettkante. Er zog mich, so vorsichtig er konnte und soweit ich es zuließ an sich und ich platzierte meinen Kopf auf seiner Brust. „Wir schaffen das.“, hörte ich ihn sagen. Mit geöffneten Augen starrte ich auf seinen Pullover. Es war der dünne, dunkelgrüne Kaschmirpulli, dem ich ihn letzte Weihnachten geschenkt hatte. Mit einer Hand strich ich über den weichen Stoff. „Alles wird gut.“, sagte er weiter. Alles wird gut. Wie oft hatte er diesen Satz in den letzten Tagen gesagt? Wie gerne würde ich ihm glauben. Aber die Wahrheit war: Es würde nie wieder alles gut werden. Denn eines würde sich, egal wie oft Takeru es mir auch versprach, einfach nicht ändern: Mein Bruder war tot. Und ich war schuld daran. Ein Monat nach dem Unfall  „Langsam.“, sagte Takeru und half mir, mich auf unser Sofa zu setzen. Ich durfte heute endlich das Krankenhaus verlassen. Die Ärzte waren zufrieden, wie schnell meine Wunden verheilten, jedenfalls meine körperlichen. „Ja doch. Ich passe schon auf.“, sagte ich und ließ es zu, dass Takeru mich stützte. Ich hätte nicht gewusst, was ich ohne ihn machen sollte. „Versprich mir, dass du dich noch schonst.“, tadelte er mich, doch als ich leicht die Augen verdrehte, beugte er sich zu mir herüber und gab mir einen Kuss. Ich seufzte. „Versprochen.“, erwiderte ich. Seine Sorge um mich erdrückte mich in den letzten Wochen manchmal. Dennoch gab sie mir auch Halt. Denn ich wusste, dass er immer da war. Vor allem in den Momenten, in denen mich die Ereignisse des Unfalls versuchten zu verzehren. Manchmal, wenn ich die Augen schloss, sah ich Scheinwerfer auf mich zurasen. Ich hörte, wie Metall aufeinander prallte. Und ich spürte, wie Tais Hand in meiner lag, während er starb. In diesen Augenblicken war ich dankbar, dass Takeru an meiner Seite war. Ihn zu sehen, seine Nähe zu spüren und zu wissen, dass er real war und nicht die Bilder des Unfalls… all das gab mir Kraft. Ohne ihn hätte ich längst aufgegeben. Doch so sehr ich ihm meine Dankbarkeit auch zeigen wollte, es fiel mir auch manchmal schwer, ihn an mich heran zu lassen. Er bat mich, meine Gefühle mit ihm zu teilen, mit ihm zu sprechen, wenn es mir schlecht ging, doch manchmal fand ich einfach nicht die Kraft dafür. Und wenn er mich dann mit diesem mitleidigen Blick ansah, wünschte ich mir jedes Mal, ich möge sterben. 6 Monate nach dem Unfall „Und Sie, Hikari, wollen Sie heute vielleicht erzählen, wie es Ihnen geht?“ Ich sah in die Runde. Zu sprechen war freiwillig, das wusste ich, doch meistens war mir nicht danach, etwas zu sagen. Heute fühlte ich mich aber irgendwie verpflichtet. Mit einem kleinen Seufzer lehnte ich mich auf meinem Stuhl vor und überlegte. „Also heute geht es mir ein kleinen wenig besser. Ich habe ein altes Hobby wieder für mich entdeckt, das backen. Es lenkt mich ab und macht mir großen Spaß. Ich könnte mir sogar vorstellen, mal was in diese Richtung zu machen. Also später.“, begann ich. Der Leiter der Gruppentherapie, die ich einmal die Woche besuchte, schenkte mir ein Lächeln. „Das hört sich toll an. Vielleicht bringen Sie uns beim nächsten Mal ja was von sich mit. Was backen sie am liebsten?“, hakte er nach. Ich überlegte kurz, dann kam mir Takeru in den Sinn und ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen als ich antwortete: „Zimtsterne.“ 9 Monate nach dem Unfall Ich saß auf dem Sofa und hatte meine Beine angezogen. Mein Kopf lag auf meinen Knien und ich kniff die Augen zusammen. „Tai.“ Der Airbag drückt auf meine Lunge, ich bekomme keine Luft. „Tai, wo bist du?“ Es riecht verbrannt. „Ich brauche dich doch.“ Dieses dumpfe Geräusch in meinen Ohren. „Lass mich nicht allein.“ Seine braunen Augen, die mich schockerfüllt anstarren. „Taaaaaaaai.“, schreie ich. Ein Rütteln an meiner Schulter ließ mich zusammenzucken. Ich hob den Kopf und sah direkt in Takerus Gesicht, er sah mich mit schmerzverzehrter Miene an. Als ich realisierte, dass ich mich zuhause und in Sicherheit befand, warf ich mich in seine Arme. Schwer atmend hielt ich mich an ihm fest. Er sagte kein Wort. Manchmal glaubte ich, dass er nicht mehr wusste, was er sagen sollte. Dass er nicht wusste, was es besser machen würde. Es wurde von Tag zu Tag schwerer, für uns beide. Als er mich losließ, um mich anzusehen, lag wieder dieser mitleidige Ausdruck auf seinem Gesicht. Ich hielt es nicht aus und sprang vom Sofa auf, ohne ein Wort zu sagen. Takeru folgte mir nicht. 11 Monate nach dem Unfall „Du hast was vor?“, fragte Mimi und starrte mich entgeistert an. Ich rührte in meinem Kaffee herum und sah sie einfach nur schweigend an. „Und Takeru, weiß er es schon?“ „Natürlich.“, sagte ich. Mimi seufzte und lehnte sich zurück. „Und was sagt er dazu?“ Ihrem Tonfall nach zu urteilen, schien sie mit meinem Plan nicht so ganz einverstanden zu sein. „Das, was er immer sagt, dass er mich unterstützt.“, antwortete ich und nahm einen Schluck Kaffee. Mimi nickte, dann sagte sie: „Ja klar, das passt zu ihm. Oh man, aber Deutschland ist so weit weg. Dann sehen wir dich ja gar nicht mehr…“ Ich lächelte sie an. „Aber ich bin doch nicht aus der Welt, ich brauche nur etwas Abstand. Und einen Neubeginn.“, sagte ich vorsichtig. Mimi senkte den Kopf und sah auf ihre Hand. Sie trug noch immer den Ring, den Tai ihr damals angesteckt hatte. Nach einem Moment des Schweigens hob sie den Kopf und lächelte mich ebenfalls an. „Wenn du dann dein Geschäft eröffnet hast, komme ich dich besuchen.“, verkündete sie und hob ihre Tasse. „Auf jeden Fall.“, erwiderte ich und stieß mit meiner Tasse leicht gegen ihre. Ein Neubeginn war das, was ich brauchte. Hier zu bleiben war einfach nicht länger möglich. Ich spürte von Tag zu Tag immer mehr, dass es mich zerbrach. Epilog: Geliebt --------------- Als ich nach Hause kam, wartete Takeru bereits auf mich. Ich hatte meine Pläne, von hier fortzugehen vor einigen Tagen mit ihm besprochen. Er hatte zwar Verständnis gezeigt, aber irgendwie war es trotzdem seit dem komisch zwischen uns. „Hey.“, begrüßte ich ihn und ging ins Wohnzimmer, wo er auf dem Sofa saß. „Hallo.“, sagte er und lächelte mich an. „Wie war es mit Mimi?“, fragte er und ich ließ mich neben ihm nieder. „Ganz gut, sie versteht mich.“, gab ich zurück. „Hm.“, war seine Antwort. Eine Weile wartete ich, ob er noch mehr sagen würde, so, wie ich es die ganzen letzten Tage tat. Ich wartete, dass er ausrasten würde, es mir ausreden wollen würde, oder irgendeine Reaktion zeigte. Doch auch dieses Mal kam nichts. Ich wollte mich bereits wieder vom Sofa erheben, um ins Badezimmer zu gehen, da spürte ich, wie sich seine Hand um mein Handgelenk legte und er mich festhielt. Verwundert sah ich zu ihm, seine Augen waren direkt auf mich gerichtet und sein Blick veranlasste mich dazu, mich wieder neben ihn zu setzen. „Ich habe noch einmal darüber nachgedacht, dass du gehen willst.“, begann er. Ich nickte und wartete, was er dazu zu sagen hatte. „Was hältst du davon, wenn ich mitkomme?“, fragte er. Im ersten Moment war ich einfach nur sprachlos. Mein Herz begann zu rasen und in Gedanken malte ich mir bereits unsere gemeinsame Zukunft aus. Ein Neubeginn. Takeru unterbrach meine Vorstellungen indem er weitersprach: „Natürlich ginge es nicht sofort, ich müsste noch einiges regeln. Aber du könntest schon einmal nach Deutschland fliegen und wenn du dich eingewöhnt hast, dann komme ich nach.“ Ich wollte sofort: Ja, natürlich! schreien. Aber dann sah ich ihm in die Augen. Und in diesem Moment schaute er mich wieder mit diesem Blick an, der so voller Mitleid war, dass sich etwas tief in mir regte. In den letzten Monaten hatte ich mich immer gefühlt, als wäre ich ein kaputter Gegenstand, der Zeit bräuchte, um zu heilen, wenn er mich so angeschaut hatte. Und grade jetzt wollte ich mich nicht mehr so fühlen. Ich wollte neu anfangen. Ich nahm seine Hand in meine und verschränkte unsere Finger miteinander. „Takeru, ich liebe dich. Und das wird sich wahrscheinlich niemals ändern. Aber du musst mich das alleine machen lassen. Sonst werde ich es nie schaffen, neu anzufangen.“ Ich spürte, wie meine Worte etwas in ihm zerbrachen. Und was ich noch viel deutlicher spürte war, wie meine Worte mein Herz zerbrachen. Ein Jahr nach dem Unfall   Als ich im Flugzeug saß, kramte ich in meiner Tasche nach meinem Buch. Plötzlich stockte ich, als ich einen zusammengefalteten Brief entdeckte.   Hikari, Ich wollte nie, dass du so einen Schmerz durchleben musst. Niemand möchte, dass der Mensch, den man liebt, so etwas erleidet. Aber du sollst wissen, dass ich dich immer lieben werde und dass ich eines Tages, wenn du dazu bereit bist, zu dir zurückkehre. Bitte lerne wieder, dein Leben zu leben. Lerne dir selbst zu vergeben. Bis du dich wieder lieben kannst, liebe ich dich für dich mit. Du hast keine Schuld an dem, was passiert ist. Vergiss das bitte nie. Dein Takeru   Hinter dem Brief entdeckte ich noch einige Fotos. Es waren Bilder von uns als Kinder, als Jugendliche, als Paar. Von meinen Freunden. Und von mir und Tai. Tränen stiegen mir in die Augen und das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit ließ ich ihnen wieder freien Lauf. Ich brauchte diesen Neubeginn. Doch das bedeutete nicht, dass es das Ende war. Mir standen nun alle Möglichkeiten offen, das konnte ich fühlen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)