Crescent von Tiaiel (Deep Red) ================================================================================ Kapitel 5: Lit -------------- Wie immer, wenn man sich auf etwas freute und es schmerzlich herbeisehnte, zogen sich die Tage unendlich in die Länge. In dieser Zeit begleiteten Jonouchi allerlei Gedanken, die er sich über den Firmenchef und die ungünstige Situation machte, in die er sich unfreiwillig hineinmanövriert hatte. Jedoch erhellte sich seine Stimmung mit dem herannahenden Wochenende zunehmend mehr und verdrängte die unliebsamen Ereignisse in den Hintergrund. Denn heute war endlich der langersehnte VIP Abend, an dem Kaiba das Crescent wohl definitiv nicht besuchen würde. Immerhin war er bis dato kein VIP-Mitglied, sodass der Türsteher, ein resoluter, großgewachsener Kerl mit grimmigem Blick, ihm den Einlass genau wie allen anderen, die diesen Status nicht innehatten, verweigern würde. Zudem erwarteten sie heute einen bekannten Musiker, der sich unter anderem auch einen Namen als Produzent gemacht hatte und in der Vergangenheit in einer berühmten Rockband Schlagzeug und Piano gespielt hatte.* Jonouchis Freude über diesen besonderen Besuch konnte man ihm direkt im Gesicht ablesen. Immerhin spielte der heutige Gast schon seit einer gefühlten Ewigkeit, wobei der Blonde natürlich besonders sein Klavierspiel bewunderte.    Als sich der Moment des geplanten Auftritts näherte, blieb die Klavierbank jedoch leer. Etwas verwundert, dass sie Ihren Stargast noch nicht begrüßen konnten, erkundigte sich der Blonde bei dem Mann seines Vertrauens. „Sag mal Dante, müsste unser heutiger Gastspieler nicht schon lange eingetroffen sein?“ „Da fragst du den Falschen“, entgegnete der Angesprochene nur und sah, wie der Barchef schnellen Schrittes auf sie zukam. „Das solltest du besser ihn fragen“, deutete er mit einem Kopfnicken auf die Person hinter Jonouchi. Doch noch bevor er den Mund aufmachen und seine Neugier befriedigen konnte, schnappte ihn sein Chef auch schon mit den Worten “Komm mal kurz mit“ am Arm und verschwand mit ihm nach hinten. Was war da wohl so unglaublich wichtig, fragte sich der zurückgelassene Dante und sah den beiden nach. Jonouchi wiederum machte sich auf dem kurzen Weg darüber Gedanken, was sein Chef wohl Wichtiges von ihm wollen könnte. Sein Tonfall klang so ungewohnt ernst. Hatte er einen Fehler gemacht? Hatte sich Kaiba vielleicht doch über ihn beschwert, weil er das Getränk über ihm verkippt hatte? Nein, Quatsch, das lief alles mehr als entspannt ab. Kurz ließ er sich bei dem Gedanken daran zu einem kleinen Tagtraum hinreißen. Doch das war nicht der passende Moment dafür.   Im Büro des Chefs angekommen, endete die Entführung des jungen Jonouchi und Trader Vic sah ihn abermals mit einem ernsten Blick an. „Wir haben ein Problem“, begann er den Satz und der Blonde wurde augenblicklich nervös, „und du bist die Lösung.“ Okay, das kam unerwartet. Jetzt wurde er neugierig, bei welchem Problem ausgerechnet er helfen konnte. „Unser heutiger Musiker wird sich etwas verspäten.“ Alles klar, das hatte jetzt nichts mit ihm zu tun. „Und ich möchte, dass du solange spielst, bis er eintrifft.“ Ja, gut, das hatte jetzt doch etwas mit ihm zu tun. Noch bevor er einen Einwand oder dergleichen anbringen konnte, fuhr sein Gegenüber auch schon mit seinem Monolog fort. “Außerdem ist das hier für dich angekommen.“ Er reichte ihm ein Paket, das vor ein paar Tagen zugestellt und bereits geöffnet wurde.   Ungläubig starrte er es an und wusste nicht recht, wer ihm ein Paket auf die Arbeit schicken sollte, zumal er keiner Menschenseele gesagt hatte, welcher Arbeit er unerlaubterweise an den Wochenenden nachging. Ein Blick auf den Versandaufkleber klärte wenigstens eine seiner Fragen, denn dort stand neben der Anschrift der Bar auch sein Pseudonym „Zack“. Die Absenderadresse kam ihm nicht bekannt vor. Es waren lediglich irgendwelche Kürzel darauf zu finden. Vielleicht ein Postfach? Ob man das googeln konnte? Doch dazu kam er nicht mehr, denn der Barchef unterbrach ihn in seinen Gedanken. „Da ich im ersten Moment nicht darauf geachtet habe, dass dein Name in der Empfängeradresse steht, habe ich es bereits geöffnet. Du wirst erstaunt sein, was drin ist“, lächelte der Ältere Jonouchi wissend an. „Als wäre es genau in dem Moment gekommen, an dem du es gebrauchen kannst.“   Okay, jetzt war er erst recht neugierig und öffnete eiligst das unscheinbare Paket. Zum Vorschein kam ein dunkelblauer Karton, auf dem weder ein Logo noch sonst etwas zu finden war, das Aufschluss auf den Inhalt gab. Jonouchis grübelnder Gesichtsausdruck sprach Bände und es ratterte wie ein Uhrwerk in seinem zauberhaften Köpfchen. „Öffne es ruhig“, forderte ihn sein Chef auf und besah ihn mit einem interessierten Blick. Er tat wie ihm geheißen und zum Vorschein kam ein schwarzer Stoff, auf dem ein noch verschlossener Brief lag. Etwas argwöhnisch öffnete er das Kuvert und nahm die darin enthaltene Karte heraus, auf der ein kurzer Text abgedruckt war:   „Damit du ebenso atemberaubend gekleidet bist, wie das Gewand, in das du den Klang deiner Musik hüllst.”   Der Blonde staunte nicht schlecht, als er den handschriftlich verfassten Satz las, und besah sich noch einmal den Stoff in der sorgfältig verpackten Schachtel. Er legte die Nachricht beiseite und nahm den Inhalt heraus. Es war eine komplette Abendgarderobe, wie sie üblicherweise Pianisten trugen: genauer gesagt ein Frack. Von der schwarzen Jacke, bei der selbst die Knöpfe mit Satin bezogen waren, über das weiße Hemd mit Perlmuttknöpfen bis hin zur weißen Weste und der natürlich schwarzen Hose. Wer würde ausgerechnet ihm so etwas Außergewöhnliches hierher schicken lassen? Diese Person wusste offenbar von seiner allabendlichen Leidenschaft. Doch er spielte immer erst, wenn alle Gäste die Bar verlassen hatten. Oder nicht? Wenn die Sachen ihm jetzt noch passten, würde er wahrlich den hauseigenen Besen fressen. Direkt darauf wurde er aus seinen Gedanken gerissen.   „Tja, ich habe auch nicht schlecht geschaut. Offenbar hast du einen heimlichen Verehrer“, scherzte Trader Vic mit einem vielsagenden Grinsen im Gesicht, während der verwirrte junge Mann vor ihm den Inhalt seines Päckchens ehrfürchtig in den Händen hielt und die Welt nicht mehr verstand. „Also, kann ich mich auf dich verlassen?“ Ein Kopfnicken bestätigte die Zustimmung des Blonden. „Dann mal los. Ich helfe dir beim Umziehen“, bot er Jonouchi an, der so ein Kleidungsstück noch nie zuvor getragen hatte.   Die VIP Gäste des heutigen Abends hatten sich bereits in der Lounge eingefunden, sodass nur noch wenige Plätze in der Bar unbesetzt waren. Der Barbesitzer erklärte die kurzfristige Verspätung des eigentlichen Musikers und bot Ihnen, um die Wartezeit zu verkürzen, ein Talent in Form des jungen Pianisten. Dieser war inzwischen sichtlich nervös, dass er gleich vor ausgewähltem Publikum spielen würde. Sicher, er liebte das Piano mehr als jeder andere, da er nur dort seinen Gefühlen und Gedanken freien Lauf lassen konnte. Jedoch war sein Spiel bei weitem nicht so routiniert und perfekt, wie die des angekündigten Künstlers und das beunruhigte ihn ein wenig. Immerhin versuchte der gute Trader Vic ihn hier quasi als gleichwertigen Ersatz zu verkaufen. Der Blonde rief sich innerlich zur Räson, als er merkte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.   „Du packst das schon“, lächelte Dante ihm Mut zusprechen an, „Das ist doch nicht dein erstes Mal.“ Und damit hatte er nicht ganz unrecht. Immerhin war das der Grund, weshalb der Barbesitzer ihn damals spontan eingestellt hatte. Jonouchi musste wiederum schmunzelnd zugeben, dass sein Kollege Dante auf ihn manchmal wie ein großer Bruder wirkte, der seine Zweifel immer wieder zerstreute und ihn damit motivierte. Also nahm er sich die wohlwollenden Worte zu Herzen, warf er alle Zweifel über Bord und tat, weswegen er jetzt hier war. Von hinten bekam er dafür noch einen kleinen Schubs in die richtige Richtung, gefolgt von einem: „Und übrigens, schickes Outfit“, zwinkerte ihm Dante grinsend zu. Einmal in Bewegung gebracht, ging er ruhigen Schrittes, sofern es ihm unter der Aufregung möglich war, die wenigen Schritte zum Klavier hinüber und setzte sich auf die Pianobank, während er die Schöße über diese nach hinten warf. Er hielt einen Augenblick lang inne, blendete das Publikum um sich herum so gut es ging aus. Nur noch einmal ganz tief durchatmen und dann begann er zu spielen.    Für seine Zuschauer war er ein Unbekannter und keiner der Anwesenden wusste, was ihn erwarten würde, sodass sie im ersten Moment wie gebannt dem wunderbaren Klang des Pianos lauschten. Kurz darauf mischte sich ein leises Flüstern der Anwesenden unter die leisen Töne. Doch das bemerkte der Blonde gar nicht mehr, denn er war längst in seinem außergewöhnlichen Spiel versunken, tauchte unversehens in seine eigene Welt ein, in der die Zeit stillzustehen schien und einzig der Klang seiner geliebten Musik widerhallte. Wie gern wollte er diese trügerische Ewigkeit für immer aufrechterhalten und diesen Stillstand vollends genießen, solange es ihm möglich war. Doch die Zeit ließ sich nicht manipulieren und die Zeiger tickten unaufhörlich weiter ohne Erbarmen. Auch wenn es ihm nur wie ein Bruchteil einer Sekunde vorkam, neigte sich diese für ihn kostbare Zeit am Piano mit jedem weiteren Ton unaufhörlich dem Ende zu.   In dem Moment erinnerte er sich an die Worte des Brünetten, dass er so gern ein außergewöhnliches Klavierspiel hören wollte. Es war schon fast schade, dass er heute nicht zugegen sein würde. Vielleicht hätte ihm sein Klavierspiel ja gefallen? Sein Blick schweifte in die Ferne durch die Menschen, die seinem ungeplanten Auftritt beiwohnten, weiter zu den hinteren Plätzen der Lounge, die zu Beginn seines Spiels noch leer waren. Inzwischen hatte auch dort jemand Platz genommen. Jemand mit brünettem Haar. Jemand in einem eleganten, weißen Anzug. Ihre Blicke trafen sich und die hinter smaragdgrünen Kontaktlinsen versteckten braunen Augen trafen auf Tiefblaue.   Wie konnte das sein? Wie hatte er ohne eine VIP-Mitgliedschaft Einlass erhalten? Normalerweise war an diesen Abenden geschlossene Gesellschaft und bisher machte Trader Vic keine Ausnahme, für niemanden. Konnte das ein Zufall sein, dass gerade Kaiba ihn überzeugen konnte? Wie lange war er wohl schon hier und wohnte seiner Darbietung bei? Eine eigenartige Euphorie erfasste den Blonden augenblicklich. Kaiba konnte ihn spielen hören, hier und jetzt. Und Jonouchi wollte spielen, nicht für all die fremden Menschen im Saal, sondern für ihn. Nur für ihn. Und zwar ein Lied, das seinem Wunsch von etwas Außergewöhnlichem nachkommen würde. Also setzte er das Stück, das sich bereits dem Ende zuneigte, fort und legte all das, was er dem Brünetten so sehnlichst vermitteln wollte, in die Saiten des Klaviers.   Schlagartig wandelte sich das anfangs ruhige und nachdenkliche Spiel, es wirkte dynamischer und voller Leidenschaft. Es war, als würden längst vergessene Erinnerungen Stück für Stück wiederkehren, sich aufdrängen, um das bereits bekannte Morgen umzuschreiben und etwas vollkommen Neues zu schaffen. Völlig egal, wie hoch der zu zahlenden Preis sein würde. Es glich einem stummen Schrei nach Veränderung, jedoch mit der traurigen Gewissheit, dass es vergebens war. In den letzten Tönen bemerkte Jonouchi Trader Vic, der ihm signalisierte, dass der Hauptakteur jetzt eingetroffen und gleich bereit für seinen Auftritt war. ‘Gut, also noch ein allerletztes Lied’, mahnte er sich selbst und nickte dem Barbesitzer bestätigend zu.   Er begann, die ersten ruhigen Töne zu spielen. Ein sehnsüchtiges Gefühl, das er mit dem harmonischen Klang seiner Musik transportierte, kam auf und war überall im Raum zu spüren. Es war, als wäre es der Beginn von Etwas, das noch unausgesprochen im Verborgenen lag. Still und leise bahnte es sich seinen Weg durch die leeren Gänge auf der Suche nach dem bislang Unerfüllten und berührte dabei zaghaft jeden einzelnen seiner Zuhörer. Ein Raunen ging durch die Plätze in der Lounge und an der Bar, als der blonde Pianist mit einem Mal die Tasten deutlich und losgelöst von allen Zweifeln anschlug. Die Musik nahm sein Publikum gefangen, entführte sie an einen unbekannten Ort und ließ sie seine ungeahnte Sehnsucht spüren.    Sein Blick fiel wieder auf die Person im hinteren Teil der Lounge, die ihm interessiert seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Dessen wunderbar blauen Augen fixierten ihn, begleiteten sein Spiel und entfachten ein Feuer in dem Blonden, das sich sogleich auf sein Stück übertrug. In diese wenigen Töne legte er eine verborgene Botschaft, die nur für den jungen Firmenchef bestimmt war. Sein Spiel wurde eindringlicher, lauter und es war beinahe so, als würde er die unausgesprochenen Worte, die ihm schon so lang die Luft zum Atmen raubten, laut in die Welt hinaus schreien in der verzweifelten Hoffnung, dass sie ihn endlich erreichen und von der Last seiner Gefühle befreien würden.    Danach war sein ungeplanter Auftritt vorbei und er verschwand nach einem deutlichen Applaus in den hinteren Teil der Bar, der nur für das Servicepersonal zugänglich war. Auf seinem Weg erhielt er noch ein überraschendes Lob des eigentlichen Künstlers, der ihm ein enormes Potential attestierte. Doch all das war für ihn gerade nebensächlich. Seine Gedanken kreisten noch immer um das eben Erlebte und das Hochgefühl ließ auch jetzt, wo sein Auftritt beendet war, noch nicht nach. Es war der perfekte Moment und vielleicht der Beginn von etwas völlig Neuem.     To Be Continued…     *Hier habe ich tatsächlich an Yoshiki Hayashi (X Japan) gedacht   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)