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Elegante Psycho-Kräfte

von

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[Familien-Zeit] – Danke, dass ich hier sein darf


 

Cerinkton war eine außergewöhnliche Stadt. Nicht von der Architektur, denn die erinnerte mich eher an Claw City, nur dass die Arena in einem modernen Bau untergebracht war. Dafür sah es aus als hing über dem ganzen Ort ein Schleier von Psycho-Kraft, der besonders bei Lichteinfall Regenbogenfarben hervorrief. Da die Sonne gerade auf ihrem höchsten Stand war, gab es jede Menge Licht, so dass die Stadt aussah als hätte jemand unzählige Farbeimer verschüttet. Der Schleier glitzerte noch dazu, was ihn umso schöner sein ließ. Außerdem hatte man von einer Aussichtsplattform, zu der Saverio mich brachte, einen großartigen Blick auf den Ozean. Durch die Psycho-Kraft leuchtete sogar das Meer in allen Farben des Regenbogens.

»Das ist so cool~«, kommentierte ich, während er mich weiter führte.

Wuffels war von mir in seinen Pokéball zurückbefördert worden, damit er mir nicht abhanden kam – und weil ich befürchtete, dass die vorherrschenden Psycho-Kräfte unangenehm für ihn sein könnten. Außerdem wusste ich nicht, wie Saverios Familie auf ein Wuffels reagieren würde. Nicht jeder war derart aufgeschlossen, was frei laufende Pokémon anging.

Saverio legte stolz den Kopf in den Nacken. »Ich sagte dir ja, dass Cerinkton etwas Besonderes ist. Kein Versuch sie zu beschreiben hätte ihr Genüge getan.«

Ich hatte erwartet, dass sich noch mehr exzentrische Personen in einer solchen Stadt aufhielten, aber die Passanten, die wir antrafen, wirkten allesamt normal; wie Leute, die auch überall anders leben könnten. Allerdings gab es hier mehr Psycho-Pokémon als in anderen Städten. Ich entdeckte mehrere Servols, ein Hypno, ein Psiaugon und einige Flegmons, die einfach nur herumlagen. Letztere lebten am nahen Strand, wie Saverio mir erklärte, und kamen immer wieder in die Stadt, weil sie von dieser Energie angezogen wurden. Die Bewohner waren es gewohnt, darauf zu achten, nicht über diese zu stolpern. Einem Flegmon war schließlich egal, wo es sich hinlegte, wenn es müde genug wurde.

»Ihre Ruhe ist bewundernswert, oder?«, meinte Saverio, als wir schlafendes Flegmon entdeckten, auf dessen Rücken ein kleines Isso vergnügt tanzte.

»Ich könnte trotzdem darauf verzichten, dass Pokémon auf mir herumspringen, während ich schlafe«, erwiderte ich. »Aber ja, Flegmons haben etwas für sich.«

Er nickte zufrieden, natürlich gefiel ihm meine Antwort.

Entgegen meiner Befürchtung führte Saverio mich nicht in endlosen Kreisen durch die Stadt, um die Begegnung mit seiner Familie hinauszuzögern. Stattdessen hielten wir direkt auf ein großes Herrenhaus zu, das neben der Arena auf einem Hügel thronte. Aber erst als wir vor den Stufen zum Haupteingang standen, konnte ich wirklich glauben, dass dies unser Ziel war.

»Hier wohnt deine Familie?«

Er nickte ernst, sagte aber sonst nichts.

Die Treppe war von zwei Psiana-Statuen flankiert, die einander zugewandt waren, dabei aber den Besucher eingehend zu mustern schienen. Dasselbe Gefühl bekam man von den steinernen Wasserspeiern auf dem dunklen Dach; bei ihnen konnte ich aber nicht erkennen, welches Pokémon sie darstellen sollten. Saverio bemerkte meinen Blick und erklärte mir mehr: »Dieses Haus steht schon hier, seit es diese Stadt gibt. Angeblich sind die Wasserspeier längst vergessene Psycho-Pokémon, die einst an der Seite meiner Urahnen kämpften.«

»Und dann wurde ihnen so ein Denkmal gesetzt? Das ist wirklich schön.«

Würde Saverio irgendwann eine Statue eines Flegmon irgendwo aufbauen lassen? Zuzutrauen wäre es ihm – und ich fände das gut. Aber bis dahin wäre noch Zeit.

Am oberen Ende der Stufen standen wir vor zwei dunklen Eingangstüren, verziert mit silbernen Türklopfern. Alles an diesem Haus wirkte alt und erhaben, ich hatte mich noch nie so fehl am Platz gefühlt wie in diesem Moment.

Mein Blick wanderte zu Saverio. Er starrte die Tür mit gerunzelter Stirn an.

Solange er bei mir war, würde ich durchhalten, egal wie ich mich fühlte. Schließlich hatte er mich endlich erhört, obwohl er an diesem Ort aufgewachsen war – und solange ich gut genug für ihn war, galt das auch für dieses Haus und seine Familie. Zusammen würden wir das schaffen. Ich würde für uns beide gut gelaunt und gelassen sein, wie ein echtes Flegmon.

Plötzlich sah Saverio mich an. Ich nickte ihm lächelnd zu. »Auf geht's~!«

Er wirkte ein wenig erleichtert, und klopfte endlich. Der Ton hallte eine Weile nach, alarmierte die Person, die dafür verantwortlich war. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann öffnete sich die Tür. Ein hoch gewachsener Mann in einer Butleruniform musterte uns unterkühlt. Ein weißer Haarkranz, gepaart mit einem ernsten, runzligen Gesicht komplettierte den Anschein des strengen alten Herrn, der ein ernstes Auge auf jeden warf, der die gehobenen Manieren nicht beherrschte. In diesem Fall wäre das dummerweise ich.

»Sei gegrüßt, Olivier~«, sagte Saverio. »Ich bin wieder zurück.«

Als der Butler ihn ansah, wurde das Gesicht des alten Herrn ein wenig weicher, er lächelte sogar. »Junger Herr, wie schön Euch wiederzusehen. Ihr seid so überstürzt aufgebrochen, wir glaubten schon, Euch nie wieder zu Hause begrüßen zu dürfen.«

Olivier sah wieder mich an, diesmal mit Neugier im Blick. Ich kam aber nicht dazu, mich vorzustellen, denn da begrüßte er mich bereits: »Herzlich willkommen, Lady Iva.«

Ich sah Saverio an, aber er schmunzelte nur. Dann konzentrierte ich mich wieder auf Olivier. »Woher kennen Sie meinen Namen? Hat Saverio Ihnen schon von mir erzählt?«

»Wo denkst du hin?«, fragte Saverio. »Ich habe mich seit meiner Abreise nicht mehr gemeldet.«

Damit blieben nur zwei Erklärungen: Seine Familie beobachtete ihn oder einer von ihnen hatte es vorhergesehen. Letzteres erschien mir mehr wahrscheinlich, immerhin ging es um Saverios Familie.

Olivier verneigte sich und trat einen Schritt beiseite. »Bitte, tretet ein.«

Saverio ließ mir den Vortritt. Ich ging hinein – und sog scharf die Luft ein, als ich die Eingangshalle richtig sehen konnte. Der Fußboden war aus grauem Marmor, genau wie die zwei hohen Säulen, die hier standen. Einige Stufen führten zu einem erhöhten Absatz, dort teilte sich der Weg zu zwei Treppen hinauf in den ersten Stock. Erstaunlich war aber vor allem das Gemälde, das an der Wand des Absatzes hing. Es sah alt aus und zeigte eine edel aussehende Familie, ein sitzendes Ehepaar, zwei neben ihnen stehende Kinder. Niemand von ihnen war Saverio, das erkannte ich direkt. Vermutlich waren es eher seine Vorfahren. (Später bestätigte er mir genau das.)

Saverio blieb neben mir stehen und warf sein Haar zurück. »Wie gefällt es dir?«

»Schon die Eingangshalle ist größer als unser Haus!«, rief ich begeistert.

Er hatte mich einmal zu einem Besuch bei meiner Mutter begleitet, daher wusste er, dass ich es ernst meinte.

Schritte erklangen im ersten Stock. Ich hob den Blick und entdeckte ein Paar, das Arm in Arm graziös die Treppe hinunter schritt. Das Haar des Mannes war kurz geschnitten, dafür aber so blond wie das von Saverio, das der Frau war platinblond, fast silbern, gelockt, und reichte bis an ihre Hüfte. Was beide gemeinsam hatten, waren die blauen Augen, die einen immerzu kühl zu mustern und einem zu sagen schienen, dass man es nie mit ihnen aufnehmen könnte. Der Mann trug einen teuer aussehenden lila Anzug, die Frau ein raschelndes fliederfarbenes Kleid. Mit meinem T-Shirt, dem Rock und meiner Kapuzenjacke fühlte ich mich ein wenig underdressed.

Auf dem Treppenabsatz blieben die beiden wieder stehen.

»Saverio«, sagte der Mann, »wie schön, dass du unserer Einladung gefolgt bist.«

Saverio deutete eine Verbeugung an. »Es freut mich sehr, euch gesund zu sehen, Vater und Mutter.«

Die Frau lächelte tatsächlich etwas. »Wir haben so lange darauf gewartet, dich zu wiederzusehen. Ich nehme an, dein intensives Training war erfolgreich.«

»Das möchte ich meinen. Ich kann es kaum erwarten, euch meine neuen Fähigkeiten vorzuführen.«

Darauf sagten sie nichts, ihre Blicke richteten sich auf mich. Fast hätte ich erschrocken gequietscht, aber ich konnte mich zusammenreißen.

»Du musst Iva sein«, sagte die Frau, sie lächelte nicht mehr. »Willkommen in unserem Heim.«

Sollte ich einen Knicks machen? Mich verbeugen? Warum hatte Saverio mich nicht vorbereitet? Brauchte ich gerade zu lange zum Nachdenken?

Mit wachsender Panik hob ich schließlich meine Hand. »Hallo. Danke, dass ich hier sein darf.«

Die beiden runzelten ihre Stirn, aber Saverio lächelte. »Darf ich dir meine Eltern vorstellen, Iva? Mein Vater, Santor, und meine Mutter, Arietta.«

Beide nickten mir zu, also war es wohl okay, wenn ich sie fortan mit diesen Namen ansprach. War es einer von ihnen gewesen, der mein Kommen vorhergesehen hatte?

»Sie sind herausragende Trainer von Psycho-Pokémon«, erklärte Saverio. »So wie ich einer bin.«

Bei diesen Worten warfen seine Eltern sich einen Blick zu, sagten aber wenigstens nichts. Wenn sie von Saverio enttäuscht waren, weil er keine Telepathie beherrschte, musste das bedeuten, sie konnten das. Wahrscheinlich unterhielten sie sich so schweigend über ihn. Das gefiel mir aber auch nicht besser. Niemand sollte etwas Schlechtes über ihn denken.

Schnelle Schritte aus dem oberen Stockwerk lenkten mich von meinen düsteren Gedanken ab. Plötzlich rief jemand »Savi!«, stürmte die Treppe herunter und warf sich direkt in Saverios Arme.

»Nicht so wild«, bat er gleichzeitig, während er sich etwas vorbeugte und jemanden umarmte.

Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich ein kleines Mädchen. Sie trug einen großen Hut, der ihr blondes Haar zu einem Großteil verdeckte, lediglich vereinzelte längere Strähnen und ihr kurzer Pferdeschwanz lugten darunter hervor. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie seine kleine Schwester war, aber trotzdem war ich ein wenig eifersüchtig.

»Endlich bist du wieder da, Savi!«, juchzte die Kleine.

»Hallo, Drea«, sagte Saverio, während er ihre Schulter tätschelte.

Drea löste sich von ihm, um sich mir zuzuwenden. Sie strahlte dabei so sehr, dass ihre großen blauen Augen mit unzähligen winzigen Sternen zu leuchten schienen. Aber vielleicht wirkte es durch ihre runde Brille auch nur so. Während ich noch darüber nachdachte, umarmte sie plötzlich auch mich. »Es ist so toll, dich endlich mal zu treffen, Iva~.«

»Oh!« Plötzlich verstand ich. »Du hast also gesehen, dass ich kommen werde?«

Sie löste sich von mir, um zu mir hochzusehen und zu nicken. »Richtig~. Ich hab gewusst, dass ihr beiden euch auf der Rüstungsinsel begegnen würdet.«

Selbst das hatte sie vorhergesehen? Bei einer solch talentierten kleinen Schwester verstand ich Saverios Komplexe noch besser. Aber sie war wesentlich niedlicher als ich gedacht hatte, und es sah aus, als wäre sie sehr eng mit Saverio. Das musste seine Probleme noch weiter verschärfen, da er nicht mal böse auf sie sein konnte.

»Außerdem wusste ich, dass er dich herbringen würde, damit er Mutter und Vater fragen kann-«

Saverio unterbrach sie panisch, indem er sie zu sich zog und ihr den Mund zuhielt. Ihr Protest wurde direkt von seiner Hand erstickt. »Das reicht jetzt, Drea. Du musst Iva nicht alles ausplaudern, was du siehst.«

Ich verstand nicht so recht, warum er nicht wollte, dass sie es mir erzählte. Immerhin wusste ich doch, dass er vorhatte, sie zu fragen, ob er wieder als Arenatrainer oder sogar Leiter arbeiten könnte. Das war immerhin offensichtlich. Viel mehr konnte ich an diesem Ausflug nicht erkennen.

»Aufgrund dieser Vorhersage haben wir auch für einen Gast decken lassen«, erklärte Santor. »Wenn wir also nun zum Speisesaal gehen könnten, wären wir euch sehr verbunden.«

Da Arietta nickte, sprach er offenbar für sie mit. Wie viel redeten die beiden wohl telepathisch miteinander? Und machten sie das auch, wenn sie allein waren? So aus Gewohnheit?

Natürlich fragte ich das alles nicht, sondern folgte der Familie lieber in den Speisesaal. Dabei durchquerten wir einen Gang, in dem verschiedene Gemälde hingen, die allesamt Psycho-Pokémon zeigten, die ich nicht kannte. Aber da sie auf den ersten Blick so eindrucksvoll wirkten, konnte ich mir gut vorstellen, dass es sich dabei um legendäre Pokémon anderer Regionen handelte. Wenn Saverios Familie so reich war, wie sie wirkte, waren sie bestimmt auch viel gereist und hatten Zeit gehabt, Kunst in den unterschiedlichsten Gegenden zu kaufen.

Der Speisesaal war ähnlich eindrucksvoll wie die Vorhalle, ihm fehlten lediglich die Säulen. Dafür gab es aber einen langen Tisch aus dunklem Holz, mit dazu passenden Stühlen mit roten Polstern. An den Wänden standen mehrere blitzblanke Ritterrüstungen, gerahmt von kunstvollen Kerzenleuchtern, die dem Kronleuchter über dem Tisch nur darin nachstanden, dass sie nicht aus Kristall waren. In einem Marmor-Kamin prasselte ein Feuer, das den Raum zu warm werden ließ für meinen Geschmack. Vielleicht hätte ich einfach die Kapuzenjacke ausziehen sollen, aber sie war schon ewig meine Begleitung, sie war ein Stück Heimat.

Auf Saverios Aufforderung setzte ich mich neben ihn. Schon ein Blick auf das aufgereihte Besteck sagte mir, dass ich hier Probleme bekommen würde. Saverio bemerkte wohl meine gerunzelte Stirn, denn er beugte sich ein wenig zu mir, um mir etwas zuzuflüstern: »Man isst von außen nach innen. Achte einfach auf mich.«

Ich nickte ein wenig erleichtert. Seine Eltern betrachteten uns mit mildem Interesse, auch noch als das Essen von Olivier und einem Hausmädchen aufgetragen wurde. Rein aus Gewohnheit bedankte ich mich, als ich meinen Teller bekam. Erst danach fiel mir auf, dass ich wohl die einzige war, die das tat, die anderen nahmen das als gegeben hin. Ich war aber nicht mit Dienern aufgewachsen, für mich war das komplett neu. Glücklicherweise wurde das nicht kommentiert.

Wie Saverio gesagt hatte, folgte ich seiner Vorgabe und nahm die entsprechende Gabel, um zu essen. Ich war mir nicht sicher, wie man diese Vorspeise nannte, aber immerhin schmeckte sie gut, ein wenig sauer, wie Fragiabeeren.

»Wenn es dir nichts ausmacht, Iva, würden wir gern mehr über dich erfahren«, sagte Arietta.

Fast hätte ich gefragt, ob keiner von ihnen bereits die Antwort gesehen hatte, aber glücklicherweise war mein Mund gerade voll. Deswegen nickte ich nur.

»Wir wissen bereits, wie du Saverio kennengelernt hast, und dass du aus Furlongham stammst. Uns interessiert daher eher, was du für die Zukunft planst.«

Das traf mich unerwartet. Bislang hatte ich tatsächlich nicht darüber nachgedacht, was ich irgendwann einmal tun würde. In den letzten Jahren hatte sich mein Leben nur um Saverio gedreht – und wenn es nach mir ginge, könnte das auch noch eine Weile so weitergehen. Aber das war vermutlich eine Antwort, die nicht durchgehen würde.

Raelene war immer noch der Champ, ihre Zukunft stand fest, bis sie abgelöst wurde, und das konnte bei ihrem Können noch eine Weile dauern. Delion war immerhin zehn Jahre Champ gewesen, bis sie ihn besiegt hatte.

Hop war inzwischen der Assistent von Sania, die selbst zur Professorin geworden war.

Gloria arbeitete in einem Pokémon-Hort, dazu war sie gekommen, nachdem sie in der Arena-Challenge gegen Kabu ausgeschieden war. Sie war der mütterliche Typ, also war das ideal für sie.

Victor hatte während der Challenge seine Vorliebe für das Fotografieren und Zeichnen von Pokémon entdeckt. Mit seinen Verkäufen an Verlage und Sammler konnte er sich seinen Unterhalt leisten. (Ich fand es äußerst ironisch, dass er mir Vorwürfe gemacht hatte, weil ich nicht in Engine City aufgetaucht war, er sich laut Raelene aber auf dem Weg nach Claw City wortlos von ihr und Hop abgesetzt hatte. Aber für diese Ironie schien Victor nicht offen zu sein.)

Jeder von ihnen, mit denen ich damals losgezogen war, wusste etwas mit seiner Zukunft anzufangen. Nur ich nicht. Und eigentlich wollte ich auch gar nicht darüber nachdenken, sondern es weiter spontan auf mich zukommen lassen. Das gehörte wohl zur Sorglosigkeit eines Flegmon. Und ich war wie eines. Warum also nicht einfach ehrlich sein, selbst wenn ihnen diese Antwort nicht gefallen würde?

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

Seine Eltern zogen ihre Augenbrauen zusammen. Drea kicherte leise. Saverio warf mir einen schmunzelnden Seitenblick zu. Zumindest ihm gefiel die Antwort, das war alles, was für mich zählte.

»Es ist«, sagte Santor, »sehr ungewohnt für uns, dass jemand sich nicht um seine Zukunft kümmert.«

»Bei einer Familie von Sehern ist das wohl verständlich«, erwiderte ich. »Wir haben aber keine Seher in der Familie, deswegen machen wir alles spontan.«

Saverio versteckte sein Lachen hinter einem schlecht gespielten Husten. Ich lächelte ihm kurz zu, konzentrierte mich aber dann wieder mit ernster Miene auf das viel zu feine Essen.

»Sehr kurios«, kommentierte Arietta, aber ihr Tonfall wirkte dabei missbilligend.

Vielleicht stellten sie deswegen auch keine weiteren Fragen an mich während der restlichen Mahlzeit, die wir unangenehm schweigend aßen.

 

Zum Glück führte Saverio mich nach dem Essen direkt in sein Zimmer, weg vom Rest seiner Familie. Auch dieser Raum war ziemlich protzig, mit einem geradezu riesigen Bett und violetten Seidentapeten. An den Wänden hingen keine Poster, sondern gerahmte Bilder von Saverio in verschiedenen Stadien seines Lebens. Selbst als Kind beherrschte er den arroganten Blick schon, wie ich so feststellen konnte.

Nachdem ich mich umgesehen hatte, ließ ich mich seufzend rückwärts auf sein Bett fallen. Saverio hatte Zylinder und Pokébälle abgelegt und mich bislang nur beobachtet. Nun kam er näher, blieb neben mir wieder stehen und rückte sich die Brille zurecht. »Stimmt etwas nicht?«

»Deine Eltern hassen mich«, klagte ich weinerlich.

Er schmunzelte. »Ist das alles?«

»Du bist nicht hilfreich.«

Mit einem leisen Lachen tätschelte er meinen Kopf. »Darum musst du dir keine Gedanken machen. Meine Eltern können so ziemlich niemanden leiden, außer Drea. Du bist doch Zeuge geworden, wie sie mit mir gesprochen haben. Also nimm dir das nicht zu Herzen.«

»Es ist furchtbar traurig, dass du in so einer Atmosphäre aufwachsen musstest. Aber es erklärt auch ziemlich vieles.«

Er neigte den Kopf ein wenig. Ich hob einen Finger. »Warum du so unausstehlich warst. Wer mit solchen Personen aufwächst, muss ja einfach ein Vollidiot werden.«

Für Drea gab es vielleicht aber noch eine Chance. Eine klitzekleine.

»Nun, ja, das könnte man so sehen«, urteilte Saverio. »Aber Meister Mastrich ist auch der Meinung, dass unsere Abstammung nicht allein unseren Charakter ausmacht. Es gab viele Dinge, an denen ich arbeiten musste.«

So etwas gab es für uns alle. Ich hatte hart daran arbeiten müssen, nicht dauernd abgelenkt zu werden. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie das Abendessen hätte ausgehen können, wenn ich von all den Sachen im Speisesaal abgelenkt gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte ich alle dann nur mit Fragen genervt. Aber noch mehr hassen könnten sie mich ohnehin kaum.

»Es war aber nicht alles schlecht hier«, sagte Saverio plötzlich.

Auf meinen fragenden Blick hin griff er nach meiner Hand und zog mich nach oben. Dann bugsierte er mich vor das Fenster. »Der nächtliche Ausblick ist einfach großartig.«

Immer noch frustriert tat ich ihm den Gefallen, nach draußen zu sehen – und bereute es nicht.

Inzwischen war es Nacht geworden, doch es herrschte keine wirkliche Dunkelheit in den Straßen. Der Psycho-Schleier funkelte im Licht des Vollmondes und der Straßenlampen als wären die Sterne selbst vom Himmel gefallen, in Regenbogenfarben getaucht und dann einfach zum Schweben freigelassen worden. Der Mond selbst schillerte pink, wie ein gutes Omen für sämtliche Psycho-Pokémon auf der Welt. Selbst der nächtliche Himmel auf der Rüstungsinsel war nicht derart schön gewesen, wie dieser Anblick. Kein Wunder, dass Saverio nie beeindruckt gewesen war.

Er stand immer noch hinter mir, legte nun aber die Arme um meine Schultern und schmiegte sich an mich. Ich liebte es, wenn er mir so nahe war, nachdem er jahrelang darauf geachtet hatte, seine Distanz – körperlich und emotional – zu wahren.

»Bezaubernd, oder?«, fragte er leise. »Und elegant. Genau wie man es von einer Stadt wie dieser erwarten sollte.«

»Ja.« Meine Stimme war nur noch ein überwältigtes Hauchen. »Es ist wundervoll.«

Wie hatte er all die Jahre nur freiwillig auf diesen Anblick verzichten können? Ich sah ihn gerade zum ersten Mal und war schon süchtig danach, ich wollte ihn für den Rest meines Lebens genießen, selbst wenn das bedeutete, dass ich jeden Tag mit Santor und Arietta essen müsste.

Für diesen Anblick – und vor allem für Saverio – würde sich jedes Opfer lohnen, davon war ich in diesem Moment felsenfest überzeugt.
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Platan
2021-11-05T09:32:29+00:00 05.11.2021 10:32
Ich muss sagen, dieses Kapitel hat mich ernsthaft geflasht! ♥♥♥
Die FF war zwar vorher schon großartig, aber mit dem Kapitel hast du mich endgültig gepackt! *___*

All deine Ideen, mit der du Saverios Heimatstadt und Familie zum Leben erweckt hast, begeistern mich so sehr. Cerinkton ist so eine schöne Stadt, wie aus einem Traum! ♥ Ich käme nie dazu, irgendetwas zu erledigen, weil ich immer nur dastehen und herumstarren würde, weil alles so schön ist. Da hat Fairballey ernsthafte Konkurrenz bekommen. >:3
(Ich war, genau wie Iva, überrascht, dass dort auch normale Leute wohnen. Aber gut, einen Haufen exzentrischer Leute an einem Ort würde auch schnell dafür sorgen, dass es knallt. XD)

Saverios Haus ist so ... Wow! O___O
Die Familie lebt echt edel. Da hätte ich mich an Ivas Stelle auch total fehl am Platz gefühlt. D;
Du hast alles richtig gut beschrieben, konnte mir das so perfekt vorstellen. Und die Eltern geben einem ein echt beklemmendes, unangenehmes Gefühl. .____.
Drea ist dafür ein richtiges Herzchen! ♥♥♥ Und ihr Steckbriefbild erst! ♥♥♥ Sooo cute! Q///Q♥
Mir haben sowohl Saverio als auch Iva im Verlauf des Kapitels aber beide total leid getan. :<
Saverio, der eine Enttäuschung ist, aber nicht mal sauer auf seine Schwester sein kann, weil sie so süß und lieb ist.
Dann vor allem Iva ... als sie in Gedanken durchging, was ihre Freunde alles erreicht hatten, während sie bislang "nur" Saverios Fangirl ist, tat mir total leid. Aber umso schöner, dass sie das gar nicht wirklich runterzieht, sondern sie sich eben als Flegmon sieht. Das beruhigt mich sehr~. Sie ist eben auf ihre Weise besonders. :3
Und man merkt ja, dass Saverio sie genau dafür lieb hat. ♥
Das war eh auch das Schönste am Kapitel. Wie man gemerkt hat, dass Ivas Art Saverio richtig aufblühen lässt! Ich hab die beiden immer mehr lieb. Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah! X3

Und Oh-la-la~, was Saverio die Eltern wohl fragen will? >:3
Iva ist so schön unschuldig, dass sie nur daran denkt, dass es um diese Arenaleiter-Sache geht. XD

Also, wie gesagt, dieses Kapitel war insgesamt einfach umwerfend! Ich habe jede Sekunde des Lesens genossen und bin traurig, dass das Kapitel dann endete. :<
Ich freue mich so, so, so auf mehr. X3
Antwort von:  Flordelis
05.11.2021 15:25
Ich finde es interessant, dass ich dich gerade mit diesem Kapitel, mit dem ich mich so schwer getan habe, geflasht habe. Aber umso besser. ♥

Jaaa, Saverios Familie ist sehr ... nun ja. Man hält halt leicht viel von sich, wenn man so ungewöhnliche Kräfte einsetzen kann, und das seit Generationen.
Ich liebe Drea aber auch, sie ist soooo toll. Q^Q

Danke für deinen Kommentar. ♥


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